Der rote Faden von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 3: Puzzleteile ---------------------- Isabel betrachtete ihn einen Augenblick lang. Sie hatte ihre Knie an den Körper heran gezogen und stützte ihr Kinn mit den ineinander verschränkten Fingern darauf. Das Buch, das sie mitgebracht hatte, blieb heute unangetastet.  „Wie hast du deine Freundin kennengelernt?“  Romano hatte sich Zeit gelassen, mit seiner Suche nach Informationen und war angenehm überrascht, dass Isabel von sich aus begann, Fragen zu stellen.  Sie trafen sich schon eine Weile im Park an exakt dieser Bank und es war zu einer stillen Übereinkunft geworden, gemeinsam Zeit miteinander zu verbringen. Bisher war es aber immer um Isabel gegangen. Wie es in der Schule voran ging oder ob sie Redebedarf wegen der Streitereien im elterlichen Haus hatte oder ganz selten mal um ihre Launen.  Um Romano war es bisher nie gegangen und darum überraschte ihn die Frage wohl so sehr.  „Du meinst… die hübsche Bella?“, fragte er nachdenklich.  „Hieß sie so?“ Kindliche Naivität war wirklich reizend.  „Bella ist das italienische Wort für 'schön'“, korrigierte Romano sie und lächelte schmal. „Ich kann mich an ihre Namen nicht erinnern. Es sind unzählige… Ich bin froh, dass ich meinen eigenen Namen in Erinnerung behalte.“ Es war ein Scherz und enthielt dennoch einen Funken Wahrheit. An viele Dinge konnte Romano sich nur erinnern, weil er ab einem gewissen Punkt Tagebuch geschrieben hatte. Leider hatte er vergleichsweise spät damit begonnen, lesen und schreiben zu lernen. Aus einem bestimmten Grund konnte er das nicht von Anfang an, aber das war im 13. Jahrhundert keine Seltenheit, wie er durch Geschichtsbücher feststellen durfte.  Einige Dinge im Laufe der Jahrhunderte waren ihm im Gedächtnis geblieben, weil er beim Eintauchen in Geschichtswissen wusste, dass er einen sentimentalen Wert damit verband. Er wusste nicht, dass er Teil der Kinderkreuzzüge gewesen war, bis ihn eine Reportage im Fernsehen darauf gestoßen hatte.  Manchmal überkam ihn unbändige Wut, ohne dass er wusste weshalb. Irgendwann hatte er gelernt, auf diese Reaktionen zu achten und sich damit zu beschäftigen. Hin und wieder kamen sogar Erinnerungen durch, aber es waren nur Fetzen. Bestenfalls Puzzleteile. Und es war niemals der Rand oder die Ecke eines solchen, sondern immer ein Teil, das zu jedem anderen Ereignis hätte passen können.  Eine Bewegung in seinem Augenwinkel holte ihn in die Realität zurück. Isabela saß war aufgestanden und klopfte sich ihr gepunktetes Kleid ab.  „Willst du schon gehen?“, fragte Romano überrascht und sah auf seine Uhr. Für gewöhnlich blieb ihnen noch immer etwas Zeit, bis sich das Mädchen auf den Heimweg machte.  „Lass uns ein Eis essen gehen, es ist so warm!“, schlug Isabel vor und lächelte. „Dann erzählst du mir von deiner Heimat und von deiner Bella.“  Romano spürte, wie sich Unbehagen in ihm ausbreitete. Obwohl  er es verbergen wollte, machte ihn der Gedanke daran nervös.  Wenn er sich an sein ursprüngliches Leben erinnern würde, wäre er nicht in dieser Zwickmühle gelandet, aber mit diesen Argumenten konnte er Isabel nicht gegenübertreten.  Für ein Kind war sie recht klug und auch sonst stellte sie Fragen, die kein Erwachsener ihm die letzten Jahrzehnte gestellt hatte, doch war sie ihm mittlerweile so sehr ans Herz gewachsen, dass er ihr dieses Leid ersparen wollte. Er würde eine Lüge erfinden, um sie zu vertrösten.  