Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 1: Schlechter Umgang ---------------------------- Jodie schlich die Treppen hinunter. Die 17-Jährige Tochter von FBI Special Agent Starling achtete darauf, dass sie beim Gehen kaum Geräusche machte. Sobald sie auf der untersten Stufe ankam, ließ sie ihren Blick in Richtung des Wohnzimmers schweifen. Der Fernseher lief, aber dies musste nichts heißen. Jodies Vater war immer auf der Hut – egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Als sie sich sicher war, bewegte sich Jodie schnell zur Garderobe. Mit fixen Bewegungen griff sie nach ihrer Jacke und schlüpfte in ihre Schuhe. Ein weiteres Mal blickte sie in Richtung des Wohnzimmers, ehe sie zur Haustür ging. Jodie atmete erleichtert auf und drückte die Türklinke nach unten. „Wo willst du hin?“ Die Gefragte zuckte zusammen. Jodie ließ die Türklinke los und drehte sich um. „Dad“, fing sie an. „Du hast mir gerade einen richtigen Schrecken eingejagt. Musst du dich auch immer so anschleichen?“, versuchte sie das Thema zu wechseln. Der FBI Special Agent ließ seine minderjährige Tochter nicht aus den Augen. „Lenk nicht ab, junges Fräulein.“ Jodie seufzte. „Ich will zum Lernen zu einer Schulfreundin.“ „Zu welcher Freundin?“, kam es sofort als Gegenfrage. Jodie biss sich auf die Unterlippe. „Amber.“ Agent Starling verengte die Augen. „Du bleibst hier. Dein Hausarrest ist immer noch nicht aufgehoben.“ „Dad!“ Jodie rollte mit den Augen. „Ihr habt gesagt, dass die Schule und alles was damit zu tun hat, nicht vom Hausarrest betroffen sind. Deswegen kann ich jetzt auch gehen.“ „Wir wissen doch beide, dass du bei Amber nicht lernen wirst“, begann er. „Solltet ihr aber wirklich lernen wollen, kannst du Amber hierher einladen.“ „Damit ihr uns kontrollieren könnt? Warum könnt ihr mir nicht wieder vertrauen?“, wollte Jodie wissen. „Dad, das ist so peinlich.“ „Du weißt genau, warum wir das nicht können“, sagte Starling ruhig. „Du hast uns leider Anlass gegeben, dir nicht mehr zu vertrauen. Aber du kannst dir unser Vertrauen erarbeiten, wenn du es wirklich willst. Für den Anfang ist es hilfreich, wenn du dich nicht einfach so raus schleichen würdest. Und für die Zukunft gebe ich dir den Rat, nicht mehr die Schule zu schwänzen.“ „…und wenn doch, sollte ich mich nicht erwischen lassen…“, murmelte Jodie. „Wie war das?“ „Ich hab nichts gesagt“, kam es von Jodie. „Ich darf also nicht raus?“ Agent Starling nickte. „Das hast du richtig verstanden.“ Jodie schnaubte. „Toll.“ Sie legte die Jacke auf das Geländer der Treppe und sah ihren Vater erneut an. „Du weißt gar nicht wie es ist, ich zu sein. Du bist total unfair und willst nicht, dass ich meinen Spaß habe und meine Jugend genieße.“ „Jodie!“, mahnte er sie. „Achte auf deine Wortwahl.“ „Und wenn nicht? Du wartest doch nur darauf, dass ich einen Fehler mache und du mich bestrafen kannst.“ Jodie kamen die Tränen. Sie lief an ihrem Vater vorbei und die Treppen nach oben. Sobald sie in ihrem Zimmer ankam, schlug sie die Tür zu und warf sich auf das Bett. FBI Special Agent Starling sah seiner Tochter nach und seufzte laut auf. Er nahm Jodies Jacke und hing sie zurück an die Garderobe. Zurück im Wohnzimmer, hatte seine Frau die Lautstärke des Fernsehers bereits herunter reguliert. „Sie wollte sich also tatsächlich ohne Absprache raus schleichen?“ „Leider ja.“ Starling setzte sich auf den Sessel. „Sie wollte zu Amber…zum Lernen…“ „Was sie aber nicht getan hätten.“ Starling nickte. „Das wissen wir alle. Aber sie tut trotzdem alles, um ihren Hausarrest irgendwie zu umgehen. Jodie glaubt, ich würde nur nach einem Fehler von ihr suchen. Vielleicht hat sie damit sogar recht…gerade seitdem…“ Er brach ab. „Seitdem sie nicht mehr unser kleines Mädchen ist“, murmelte Angela Starling. „Was ist nur passiert? Früher hat Jodie doch immer zu mir hoch gesehen. Heute denk ich, dass ich ihr peinlich bin und sie nicht mehr mit mir zu tun haben will.“ „Du darfst nicht so streng zu dir sein. Und was Jodie jetzt gerade sagt, darfst du dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Du weißt doch, wie das ist. Sie ist jetzt ein Teenager…und da ist einiges an Ärger vorprogrammiert. Vor allem wenn sie die Tochter eines FBI Agenten ist.“ „Was soll denn das wieder heißen?“, wollte Starling wissen. „Ach, du weißt doch…Jodie wurde schon früher immer mit deinem Beruf konfrontiert. Und gerade in den letzten Jahren fiel es ihr schwer, Freunde zu finden, weil jeder dachte, du würdest die Polizei auf sie hetzen. Ich hatte mir so sehr gewünscht, dass alles anders werden würde, seitdem sie sich mit Amber anfreundete…“ Agent Starling nickte. „Am Anfang tat Amber auch so, als sei sie ein braves Kind. Sie war höflich und zuvorkommend, aber je mehr Jodie mit ihr unternahm, desto mehr zeigte sie ihr wahres Gesicht. Ich hatte bei ihr schon immer ein schlechtes Gefühl. Amber ist für unsere Jodie ein schlechter Umgang. Wenn es so weiter geht, wiederholt Jodie das Schuljahr…und das nur wegen dieser Schwänzerei…“ „Und den schlechteren Noten“, fügte Angela an. „Die Jodie aber hat, weil sie schwänzt. Von mir aus kann Amber gern das Schuljahr ein weiteres Jahr wiederholen, aber Jodie verbaut sich damit ihre Zukunft. Irgendwann wird sie Probleme haben ihre weitere Laufbahn zu genüge zu erklären.“ „Andererseits ist es mir lieber, wenn Jodie bei Amber ist. Versteh mich nicht falsch, aber ich sehe sie lieber dort, als festzustellen, dass sie nicht mehr zu Hause ist. Bei ihrem jetzigen Verhalten ist es mir einfach zu gefährlich. Wir wissen nur, dass Amber einen schlechten Einfluss auf sie hat. Momentan ist es nur das Schule schwänzen. Aber was kommt, wenn wir ihr zu viel auf einmal verbieten?“ Agent Starling schluckte. „Im Grunde ist sie ein gutes Kind. Sie muss nur wieder zurück auf den richtigen Pfad finden. Unser kleines Mädchen versucht viel zu schnell erwachsen zu werden. Sie glaubt, sie müsse Amber ähneln um von ihren Mitschülern respektiert zu werden.“ Starling seufzte. „Wie soll ich sie ihre eigenen Fehler machen lassen, wenn ich jedes Mal Sorge haben muss, dass ihr irgendwas passiert?“ Angela nickte. „McAllister sagt uns jetzt immer Bescheid, wenn Jodie nicht im Unterricht ist oder wenn sie anders auffällig wird.“ „Ich hoffe, dass genügt damit Jodie ihren Abschluss macht. Spätestens im Studium muss sie doch merken, dass ihr Amber nicht gut tut…oh Gott…ich hoffe, Amber überredet sie nicht das Studium sausen zu lassen.“ „Mal nicht den Teufel an die Wand“, mahnte ihn seine Frau. „Jodie wird studieren oder sie macht eine Ausbildung. Egal was es ist, wir werden nicht zulassen, dass sie nur zu Hause rumsitzt und von einem Tag in den nächsten lebt. Wahrscheinlich werden wir in ein oder zwei Jahren über die Situation heute lachen.“ „Das hoffe ich“, nickte er. Starling sah nach oben an die Decke. „Sie war ganz schön sauer.“ „Sie wird sich schon wieder beruhigen. Und selbst mit dem Hausarrest hat sie noch immer Kontakt zu Amber.“ „Leider…“ Jodie lag auf ihrem Bett und weinte. Niemand verstand sie. Ihre Mitschüler nicht, die Lehrer auch nicht und ihre Eltern am Wenigsten. Nur Amber war für sie da. Und trotzdem fühlte sich Jodie manchmal alleine. Als sie das kurze Klingeln ihres Handys vernahm, setzte sie sich auf und wischte sich die Tränen weg. Jodie zog das Handy aus der Hosentasche und strich über den Display. Als sie die eingegangene Nachricht öffnete, seufzte sie laut. Wo bist du? „Na wo wohl“, murmelte das Mädchen und schrieb zurück. Zu Hause. Dad lässt mich nicht gehen. Jodie sah angespannt auf das technische Gerät. Amber tippte eine Nachricht. Jodie wartete geduldig, nur um dann festzustellen, dass sie erneut getadelt wurde. Dann komm online. Langsam stand Jodie auf und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie startete ihren Computer und gab das Passwort ein. Früher kannten auch ihre Eltern dieses. Aber seitdem sich ihr Leben so schnell änderte, behielt Jodie einiges für sich. Nachdem alles soweit hochgefahren war, öffnete sie das Chatprogramm und klickte auf Ambers Namen. Schnell setzte sich Jodie ihr Headset auf und starrte gebannt auf den Bildschirm. Amber tauchte am anderen Ende der Leitung auf. „Da bist du ja endlich. Haben dich deine Eltern erwischt?“ „Leider ja. Dad hat sofort gewusst, dass wir nicht lernen und ich muss hier bleiben.“ „Na toll“, murmelte Amber. „Ich hab dir doch gesagt, wie du das raus schleichen machen sollst.“ „Das hab ich ja versucht“, entgegnete Jodie. „Sobald der Fernseher lief, bin ich ganz leise runter gegangen und zur Tür. Aber Dad hat mich trotzdem gehört. In der letzten Zeit ist er einfach zu streng zu mir…“ „Oh man“, sagte Amber. „Du darfst nicht immer alles tun, was dir dein Daddy sagt. Willst du, dass dich die anderen für ein kleines Baby halten?“, wollte sie wissen. „Kein Wunder, dass du so unbeholfen warst, als wir uns kennen lernten.“ „Ich bin kein Baby“, gab Jodie sofort zurück. „Dann versuch ich das mit dem raus schleichen gleich nochmal.“ Amber seufzte. „Ja, genau, jetzt wo deine Eltern auf der Lauer liegen. Das ist eine wirklich gute Idee. Lass es lieber sein.“ Amber lehnte sich nach hinten und überlegte. „Tut mir leid…“ „Ist jetzt auch egal. Dann überlegen wir uns was anderes.“ Jodie nickte und zog ein Heft heraus. „Das ist jetzt nicht dein ernst“, fing Amber an. „Du solltest nur so tun, als würden wir lernen oder Hausaufgaben machen. Als ob wir die jetzt gleich machen würden…“ „Aber…“ Jodie sah auf die Aufgaben. „Du willst sie wirklich machen? Hat da jemand Angst, dass sein Daddy sonst wütend wird?“ „Nein, natürlich nicht.“ „Aber?“ Jodie wirkte verunsichert. „Es gibt kein Aber.“ Sie schob das Heft zur Seite. „Schon viel besser“, sagte Amber ruhig. „Und…was machen wir jetzt?“ „Na was wohl? Wir vergnügen uns.“ Jodie sah sich um. Sie war immer noch zu Hause. Wie sollte sie sich da vergnügen? Amber wirkte genervt. „Du hast keine Ahnung wie man sich amüsiert, nicht wahr? Wie alt bist du eigentlich?“ „17“, antwortete Jodie. „Das war eine rhetorische Frage“, gab Amber von sich. „Hast du schon einmal was von den vielen Online-Portalen gehört, allen voran die Flirtbörsen?“ „Ja, schon…“ „Gut. Dann sag ich dir, wie wir jetzt Spaß haben werden. Wir melden uns dort an und schreiben den gleichen Typen an.“ „Ich weiß ja nicht“, murmelte Jodie. „Hallo? Jodie? Es geht nur um das Schreiben. Du sollst dich nicht gleich mit ihm Treffen. Oder bist du verklemmt und genau so spießig wie dein Vater?“ „Nein.“ Amber wusste genau, welche Knöpfe sie bei Jodie drücken musste. „Gut, das hab ich mir schon gedacht.“ Amber tippte den Namen einer Flirtbörse in die Suchmaschine und schickte Jodie den Link. „Wir nehmen die. Ich nenne mich dort Persephone.“ „Persephone?“, fragte Jodie irritiert. „Wie kommst du auf diesen Namen?