Dreams of Gold von -Red-Karasu ================================================================================ Kapitel 3: Himitsu ------------------ 03. Himitsu     Immer wieder schwappten die kleinen Wellen an den Strand, wirkten fast schon ein wenig gelangweilt vom ewigen Vor und Zurück, in dem das Meer sie endlos trieb und das sich nie zu ändern schien, so sehr es die Welt um die Ozeane herum auch tat. Oder aber es war nur Atarus Einbildung, dass sie das taten, weil sie ihnen schon seit Minuten, die sich wie Stunden anfühlten, bei ihren Bewegungen zusah. Man sollte meinen, das eine so gleichmäßige Bewegung sie beruhigen würde, aber gerade war eher das Gegenteil der Fall, wenn sie ehrlich war. Sie hatte das Gefühl innerlich immer nur noch unruhiger und aufgewühlter zu werden, was ihrem Plan nicht wirklich zuträglich war.   Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel und bis auf ein paar vereinzelte Federwolken spannte sich das Blau geradezu unendlich über ihr. Und statt das alles genießen zu können, stand sie hier wie festgefroren herum und sah den Wellen dabei zu, wie sie im Sand verebbten. Aber vielleicht war das ein Anfang. In den letzten Tagen hatte sie immer wieder an Dies Worte gedacht und daran, wie es wohl wäre, wirklich mit ihm und Toshiya schwimmen oder gar tauchen zu können. Einfach ihre Gesellschaft zu genießen und wieder ein kleines bisschen freier zu sein. Doch es war nicht einmal nur die Aussicht auf mehr Zeit mit den Beiden, die sie hier stehen ließ, sondern auch die Träume, die sie noch immer nicht losgelassen hatten und die ihre Sehnsucht nach dem Meer nur noch größer werden ließen. Denn eigentlich wusste sie – es ging nicht darum, dass sie Angst vor dem Wasser hatte, nichts lag ihr ferner, schließlich war sie an der Küste aufgewachsen. Vielmehr war es die Angst vor den Blicken anderer Menschen und davor, was sie sehen würden. Was irrsinnig war, wenn sie es so formulierte, selbst in ihren Gedanken, aber Angst war nun einmal nicht rational begreifbar, so viel war ihr bewusst. Also, hatte sie beschlossen, musste sie das Problem einfach in kleinen Schritten angehen, wie alles andere in den letzten Jahren auch. Wenn sie in ihrer Jugend eines gelernt hatte, dann war es schließlich Geduld.   Mit diesem Gedanken im Kopf straffte Ataru ihre Haltung und atmete noch einmal tief durch, bevor sie sich mit einem Ruck ihr T-Shirt über den Kopf zog und es achtlos neben sich in den Sand fallen ließ. Einmal mehr war sie froh, dass ihre Großeltern so weit am Rand der Stadt wohnten, dass an den kleinen Buchten hier unter der Woche kaum etwas los war, gab es doch sehr viel günstiger gelegene Punkte, an denen man Baden konnte. Jeder, der sie jetzt gesehen hätte, hätte sofort gemerkt, dass sie zitterte und vermutlich auch, dass dieses Zittern sicher nicht von der seichten Seebrise kam. Nun nur noch mit Tennisshorts und einem leichten Sport-BH bekleidet ging sie langsam, immer wieder ein wenig zögernd, näher ans Wasser, bis die ersten Wellen ihre Füße umspülten. An dieser Schwelle verharrte sie vorerst, genoss die Kühle, die einen so angenehmen Kontrast zur allgegenwärtigen Hitze des Sommers bildete. Mit einem kleinen, kaum merklichen Lächeln grub sie ihre Zehen in den feuchten Sand, sah wieder hinunter aufs Wasser, das sie nun, wo sie den ersten Schritt getan hatte, beinahe zu sich zu locken schien. Es war ein Anfang. Und sollte sie tatsächlich jemand beobachten, würde man sie vielleicht für seltsam halten, weil sie hier bewegungslos in der Gegend herumstand – aber zumindest nicht wegen ihres Aussehens und das war der Punkt, der am Ende zählte. Außerdem lag Ersteres immerhin in ihrer eigenen Hand. Ein weiteres Mal atmete sie tief ein, ging dann langsam, aber entschlossen noch einige Schritte weiter ins Wasser, bis es mitunter spielerisch über ihre Knie schwappte. Weiter kam sie erst einmal nicht, denn als sie aufsah, konnte sie ein Stück entfernt, weiter draußen in der Bucht, eine Figur ausmachen, die – allem Anschein nach unbeeindruckt von den Wellen und der dort herrschenden Strömung – schnell in Richtung Land schwamm. Direkt in ihre Richtung. Ataru konnte nichts dagegen tun, dass ihr Körper sich für einen Moment vollkommen verspannte. Adrenalin schoss durch ihre Adern, jede Faser ihres Körpers schrie förmlich danach so schnell wie möglich zu fliehen – und dennoch konnte sie sich nicht rühren, fühlte sich wie gelähmt, wie festgefroren. Als würden die Wellen, die ihr eben noch so verspielt erschienen waren, nun ihre Beine umschlingen und sie an Ort und Stelle festhalten. Sie war allein hier. Ihre Großeltern kannten ihre Pläne für den Tag nicht. Wenn das jemand war, der ein Problem mit ihr hatte- In einer unbewussten Geste kreuzte sie die Arme vor dem Oberkörper, als könne sie sich so ein wenig schützen und ein Gefühl vollkommener Wehrlosigkeit drohte sie zu überrollen. Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren und ihr Brustkorb schien sich immer mehr zu verengen, bis sie kaum noch Luft bekam. Am liebsten hätte sie sich zusammengekauert, in der Hoffnung einfach unsichtbar zu werden, aber sie kannte diesen Zustand gut genug, um zu wissen, dass ihr das auch nicht helfen würde. Stattdessen kniff sie die Augen fest zusammen und zwang sich dazu, so tief zu atmen, wie sie nur irgendwie konnte, um ihren Körper dazu zu bringen, sich zumindest ein bisschen zu beruhigen. Wenn es ihr gelang ihre Panik nur ein Stück weit zurückzudrängen, konnte sie zumindest an Land gelangen und sich etwas überziehen. Sie war nur wenige Meter vom Strand entfernt, es wäre kein Problem das zu schaffen und so schnell konnte schließlich niemand schwimmen… Doch so sehr ihre Gedanken auch rannten, ihr Körper schien dazu nicht in der Lage zu sein. Erst nach einigen schweren Atemzügen schaffte sie es zitternd einen Schritt nach hinten zu machen, so wieder etwas mehr Kontrolle über sich zu erlangen, auch wenn ihr das Herz noch immer bis zum Hals schlug. In Gedanken redete sie sich selbst beständig gut zu, versuchte sich zu beruhigen und davon zu überzeugen, dass ihr nichts passieren würde. Ataru hielt noch einmal inne, konzentrierte sich auf ihre Atmung und richtete sich dann zögerlich etwas auf, um nach ihrem vermeintlichen Angreifer Ausschau zu halten. Für Details war der Schwimmer immer noch zu weit weg, aber etwas an der Art, wie er sich bewegte, sah seltsam aus. Oder zumindest nicht nach einem Schwimmstil, den sie schon einmal gesehen hatte, nicht in diesem Tempo. Und gleichzeitig war da wieder dieses seltsame Glitzern, das ihm unter der Wasseroberfläche geradezu zu folgen schien, ganz wie in ihren Träumen. Noch während sie vorsichtig rückwärts Richtung Strand ging, kam ihr die Geschichte, die ihr Großvater ihr erzählt hatte, wieder in den Sinn. Nixen hatten goldene Flossen. Aber es gab keine Nixen. Was also glitzerte da so? Vielleicht war es nur die Sonne, die sich seltsam im durch die Schwimmbewegungen aufgewühlten Wasser brach? Während ihrer Überlegungen war die Person im Wasser noch etwas näher gekommen, verschwand dann aber plötzlich von der Oberfläche, was sie nicht unbedingt ruhiger werden ließ. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie wieder auftauchte, doch als sie es tat, fiel Ataru ein so riesiger Stein vom Herzen, dass sie vor Erleichterung beinahe in die Knie gegangen wäre. Toshiya trieb nur wenige Meter von ihr entfernt entspannt in den seichten Wellen und wischte sich blinzelnd das Salzwasser aus dem Gesicht, bevor er sie mit einem warmen Lächeln ansah.   „Hey.“ „Du hast mich gerade fast zu Tode erschreckt.“ Sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck des Älteren und er kam ein wenig näher, musterte sie mit Besorgnis in den dunklen Augen.   „Das tut mir Leid… Ich war nicht sicher, ob wirklich du es warst, deswegen wollte ich schnell herschwimmen und nachsehen.“ Noch während er gesprochen hatte, war Toshiya anscheinend auf die Beine gekommen und lief nun langsam durch das Wasser auf sie zu. Und wenn sie seine Sorge bisher nicht abgelenkt hatte, war es nun, so ungern sie es zugab, sein Körper, der schon beinahe unverschämt elegant immer weiter aus dem Nass auftauchte. Sie konnte die feinen Muskeln unter seiner sonnengebräunten Haut ausmachen und ihre Augen folgten unwillkürlich einigen Wassertropfen, die sich ihren Weg über seinen Oberkörper suchten, nur um schließlich im Stoff seiner dunklen Badeshorts zu verschwinden. „Alles okay?“ Ertappt schnellte Atarus Kopf nach oben. Sie konnte sicher sein, gerade einmal mehr einem Sonnenuntergang Konkurrenz zu machen, nickte aber. Besser Verlegenheit als Panik.   „Ja, alles gut. Keine Sorge.“ Für einen Moment verharrte sie, wo sie war, konnte dann aber doch nicht widerstehen und ging selbst wieder ein Stück weiter ins Wasser, damit sie sich einfacher unterhalten konnten.   „Was machst du eigentlich hier?“, wollte Toshiya schließlich wissen, nachdem er sie noch einmal ernst gemustert hatte. „Ich dachte, du hast es nicht so mit dem Meer?“ Einmal mehr legten sich Atarus Arme, fast schon ohne ihr Zutun, schützend um ihren Oberkörper, waren aber immerhin weniger verkrampft, als noch vor ein paar Minuten.   „Genau das ist ja das Problem…“ Mit einem hilflosen Schulterzucken löste sie ihren Blick von ihrem Gegenüber und schaute aufs Wasser hinaus. „Ich hab das, was Die gesagt hat, nicht aus dem Kopf bekommen…“ „Das mit dem Schönheitsschlaf?“ „Was?“ Ihre Augenbrauen wanderten ein Stück nach oben, bis sie verstand, worauf der andere hinaus wollte. Sie lachte kurz auf, schüttelte aber den Kopf. „Nein, nicht das. Du Spinner.“ Sie seufzte leise, machte noch einen vorsichtigen Schritt weiter ins Wasser, konnte nun spüren, wie die Wellen sie immer wieder in den Kniekehlen kitzelten. Eine Empfindung, die irgendwie zu dem Kribbeln passte, das sich gerade mehr und mehr in ihrem Körper ausbreitete und das definitiv nichts mehr mit dem Schrecken von eben zu tun hatte. „Dass wir irgendwann zusammen schwimmen könnten.“   Nun war es Toshiya, der noch ein wenig näher kam, schließlich in einer so selbstverständlichen Geste seine Hände nach ihr ausstreckte, dass sie gar nicht anders konnte, als die eigenen in seine kühlen Handflächen zu legen. „Ich fände es schön, wenn wir das irgendwann tun könnten…“, fuhr sie dann fort, lächelte, als seine Daumen sanft, geradezu ermutigend über ihre Handrücken streichelten. „Also werde ich wohl oder übel daran arbeiten müssen, mich wieder ins Wasser zu trauen.“   „Mh…ich finde, das sieht schon nach einem wirklich guten Anfang aus…“ Auch diesmal konnte sie nicht anders, als sein Lächeln zu erwidern, nur um dann scheu zu nicken, weil sie nicht sicher war, ob sich seine Worte nur auf ihre Überwindung oder noch etwas anderes bezogen. Einen Moment lang herrschte Schweigen, bevor sie sich überwinden konnte weiterzusprechen. „Würdest du mir helfen?“ „Wenn ich kann, natürlich.“ Sie suchte noch die richtigen Worte, um sich zu bedanken, da machte Toshiya schon zwei weitere Schritte nach hinten und wollte sie nicht die Berührung ihrer Hände unterbrechen, würde sie ihm folgen müssen. „Vertraust du mir?