Sie war das schönste Mädchen, das er jemals gesehen hatte. Obwohl ihr Gesicht und ihre Hände voller Dreck waren, war das schöne Lächeln auf ihrem Gesicht, wie gemalt.  Die Mangelernährung war ihr anzusehen, doch sie trübte das Leuchten in Antonias Augen nicht. „Haben  Sie etwas zu essen, Sir?“, fragte sie, die aufgescheuerten Knie unter sich gefaltet, die Hände zum Betteln erhoben. Ihr ging es nicht viel besser, als den anderen in dieser Stadt.  Dieses Jahr stand unter einem schlechten Omen. Der Frühling war trocken gewesen, der Sommer zu heiß und im Winter war es zu nass gewesen. Die Ernte dieses Jahr fiel karg aus und die Menschen mussten selbst mit ihren wenigen Vorräten leben. Die Abgaben an den Lehnsherren waren mehr als die Hälfte und es blieb oft nur ein Bruchteil der Ernte für die Bauern.  Es war nicht verwunderlich, dass die Menschen für ein einfaches Bettlerkind nichts erübrigen konnten.  Romano jedoch hatte Mitleid.  „Erzähl“, forderte Isabel ihn auf, als sie beide dem Eiswagen den Rücken kehrten. Romano hatte sich überlegt, ob er den einen Fetzen seiner Erinnerungen mit ihr teilen wollte, aber da er nicht wusste, wie und ob es sich tatsächlich so ereignet hatte, überlegte er sich etwas anderes.  „Ich habe sie  als Kind unter einer Eiche getroffen“, erzählte er. Dabei war er darauf bedacht, Isabels Blick auszuweichen, um sich nicht zu verraten.  „War sie damals auch schon schön?“  „Wunderschön.“ Romano musste lächeln. Zumindest dieses Detail entsprach der Wahrheit. In jedem ihrer Lebenszyklen war sie wunderschön gewesen. Ob es die pazifistische Blumenkind in den 60er Jahren gewesen war oder der furchtlose Flüchtling während des Naziregimes. Antonia hatte immer einen Weg gefunden, der inneren Rebellin eine besondere Note zu verleihen.  „Und wie ging es weiter?“ Neugierig vergaß Isabel beinahe, an ihrem Eis zu schlecken, sodass es über ihren Daumen floss.  „Wir haben uns verliebt und es war eine schöne Zeit. Wir sind zusammen gereist und wollten ein gemeinsames Leben aufbauen.“ Zumindest dieser Teil entsprach der Wahrheit. „Aber dann ging etwas schrecklich schief. Ich kenne die Einzelheiten leider nicht, aber daraufhin schienen wir vom Pech verfolgt.“  Er wollte Isabela gegenüber nicht expliziter werden, aber er musste unweigerlich an die Zeit nach dem Fluch denken. Sie hatten den Zauberer nicht ernst genommen und wollten ihrem Plan folgen, eine Familie zu gründen.  Tatsächlich wurde sie schwanger, doch das Kind überlebte die Geburt nicht. Auch wenn viele Erinnerungen verschleiert waren, erinnerte er sich zumindest an das Gefühl, sein totes Kind – seinen geliebten Jungen – im Arm zu halten, während Antonia herzzerreißend schluchzte und sich wünschte, sie wäre an seiner Statt gestorben.  Obwohl die Erinnerung so fern war, spürte er einen Kloß in seinem Hals und hielt inmitten seiner Bewegungen inne. Isabel griff in seine Jacke und Romano war froh, dass er diesmal die Tränen zurückhalten konnte.  Man hätte meinen können, dass er über die Jahre abgestumpft sein musste, so oft, wie er sich von geliebten Menschen verabschiedet hatte. Doch dem war nicht so. Besonders nicht, wenn es um den kleinen Bambino ging, der nie die Möglichkeit gehabt hatte, ein erfülltes Leben zu führen.  Was danach mit ihnen geschah, wusste er nicht.  Wenn er sich nur mehr daran erinnern konnte, an dieses Leben mit Antonia!  Wahrscheinlich würde er niemals dieses Bedauern hinter sich lassen können. Es war ein Mahnmal für seine Sünden, auch wenn er längst nicht mehr wusste, welche das gewesen sein mochten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)