“ „Er klingt schön“, entgegnete Amber. „Und du…mhm…du nennst dich dort Clarice.“ „Clarice?“ „Das passt doch. Damit kann man uns nicht miteinander in Verbindung bringen. Außerdem passt der Name als Identifikation zu dir doch ganz gut.“ „In Ordnung“, antwortete Jodie ruhig. „Aber wir tun nichts, was jemanden schaden kann.“ „Wir doch nicht“, schmunzelte Amber. „Es geht nur darum, etwas Spaß zu haben, Jodie. Jodie nickte und erstellte ihren Account. „Ich bin jetzt online.“ „Sehr gut. Ich auch. Mach dich erst einmal mit der Seite vertraut. Ich such uns derweil einen süßen Jungen.“ Jodie nickte und klickte sich durch die einzelnen Links. „Amber? Persephone wurde bereits vor einigen Tagen erstellt.“ „Mhm? Ja. Was dagegen?“ „Nein. Es wunderte mich nur, weil ich nicht wusste, dass du dort bereits angemeldet bist.“ „Mir war langweilig. Da hab ich die Seite ein wenig auf eigene Faust erkundet.“ Amber streckte sich. „Ich schick dir gleich drei Profile. Du kannst dir dann aussuchen, wenn wir anschreiben.“ „Mach ich.“ „Aber lass dir nicht zu viel Zeit damit. Entscheide aus dem Bauch heraus“, sagte sie und öffnete parallel einen Ordner an ihrem Computer. Amber klickte sich durch mehrere Fotos und aufgenommene Unterhaltungen, bei denen Jodie zugegen war. Dass Amber auch mit Jodie ein falsches Spiel trieb, war dem jungen Mädchen nicht bewusst. „Du kannst ihn auch zuerst anschreiben.“ „Und…was genau soll ich schreiben?“ Innerlich musste Amber schmunzeln. Es war schon wieder zu einfach, aber sie wollte sich nicht beschweren. Einfach war gut. Einfach machte Spaß. „Wie wäre es mit: Hallo, ich bin gerade über dein Profil gestolpert. Es wirkt sehr interessant. Vielleicht hast du Lust mir zu schreiben?“ Jodie überlegte. „Das könnte ich machen.“ „Na dann los. Möge der Spaß beginnen…“ Kapitel 2: Streit ----------------- Amber tippte ungeduldig auf ihrem Handy herum, während sie neben Jodies Spind in der Schule stand. „Hast du es mal“, gab die 19-Jährige von sich. Amber machte keinen Hehl daraus, dass sie die Schule verabscheute und nur hinging, um etwas Spaß zu erleben. Sie konnte sich besseres für ihr Leben vorstellen als langweilige Sachen zu lernen. „Ja, gleich“, murmelte Jodie leise und steckte das letzte Buch in den Spind. „Du hättest auch schon vorgehen können.“ Manchmal störte es Jodie, wenn ihre Freundin so drängelte. Aber jetzt da sie eine hatte, wollte sie diese auf gar keinen Fall verprellen. Das hatte sich Jodie damals geschworen. Sie würde alles tun um Freunde zu halten. „Das wäre wirklich besser gewesen“, entgegnete Amber ruhig. „Jetzt komm“, fügte sie an und schlenderte neben Jodie aus dem Schulgebäude. Aus dem Augenwinkel sah Jodie zu Amber, die sich einige Strähnen ihrer braunen Locken aus dem Gesicht strich. „Wir hätten die beiden letzten Stunden schwänzen sollen.“ Jodie seufzte. „Du weißt, dass das nicht geht“, murmelte Jodie leise. „McAllister informiert meinen Vater, wenn ich nicht im Unterricht bin.“ „Toll.“ Amber verdrehte die Augen. „Und jetzt hast du natürlich wieder Angst vor Daddy. Was kann der dir noch tun? Du hast doch schon Hausarrest.“ „Er kann mein Taschengeld sperren oder mich persönlich zur Schule bringen und wieder abholen.“ „Du hast gewonnen, das wäre wirklich schlimmer.“ Amber musste grinsen. „Dann halten dich alle für ein kleines Kind.“ „Amber!“ „Was? Stimmt doch. Aber weißt du, was mich interessieren würde? Wieso hat ihm McAllister gesteckt, dass du geschwänzt hast? So häufig war das doch gar nicht.“ „Das war meine Schuld“, gestand sie. „Ich hab die gleiche Ausrede zweimal benutzt und es zu spät bemerkt. Deswegen hat er bei meinen Eltern angerufen und nachgefragt, wie es mir geht.“ „Na ganz toll“, gab Amber von sich. „Jetzt muss ich dir also noch genau erklären, wie man schwänzt.“ „Ich weiß, wie man schwänzt…ich mag es nur nicht“, antwortete Jodie ruhig. „Immerhin geht es um unsere schulische Ausbildung. Ich brauch meine Noten, wenn ich studieren will.“ Amber rollte mit den Augen. „Und was hast du davon? Du sitzt in einem klinischen Hörsaal, machst brav deine Aufgaben und verrottest dann in deinem Alltag. Du hast jetzt die Zeit um zu leben. Und das solltest du auch ganz dringend machen. In zwei oder drei Jahren wirst du es sonst bereuen“, entgegnete sie. „Ich versuchs ja…“ „Dann versuch es weiter“, schmunzelte Amber. Sie wusste genau welche Knöpfe sie bei Jodie drücken musste, um diese zu manipulieren. „Du kannst damit anfangen indem du heute Abend zu mir kommst. Ich hab Chad und Connor eingeladen. Die Beiden sind voll süß.“ „Du weißt doch, dass ich Hausarrest habe“, warf Jodie ein. „Moment…wer ist Chad?“ „Tu vor deinen Eltern so, als würden sie recht haben. Sei reumütig und dann lassen sie dich sicher gehen. Und wenn nicht, schleichst du dich eben raus. Soll ich dir noch einmal erklären, wie man das macht?“ „Nein, das schaff ich schon selbst. Nur weil es einmal nicht klappte, heißt es nicht, dass ich es nicht schaffe. Du wirst schon sehen. Und jetzt sag mir endlich wer Chad ist.“ „Lebst du hinterm Mond?“, wollte Amber wissen. „Chad ist Connors älterer Bruder. Und jetzt guck nicht so, als würde ich dich für einen Dollar verschachern.“ Amber streckte sich. „Ich kümmere mich liebend gerne um Chad. Du kannst Connor haben. Er küsst bestimmt auch gut.“ Jodie wurde rot. „Ich…und…Connor?“, murmelte sie leise. „Ja, warum nicht?“ Jodie wusste darauf keine Antwort. Zumindest keine die sie Amber anvertrauen konnte. Als Tochter eines FBI Agenten hatte sie zu Zeiten des täglichen High School Wahnsinns nur wenig Freunde gefunden. Amber jetzt zu sagen, dass sie noch gar keine Erfahrungen mit Jungs hatte, schien ihr nicht richtig. Zwar war Amber ihre Freundin, aber manchmal konnte sie ziemlich gemein sein. Und Jodie war sich sicher, dass sie mit dem neu gewonnen Wissen bei Connor hausieren gehen würde. „Ich weiß nicht…ich kenn ihn ja eigentlich gar nicht.“ „Als ob das wichtig wäre. Du lernst ihn ja heute Abend kennen.“ Amber grinste. „Und wer weiß, was dann alles passiert. Wir planen einfach nichts.“ „Wenn du meinst“, murmelte Jodie leise und ging weiter. Sollte sie jetzt hoffen, nicht raus zu dürfen oder würde sie es ein weiteres Mal wagen? Eine Gänsehaut lief über Jodies Rücken. Sie sah sich um. „Sag mal, fühlst du dich auch beobachtet?“ Amber lachte. Hallo? Hast du dich hier mal umgesehen? Wir sind in einer High School. Klar werden wir beobachtet.“ „Nein, so mein ich das nicht“, warf Jodie ein. „Ich fühl mich beobachtet, so als wäre es eine fremde Person. Und ich hab so ein komisches Gefühl…wie eine böse Vorahnung. Ich weiß auch nicht, woher es kommt.“ Wieder sah sie sich irritiert um. „Oh man…du wirst ja schon zu deinem Vater“, seufzte Amber. „Der sieht auch nur überall das Böse.“ „So schlimm bin ich doch gar nicht.“ Jodie rieb sich über den linken Oberarm. Alles war wie immer. Schüler liefen zu den Schulbussen, zu ihren Eltern oder zu ihren eigenen Autos. Die Lehrer liefen ebenfalls zu ihren Autos, andere in das Schulgebäude und nur wenige nahmen den Fußgängerweg. „Pass bloß auf. Noch hast du es in der Hand.“ Jodie nickte. „Lass uns nach Hause gehen. Wenn ich pünktlich bin, stehen meine Chancen gut.“ Er beobachtete die Schule. In aller Ruhe ließ er seinen Blick zu den einzelnen Schülern schweifen. Unter der Menschenmasse fiel er nicht auf und konnte so sein Ziel suchen. Als er zwei Mädchen erblickte, stockte er. Es war, wie er recherchierte. Voller Aufregung und Vorfreude zog er ein Foto aus seiner Hosentasche heraus. Sie war es. Jung und blond. Genau die Richtige. Als die beiden Mädchen losgingen, folgte er ihnen und hielt genügend Abstand ein. Alles passte zusammen und bald würde es soweit sein. Er musste sich nur noch in Geduld üben und Abwarten. Genüsslich leckte er sich über die Lippen. Bald war der Zeitpunkt gekommen. Ganz bald würde er seine Genugtuung bekommen. Jodie öffnete die Wohnungstür. „Bin wieder da“, rief sie und stellte die Tasche neben die Garderobe. Sie zog ihre Jacke aus und hing sie auf. Anschließend ging sie in das Wohnzimmer. „Mom?“ Sie redet wieder mit uns. Seit Jodies gescheitertem Versuch mit dem Raus schleichen war eine Woche vergangen und Jodie strafte ihre Eltern mit Schweigen. Es fiel ihr schwer, aber in der letzten Woche konnte sie keinen Rückzieher machen. „Da bin ich.“ Ihre Mutter nickte. „Ich hab dich gehört. Wie war die Schule?“ „Wie immer“, antwortete Jodie. „Wir haben heute unsere Bio-Klausur zurück bekommen. Ich hab ein B.“ Angela seufzte innerlich. Jodie war früher eine gute Schülerin, aber ihre Noten litten. Und jetzt hofften sie bei jeder Klausur auf ein B. „Das ist schön, mein Schatz.“ Jodie nickte. „Ich hab mir gedacht, dafür könnte ich doch eine kleine Belohnung bekommen.“ Jodies Mutter verengte die Augen. Warum hab ich das geahnt? „Was schwebt dir vor?“ „Heute ist Freitag und Amber hat ein paar Klassenkameraden zu sich nach Hause eingeladen. Ich dachte, ich könnte auch hingehen.“ „Was ist mit deinem Hausarrest?“ „Ach Mom“, murmelte Jodie. „Kannst du nicht eine Ausnahme machen? Wir machen auch keinen Unsinn. Es ist einfach nur ein zusammensitzen und DVD gucken. Ganz harmlos.“ Jodie sah ihre Mutter an. „Ach bitte. Es sind doch nur ein paar Stunden. Dad kann mich hinfahren und er kann mich später auch abholen. Das wäre kein Problem.“ „Tut mir leid, Jodie. Du hast noch eine Woche Hausarrest. Danach kannst du dich sicher wieder mit Amber treffen, wenn du das möchtest. Aber heute geht es nicht.“ „Mom.“ „Nein, Jodie. Du hast einen Fehler gemacht und jetzt musst du die Konsequenzen tragen. Du wolltest doch die ganze Zeit wie eine Erwachsene behandelt werden. Erwachsene stehen zu dem, was sie getan haben. Ich weiß, es ist schwer für dich, aber du wirst es überleben und es werden noch mehrere Abende kommen, an denen du etwas mit Amber unternehmen kannst.“ „Das ist total unfair. Nur weil ich geschwänzt habe. Ihr übertreibt total.“ Jodie sah ihre Mutter an. „Früher wurde ich nie zu Klassenkameraden eingeladen. Sie dachten immer, dass es Dad auf sie abgesehen hat und sie keinen Spaß haben können. Und jetzt wo ich eingeladen werde, erlaubt ihr mir nicht hinzugehen. Ihr seid so gemein.“ Jodie seufzte theatralisch. „Mom, bitte…“ Es zerriss Angela das Herz. Wie gern würde sie ihrer Tochter den Abend erlauben. „Nein. Du kannst gerne deinen Vater fragen, aber er wird auch nein sagen.“ „Natürlich wird er nein sagen. Er hasst Amber.“ Jodie ballte die Fäuste. „Ihr wisst gar nicht wie das ist, jung zu sein. Ihr versaut mir mein ganzes Leben. Ihr seid so…“ „Pass auf deine Wortwahl auf, junges Fräulein“, mahnte Angela ihre Tochter. „Ach und wenn schon. Euch macht es doch Spaß, wenn ich keine Freunde hab und nur alleine bin. Wahrscheinlich lacht ihr jeden Tag über mich.