“   Natürlich hatte er ihr Zögern bemerkt, genauso wie er wahrscheinlich den leisen Schauer bemerkte, der bei dieser Frage durch ihren Körper rann. Vertrauen war etwas, was ihr so unendlich schwerfiel, dass sie die Menschen, denen sie vertraute, an einer Hand abzählen konnte. Aber dennoch nickte sie einmal mehr in dieser kurzen Unterhaltung, konnte gar nicht anders als zu nicken, denn selbst wenn sie danach suchte, sie fand keinen Widerstand in sich. Vielleicht war es dumm und würde ihr später nur weh tun, aber sie hatte so viel Zeit allein verbracht, dass sie Toshiya – und auch Die – einfach vertrauen wollte. Und das ausnahmsweise ohne an die Konsequenzen zu denken. Also folgte sie ihm langsam, als er vor ihr her noch etwas weiter ins Wasser ging. Genau so weit, wie sie gerade noch stehen konnte und an diesem Punkt beschleunigte sich ihr Puls dann wieder aus Gründen, die rein gar nichts mit dem ansprechenden Äußeren ihres Bekannten zu tun hatte. Sie drückte Toshiyas Hände fester, versuchte ihm so zu bedeuten, dass sie, zumindest jetzt gerade, nicht weitergehen konnte.   „Ich kann dir nicht sagen, wann ich das letzte Mal so tief im Wasser war“, sagte sie atemlos, sah ihn entschuldigend an, erntete dafür aber nur ein nachgiebiges Kopfschütteln. „Dann kannst du stolz darauf sein, dass du so weit gekommen bist. Ich bin es jedenfalls.“ Und nun kam er wieder näher – so nah, dass sie zu ihm aufsehen musste. So nah, dass kaum noch Platz zwischen ihnen war. Ganz vorsichtig, so als würde er ihre Reaktion genau beobachten und wäre im Zweifelsfall jederzeit bereit, ihr wieder Freiraum zu geben, ließ Toshiya ihre Hände los. Geradezu spielerisch geisterten seine Fingerspitzen im Wasser an ihren Armen entlang ein Stück nach oben, bevor er eine Hand mit sanftem Druck in ihr Kreuz legte, sie so noch näher an sich zog, während die andere ihren Platz an Atarus Wange fand. Sie wollte etwas sagen, war aber tatsächlich so von der Nähe zu diesem bisher eher zurückhaltenden Mann überwältigt, dass sie kein Wort hervorbrachte, während er mit dem Daumen über die Stelle auf ihrer Wange strich, die Die noch vor wenigen Tagen geküsst hatte.   „Vertraust du mir?“, fragte er erneut, während ein kleines, fast schon verschwörerisches Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte.   „Warum auch immer…aber ja…“, brachte sie leise hervor, hob nun selbst ihre Arme und legte sie um den Nacken des Älteren, in der Hoffnung, dass sie seine Annäherung nicht falsch deutete. Aber anscheinend hatte sie alles so verstanden, wie es gemeint gewesen war, denn er murmelte nur noch ein halblautes „gut“, bevor sich seine kühlen Lippen sanft auf ihre legten, ihr allein mit dieser kleinen Berührung ein atemloses Seufzen entlockten. Hätte sie gerade nur einen Wunsch frei, würde sie einfach gern für die ein oder andere Ewigkeit genau so bleiben wollen. Obwohl das tiefe Wasser sie immer noch ein wenig beunruhigte, fühlte sie sich hier und jetzt, in den Armen dieses Mannes, über den sie kaum etwas wusste, einfach nur vollkommen sicher. Und wäre sie nicht viel zu sehr damit beschäftigt diesen Kuss zu genießen, hätte ihr allein dieser Gedanke vermutlich die Tränen in die Augen getrieben. Als sie sich schließlich voneinander lösten, wusste Ataru nicht, was sie sagen sollte, lehnte sich stattdessen nur gegen Toshiya, während er ihr noch einen kleinen Kuss auf die Schläfe gab.   „Es ist nicht das Meer, vor dem du Angst hast, oder?“, wollte er wissen und seine dunkle Stimme so nah an ihrem Ohr hätte sie beinahe schon wieder erschaudern lassen. „Nein…“ Ohne, dass sie sich bewusst dafür entschieden hatte, hatten ihre Finger damit begonnen mit den nassen Strähnen des schwarzen Haars zu spielen, das bis auf seine Schultern fiel. Sie lehnte sich etwas entspannter gegen ihn, war fast schon versucht ihr Gesicht an Toshiyas Halsbeuge zu vergraben, einfach um zu sehen, wie sich das anfühlen würde, bevor sie fortfuhr. „Ich kann es euch erklären, wenn ihr wollt.“ „Nur wenn du das wirklich willst.“ Die Aussage überraschte sie, aber wenn sie darüber nachdachte, wollte sie das tatsächlich. Wollte, dass die beiden ihre Wahrheit kannten, selbst wenn es das Ende dieser Sache bedeuten sollte, von der sie selbst immer noch nicht wusste, was sie eigentlich war. „Ja…“ Ataru schloss ihre Augen und atmete tief ein. Der Entschluss hätte ihr Angst machen sollen, fühlte sich aber dennoch vollkommen richtig an. „Aber nicht jetzt?“   „Ich glaube nicht. Die sollte auch dabei sein, schätze ich.“   „Okay.“ Und bevor sie noch irgendetwas sagen konnte, ließ Toshiya sich in einer fließend anmutenden Bewegung einfach nach hinten in die nächste Welle fallen und zog sie mit sich, bevor sie sich aus seiner Umarmung hätte befreien können, entlockte ihr so ein erschrockenes Aufkreischen. Doch statt der Panik, die sie erwartet hatte, war da nur Erleichterung und Freude das Meer wieder einmal so spüren zu können, als würde sie darin schweben. Das, und ein Mund voll Salzwasser, den sie, als sie auftauchte, mit verzogenem Gesicht ausspuckte. Eigentlich hatte sie den Älteren zumindest spielerisch zurechtweisen wollen, doch einmal mehr war da dieses Schuljungenlächeln, dem sie einfach nichts entgegenzusetzen hatte.   ~*~ Später lagen sie am Strand auf einem Handtuch, das Ataru für den Fall mitgenommen hatte, dass sie sich tatsächlich ins Wasser traute und das für zwei Erwachsene eigentlich viel zu wenig Fläche bot. Aber es gab ihr zumindest eine Ausrede dafür, Toshiyas Nähe zu suchen, was damit endete, dass sie an seine Seite geschmiegt mit dem Kopf auf seiner Schulter dalag, während eine seiner Hände immer wieder sacht über ihren Rücken streichelte. Und für eine lange Zeit schien er damit zufrieden zu sein einfach so zu bleiben und sich von der Sonne trocknen zu lassen, während – trotz aller Entspannung – die ersten Zweifel an ihr zu nagen begannen. „Sag mal“, begann sie deswegen nach einiger Zeit und stützte sich schließlich auf einem Arm ab, um ihn ansehen zu können.   „Mh?“ Toshiya blinzelte zu ihr nach oben, schien über die Unsicherheit, die er in ihren Zügen lesen konnte, verwundert zu sein. „Was ist los?“ „Ich…wollte dich etwas fragen.“ Und sie schaffte es nicht einmal, ihn dabei anzusehen, fixierte stattdessen einen Punkt irgendwo hinter ihm. „Ich...das hier, heute…damit hatte ich nicht gerechnet“, brachte sie schließlich stockend hervor, woraufhin er nur seine Augenbrauen etwas nach oben zog, ihr so anscheinend bedeuten wollte weiterzusprechen. Himmel, warum war das so schwer?   „Es sind…wenn ich ehrlich bin, sind es mehrere Sachen, die ich nicht so ganz verstehe.“ Unfähig weiterhin still zu halten, richtete Ataru sich auf, kniete sich schließlich neben den Älteren, der sich zuerst ebenfalls nur aufgestützt hatte, ihrer Bewegung aber folgte, sodass sie sich schließlich gegenübersaßen. „Was verstehst du nicht?“, hakte er nach und wieder war da diese Sorge in den dunklen Augen, die sie sich, wie so vieles andere, nicht wirklich erklären konnte. „Ich…naja…ich hatte bisher nicht das Gefühl, dass du an mir…auf diese Art und Weise… interessiert warst?“ Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme furchtbar unsicher, fast schon brüchig. Für den Moment schwieg Toshiya, wartete anscheinend darauf, dass sie fortfuhr und als sie sich dazu nicht überwinden konnte, griff er nach ihrer Hand und drückte sie sanft, als wolle er ihr Mut machen. „Der Kuss vorhin…das hatte ich nicht erwartet“, brachte sie schließlich hervor.   „Wolltest du ihn nicht?“ Wenn die Situation ein Gutes hatte, dann, dass dieses Gespräch dem Älteren fast genauso unangenehm zu sein schien, wie ihr selbst. Aber immerhin was das anging, konnte sie ihn beruhigen. „Nein, das ist es nicht.“ Wie sehr genau sie diesen Moment genossen hatte, musste sie ihm ja nicht sagen, oder was ihr dieser Kuss bedeutete, egal, was zwischen ihnen noch passierte. „Ich war nur überrascht…du warst bisher-“ „-eher zurückhaltend?“, beendete Toshiya ihren Satz mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen.   „Ja, irgendwie schon.“   „Mh…das höre ich öfter. Vor allem im Kontrast zu Die, ich glaube, da fällt das einfach noch mehr auf.“ „Stimmt…“ Für einen Moment sah Ataru ihn an, dann wanderten ihre Augen wieder unruhig über den Strand, denn dieser Satz brachte sie direkt zur nächsten Sache, die ihr immer noch Rätsel aufgab. „Vor allem, weil ich eigentlich dachte, dass du und Die…zusammen seid?“ „Oh, sind wir.“ Nun war sie es, die ihr Gegenüber fragend und ein bisschen verständnislos ansah. „Dann verstehe ich das alles jetzt noch weniger als vorher, wenn ich ehrlich bin.“ „Kein Problem.“ Noch immer hielt Toshiya ihre Hand in der eigenen, begann, fast als wäre er es, der jetzt einen Fokus bräuchte, mit ihren Fingern zu spielen, bis er sie schließlich mit seinen verschränkte. Mit der freien Hand fuhr er sich durch sein noch immer feuchtes Haar, das ihm gleich darauf wieder halb ins Gesicht fiel, stützte sich auf seinem Handballen ab. „Die und ich kennen uns seit wir Kinder waren“, begann er dann zu erklären, hielt während seiner Erzählung aber immer wieder kurz inne, als würde er nach den richtigen Worten suchen. „Ich kenne ihn, so lange ich denken kann, wir haben immer zusammengeklebt, wie Pech und Schwefel…“ Ein Lächeln hatte sich auf Toshiyas Lippen geschlichen, das ein wenig weiter wurde, als er sie jetzt schulterzuckend ansah. „Irgendwann wurde das zwischen uns mehr als Freundschaft, ohne dass wir es je wirklich hinterfragt hätten. Es war einfach so, das Natürlichste der Welt.“ „…klingt ein bisschen wie ein Märchen.“ Sie konnte sehen, dass er die Worte ernst meinte, aber dennoch ließ diese Erklärung nur noch mehr Fragen in ihren Gedanken auftauchen. „Aber warum dann das vorhin?“ Den Zusatz ‚war das nur ein Scherz‘ konnte sie sich gerade noch verkneifen, biss sich stattdessen auf die Unterlippe.   „Weil ich dich mag, Ataru, ganz einfach.“ „Oh.“ Eine Sekunde lang, saßen sie sich schweigend gegenüber, sahen sich an, bevor Ataru leise seufzte. „Und was ist mit Die?“ „Was soll mit ihm sein?“ „Na ja…ich will nicht zwischen euch stehen oder eure Beziehung kaputt machen oder irgendwas in der Art.“ „Mach dir da mal keine Sorgen.“ Mit einem warmen Lächeln hob Toshiya ihre noch immer verbundenen Hände an und drückte ihr einen kleinen Kuss auf den Handrücken. „Das ändert für mich nichts an meinen Gefühlen zu Die. Und, dass er dich auch mag, hast du vermutlich schon gemerkt oder?“ Wenn sie ehrlich war, war das hier alles gerade ein bisschen mehr Information, als sie sich zu verarbeiten imstande fühlte und gleichzeitig wenig tatsächlich Greifbares. So sehr sie sich immer gewünscht hatte jemanden kennenzulernen, der sie so akzeptierte, wie sie war und sie nicht trotz ihrer Umstände mochte, sondern einfach, weil sie sie selbst war, im Moment überforderte sie das Ganze dann doch immens. „Und jetzt?