“ „Jodie, bitte, mach jetzt kein Drama daraus. Vom Hausarrest geht die Welt nicht unter.“ Jodie sah ihre Mutter enttäuscht an. „Das ist nicht fair…einfach nicht fair…ich hasse euch.“ Klatsch. Jodie blickte ihre Mutter geschockt an. Nur ganz langsam fuhr sie mit ihrer Hand über die leicht gerötete Stelle an der Wange. Es war das erste Mal, dass sie eine Ohrfeige bekam. Sie war den Tränen nahe, konnte aber ihren Ausbruch gerade noch verhindern. „Jodie…ich…“, murmelte Angela. Sie schluckte. „Das…wollte ich nicht…“ Es gab kein Halten mehr. Jodie brach in Tränen aus und lief aus dem Zimmer. Mit schnellen Schritten nahm sie zwei Treppenstufen auf einmal und verschanzte sich in ihrem Zimmer. Jodie warf sich auf das Bett und weinte. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass ihre Mutter sie ohrfeigte. Eigentlich hatte sich Jodie bereits alles ausgemalt. Sie würde ihrer Mutter von der guten Note erzähle, dann um Ausgang für den Abend fragen und diesen bekommen. Aber die Vorstellung hatte nichts mit der Realität zu tun. Ihre Mutter blieb stur und auf ihren Vater konnte Jodie auch nicht hoffen. Aber wenn sie nun so nicht zu Amber durfte, musste sie andere Seiten aufziehen und sich dieses Mal wirklich raus schleichen. Jodie wischte sich die Tränen weg. Langsam stand sie auf und sah zur Tür. Ihre Eltern würden wieder auf der Lauer liegen, also musste sie auf einem anderen Weg verschwinden. Die Schülerin ging zum Fenster und sah nach unten. Es sah nicht weit aus, aber wie wollte sie runterkommen? Angela saß auf dem Sofa im Wohnzimmer. Jodie sprach wieder kein Wort mit ihr. Sie reagierte nicht auf das Klopfen an der Tür und kam nicht zum Abendessen nach unten. Angela sah zu ihrem Mann. „Meinst du, ich war zu streng zu ihr?“, wollte sie wissen. Agent Starling schüttelte den Kopf. „Du hast getan, was richtig war. Ich hätte ihr den heutigen Abend auch nicht erlaubt. Jodie entgleitet uns immer mehr. Wenn das so weiter geht, müssen wir uns andere Maßnahmen überlegen.“ Angela schluckte. „Sie war so aufgelöst und…“ Sie sah auf ihre Hand. „Sie hat mich auf die Palme gebracht und…ich hab sie geohrfeigt. Ich hätte das niemals tun dürfen.“ Starling nahm ihre Hand. „Sie wird es dir verzeihen. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Glaub mir das ruhig.“ Seine Frau nickte. „Ich …seh trotzdem nochmal nach ihr. Vielleicht kann ich sie jetzt ein wenig trösten“, sprach sie. Angela stand auf. „Ich weiß, ich sollte sie in Ruhe lassen, damit sie sich abreagieren kann, aber ich muss nach ihr sehen.“ „Du musst dich nicht vor mir rechtfertigen“, entgegnete er. Angela lächelte leicht. Sie stand auf und ging nach oben zu Jodies Zimmer. Angela atmete tief durch und klopfte an die Tür. „Jodie? Hier ist Mom, darf ich reinkommen?“ Wie Stunden zuvor, kam von Jodie keine Reaktion. „Jodie, bitte, lass uns darüber reden. Ich komm jetzt rein, ja?“ Langsam drückte Angela die Türklinke nach unten. Sie betrat das Zimmer. Jodies Bett war leer, ihr Handy lag auf dem Schreibtisch und das Fenster stand sperrangelweit offen. „Bitte nicht“, wisperte sie leise. Angela verließ das Zimmer und ging zum Badezimmer. Sie klopfte an. „Jodie? Bist du hier drin?“ Angela drückte die Klinke herunter und trat ein. Jodie war nicht im Badezimmer. Jetzt realisierte sie es. Jodie war abgehauen. Kapitel 3: Verschwunden ----------------------- Jodie war euphorisch und aufgeregt. Die Freude über die gelungene Flucht aus ihrem Elternhaus stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jodie war überglücklich, dass sie es dieses Mal geschafft war. Im Nachhinein war es schon fast zu einfach. Nach der Ohrfeige ihrer Mutter blieb sie in ihrem Zimmer und schmollte. Immer wenn ihre Mutter an die Tür klopfte, schwieg sie. Nachdem ihr Vater von der Arbeit nach Hause kam, stattete er ihr im Zimmer einen Besuch ab. Sobald er aus dem Zimmer ging, hatte sie lange genug Zeit um sich aus dem Haus zu schleichen. Jodie schnappte sich ihr Handy und lauschte an der Tür. Sie strich leicht unsicher über das Display des Handys und tippte eine Nachricht an Amber. Darf nicht rüber kommen, ich schleich mich raus, lasse meine Handy zu Hause. Jodie legte ihr Handy auf ihren Schreibtisch und öffnete das Fenster in ihrem Zimmer. Von dort hatte sie einen guten Blick auf die Terrasse. Oft arbeitete ihr Vater wenn er zu Hause war. Dazu setzte er sich entweder in sein Arbeitszimmer oder auf die die Terrasse. Jodie hatte Glück. Von ihrem Zimmer aus konnte sie ihn sehen und hören. Wenn alles gut ging, telefonierte er noch eine ganze Weile. In dieser Zeit ging Jodie zurück zur Zimmertür und öffnete sie ganz leise. Sie verharrte einen Moment, hörte aber weder ihre Mutter noch ihren Vater. Jodie stieg leise die Treppe hinab, nahm ihre Jacke von der Garderobe und schlüpfte in ihre Schuhe. Jetzt oder nie, sagte sie sich und ging zur Haustür. Ehe sie sie öffnete, lauschte sie nach Anzeichen ihrer Eltern. Wenige Sekunden später, öffnete sie die Haustür und trat nach draußen. Sobald sie die Tür schloss, lief sie los. Jetzt wo sie draußen war, wollte sie sich nicht noch einmal erwischen lassen. Draußen zog sich Jodie ihre Jacke an. Für den Herbst war es bereits recht kühl geworden und die Straße wurde nur noch durch die Laternen beleuchtet. Glücklicherweise war der Weg zu Amber nicht allzu weit. Mit dem Auto oder dem Fahrrad dauerte die Fahrt maximal zehn Minuten, zu Fuß waren es je nach Schnelligkeit zwanzig bis dreißig Minuten. Normalerweise hatte Jodie kein Problem damit auch mal abends alleine durch die Straßen zu gehen, aber an diesem Tag war alles anders. Wieder überkam sie ein ungutes Gefühl. Jodie versuchte es abzuschütteln und ging weiter. Ihre Euphorie ebbte ab. Die Aufregung wich und ihr Adrenalinspiegel sank in den Keller. Wenn Jodie ehrlich zu sich selbst war, wollte sie wieder nach Hause, zurück zu ihren Eltern. Natürlich wären ihre Eltern wütend, wenn sie wussten, dass sich ihre Tochter raus schlich. Würde sie sich entschuldigen, würde die Sache fast ausgestanden sein. Selbst mit weiterem Hausarrest konnte sie leben. Obwohl sich Jodie schon nahezu entschied, trugen sie ihre Beine immer weiter von zu Hause weg. Angela kam langsam die Treppen nach unten. Fast apathisch bewegte sie sich in das Wohnzimmer. Agent Starling kam durch die Terrassentür rein. „Jodie ist weg“, sagte Angela leise. „Was?“ Starling hob die Augenbraue. „Was soll das heißen?“ „Was wohl?“, kam es von Angela. „Unsere Tochter ist nicht mehr in ihrem Zimmer. Sie hat es wirklich getan und ist abgehauen.“ „Hast du im Badezimmer nachgesehen?“, wollte der Agent wissen. „Natürlich hab ich das. Jodie ist weg und sie hat ihr Handy auf dem Schreibtisch liegen gelassen.“ Starling knurrte leise. Auf Jodies Handy befand sich eine Software zur Ortung. Er hatte sie damals mit Jodies Einverständnis installiert. Gerade als FBI Agent rechnete Starling mit allem und die Sicherheit seiner Familie besaß immer höchste Priorität. „Jodie kriegt was zu hören“, sagte er und ging in den Flur. „Ich fahr sofort zu Amber und hol Jodie ab.“ „Ich komm mit.“ Angela folgte ihm und zog sich im Flur Schuhe und Jacke an. „Wenn ich sie nicht geohrfeigt hätte, wäre sie noch da“, murmelte sie. „Red dir das bitte nicht ein“, antwortete ihr Mann. „Wahrscheinlich wäre Jodie so oder so abgehauen. Das einzige, was in der Situation geholfen hätte, wäre ihr den Abend zu erlauben. Und das kam nie in Frage.“ Starling seufzte. „Ab Montag werde ich sie selbst zur Schule fahren und nach dem Unterricht zu Hause absetzen. Das hat sie sich selbst zuzuschreiben, auch wenn es in ihren Augen peinlich ist.“ Angela nickte. „Das wird wohl besser sein“, murmelte sie und ging nach draußen zum Wagen. „Ich erkenne unsere Jodie nicht wieder.“ Starling öffnete die Tür und stieg ein. „Ich weiß, was du meinst. Jodie ist in einer Phase in der sie alles ausprobiert. Das geht vorbei.“ Er wünschte es sich so sehr. Er startete den Motor und fuhr los. Die ganze Zeit über schwirrten seine Gedanken um Jodie und was er ihr alles sagen würde. Ihm war egal, wenn er seine Tochter nun vor ihren Schulkameraden bloß stellen musste. Die zehn Minuten Fahrt zu Amber kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Jede Ampel arbeitete gegen ihn und sprang auf rot um. Ungeduldig tippte er auf dem Lenkrad und war erleichtert, als er der Einfahrt der Westons immer näher kam. Sobald sein Wagen parkte, schnallte er sich ab und stürmte auf die Haustür zu. Starling klopfte und klingelte. Seine Tochter würde gleich was erleben. Es dauerte einen Moment ehe die Tür aufging. Leila Weston – die Mutter von Amber – sah ihn an. „Mister Starling…oh und Ihre Frau ist auch da. Was kann ich für Sie tun?“ Agent Starling stürmte an ihr vorbei. „Jodie?“, rief er durch das Haus. „Jodie, komm sofort hier her.“ „He, Starling.“ Leila folgte ihm. „Sie können hier doch nicht einfach so rein stürmen.“ Angela kam zu den beiden. „Bitte entschuldigen Sie unser plötzliches Auftreten hier. Wir möchten Jodie abholen. Sie ist ohne unsere Erlaubnis hier.“ Leila sah sie irritiert an. „Es tut mir leid, aber Jodie ist nicht hier.“ „Aber…das kann nicht sein…“, murmelte Angela leise. „Sie wollte heute zu Amber…sie wollten sich doch hier mit anderen Schulkameraden treffen…“ „Davon weiß ich nichts. Ich hab heute einen freien Tag und bin seit dem frühen Nachmittag zu Hause. Amber ist alleine oben in ihrem Zimmer.“ „Das kann nicht sein“, entgegnete Starling und ging die Treppe nach oben. Er hatte Jodie schon so oft in dem Haus abgeholt, dass er mittlerweile wusste, welches Zimmer von Amber bewohnt wurde. Ohne Vorwarnung trat er in das Zimmer des Mädchens. Er sah sich um. „Wo ist sie?“ Amber sprang von ihrem Bett auf. „Was soll das? Sie können hier doch nicht einfach reinplatzen.“ „Wo ist meine Tochter?“ „Nicht hier. Oder sehen Sie sie irgendwo?“ Agent Starling ging an ihren Kleiderschrank und öffnete die Tür. Danach kniete er sich auf den Boden und sah unter dem Bett nach. Von Jodie gab es keine Spur. Er stand auf und fixierte Amber mit den Augen. „Wo ist sie?“ „Woher soll ich das wissen?“, kam es von Amber. „Wahrscheinlich zu Hause. Haben Sie dort schon nachgeguckt?“ „Du hältst dich für sehr witzig. Wenn sie zu Hause wäre, meinst du ich wäre dann hier?“ Amber zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist Ihnen langweilig.“ Leila und Angela kamen die Treppen hoch. „Amber, Schatz, weißt du wirklich nicht, wo Jodie ist?“ Amber verdrehte die Augen. „Ich sagte das doch schon. Ich hab keine Ahnung. Sie wollte sich raus schleichen und herkommen, aber sie kam nicht. Ich hab mir dabei nichts gedacht und ihr auch eine Nachricht geschickt, dass der heutige Abend nicht stattfindet.“ Amber sah ihre Mutter an. „Ich hab Jodie und zwei Jungs hier eingeladen, aber beide haben abgesagt. Daraufhin hab ich Jodie abgesagt.“ „Wieso glaub ich dir nur nicht?“, wollte Starling wissen. „Was weiß ich, weil Sie pessimistisch sind?“, antwortete Amber. „Ich kann Ihnen gerne mein Handy mit der Absage zeigen.“ Starling verengte die Augen. „Sag mir lieber wo du Jodie versteckst.“ Amber seufzte. „Ich verstecke Jodie nicht. Sehen Sie sich doch hier um oder noch besser, stellen Sie hier ruhig alles auf den Kopf. Sie werden sehen, dass Jodie nicht da ist.“ Starling ballte die Faust. „Sag ihr, sie soll wieder nach Hause kommen.“ „Agent Starling“, fing Leila an. „Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind, weil Sie nicht wissen, wo Ihre Tochter ist. Aber wir kommen so nicht weiter und wenn Sie weiterhin versuchen meine Tochter unter Druck zu setzen, bringt es Keinem etwas. Ich kann Ihnen versichern, dass Jodie nach der Schule nicht zu uns gekommen ist. Sollte sie doch noch hier her kommen, fahre ich Ihre Tochter persönlich nach Hause. Ich schlage vor, dass Sie jetzt auch nach Hause fahren und gucken, ob Jodie nicht dort ist. Vielleicht musste sie einfach nur frische Luft schnappen und sitzt jetzt in ihrem Zimmer, wo sie Hausaufgaben macht. Sollte Amber doch noch etwas von Jodie hören, informieren wir Sie natürlich unverzüglich.“ Starling verengte die Augen. „Ich nehme Sie beim Wort.“ Er sah sich im Zimmer um und dann zu seiner Frau. „Komm, wir gehen.“ Angela saß im Wohnzimmer und drückte den Lieblingsteddybären ihrer Tochter an sich. Jodie saß natürlich nicht in ihrem Zimmer und auch sonst war das Haus leer. „Hoffentlich geht es ihr gut“, murmelte sie leise. Die Sorge ließ sie beinahe verrückt werden. Obwohl es normal war, dass Kinder nicht ununterbrochen zu Hause waren und manchmal für einige Stunden verschwanden, passte dieses Verhalten nicht zu Jodie. Angela konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Tochter ihnen diese Sorge bereitet hätte. Agent Starling nickte. „Amber versteckt sie irgendwo, aber das kann sie nicht für immer machen“, sprach er. „Morgen ist Jodie bestimmt wieder zu Hause.“ „Hoffentlich hast du Recht…“ Er lächelte gezwungen. „Du wirst sehen…und jetzt Kopf hoch.“ Wenn er aber ehrlich war, nagten die ersten Zweifel an ihm. Wo war Jodie? Und warum kam sie nicht nach Hause? War ihr doch etwas Geschehen und sie ließen jetzt nur wichtige Zeit verstreichen? Agent Starling hatte in der Vergangenheit viel gesehen. Zu viel. Angela nickte. „Wenn sie doch nur ihr Handy mitgenommen hätte…du hättest sie orten können und dann wäre sie wieder zu Hause. Ich wäre ihr nicht einmal böse gewesen.“ Angela sah ihn an. „Wenn sie jetzt durch die Tür käme, ich würde sie nur in meine Arme drücken…sie wäre ohne Strafe davon gekommen, aber sie soll einfach nur wieder nach Hause kommen.“ Angela wischte sich die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht. Starling setzte sich zu seiner Frau und nahm sie in den Arm. „Liebes, unsere Tochter kommt sicher bald nach Hause. Du musst dich nur noch etwas Gedulden.“ Angela lehnte sich an ihn. „Ich weiß nicht, ob ich heute Nacht schlafen kann.“ „Das geht mir genauso. Ich bleibe wach und warte auf Jodie.“ „Ich auch. Aber wir schalten das Licht aus, damit sie sich auch traut reinzukommen. Ich will gar nicht wissen, was ihr Amber noch über uns erzählt.“ „Jodie wird bald merken, dass sie Amber nicht vertrauen kann“, murmelte Starling. Auch am nächsten Morgen kam Jodie nicht nach Hause. Jedes Mal wenn es draußen nur annähernd raschelte, sprangen sie auf und begaben sich zur Haustür. Trotz aller Sorgfalt und des Wartens gab es keine Spur von ihrer Tochter. Kurz nach acht Uhr rief er bei den Westons an. Ein weiteres Mal versicherte ihm Leila, dass Jodie nicht bei ihnen war. Es wusste keiner, wo sich das Mädchen aufhielt. Wieder konnte es Agent Starling nicht lassen und sprach ein mahnendes Wort mit Amber. „Falls du doch weißt, wo Jodie ist, fahr zu ihr und schick sie nach Hause.“ „Wie oft denn noch?“, wollte Amber wissen. „Ich hab immer noch keine Ahnung wo Jodie ist. Sie war die Nacht über nicht hier. Außerdem bin ich nicht ihr Kindermädchen.“ „Amber, wenn du weißt…“, begann Leila. „Mom!“, fuhr Amber dazwischen. „Wie oft muss ich es noch sagen? Ich habe keine Ahnung. Ich schrieb ihr ein paar Nachrichten, aber es kam keine einzige Reaktion. Sie können gern mein Handy nehmen und es überprüfen.“ „Jodie ließ das Handy zu Hause.“ „Das weiß ich auch, aber es hätte sein können, dass sie wieder zu Hause ist. Das kann ich doch nicht wissen.“ Amber sah Starling an. „Aber es würde mich nicht wundern, wenn Jodie abgehauen wäre. Sie war die ganze Zeit über unglücklich. Sie waren immer so streng zu ihr.“ Kapitel 4: Ermittlung --------------------- Aufgebracht stand Agent Starling auf der Terrasse seines Hauses. Jodies Abwesenheit in der Nacht und auch noch am nächsten Morgen ließen ihn und seine Frau sich die schlimmsten Bilder ausmalen. Was wenn ihr doch etwas Passiert war und sie jetzt irgendwo in einem Graben lag? Oder gar entführt wurde? Vielleicht wurde ihr in jenem Augenblick noch etwas viel Schlimmeres angetan. Und wie sollte er jetzt noch seine Frau beruhigen? Angela war mit den Nerven am Ende. Es gab Tage da hasste er seinen Beruf, weil er die Menschen genau kannte. Und obwohl er jahrelang seine Familie beschützte und es auch weiterhin vorhatte, trat nun der Worst Case ein. Er war machtlos und konnte nichts tun, außer zu warten und zu hoffen. Jetzt gehörte er unter Anderem zu den Opfern und musste sich gedulden. „James“, zischte er in das Handy. „Natürlich weiß ich, dass Jodie noch nicht lange weg ist und so was zum Erwachsenwerden dazu gehört. Aber du weißt genau, dass ein solches Verhalten nicht zu ihr passt.“ James seufzte. „Du hast mir doch selber erzählt, dass sie sich in den letzten Wochen verändert hat. Kann es nicht sein, dass...“ „Nein, kann es nicht“, kam es sofort von dem Agenten. „Ja, sie hat sich verändert, was aber nur an dem schlechten Einfluss von Amber liegt. Und ja sie hat sich an dem Abend wohl raus geschlichen, aber ich kenne meine Tochter. Wenn sie bei Amber gewesen wäre und feststellen musste, dass doch kein Treffen mit den Jungs stattfindet, wäre sie sicher nicht lang geblieben und danach nach Hause gekommen. Jodie kennt uns doch. Sie weiß, dass wir zwar sauer gewesen wären, aber wir hätten ihr nicht den Kopf abgerissen. James, ich hätte dich nicht angerufen, wenn ich nicht denken würde, dass es ernst ist. Ich hab wirklich ein ganz ungutes Gefühl bei dieser Sache. Sie ist definitiv nicht bei Amber, auch wenn ich mir immer noch wünschen würde, dass das Mädchen sie versteckt. Glaub mir James, da ist etwas im Busch.“ Starling seufzte. „Ich habe Feinde, James. Angehörige oder Freunde von Tätern drohten mir schon mehrfach. Was wenn einer von denen Jodie hat? Ich kann nicht untätig rumsitzen.“ James runzelte die Stirn und blickte auf seinen Computer, anschließend aus dem Fenster. „Ich schicke zwei Agenten zu dir, aber du kennst die Prozedur. Du musst die Wahrheit sagen und alles offen legen, egal wie schlimm es auch sein könnte. Ich muss auch die Polizei informieren, aber für den Anfang sollte es keine Einmischungen geben.“ „Danke.“ Starling wirkte erleichtert und ging in das Wohnzimmer. Angela blickte ihn unter Tränen an. „Ich hab mit James telefoniert. Er schickt uns ein paar Agenten vorbei. Das FBI beschäftigt sich jetzt mit der Suche nach Jodie. Ich bin mir sicher, wir werden sie finden.“ Angela nickte hoffnungsvoll. „Wann haben Sie ihre Tochter das letzte Mal gesehen?“, wollte Agent Pierce wissen und schlug sein graues Notizbuch auf. Er saß auf dem Sofa im Wohnzimmer der Starlings während seine Partnerin – Agent Fries – an der Wand neben der Eingangstür zum Wohnzimmer lehnte. Angela saß auf dem Sessel und hielt ein Kissen in der Hand. Ihr Mann stand neben ihr, seine Hand ruhte auf ihrem Oberschenkel und er nickte ihr aufmunternd zu. Angela holte tief Luft und drückte das Kissen. „Jodie ist gestern Nachmittag aus der Schule nach Hause gekommen“, begann sie. „Eigentlich wollte sie gestern Abend zu ihrer Freundin Amber gehen, aber da sie Hausarrest hat, hab ich es verboten. Daraufhin haben wir uns gestritten. Sie wollte unbedingt zu Amber. Laut Jodie waren einige Schulkameraden eingeladen. Als wir bei Amber waren, hieß es, dass nur noch zwei Jungs kommen sollten.“ Pierce sah sie fragend an. „Haben Sie die Namen?“ „Chad und Connor. Amber schickte unserer Tochter eine Nachricht, dass die Beiden absagten.“ Pierce wirkte überrascht. „Sie haben das Handy Ihrer Tochter?“ Er sah zu seiner Partnerin, dann wieder zu Angela. „Entschuldigung, bitte fahren Sie fort. Wir kommen nachher noch auf das Handy zurück.“ „Normalerweise gebe ich bei Jodie häufig nach, aber dieses Mal blieb ich standhaft. Das hat ihr nicht gefallen und wir haben uns das ein oder andere an den Kopf geworfen. Irgendwann wurde es mir zu viel und ich habe Jodie geohrfeigt. Ich weiß, dass es nicht richtig war und ich bereue es. Jodie war auch schockiert darüber und lief dann nach oben. Ich hab mehrfach versucht mit ihr zu reden, aber sie schwieg mich nur an. Irgendwann hab ich nur noch an die Tür geklopft. Als keine Antwort kam, hab ich mir nichts dabei gedacht.“ „Ich kam gegen 18 Uhr nach Hause. Seitdem sich Jodie in einer rebellischen Phase befindet, seh ich immer nach ihr. Sie war noch da“, fügte Agent Starling an. „Sie muss zwischen 18 und 20 Uhr verschwunden sein“, murmelte Angela. „Ich war kurz nach 20 Uhr oben bei ihr. Sie hat nicht reagiert, aber ich wollte noch unbedingt mit ihr reden, weswegen ich in ihr Zimmer rein bin. Sie war nicht dort. Das Fenster stand weit offen und ihr Handy lag auf dem Tisch. Ich hab überall nachgesehen, aber Jodie war nirgends“, wisperte Angela. „Sie erwähnten vorhin den Hausarrest. Wie kam es dazu?“ Starling seufzte leise. „Jodie war immer ein gutes Kind. Aber je älter sie wurde, desto mehr Probleme hatte sie, Freunde zu finden. Es lag an meinem Beruf. Ihre Mitschüler hatten immer Angst, dass ich sie überprüfen lasse oder versuche gegen sie zu ermitteln. Also gingen ihr alle aus dem Weg. Dann kam Amber Weston. Sie wiederholte das Schuljahr und freundete sich schnell mit Jodie an. Am Anfang waren wir auch sehr erleichtert deswegen, aber dann mussten wir feststellen, dass Amber kein guter Umgang für Jodie war. Jodie lernte weniger für die Schule und traf sich in jeder freien Minute mit Amber. Irgendwann kam Schule schwänzen dazu. Wir wussten nichts davon. Jodies Lehrer hat uns darüber informiert und seitdem achteten wir mehr auf das, was sie tut. Als es nicht mehr ging, gaben wir ihr Hausarrest.“ Starling versuchte zwanghaft zu lächeln. „Es hat aber nichts gebracht. Vor einiger Zeit hat Jodie versucht sich raus zu schleichen. Ich habe sie dabei erwischt. In der nächsten Zeit sprach sie nur noch das Nötigste mit uns.