“, wollte sie deswegen wissen, in der vagen Hoffnung, dass Toshiya ihr eine einfache Lösung für dieses persönliche Chaos aufzeigen konnte.   „Das hängt ganz von dir ab, würde ich sagen.“ Er zwinkerte ihr kurz zu, als wäre diese Aussage nicht ebenso kryptisch wie nichtssagend, schaute dann zum Meer, dessen gleichmäßiges Rauschen von einer Bewegung in den Wellen unterbrochen wurde. Tatsächlich war es Die, der gerade durch das seichte Wasser lief und ihnen grinsend zuwinkte, und sie wunderte sich mittlerweile nicht einmal mehr darüber, dass er nun ebenfalls auftauchte. Kaum hatte er das Ufer erreicht, erhöhte er sein Tempo, kam durch den Sand auf sie zu gejoggt und, wenn Ataru ehrlich war, war es unfair, dass er es irgendwie schaffte dabei gut auszusehen. Bei ihnen angekommen, ließ Die sich ohne Umstände neben ihr auf die Knie fallen und gab ihr einen kleinen Kuss in den Mundwinkel, bevor er sich an ihr vorbei zu Toshiya beugte. Der Kuss, den die beiden teilten, wirkte so liebevoll und selbstverständlich, dass Ataru gar nicht anders konnte, als sich insgeheim zu wünschen, irgendwann auch eine solche Beziehung zu haben. Und war es letztlich nicht genau das, was der Schwarzhaarige ihr, wenn auch auf eine etwas verquere Art und Weise, angeboten hatte? Sie verzog lachend das Gesicht, als Die sich ein wenig schüttelte, so das Wasser, das noch in seinem Haar war, in der Umgebung verteilte und stieß ihn spielerisch ein wenig von sich. Grübeln würde sie später so oder so, also konnte sie zumindest diesen Nachmittag genießen, so lange sich dazu die Gelegenheit bot.   ~*~   Schon seit Minuten starrte Ataru sich einfach nur regungslos im Badezimmerspiegel an, ohne etwas zu tun, versuchte irgendwie ihrer Aufregung Herrin zu werden. Aber wie sie befürchtet hatte, würde dies im Moment wohl ein Wunschtraum bleiben. Mit einem Seufzen gab sie auf, zog sich selbst eine Grimasse und seufzte gleich noch einmal, als sie feststellte, wie sehr ihre Hände zitterten. Kurz ballte sie sie zu Fäusten, ließ dann wieder locker, fuhr sich schließlich mit beiden Händen frustriert durchs Gesicht, nur um gleich darauf erschrocken ihr Make-up zu checken. Den Aufwand einmal zu betreiben hatte gereicht und bei einem zweiten Versuch würde das Ergebnis mit Sicherheit nicht unbedingt besser aussehen. Außerdem war sie ja selbst schuld daran, dass es ihr gerade so ging. Sie war es ja, die beschlossen hatte Die und Toshiya alles zu erklären. Nur hatte sich die Idee in diesem Moment irgendwie nach einem guten Plan angefühlt – etwas, dessen sie sich jetzt nicht mehr so wirklich sicher war. Aber nun war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen und spätestens in ein paar Stunden würde sie wissen, ob das Vertrauen, das sie bisher so leichtfertig in die beiden Männer gesetzt hatte, vergeudet war. Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel und strich im Gehen das lockere Sommerkleid glatt, das sie trug, als sie den Raum verließ. Obwohl ihr der weiche Stoff bis auf die Knie fiel und ihr Haar offen ihre Schultern umspielte, fühlte sie sich nackt und schutzlos, was es ihr nur noch schwerer machte ruhig zu bleiben. Allerdings würde sie sich hüten bei der draußen herrschenden Hitze mehr anzuziehen als irgendwie nötig.   In der Küche holte sie eine Karaffe schwarzen Tees aus dem Kühlschrank, die ihre Großmutter eher am Tag vorbereitet hatte und trug sie, zusammen mit drei Gläsern, hinüber in ihr Zimmer. Sake oder zumindest Bier wären ihr persönlich im Moment zwar lieber gewesen, aber Tee war mit Sicherheit die vernünftigere Variante. Sollte ihr Vorhaben in einer Katastrophe ausarten, konnte sie sich schließlich immer noch betrinken, auch wenn sie von Herzen hoffte, dass es dazu nicht kommen würde. Als sie durch die geöffnete Verandatür nach draußen sah, dämmerte es bereits, was hieß, dass Die und Toshiya wohl bald da sein würden. Ihre Großeltern verbrachten den Abend bei Freunden, sodass sie zumindest in Ruhe alles würde erklären können, ohne zu befürchten, dass die Neugier ihren Opa dazu trieb, sie zufällig zu stören, auch wenn dessen Anwesenheit ihr vielleicht mehr Sicherheit gegeben hätte. Aber selbst wenn die beiden ein Problem mit ihr hätten, nachdem sie die Wahrheit erfahren hatten, würden sie sie sicher nicht in ihrem eigenen Haus erstechen. Hoffte sie zumindest.   Ataru war so in ihre allmählich immer morbider werdenden Gedanken versunken, dass sie aufschreckte, als sie draußen mit einem Mal Stimmen vernehmen konnte. Immerhin schienen ihre Gäste bisher gute Laune zu haben. Und ein spontaner Mord würde ihnen diese bestimmt verderben. Mit einem tiefen Atemzug straffte sie ihre Haltung und ging nach draußen, wo die beiden jungen Männer gerade die Veranda erklommen. Wie so oft waren sie lediglich in Schwimmshorts gekleidet und sie fragte sich, ob die beiden überhaupt andere Klamotten besaßen, so unwichtig das im Moment war. Aber zumindest schienen sie ihre Unruhe und Unsicherheit zu spüren, denn sie warfen sich nur einen kurzen Blick zu, bevor Toshiya sie fest in die Arme nahm und für einen langen Moment an sich zog. Wie hätte sie da anders gekonnt, als die Geste zu erwidern, als diesen willkommenen Rettungsanker anzunehmen? Also ließ sie sich von ihm halten und erwiderte sein warmes Lächeln ebenso, wie den zarten Kuss, den er ihr auf die Lippen hauchte, bevor er sie wieder losließ. Ohne darüber nachzudenken, wandte sie sich zu Die um, der sie bisher nur betrachtet hatte, sie nun aber ebenso an sich zog und es sich nicht nehmen ließ für einen Moment sein Gesicht an ihrer Halsbeuge zu vergraben.   „Das kitzelt“, sagte sie leise, fast schon wider Willen amüsiert über die Geste, aber wie erwartet, ließ er sich davon nicht aus der Ruhe bringen.   „Da musst du dann wohl durch“, erwiderte er nur amüsiert, bevor er den Kopf schließlich wieder hob und ihr ebenfalls einen liebevollen Kuss gab.   Und als sie ihn danach ansah, war irgendetwas in seinen Augen, das sich hinter seinem Lächeln verbarg und das sie nicht deuten konnte. Zu gern hätte sie ihn danach gefragt, was es war. Missmut? Nervosität? Sorge? Dabei war sie doch die einzige, die sich im Moment Sorgen um den heutigen Abend machen musste, nicht er. Nur mit Mühe konnte Ataru ein kleines Seufzen unterdrücken, als sie wieder von ihm abließ und ihren Gästen bedeutete sich schon einmal zu setzen, während sie noch einmal zurück in ihr Zimmer ging. Den Tee hatte sie bereits neben der Schiebetür abgestellt, stattdessen griff sie nun nach einem alten Foto und nahm es mit nach draußen.   Für einen Sekundenbruchteil zögerte sie, bevor sie sich den beiden gegenüber niederließ. Das Foto legte sie vorerst mit der Bildseite nach unten neben sich ab und begann stattdessen ihre Gläser mit kaltem Tee zu befüllen, klammerte sich geradezu an dieses kleine Stück Routine, während ihr das Herz bis zum Hals schlug.   „Ataru, ist alles okay?“, riss Dies besorgte Stimme sie letztlich aus ihren Gedanken und sie sah ertappt auf, zwang sich aber zu nicken.   „Mach dir keine Sorgen.“   „Ich weiß zwar nicht, was genau du uns erklären willst“, schaltete sich in diesem Moment auch Toshiya ein, „aber du weißt, dass du das hier nicht machen musst, ja? Du bist uns für nichts Rechenschaft schuldig oder irgendetwas in der Art.“   Jetzt konnte sie nicht anders, als selbst zu lächeln – das erste Mal ehrlich an diesem Abend. Ohne es zu wissen, hatten ihre beiden Freunde sie mit ihren liebevollen Worten an den Grund erinnert, warum sie das hier auf sich nahm. Die beiden hatten die Wahrheit verdient – oder, nein, das traf es auch nicht wirklich. Sie wollte einfach, dass die beiden es wussten. So unfassbar nervös und unsicher sie diese Entscheidung auch gerade machte, sie wollte das mit ihnen teilen, wollte mit ihnen vollkommen ehrlich sein können. Und vor allem wollte sie, dass es einfach nichts zwischen ihnen ändern würde.   „Es ist wirklich alles okay“, beschwichtigte sie ihre Gegenüber deshalb. „Ich…hab nur nicht wirklich gute Erfahrungen damit gemacht, mich anderen zu erklären, aber bei euch ist das etwas anderes.“ Hoffte sie zumindest. Ihre Hände zitterten noch immer, als sie ihr Glas beiseite stellte und sie nach den beiden anderen ausstreckte. Weder Die und Toshiya zögerten, verschränkten die Finger mit ihren, verstanden ihre wortlose Bitte um Rückhalt, wie sie es schon von Anfang an getan hatten. „Ich hab immer noch keine Ahnung, was das hier zwischen uns ist oder werden soll“, fuhr sie leise, aber bestimmt fort, „aber ich würde es gern herausfinden. Und deswegen will ich euch das nicht vorenthalten, okay?“   „Okay.“ Toshiyas Stimme hatte einen fast schon beschwichtigenden Tonfall angenommen. „Zumindest solange du uns jetzt nicht erzählst, dass du eine Geheimagentin bist und uns töten musst, weil wir damit schon zu viel wissen.“   Trotz aller Anspannung konnte Ataru nicht anders, als kurz loszuprusten und den Kopf zu schütteln, während Die nur leidend mit den Augen rollte.   „Je älter du wirst, desto schlechter werden deine Witze, ehrlich“, murmelte er noch, deutlich verständlich, rückte aber gleichzeitig etwas näher an seinen Freund, um seinen freien Arm um dessen Mitte zu legen.   „Als ob deine besser wären.“ Der Jüngere der beiden lehnte sich etwas an Die, behielt Ataru dabei aber weiterhin fest im Blick. Kurz drückte er ihre Hand, wollte sie wohl zum Sprechen ermuntern. Widerwillig entließ sie daraufhin die Finger der beiden aus ihrem Griff und richtete sich ein wenig auf.   „Irgendwie ist das noch komplizierter als ich befürchtet hatte…“, begann sie dann, legte für einen Moment den Kopf in den Nacken und studierte das Holz des Veranda-Dachs über ihnen, als hätte sie es noch nie vorher gesehen. Für einen Moment war es still, bevor sie zu sprechen begann. „Habt ihr schon mal jemanden getroffen, der ein Bild von euch hat, das so gar nicht zu dem passt, was ihr selbst über euch denkt?“, wollte sie dann wissen und sah ihre Gegenüber wieder an, die ihren Blick nur mit einem gewissen Unverständnis erwiderten.   „Du meinst, dass man ganz anders eingeschätzt wird, als man ist?“, fragte Die schließlich.   „Ja, so in etwa…ich schätze das passiert jedem mal, oder?“   „Vermutlich schon.“ Ataru nickte und es legte sich ein Ausdruck über ihr Gesicht, der irgendwo zwischen Wehmut und Zorn lag.   „Mir ging es mein ganzes Leben so“, stellte sie dann fest, sprach weiter, bevor einer der beiden Männer sie unterbrechen konnte. „So lang ich mich erinnern kann, wusste ich, wer ich war, wusste es ganz sicher, aber es hat mir nie jemand geglaubt. Weil ich zu jung war oder weil es nicht ‚normal‘ war oder weil einfach niemand Lust hatte sich damit zu beschäftigen…“ Jetzt griff sie nach dem Foto und hielt es hoch, sodass die beiden das Bild sehen konnten.   „Bist du das?“, wollte Toshiya wissen, griff danach, als sie nickte. „Niedlich.“   „Danke.