“ „Das stimmt“, entgegnete Angela. „Als sie gestern nach der Schule wieder mit mir gesprochen hat, wusste ich, dass sie etwas will. Ich hätte aber nie gedacht, dass es so ausartet.“ Pierce nickte. „Als Sie bemerkten, dass Jodie verschwunden war, was haben Sie getan?“ „Wir sind direkt zu Amber gefahren“, antwortete der FBI Agent. „Anders als erwartet, fand keine Party statt. Es waren nur Amber und ihre Mutter Leila da. Wir haben Leila schon mehrfach gesehen und immer nur paar Worte miteinander gewechselt. Sie bestätigte, dass Jodie nicht dort war. Ich hab trotzdem nachgeschaut und Amber eindringlich zu verstehen gegeben, dass Jodie nach Hause kommen soll. Zu dem Zeitpunkt nahmen wir noch an, dass sich Jodie bei Amber versteckt. Danach sind wir nach Hause gefahren und haben auf Jodie gewartet. Als sie auch am nächsten Morgen nicht da war, bin ich ein weiteres Mal zu Amber gefahren. Jodie war dort immer noch nicht aufgetaucht.“ „Ich verstehe“, entgegnete Pierce. „Sie haben vorhin Jodies Handy erwähnt. Können wir darauf noch einmal zurück kommen? Haben sie den Pin-Code?“ „Nein, Jodie hat uns vertraut und wir ihr“, sagte Starling. „Wegen meinem Beruf haben wir abgesprochen, dass sie ein Ortungsprogramm auf das Handy gespielt bekommt. Aus dem Grund hat sie sich auch gegen einen PinCode entschieden. Es gab nichts Verwerfliches auf ihrem Handy. Sie können es gerne mitnehmen.“ Starling setzte sich auf die Lehne des Sessels. „Auffällig ist allerdings, dass Jodie Amber die Nachricht schickte, dass sie sich ohne Handy auf den Weg macht. Einige Minuten später schickte Amber die Absage. Das passt meiner Meinung nach nicht zusammen.“ „Wir prüfen das.“ Pierce runzelte die Stirn. „Wie war Ihr Draht zu Amber?“ „Nicht gut“, murmelte Angela. „Wie gesagt, sie hatte einen schlechten Einfluss auf Jodie. Und dann war da noch die Sache…“ „Die Sache?“ „Die Sache mit mir“, schaltete sich Starling ein. „Am Anfang kam Amber noch häufig Jodie besuchen. Die beiden Mädchen saßen oft bis spät in den Abend zusammen. Als Vater eines Teenagers habe ich Amber natürlich nicht alleine nach Hause gehen gelassen. Manchmal fuhr Jodie mit, sodass die beiden noch etwas Zeit zusammen hatten. An einigen Tagen fuhr ich Amber alleine nach Hause. Sie hat mir auch ein sehr eindeutiges Angebot gemacht…natürlich hab ich abgelehnt und meiner Frau davon erzählt. Seitdem war unser Verhältnis zu Amber recht angespannt.“ „Verstehe“, murmelte Pierce. „Was haben Sie als nächstes vor?“, wollte Angela wissen. „Wir fahren direkt im Anschluss zu Amber Weston und befragen sie und ihre Mutter. Danach hören wir uns bei den beiden Jungs Chad und Connor um. Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Ihre Tochter entführt wurde. Momentan gehe ich davon aus, dass sie sich bei einem Schuldfreund oder einer Schulfreundin versteckt. Ja, Sie sagten, sie hatte außer Amber keine Freunde und trotz Ihres guten Verhältnisses, erzählen Kinder ihren Eltern nicht alles. Wir werden alles daran setzen um zu erfahren, mit welchen Menschen sich Ihre Tochter noch so traf. Und wie Sie aus eigener Erfahrung wissen, ist es normal, wenn junge Mädchen für ein oder zwei Tage ausreißen. Ich glaube immer noch daran, dass Ihre Tochter bald wieder nach Hause kommt. Möglicherweise ist Ihre Tochter auch auf Sie wütend wegen der Sache mit Amber.“ „Sie glauben, Amber hat Jodie erzählt, dass das Angebot von mir ausging?“ Pierce zuckte mit den Schultern. „Es besteht im Bereich des Möglichen. Junge Mädchen sind leicht beeinflussbar.“ Stunden später standen die Agenten Fries und Pierce wieder vor der Tür der Starlings. Angela brachte beide in das Wohnzimmer. Aufgrund der besonderen Umstände nahm sich ihr Mann frei und versuchte auf anderen Wegen seine Tochter zu finden. Jodie blieb weiterhin wie vom Erdboden verschwunden. „Möchten Sie einen Kaffee?“ „Ja, gerne“, nickte Pierce und schüttelte seinem Kollegen kurz die Hand. „Haben Sie etwas heraus gefunden?“, wollte Starling wissen. „Leider haben wir keine neuen Nachrichten“, entgegnete er. „Wir sind hier, weil Agent Black darauf bestanden hat, dass wir Ihnen persönlich den aktuellen Stand mitteilen. Wir waren bei Amber und ihrer Mutter. Beide bestätigen, dass sie Ihre Tochter weder gestern Abend noch heute Morgen sahen. Amber selbst war ein wenig…provokant. Entweder sie ist eine gute Schauspielerin oder sie weiß wirklich nichts.“ „Was ist mit ihrem Handy?“ „Das haben wir bereits zur IT gebracht. Sie hat es uns freiwillig gegeben. Aber ich will ehrlich zu Ihnen sein, es besteht die Möglichkeit, dass wir nichts finden oder dass sie ein Zweithandy besitzt.“ Agent Starling biss sich auf die Unterlippe.“Was ist mit den beiden Jungs?“ „Mit denen konnten wir noch nicht sprechen. Beide waren nicht zu Hause. Die Eltern kommen heute von einem Kurztrip nach Hause und Beide sind losgefahren um sie abzuholen. Wir versuchen es gleich im Anschluss noch einmal.“ „Gut.“ Starling verschränkte die Arme. „Wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Jodie entführt wurde?“ „Gering“, antwortete Pierce. „In den meisten Fällen liegt innerhalb der ersten zwölf bis vierundzwanzig Stunden eine Lösegeldforderung vor. Wenn man Ihren Beruf mit einbezieht, müsste die Forderung innerhalb von weniger Stunden gekommen sein. Wir dürfen natürlich nicht außer Acht lassen, dass Ihre Tochter ein junges Mädchen ist. Und manchmal wollen junge Mädchen einfach nur etwas Spaß haben, ehe sie nach Hause kommen.“ „Bitte was?“ Starling verengte die Augen. „Das war keine Wertung.“ Das Handy von Pierce klingelte. „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Pierce stellte sich zur Seite und nahm das Gespräch entgegen. Starling sah zu Fries. Die junge Agentin hatte kaum ein Wort gesprochen, aber James versicherte ihm, dass sie mehr als kompetent war. „Verstehe…ist gut…Danke…“, sagte Pierce ruhig und steckte das Handy wieder ein. Er sah zu Fries. „Wir müssen los.“ Starling stand alarmiert auf. „Was ist passiert?“ „Agent Starling, wir werden Sie über die neuesten Erkenntnisse auf dem Laufenden halten, wenn wir mehr wissen.“ „Nein, das werden Sie nicht. Sie werden mir jetzt mitteilen, was passiert ist. So wie Sie reagiert haben, steht der Anruf in Verbindung mit Jodies Verschwinden. Also sagen Sie mir jetzt, was passiert ist.“ Pierce sah seinen Kollegen an. „Es wurde eine Leiche gefunden.“ Kapitel 5: Mord --------------- Pierce sah seinen Kollegen an. „Es wurde eine Leiche gefunden.“ Der FBI Agent steckte sein Handy in die Jackentasche und blickte ernst drein. Solche Botschaften übermittelten ungern. Und noch weniger mochte er es, wenn ein potentielles Familienmitglied dabei war, ehe sie genaue Angaben machen konnten. Unglücklicherweise war mit Agent Starling in manchen Fällen nicht gut Kirschen zu essen. Angela ließ ein Tablett mit vier, mit Kaffee gefüllten Tassen, einer Zuckerdose und einer Kanne Milch auf den Boden fallen. Das Porzellan zerbrach und die verschiedenen Flüssigkeiten vermischten sich mit dem Zucker und den Scherben. Ihre Gesichtsfarbe verschwand. „Jo…jodie…“ wisperte sie leise und rutschte nach unten auf den Boden. Agent Starling schluckte schwer. War sie tot? War seine kleine Jodie tot? Starling sah zu seiner Frau. Tränen bahnten sich ihren Weg aus ihren Augen und liefen an der Wange entlang. Er kniete sich hin und nahm sie in den Arm. „Schhh…alles gut…es wird…alles gut…“, sagte er leise. „Vielleicht ist sie es gar nicht…“, fügte er an. Wenn er ehrlich war, war er sich dem nicht ganz sicher. Eine Leiche war nie gut. Und wenn sie inmitten eines Falles auftauchte, erst recht nicht. Zudem redete ein anderer Agent viel zu offen darüber, sodass auf jeden Fall ein Zusammenhang bestand. Starling drückte seine Frau an sich und sah zu Pierce hoch. „Pierce? Ist es Jodie?“ „Die Identifizierung läuft noch“, antwortete der Agent. „Aber es ist eine weibliche Person, die in Zusammenhang mit Jodies Verschwinden stehen könnte?“, wollte Starling wissen. „Wir wissen es noch nicht. Die Leiche wurde erst vor einer Stunde von der örtlichen Polizei gefunden. Nach Meldung beim NYPD fand ein grober Abgleich mit allen Vermisstenfällen statt. Vom Alter und von der Gegend her, könnte es passen. Direkt danach wurde das FBI informiert. Die Spurensicherung ist bereits auf dem Weg und das Gebiet geräumt.“ Pierce räusperte sich. „Wir sollten den Teufel trotzdem nicht an die Wand malen. Nach meiner Erfahrung ist noch alles offen und wir müssen erst die Identifizierung abwarten.“ Agent Starling nickte. Ein weiteres Mal sah er zu seiner Frau. „Hast du gehört? Es muss noch nichts heißen.“ Es war gut, dass ein anderer Agent die Einzelheiten erklärte. Aus seinem Mund hätte es viel eher nach einem Versuch der Beruhigung angehört. Angela schluchzte. „Es…es geht ihr bestimmt gut“, sagte Starling ruhig. „Ganz bestimmt…“ Angela krallte sich in das Hemd von ihrem Mann. „Sie…darf es…nicht sein…“, murmelte sie leise. Pierce sah zwischen den Beiden hin und her. „Wir informieren Sie, sobald wir Neuigkeiten zum Fund haben“, fing er. „Ich komme mit.“ „Agent Starling, das halte ich für keine gute Idee.“ „Ich…ich komme auch mit…wenn es Jodie ist…muss ich sie sehen…“ „Angela“, sprach Starling. „In diesem Fall ist es besser, wenn du hier bleibst. Wir wissen nicht, ob es Jodie ist und ich möchte nicht, dass du einem Tatort ausgesetzt wirst. Das, was du dort siehst, wirst du möglicherweise nicht wieder vergessen.“ „Aber…“ „Glaub mir, Angela, so ist es besser.“ Sie schluckte. „Aber…wenn es Jodie ist, informierst du…mich?“ „Natürlich“, nickte er. Er würde sie nicht im Unwissenden lassen. „Kann ich dich auch wirklich alleine lassen?“ Angela nickte. „Ich…ich komm klar…“, murmelte sie. Agent Starling glaubte ihr nicht. „Ich rufe James an und werde ihn bitten hier herzukommen.“ „Das musst du nicht.“ „Doch, das mach ich.“ Starling strich ihr durchs Haar. Er versuchte zu lächeln, merkte dann aber selber wie falsch es war. Langsam zog er sie nach oben und setzte sie auf das Sofa. Er wischte ihre Wangen trocken. „Ich bin bald wieder zurück.“ Was hätte er auch sonst sagen sollen? Alles andere hörte sich so falsch an. Stand er auf der anderen Seite und hatte es mit Eltern oder Familienmitgliedern zu tun, war es ein leichtes Ihnen mehr als Hoffnung zu geben. Manchmal musste er lügen, nur um sie zu beruhigen. Aber nun wo er seiner Frau gegenüber saß, konnte er das nicht. Auch wenn er es nur gut meinte, ein falsches Wort würde sie ihm nicht verzeihen. Pierce parkte den Wagen am Waldrand. „Ab hier müssen wir zu Fuß. Es ist nicht weit. Eine Joggerin hat die Leiche gefunden.“ Starling nickte und stieg aus. Das Waldgebiet war, trotz der Gefahren, immer noch ein beliebter Platz für junge Jogger. Weibliche Jogge. Man konnte ihnen erzählen was man wollte, sie oft genug warnen und trotzdem gingen sie immer noch alleine in den Wald. „Ich halte das immer noch für keine gute Idee“, sagte Pierce. Starling musterte den Agenten. „Das haben Sie jetzt zweimal gesagt. Ich nehm es ins Protokoll auf.“ Starling sah sich um. „Ich kann nicht verstehen, wie junge Frauen hier Joggen gehen können.“ Pierce zuckte mit den Schultern. „Sie kennen die Umgebung und ihnen ist nie was passiert. Aber sobald etwas geschieht, werden sie für einen kurzen Moment vorsichtig. Wenn dann wieder Gras über die Sache wächst, fallen sie in alte Muster zurück“, meinte er ruhig. „Ich hoffe wirklich, dass es nicht Ihre Tochter ist.“ „Danke“, entgegnete Starling. „Auch, dass Fries bei meiner Frau blieb.“ „Schon gut.“ Pierce ging solange den Waldweg entlang, bis die Absperrung in Sicht war. Polizei, Gerichtsmedizin und Spurensicherung waren bereits vor Ort. Die Leiche lag auf einer Bahre, abgedeckt mit einem weißen Tuch, während die Spurensicherung Fotos vom Tatort machte. Starlings Schritte wurden immer schneller, den restlichen Weg lief er. Er musste unbedingt sicher sein. Ein Polizist stellte sich ihm in den Weg und auch wenn es Konsequenzen gab, stieß er diesen weg. Vor der Bahre fiel er auf die Knie, sein Atem ging stoßweise, während er die Decke wegschob. „Starling!“ Pierce hielt dem Polizisten seinen Ausweis hin und sah seinen Kollegen an. „Ist das…“ „Ja“, murmelte Agent Starling. „Das ist Amber.“ Ungewollt durchströmte ihn Erleichterung. Starling stand auf und schob das Laken weg. „Sie weist Strangulationsmale am Hals auf.“ Dr. Lambert, die Gerichtsmedizinerin, trat an die Agenten heran. „Zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass Strangulation zum Tod führte. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion und Blutanalyse sagen.“ Pierce nickte. „Gibt es Anzeichen von Missbrauch?“ „Ohne medizinische Untersuchung kann ich das noch nicht sagen. Aufgrund der Art und Weise wie sie hier liegt, gehe ich allerdings nicht davon aus, außer wir hätten es mit einem Serienmörder zu tun.“ Dr. Lambert sah auf die Leiche. „Bei einer Vergewaltigung durch ein Spontanverbrecher fände man die übliche Vorgehensweise: Entweder die Spuren wären deutlich sichtbar, weil der Täter danach ganz schnell die Füße in die Hand genommen hätte oder er hätte sich danach bemüht alles wieder in Ordnung zu bringen. Dennoch hätten wir in beiden Fällen Spuren gefunden.“ Starling schluckte. „Danke, Doktor. Wir lassen die Leiche in die Gerichtsmedizin bringen“, sagte er und sah zu Starling. „Kommen Sie.“ Er trat zur Seite. Agent Starling sah seinen Kollegen an. „Sie wissen, was das bedeutet, Pierce. Amber ist tot und Jodie verschwunden. Das kann kein Zufall sein.“ Pierce nickte. „Das lässt das Verschwinden Ihrer Tochter in einem anderen Licht erscheinen. Wir müssen jetzt wirklich von einer Entführung ausgehen.“ Der Agent sah sich um und verschränkte die Arme. „Gut, was haben wir? Nach der Befragung durch mich und Fries hat sich Amber umgezogen und ist Joggen gegangen. Wir müssen ihre Mutter zu ihrer bevorzugten Strecke befragen, aber ich denke wir können davon ausgehen, dass sie hier häufiger läuft. Sobald Amber nun in den Wald kam, wurde sie von unserem Täter überrascht.“ Pierce sah zur Spurensicherung. „Was ist in der Bauchtasche?“ „Ein kaputtes Handy und Ohrstöpsel.“ Pierce hob die Augenbraue. „Das ist wirklich sehr interessant. Amber hat uns ihr Handy vor wenigen Stunden selbst gegeben. Dann muss das ihr Zweithandy gewesen sein.“ Starling schluckte. „Das Mädchen hat von Anfang an gelogen.“ „So sieht es wohl aus. Das Warum müssen wir noch herausfinden. Aber spinnen wir die jetzige Situation weiter. Der Täter trifft auf Amber. Anhang ihrer Sachen könnte man darauf schließen, dass sie kaum Bargeld dabei hat. Der Täter wird grob und stranguliert sie. Nachdem sie tot ist, zerstört er ihr Handy und verschwindet.“ „Wir sollten das Handy und die Speicherkarte schleunigst zur Untersuchung geben. Auf einem wird sich sicherlich etwas finden lassen. Und wir sollten nicht außer Acht lassen, dass Amber den Täter kannte. Das könnte zumindest erklären, warum hier keine Kampfspuren sind. Außer sie wurde hier nicht umgebracht“, entgegnete Starling. „Wir konnten keine Spuren durch Herschleifen finden“, warf McKenzie von der Spurensicherung ein. „Das heißt, falls er sie hergetragen oder gefahren hat, müssten wir Spuren an ihr finden. Ich glaube nicht, dass sich jemand so viel Mühe gab“, sprach Pierce. „Das Handy ist der Schlüssel.“ Starling nickte. „Wir sollten Ambers Zimmer auf den Kopf stecken. Egal in was sie verwickelt war, sie hat Jodie mit reingezogen.“ „Starling.“ „Nein, Pierce. Es geht hier um das Leben meiner Tochter. Wer auch immer sie in seiner Gewalt hat, hat möglicherweise auch Amber umgebracht. Und wenn er den Fehler beging und Jodie sein Gesicht zeigte, hat sie nicht mehr lange zu leben.“ Leila saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und starrte die Agenten mit einem ausdruckslosen Gesicht an. „Sind Sie sich sicher?“, fragte sie leise. „Vielleicht ist es gar nicht Amber.“ Es musste ein Albtraum sein. Nicht ihre Tochter. Agent Starling sah sie an. „Es tut mir wirklich sehr leid“, fing er an. „Ich war vor Ort, ich habe Amber identifiziert. Selbstverständlich können Sie sie auch sehen.“ Leila schluchzte. „Aber sie…sie ist doch erst vorhin zum Joggen rausgegangen. Was ist passiert?“ „Den genauen Tathergang konnten wir noch nicht rekonstruieren. Wir nehmen allerdings an, dass sie den Täter kannte. Nach den ersten Erkenntnissen ist kein Kampf sichtbar. Natürlich werden wir das noch durch die Spurensicherung bestätigen lassen. Der Täter hat es scheinbar auf das Handy Ihrer Tochter abgesehen. Wissen Sie, ob dort wichtige Daten oder Bilder drauf waren?“, wollte Pierce wissen. „Ich weiß es nicht“, wisperte Leila leise. „Sie hat mir nicht gezeigt, was sich auf ihrem Handy befindet. Glauben Sie, sie hat vielleicht ein Foto gemacht, was sie nicht hätte machen sollen, oder dass sie was gesehen hat…und wurde deswegen…“ „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt nichts ausschließen“, entgegnete der Agent. „Ich weiß, gerade jetzt hilft Ihnen diese Antwort nicht.“ Leila wischte sich die Tränen weg. Sie versuchte stark zu sein. Aber wie die meisten Mütter gelang es ihr nicht. „Wurde meine Tochter vergewaltigt?“ „Nach den jetzigen Erkenntnissen gehen wir nicht davon aus“, antwortete Starling. „Ausgeschlossen werden kann es nicht, die Wahrscheinlichkeit ist aber sehr gering. Leila, ich weiß, Sie haben jetzt ganz andere Gedanken, aber wir benötigen Zugang zu Ambers Zimmer und ihrem Computer. Wenn wir Glück haben, finden wir dort einen Hinweis auf das, was sich auf dem Handy befunden hat und darauf, warum ihre Tochter sterbe musste.“ Starling schluckte leise. „Und wir erhoffen uns einen Hinweis auf den Aufenthaltsort meiner Tochter zu bekommen.“ Leila schwieg und sah auf den Fußboden. Es fiel ihr schwer das ganze Ausmaß und den Tod ihrer Tochter zu realisieren. „Leila?“, fragte Starling nach. „Sie glauben…beide Mädchen sind…darin verwickelt?“, fragte die Angesprochene. „Das tun wir“, nickte Starling. „Es wäre ein sehr großer Zufall, wenn ausgerechnet Jodie verschwindet und kurz darauf Amber ermordet wird. Wir müssen nur noch den Zusammenhang finden.“ „Dann…tun…Sie…das…“ Leila schluckte. „Finden Sie heraus, wer das meinem Mädchen angetan hat.“ Starling nickte und sah zu Pierce. „Holen Sie die Spurensicherung.“ Pierce stand auf und zog das Handy heraus. Sofort wählte er die Nummer der Kollegen der Spurensicherung. Er gab ihnen knappe Anweisungen und sah sich im Raum um. „Wo ist eigentlich der Vater von Amber?“ Leila blickte ihn irritiert an. „Charlie hat uns vor einigen Jahren verlassen. Seitdem bin ich auf mich allein gestellt und habe versucht Amber so gut es ging zu erziehen. Aber es war schwer für sie ohne Vater aufzuwachsen.“ „Mein Beileid“, murmelte Pierce leise. „Nein…so war das nicht…“, murmelte sie. „Er ist wegen einer anderen Frau gegangen. Seitdem haben wir eigentlich keinen Kontakt mehr.“ „Eigentlich?“ Pierce sah sie fragend an. „Wenn er daran denkt, ruft er zu Ambers Geburtstag an oder meldet sich zu Weihnachten. Ich glaube, seine neue Freundin findet es nicht gut, dass er das tut.“ „Haben Sie eine Adresse?“ „Sie glauben, dass er es war?“, wollte Leila wissen. „Oder sie?“ „Ich möchte mir nur alle Optionen freihalten“, antwortete Pierce. Als sein Handy klingelte, zog er dieses wieder hervor. Der Anruf kam von seiner Partnerin Fries. „Entschuldigen Sie mich bitte.“ Pierce trat an die Seite und wischte über das Display um den Anruf entgegen zu nehmen. „Fries, was ist los?“ Eine Schweißperle lief über die Wange von Agent Starling. Argwöhnisch beobachtete er seinen Agenten. Welche schlechte Nachricht würde dieser Anruf bringen? „Danke, ich richte es aus.“ Pierce beendete den Anruf und schob das Handy in seine Hosentasche. „Pierce!“ Die Anspannung war Starling anzusehen. „Wir haben Ihre Tochter gefunden.“ Kapitel 6: Amber ---------------- Amber saß am Computer und tippte gerade ihre Nachricht in das Chatfenster ein. Sie schmunzelte und wartete auf die Antwort ihres Chatpartners. „Na komm schon“, murmelte sie zu sich selbst. „Ich seh doch, dass du online bist.“ Amber lehnte sich nach hinten. Der Morgen hatte genau so turbulent angefangen wie der Abend zuvor aufhörte. Jodies Vater führte sich wie eine Furie auf, als ob Jodie nicht einmal eine Nacht außerhalb verbringen konnte. Aber er reagierte genau so, wie sie es sich dachte. Sein kleines Mädchen war weg und schon ließ er alles stehen und liegen. Amber blickte auf ihre Uhr. Nur noch ein paar Stunden und dann konnte Jodie wieder nach Hause. Sie sah dieses Ende schon kommen. Jodie kehrte zurück, wurde gleich in den Arm genommen, angeschnauzt und würde noch mehr Hausarrest bekommen und dann war wieder alles vergessen. Aber sie hätten ihren Eltern gezeigt, dass Jodie nicht mehr das Mädchen von damals war. Amber gähnte und las eine neue Nachricht auf ihrem Computer. Lasst mich endlich in Ruhe. Sie lächelte. „Du willst, dass ich dich in Ruhe lasse?“, fragte sie leise sich selbst. Das würde nie geschehen. Flink wie sie war, tippte Amber ihre nächste Nachricht. „Amber“, hörte sie ihre Mutter rufen, gefolgt vom Klopfen an ihrer Tür. „Amber? Du hast Besuch vom FBI.“ „Na toll“, murmelte das Mädchen und verdrehte die Augen. Dann auf zu Runde 3. Amber beendete das Chatprogramm und fuhr den Computer runter. „Herein“, rief sie und stand auf. Leila öffnete die Tür und kam mit Agent Pierce und Fries in das Zimmer. „Amber, es geht immer noch Jodie.