“ Mit einem unterdrückten Seufzen strich Ataru sich die Haare aus dem Gesicht und trank dann einen Schluck. „Das war kurz nach meiner Einschulung…ich weiß noch wie sehr ich meine Mutter angefleht hatte, doch die Mädchenuniform anziehen zu dürfen, weil die der Jungen nicht die richtige für mich war. Aber sie hat natürlich nicht auf mich gehört…“ Erneut hielt sie inne, sah die anderen beiden nur abwartend an und ganz langsam schien so etwas wie Verständnis in ihren Gesichtern aufzutauchen.   „Du meinst, du wurdest als Junge geboren?“, fragte Die zögerlich, hielt sofort inne, als sie heftig den Kopf schüttelte.   „Nein. Ein Mädchen war ich schon immer, es wollte nur niemand außer mir wahrhaben.“   „Weil du äußerlich wie ein Junge aussahst?“ Diesmal war es Toshiya, der sich einschaltete, sie mit zusammengezogenen Augenbrauen ansah, als versuchte er verschiedene Teile eines Puzzles zusammenzusetzen.   „So in etwa. Zumindest nicht so wie andere Leute denken, dass ein Mädchen aussehen muss.“ Sie nahm das Foto wieder an sich, als der Schwarzhaarige es ihr reichte und sah es selbst für einen Moment an. „Meine Großmutter hat mir erzählt, dass ich selbst mit drei oder vier Jahren schon darauf bestanden habe, dass ich zusammen mit meinen Cousinen spielen will, weil ich schließlich auch ein Mädchen bin.“   „Das klingt schlimm…“ Dies Stimme war leise, er hatte sich mittlerweile noch enger an seinen Freund geschmiegt, der ihm, als er jetzt weitersprach, einen nachdenklichen Seitenblick zuwarf. „…wenn man etwas ganz sicher weiß, aber niemand glaubt einem.“   „Ja. Ist es…aber wirklich schlimm wurde es erst, als ich älter wurde.“   „Wieso das?“   „Naja…als Kind war es noch irgendwie zu ertragen, dass mein Körper nicht so war, wie er hätte sein sollen, da waren die Unterschiede noch nicht so sichtbar, nach außen hin…Aber später als es Richtung Pubertät ging…“ Ataru brach ab und schüttelte nur den Kopf. „Alles wurde immer schlimmer. Einfach alles…“   Erneut war es Toshiya, der nun nach ihrer Hand griff, nachdem er Die einen kleinen Kuss auf die Schläfe gedrückt hatte.   „Hat die Sache mit dem Meer damit etwas zu tun?“ Natürlich. Es hätte ihr klar sein müssen, dass ihm dieser Zusammenhang sofort auffallen würde.   „Ja…man sagt ja, dass Kinder grausam sein können, aber meiner Erfahrung nach wird es nicht unbedingt besser, wenn diese Kinder älter werden.“ Ihre Fingerkuppen strichen unruhig über die Handfläche des Älteren, während sie nach den richtigen Worten suchte. „Ich sehe noch nicht…furchtbar lange so aus, wie es jetzt der Fall ist. Es hat sehr lang gedauert meine Eltern davon zu überzeugen, dass sie keinen Sohn, sondern eine Tochter haben. In der Zeit davor habe ich mich manchmal heimlich zurechtgemacht und bin ausgegangen…Ich muss mehr als einmal einen Schutzengel gehabt haben, wenn jemand gemerkt hat, dass ich, in deren Augen ‚keine richtige Frau‘ war.“ Sie hatte Toshiyas Hand nun doch wieder losgelassen, um ihre Worte mit in die Luft gemalten Anführungsstrichen zu unterstreichen. „Als ob das irgendwer beurteilen könnte. Oder auch nur das Recht dazu hätte.“ Als würden sie für einen Moment ihre Kräfte verlassen, ließ sie ihre Arme sinken, zuckte nur schwach mit den Schultern. „Von daher…das bin ich. Ich hab es mir nicht ausgesucht, aber ich schäme mich auch nicht dafür, dass ich trans bin. Es ist ein Teil von mir und auch wenn es nie ein leichter Weg war, ich bin wie ich bin…und ich hoffe, dass das für euch nichts ändert.“   Erst am Ende ihrer kleinen Ansprache hatte sich wieder Unsicherheit in ihre Stimme geschlichen und ihre dunklen Augen richteten sich unsicher auf die beiden Männer, die nun selbst erneut einen kurzen Blick tauschten.   „Und da dachten wir wirklich schon, du willst uns irgendwas Furchtbares erzählen“, meinte Die schließlich und machte tatsächlich einen erleichterten Eindruck. „Versteh mich nicht falsch, ich will das nicht kleinreden oder so…aber, Ataru, das alles ändert für uns nichts daran, dass wir dich mögen und gern Zeit mit dir verbringen.“   „Da hat er ausnahmsweise recht.“ Toshiya richtete sich ein wenig auf, setzte sich so hin, dass er mit dem Rücken an der Hauswand lehnte, bedeutete ihr dann näher zu ihm zu rücken. „Ich meine…keiner von uns beiden würde leugnen wollen, dass wir dich unglaublich schön finden…aber was würde das nützen, wenn dass hier drin“, er streckte seine Hand aus, tippte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Atarus Brustbein, „nicht noch viel schöner wäre.“   Einen Augenblick lang sah sie ihn stumm an, konnte dann aber, aller Anspannung zum Trotz ein Grinsen nicht unterdrücken, als sie an Dies Gesicht sah, dass dieser damit kämpfte keinen Kommentar zu dieser Aussage abzugeben.   „Du bist so ein Süßholzraspler“, gluckste sie deswegen und konnte nicht anders, als in Die's Lachen einzustimmen, als der sich nicht mehr zurückhalten konnte. Und vielleicht wäre Toshiya in dieser Situation sogar ein bisschen eingeschnappt gewesen, aber es war nur zu deutlich, welche Last gerade von Ataru abgefallen war, sodass er sie nur mit einem wortlosen Kopfschütteln an sich zog. Während sie sich mit dem Rücken gegen ihn lehnte, sich binnen Sekunden in seinen Armen zu entspannen schien, richtete Die sich nun ebenfalls auf.   „Ich hab's dir immer gesagt, mein Lieber“, meinte er nur fröhlich. „Du hast einfach eine echt schmalzige Ader.“ Und obwohl der Jüngere noch immer eine leichte Schnute zog, ließ Die sich nicht davon abhalten ihm einen liebevollen Kuss zu geben, bevor er sich ohne weitere Umstände so platzierte, dass er seinen Kopf in Atarus Schoß betten und zu ihr nach oben sehen konnte. „Das wirst du auch noch merken, von hier geht es nur noch bergab, was den Kitsch-Faktor angeht“, fügte er hinzu, als sei es eine Warnung.   „Sei still Die, du liebst meine schmalzige Ader.“   Während die beiden sich weiter gegenseitig neckten, schloss Ataru entspannt die Augen und genoss die Ruhe, die zumindest gerade in ihr herrschte. Sie hatte zwar gehofft, dass die beiden das Ganze gut aufnehmen würden, aber mit so einer sofortigen Akzeptanz hatte sie nicht gerechnet. Sie würden sicher später noch einmal darüber reden müssen, aber so wie es aussah, wäre dafür auf jeden Fall noch genug Zeit. Schließlich machten ihre Männer im Moment nicht unbedingt den Eindruck, als ob sie von ihr weg wollten. Ihre Männer – der Gedanke ließ sie grinsen. Wer hätte gedacht, dass sie so etwas je sagen würde, selbst wenn es nur im Stillen war.   ~*~   „Sag mal…“   Die war gerade in einen leichten Dämmerschlaf abgedriftet, aber die Finger seines Geliebten, die sacht über seine Seite wanderten, und sein nachdenklicher Tonfall, weckten ihn recht effektiv wieder auf.   „Mh?“   „Ich habe nachgedacht…“   „Oh nein.“   Mit einem schiefen Grinsen drehte er sich zu Toshiya um und auch wenn er es nicht hörte, wusste er, dass der andere zumindest gedanklich seufzte. Aber was konnte er denn dafür, wenn sein Schatz ihm immer wieder so gute Vorlagen für schlechte Sprüche lieferte? In all den Jahren, die sie sich kannten, war es fast zum Reflex geworden, jede sich dahingehend bietende Gelegenheit auszunutzen. Wenn er sich den Jüngeren jetzt aber so ansah, schien dieser tatsächlich etwas auf dem Herzen zu haben, sodass er sich zusammenriss.   „Worüber?“, hakte er nach, stützte sich im Liegen auf einen Ellenbogen auf, um ihn besser ansehen zu können.   „Du magst Ataru, oder?“ Verwirrt zog Die seine Augenbrauen nach oben.   „Spielen wir heute eine Runde ‚offensichtliche Tatsachen‘?“   „Sag einfach…“ Toshiyas dunkle Augen lagen forschend auf seinem Gesicht und sein Tonfall zeigte deutlich, dass er nicht locker lassen würde, bis er eine Antwort hatte.   „Wie kommst du jetzt darauf?“   „Die…“ Er beugte sich etwas zu seinem Freund nach unten und begann, statt zu antworten, lieber damit Toshiya in einen innigen Kuss zu verstricken. Für einen Sekundenbruchteil blieb der Jüngere standhaft, vergrub dann aber mit einem ergebenen Seufzen seine Hände in Dies langen Haaren, zog ihn so noch etwas näher, um ihren Kuss vertiefen zu können. Als sie sich wieder voneinander lösten, sah er den Älteren nur verstimmt an. „Ich hasse es, wenn du das tust.“   „Ich weiß, aber das macht es ja so verlockend.“ Noch immer grinsend drückte er einen weiteren kleinen Kuss auf die Nasenspitze des Jüngeren. „Also, worüber hast du nachgedacht, mh?“   „Beantworte mir erst meine Frage.“   „Du weißt es doch so oder so.“   „Ja, aber ich will, dass du es sagst.“ Toshiyas Finger begannen damit immer wieder durch Dies Haar zu fahren, wanderten schließlich in seinen Nacken und entlockten ihm mit ihren kleinen Streicheleinheiten einen sanften Schauer. Für einen Moment schloss er die Augen, genoss das Gefühl, bevor er seinen Geliebten wieder ansah.   „Ja, ich mag Ataru. Sehr sogar“, gab er dann zu, sah den anderen forschend an, als der nur nickte. „Sagst du mir jetzt warum du das wissen wolltest?“   „Ich mag sie auch sehr.“   „Gut, dann sind wir ja schon zwei. Wo ist das Problem?“   Toshiya verzog ein wenig das Gesicht, setzte sich dann auf, sodass Die ihm wohl oder übel folgen musste, wenn er ihn weiterhin ansehen wollte.   „Ich glaube, sie mag uns auch. Uns beide. Auch, wenn es sie ein wenig überfordert.“   „Wundert dich das?“   „Nein, aber das ist auch nicht der Punkt.“   „Was dann?“   „Hast du gesehen wie schwer es ihr gefallen ist, uns das alles zu erzählen? Ich meine…sie muss davon ausgegangen sein, dass wir ein Problem damit haben, oder? Nach all den schlechten Erfahrungen, die sie anscheinend schon machen musste. Und trotzdem hat sie uns ihre Wahrheit erzählt.“   Nun konnte Die sehen, in welche Richtung das Ganze hier ging.   „Toshiya...“   „Was? Findest du nicht, dass sie ein Recht darauf hat, auch unsere Wahrheit zu kennen?“ Der Jüngere klang fast schon ein wenig trotzig, was aber nichts daran änderte, dass er eigentlich recht hatte. Zumindest, wenn sie wollten, dass mehr aus dieser Sache zwischen ihnen wurde.   „Natürlich hat sie das“, gab er deswegen zu. „Aber du weißt auch, dass das ein Risiko wäre. Nicht nur für uns…für sie.“ Er streckte seine Hand aus, legte sie liebevoll an die Wange des anderen, lächelte, als der sich sofort ein wenig in die Geste schmiegte. „Ich will nicht, dass sie wegen uns Schwierigkeiten bekommt.“   „Was ist, wenn das nicht der Fall sein müsste?“   „Was?“   „Ich mein ja nur.“ Toshiyas dunkle Augen richteten sich auf ihn und etwas in seinem Blick ließ einen Schauer über seinen Rücken rieseln, von dem er nicht sagen konnte, ob er gut oder schlecht war.   „Du würdest das nicht nur so sagen.“ Das beharrliche Schweigen seines Freundes sagte ihm in diesem Moment mehr als eine wirkliche Erklärung es hätte tun können und er richtete sich auf, spürte wie sein Herzschlag sich beschleunigte. „Hast...du sie gesehen?“, wollte er fast schon atemlos wissen, verharrte angespannt, bis der andere nickte und ein Lächeln nicht zurückhalten konnte.   „Erst war ich nicht sicher, aber…Die, sie war hier bei uns.“ Er griff nach der Hand des Älteren, drückte einen warmen Kuss in ihre Innenseite. „Und sie sah so unglaublich glücklich aus.“ Hosted by Animexx e.V. 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