“ „Oh man“, gab Amber von sich und lehnte sich gegen ihren Schreibtisch. „Ich versteh gar nicht, warum alle darum so einen Aufriss machen.“ „Amber“, mahnte Leila. „Was denn, Mom?“, wollte sie wissen. „Ich weiß, dass sich Jodie gestern Abend raus geschlichen hat und schließlich über Nacht nicht nach Hause kam. Aber wie gesagt, sie ist selbst raus gegangen und außerdem ist es doch ganz normal, wenn man mal nicht zu Hause übernachtet. Sie ist 17 und ich war auch schon mit 17 mehrere Nächte nicht zu Hause. Da macht man doch keinen Aufriss, selbst wenn sie nicht Bescheid gegeben hat.“ Amber sah die Anwesenden an. „Sie wird schon wieder auftauchen.“ Leila sah die Agenten an. „Bitte entschuldigen Sie.“ „Schon gut“, entgegnete Fries. Sie sah zu Amber und schenkte ihr ein Lächeln. „Amber, ich weiß, du hörst das alles nicht zum ersten Mal, aber wir müssen ausgiebig über die Situation sprechen. Lass uns von vorne anfangen. Du hast Jodie das letzte Mal am Freitagnachmittag gesehen. Was ist genau passiert?“ Amber seufzte leise. Jetzt wurde sie also schon inoffiziell verhört. „Ich nahm an, dass ich am Abend alleine zu Hause bin und lud Jodie sowie Chad und Connor zu mir ein. Wir wollten DVDs gucken und etwas…naja rummachen. Chad und Connor sagten bereits zu. Als ich beiden aber schrieb, dass Jodie auch kommt, wollten sie nicht mehr. Wir haben kurz telefoniert, aber sie blieben bei ihrer Meinung. Und dann war auch noch Mom nach Hause gekommen. Zur gleichen Zeit schickte mir Jodie die Nachricht, dass sie sich gleich auf den Weg macht und ihr Handy nicht mit nimmt. Da ich Jodie genau kenne und annahm, dass sie sicherlich noch eine halbe oder ganze Stunde braucht, schrieb ich ihr, dass das Treffen ausfällt. Ich dachte wirklich, dass Jodie die Nachricht gelesen hat. Und selbst wenn sie es nicht getan hätte und hier vor der Tür stünde, hätten wir immer noch DVD gucken können. Mom hätte sie dann nach Hause gefahren oder ihren Eltern Bescheid gegeben. Aber wie gesagt, Jodie kam nicht.“ „Und ihr hattet keinen weiteren Kontakt an dem Abend?“, wollte Fries wissen. „So ist es. Normalerweise schreiben wir noch am Abend, aber wenn sie beim raus schleichen erwischt wurde, hätte es auch sein können, dass ihre Eltern ihr das Handy wegnehmen. Ich hab mir einfach nichts dabei gedacht.“ „Ich verstehe“, entgegnete Fries ruhig, während sich Pierce im Zimmer umsah. „Was ist dann passiert?“ „Nicht viel. Mom war unten im Wohnzimmer und ich saß in meinem Zimmer. Ein paar Stunden später kamen Jodies Eltern und suchten Jodie. Erst da realisierte ich, dass sie nicht mehr zu Hause war. Ihre Eltern nahmen an, dass wir uns irgendeinen Scherz erlaubt haben und ich Jodie verstecke, aber das stimmt nicht. Als ihre Eltern wieder weg waren, habe ich Jodie eine Nachricht geschrieben, aber keine Antwort zurück bekommen. Danach hab ich es sein lassen. Wenn sie ohne Handy unterwegs war, würde ich sowieso keinen Kontakt zu ihr bekommen. Und ich nahm an, dass sie in ein paar Stunden wieder nach Hause kommt“, sagte Amber. „Aber Jodie kam nicht nach Hause“, fügte Fries an. „Das tat sie scheinbar nicht. Ihre Eltern waren heute Morgen wieder hier, aber ich hatte ja keine Ahnung. Und ehe Sie gleich fragen, nein, ich hab keinen Kontakt zu Jodie und ich weiß auch nicht, wo sie sich befindet.“ „Gut, Amber, wir haben gehört, dass du Agent Starling ein gewisses Angebot unterbreitet hast…“ „Du hast was?“ Amber verdrehte die Augen. „Das ist doch schon Wochen her. Ich war deprimiert und als er mich nach Hause gefahren hat, dachte ich mir, dass es meinem Selbstbewusstsein sicher gut tut. Aber wie Sie sicher wissen, hat er es abgelehnt.“ „Oh Amber“, murmelte Leila. „Mom, ist halb so wild.“ Pierce sah sie skeptisch an. „Hast du ein Zweithandy?“, wollte er wissen. Amber lachte. „Schön wäre es. Leider muss ich Sie enttäuschen. Ich hab nur das eine Handy.“ Sie zog es aus ihrer Hosentasche. „Möchten Sie es mitnehmen? Sie finden bestimmt noch alle Telefonate und Nachrichten drauf.“ Amber funkelte ihn selbstsicher an. „Wenn du es uns schon selbst anbietest, gehen wir gerne auf deinen Vorschlag ein. Du wirst es morgen im Laufe des Tages wieder bekommen. Ich würde dir raten, dich gerade abends nirgends alleine aufzuhalten.“ „Ja…doch…“ Amber rollte ein weiteres Mal mit den Augen und verschränkte die Arme. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“ „Sei trotzdem vorsichtig“, entgegnete Pierce ruhig und sah zu seiner Kollegin. „Gehen wir.“ Fries nickte und verließ den Raum, während Amber nur schnaubte. „Amber“, fing Leila an. „Mom, du jetzt nicht auch“, seufzte das Mädchen. „Ich muss meinen Kopf frei kriegen und geh laufen.“ „Aber Amber, du hast doch die Agents gehört.“ „Ich weiß, Mom, aber es ist helllichter Tag und ich kenn die Strecke. Also bring jetzt die beiden Agenten nach unten, ehe sie sich heimlich hier umsehen und ich zieh mich um.“ „Über das Joggen reden wir nochmal“, entgegnete Leila und ging nach unten. Amber sah ihr nach und streckte sich. Endlich war sie wieder alleine. Die Situation mit Jodie wurde immer nerviger. Alle taten so, als wäre das Mädchen eine Heilige. Die kleine Jodie mit ihrer tollen Familie. Jodie hatte alles, was sie selbst haben wollte, aber nicht bekam. Und auch ihr Plan Jodies Vater zu verführen um diese Vorzeigefamilie zu zerstören, war gescheitert. Sie hatte nichts gegen ihn in der Hand, doch die Freundschaft zu Jodie blieb. So konnte sie immer noch alles tun um das gute Verhältnis zwischen Eltern und Tochter langsam zu zerstören. Was sie nicht hatte, sollte auch kein anderer haben. Außerdem brauchte sie für ihr eigentliches Ziel einen Sündenbock. Jodie war die perfekte Wahl gewesen, sie war naiv und lief ihr wie ein kleines Hündchen nach. Es war einfach sich an Jodie heran zu spielen und die Fäden in der Hand zu halten. Trotzdem ärgerte sie sich jetzt über den FBI Agenten. Er hätte betteln und sie anflehen sollen, Jodie zurück nach Hause zu schicken, stattdessen hetzte er ihr weitere Agenten auf den Hals. Aber er würde schon sehen, was er davon hatte. Amber ging an ihren Kleiderschrank und zog sich um. Ihre Jeans tauschte sie gegen eine Sporthose und ihre Bluse gegen ein Shirt. Ihr lockiges Haar band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen, zog die Laufschuhe an und legte sich eine Bauchtausche um. Von ihrem Zweithandy hatte glücklicherweise keiner eine Ahnung. Wenn sie Guthaben auflud, zahlte sie immer bar und schrieb aus Prinzip weder mit der Familie noch mit Freunden über die Nummer. Amber kramte das Handy aus dem kleinen Schränkchen an ihrem Schreibtisch und steckte es in die Bauchtasche. Sie sah kurz zum Computer und verließ anschließend das Zimmer. Amber stieg die Treppen hinab. „Mom, ich bin jetzt weg“, rief sie. „Aber Amber…“ Leila kam in den Flur. „Ich weiß, Mom, aber ich brauch das jetzt. Ich bin in spätestens einer Stunde wieder zurück.“ Amber trat einfach nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. Sie sah sich um und holte das Zweithandy hervor. Amber suchte ihre Playlist heraus und steckte sich die Stöpsel ihrer Kopfhörer in die Ohren. Die Musik auf ihrem Handy stellte sie laut und lief los. Mit der Zeit beschleunigte sie auf ein angenehmes Tempo und ließ ihre Arme langsam vor und zurück schwingen, während sie in Richtung des Waldes lief. Es war ihre bekannte Route und je mehr Musik von ihrer Playlist lief, desto motivierter war sie. Vielleicht würde sie die Strecke ausweiten und doch später nach Hause kommen. Am Anfang kamen ihr noch mehrere Jogger entgegen, aber je näher sie dem Waldgebiet kam, desto weniger Menschen traf sie. Im Wald selber war sie bislang keiner Menschenseele begegnet. Nach einer Weile verlangsamte Amber ihr Tempo und blieb stehen. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren, stemmte die Hände in die Seiten und atmete mehrmals tief ein und aus. Sie hätte sich nicht so gehen lassen dürfen und musste in Zukunft wieder häufiger laufen gehen. Amber sah nach oben und schloss die Augen. Auch wenn man es nicht glauben mochte, mochte sie die Natur und hielt sich gern draußen auf. „Weiter“, sagte sie leise und marschierte auf die Parkbank zu. Amber machte einige Ausfallschritte und Dehnübungen. Ein Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Manchmal traf man wohl doch einen anderen Jogger in dem Wald. Und obwohl sie sich normalerweise sicher fühlte, war ihr nun mulmig geworden. Irritiert sah sich Amber um, schüttelte dann aber den Kopf. „Jetzt lässt du dich schon von Jodie anstecken“, sagte sie leise. Amber schob sich die Ohrstöpsel wieder in ihre Ohren und stellte die Musik erneut ein. Nachdem sie einen Moment verharrte, setzte sie sich wieder in Bewegung. Obwohl sie andere Pläne hatte, lief sie wieder den Weg zurück. Automatisch stellte Amber die Musik leiser und lauschte der Umgebung. Es war wieder totenstill. Oh man, Amber, wenn du noch mehr Zeit mit Jodie verbringst, wirst du genau so paranoid werden, sagte sie zu sich selbst. Dann aber hörte sie wieder Schritte. Sie kamen immer näher und wurden schneller. Es musste ein anderer Jogger sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Kurz blickte Amber über ihre linke Schulter und starrte in die Leere. Ihr Herz begann zu rasen. Amber sah wieder nach vorne. Ein mulmiges Gefühl überkam sie und sie wollte nur noch nach Hause. Instinktiv lief sie so schnell wie sie nur konnte. Der Schweiß lief an ihrem Gesicht herunter. Amber erblickte bereits den Ausgang. Sie musste nur noch ein kleines Stückchen durchhalten, dann wäre sie wieder neben einer befahrenen Straße. Selbst wenn sie jemand verfolgte, im Notfall konnte sie bestimmt auf die Hilfe der Autofahrer oder Fußgänger zählen. Die Härchen an Ambers Unterarmen stellten sich auf. Warum reagierte sie ausgerechnet heute so? Lag es an der ganzen Geschichte mit dem FBI? Ließ sie sich anstecken? Als Amber ein weiteres Mal aus dem Augenwinkel nach hinten sah, blieb ihr Herz beinahe stehen. Eine schwarze Gestalt lief dicht hinter ihr. Von wo kam er auf einmal her? Und wie hatte er es geschafft so schnell zu ihr aufzuschließen? Warum hatte sie ihn nicht viel eher bemerkt? Amber versuchte die negativen Gedanken zu verdrängen und sich auf ihre Strecke zu konzentrieren. Wahrscheinlich trug der Läufer hinter ihr immer Schwarz und wirkte nur so gefährlich, weil sie es sich einbildete. Mit einem Mal überholte er sie und die Erleichterung durchströmte ihren Körper. Aber dann blieb er einfach vor ihr stehen. Amber versuchte ebenfalls anzuhalten und kam dabei ins Stolpern. Gerade so hielt sie sich auf den Beinen und machte einige Schritte nach hinten. Langsam hob die Person ihren Kopf und schob die schwarze Kapuze nach hinten. „Hallo Amber“, sprach er ruhig. „Lange nicht mehr gesehen. Ich will mit dir reden.“ Ambers Augen weiteten sich. „Du?“ Sie atmete erleichtert auf. „Musstest du mir so einen Schrecken einjagen? Du hättest mich doch auch anrufen können.“ „Ach weißt du“, fing er an und kratzte sich am Hinterkopf. „…ich geh gerne joggen und als ich dich vorhin sah, dachte ich, dass ich die Chance ergreifen muss.“ Amber seufzte leise auf. „Na gut, lass uns reden.“ Kapitel 7: Gefunden ------------------- Er folgte ihr. Schritt um Schritt. Haus um Haus. Seit sie das Haus ihrer Eltern verließ, war er ihr auf den Fersen. Sie war das perfekte Opfer, leicht zu fassen und unachtsam. Sie lief allein durch die beginnende Dunkelheit. Er musste jedes Szenario bedenken, damit nichts schief ging. Näherte er sich ihr zu früh oder zu spät, könnte sie entkommen und wäre für die nächste Zeit unerreichbar. Sie wäre gewarnt. Andererseits war es nun ein leichtes sie sofort zu schnappen, von hinten auf den Boden zu reißen und dann zu verschleppen. Oder aber er spielte noch ein wenig mit ihr, indem er wie ein normaler Passant oder Jogger an ihr vorbei lief und dann ohne Vorwarnung stehen blieb. Allein ihr Gesicht zu sehen, wäre es Wert. Er hätte aber auch einige Straßen weiter laufen können und ihr dann entgegen kommen, sie ansehen und dann packen. Sie konnte ruhig sein Gesicht sehen, denn es wäre das letzte, was sie sah. Wie ein Löwe auf der Jagd beobachtete er die junge Gazelle. Sein Herz blieb fast stehen, als sie sich auf einmal umdrehte und umsah. Hatte sie ihn trotz aller Vorsicht bemerkt? War er sich zu sicher? Er schluckte. Noch war es nicht zu spät. Eine Handlung und sie würde sich wieder in Sicherheit wiegen. Er ließ seine Hand in seine Manteltasche gleiten und holte das Handy heraus. Was war normaler als jemand der in gebückter Haltung, starrend auf das Display den Weg entlang lief? Er sah kurz auf das Display und dann langsam wieder nach vorne. Als sich Jodie wieder in Bewegung setzte, wusste er, dass sie nicht wusste, dass es ihn gab. Er konnte sich weiter auf die Lauer legen. Sehr gut, sagte er sich und wechselte auf die andere Straßenseite. Dort beschleunigte er und zog an ihr vorbei. Voller Freude und Euphorie hatte sich Jodie auf den Weg zu Amber gemacht. Sie hatte den perfekten Zeitpunkt abgepasst und sich raus geschlichen. In wenigen Minuten wäre sie bei ihrer einzigen Freundin. Und doch war jetzt alles komisch geworden. Während Jodie die halb beleuchtete Straße weiterging, kam ein ungutes Gefühl in ihr auf. Automatisch griff sie in ihre Jackentasche um wenigstens das Handy zu umfassen. Jetzt ärgerte sie sich, weil sie dieses absichtlich zu Hause ließ. Warum musste sie ihre Eltern auch nur so gut kennen? Sie wusste, sobald ihre Abwesenheit bemerkt wurde, würden ihre Eltern sie orten. Vor Jahren hatte Jodie ihrem Vater erlaubt eine Software auf das Handy zu spielen, damit sie im Notfall geortet werden konnte. Jodie konnte ihrem Vater dafür keinen Vorwurf machen, schließlich sorgte er sich nur um sie. Wie sehr wünschte sie sich in diesem Augenblick, dass sich das Handy nun in ihrem Besitz befand. Jodie sah nach hinten. Noch konnte sie nach Hause gehen. Es würde zwar ein Donnerwetter geben, aber sie wäre nicht mehr auf der dunklen Straße. Baby, hörte sie Ambers Stimme in ihrem Kopf. Jodie seufzte leise auf. Manche Kommentare waren verletzend, aber was tat man nicht alles für seine einzige Freundin? Das junge Mädchen atmete tief ein und folgte der Straße. Aus dem Augenwinkel sah sie eine Person auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Glücklicherweise beschleunigte diese und verschwand dann aus ihrem Sichtfeld. Was sollte jetzt noch passieren? Jodie atmete tief durch und entfernte sich immer weiter von ihrem Elternhaus. Nur noch wenige Minuten und sie war bei Amber. Eine schwarze Gestalt bewegte sich auf sie zu. Jodies Schritte wurden langsamer. Ihr Herz schlug schneller und automatisch wich sie ein wenig nach Hinten. Die Person ging schneller und gerade als Jodie los laufen wollte, hielt er sie am Arm fest. Jodie stieß einen Schrei aus. „He…alles gut…beruhig dich mal.“ Seine tiefgrünen Augen starrten sie an. Jodie schluckte und zog ihren Arm zu sich. „D…u?“, wisperte das Mädchen. Connor lächelte verschmilzt. „Amber schickt mich. Sie sagt, du hast dein Handy zu Hause gelassen und warst nicht erreichbar. Ich soll dich abholen.“ „Abholen?“ „Ambers Mutter ist unerwartet nach Hause gekommen, daher haben wir entschieden, dass wir nun zu Chad und mir nach Hause gehen. Unsere Eltern kommen erst morgen Mittag wieder nach Hause, von daher haben wir solange sturmfrei.“ Jodie schluckte. Na toll, Amber…warum konntest du mir das nicht vorher sagen? Irritiert sah sich die Schülerin um. Kam sie noch aus der Sache raus? „Wo ist Amber?“, wollte sie wissen. „Die hat vorhin noch mit meinem älteren Bruder Chad telefoniert und sich von ihm abholen lassen. Die beiden sind dann auch schon vorgegangen und wollten die freie Zeit nutzen. Wahrscheinlich machen die Beiden gerade rum“, entgegnete Connor. „Typisch Amber“, murmelte Jodie. „Also?“ Connor sah sie fragend an. „Was ist jetzt? Kommst du mit oder gehst du wieder nach Hause?“ „Ja, doch…ich komm…mit…“, brachte Jodie heraus. „Gut. Hier entlang.“ Connor ging vor. Immer mal wieder sah er aus dem Augenwinkel zu Jodie, lief dabei aber Schnurrstracks zum Haus seiner Eltern. „Da sind wir“, sagte er als sie davor standen. Das Licht in der ersten Etage brannte. Connor schloss die Tür auf und führte Jodie rein. „Wir müssen nach unten.“ „Unten?“ „Dort ist unser Partyraum. Ganz kuschelig.“ Connor ging zur Kellertür. „Ich hoffe, wir finden gleich nicht Chad und Amber in eindeutiger Pose.“ Jodie nickte. „Das hoffe ich auch nicht…“, murmelte sie und trat in das Zimmer. „Wo ist der Lichtschalter?“ „Vor dem Eingang neben der Tür“, rief Connor ihr zu und hing seine Jacke auf. Jodie drückte auf den Lichtschalter. Der Raum vor ihr war nahezu kahl. An den Wänden standen Regale die mit verschiedenen Utensilien, wie Werkzeuge oder altes Spielzeug, gefüllt waren. Einzig ein kleines Fenster sorgte für einen geringen Lichteinfall. Auf dem Boden fand sie eine Decke und zwei Flaschen Wasser sowie einen kleinen Snack. Ob dass das Liebesnest von Chad und Amber war? Ehe sich Jodie aber weitere Gedanken machen konnte, wurde sie weiter in den Raum gestoßen und die Tür zu geschlagen. Jodie hörte wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde, ehe Connor das Licht ausschaltete. Instinktiv lief sie in die Richtung des Ausganges, drückte sich an die Tür und rüttelte an der Klinke. „Lass mich raus“, rief sie. „Bitte, lass mich raus…“ Sie rüttelte und rüttelte, aber im gesamten Haus rührte sich nichts. Agent Fries saß im Wohnzimmer der Familie Riemer. Connor saß neben seiner Mutter auf dem Sofa, während sein Bruder Chad und der gemeinsame Vater nahe an der Wand standen. „Bitte setzen Sie sich doch“, entgegnete die Agentin. Mr. Riemer sah zu Chad. „Tu was sie sagt.“ Der ältere Sohn setzte sich auf das Sofa und sah die Agentin an. „Können Sie uns sagen, weswegen Sie hier sind?“, wollte Mr. Riemer wissen. „Es geht um eine Mitschülerin Ihres Sohnes Connor. Jodie Starling. Das Mädchen hat sich gestern Abend auf den Weg gemacht um ihre Freundin Amber Weston zu besuchen. Aber sie kam dort nie an.“ „Und was hat das mit meinem Sohn zu tun?“ „Genauer gesagt sind es Ihre beiden Söhne. Wir wissen, dass sowohl Chad als auch Connor ebenfalls bei Amber eingeladen waren. Laut Aussage von Amber haben Beide abgesagt“, erzählte Agent Fries. „Dann ist die Sache doch klar. Meine Söhne waren zu Hause als das Mädchen verschwunden ist.“ Fries versuchte die Ruhe zu bewahren. „Chad, Connor, bitte erzählen Sie mir, was an diesem Abend vorgefallen ist.“ Connor sah zu seinem Bruder Chad. „Sie haben Recht“, fing dieser an. „Amber hat uns eingeladen und wir haben auch zugesagt. Erst im späteren Verlauf hat uns Amber erzählt, dass Jodie auch kommt. Wie Sie wissen ist Jodie die Tochter eines FBI Agenten…nichts gegen Sie Agent Fries, aber wir waren in Sorge, dass Starling uns danach im Visier hat. Daher haben wir Amber auch abgesagt. Sie hat versucht uns zu überreden, aber wir wollten dann partout nicht.“ „Ich verstehe. Und an dem Abend hat sie keiner von euch gesehen?“ „Nein“, kam es sofort von Chad. „Wir waren die ganze Zeit zu Hause. Ich war oben im Zimmer und Connor hat unten DVD geguckt.“ „Nicht oben in seinem eigenen Zimmer?“ Fries sah sofort zu dem Jungen. „Ich hab keinen DVD-Player und auf Dauer am PC sitzen und schauen wird mir zu unbequem. Mom und Dad waren gestern Abend nicht da, daher konnte ich es mir unten gemütlich machen.“ „Das kann ich bestätigen“, sprach Mr. Riemer. „Ich war mit meiner Frau nicht in der Stadt. Wir sind erst heute Vormittag wieder gekommen. Die Jungs haben uns vom Bahnhof abgeholt. Das können Sie gern überprüfen.“ Fries nickte nur und machte sich eine Notiz in ihrem Notizbuch. „Chad, Connor, wie war euer Verhältnis zu Amber Weston?“ Chad zuckte mit den Schultern. „Wir kennen sie aus der Schule. Amber war mal in meinem Jahrgang, aber dann musste sie wiederholen. Viel Kontakt hatten wir nicht mit ihr. Es war auch merkwürdig, dass sie uns jetzt eingeladen hat, aber da Amber immer ein wenig sprunghaft ist, haben wir uns nichts dabei gedacht.“ „Ja…genau…so ist es…“, murmelte Connor. „Ich verstehe“, sagte die Agentin. „Meinen Informationen zufolge diente der gestrige Abend auch zum rummachen.“ „Wahrscheinlich hat sich Amber das so gedacht. Dazu kann ich nichts sagen“, sprach Chad. „Und wie war euer Verhältnis zu Jodie?“ Chad zuckte die Schultern. „Wir hatten eigentlich gar keines. Ich kannte sie nur vom Hörensagen.“ „Amber hat erzählt, dass Jodie zu Hause…unglücklich ist“, fing Connor an. „Ihr Vater würde sie…kontrollieren und ihr nichts…erlauben…“ „Und sie glauben, was Amber gesagt hat?“, wollte Fries wissen. „Warum sollte sie lügen…Amber und Jodie sind doch befreundet“, entgegnete Connor. „Wir ermitteln noch in alle Richtungen“, sagte die Agentin ruhig. „Mein Partner hat mich vor wenigen Minuten informiert, dass Amber Weston tot aufgefunden wurde.“ Chad weitete seine Augen, Connor wurde bleich. „Das…das kann nicht…wie…was ist…“, stammelte der Jüngere. „Was genau passiert ist, können wir nicht sagen. Wir schließen zum jetzigen Zeitpunkt nicht aus, dass der Mörder auch Jodie entführt hat.“ Connor schluckte und sah sie an. „Und…wenn er…sie nicht hat?“ „Dann müssen wir Jodie so schnell wie möglich finden“, sagte Fries. Mr. Riemer nickte. „Wenn wir das Mädchen sehen, geben wir Ihnen Bescheid. Die Jungs werden sie sicher erkennen.“ „Vielen Dank.“ Fries stand auf und zog zwei Visitenkarten raus. „Wenn euch noch was einfällt, ruft mich an.“ „Machen wir.“ Mr. Riemer stand auf. „Ich bringe Sie nach draußen.“ Jodie öffnete ihre Augen und blickte sich verwirrt um. Durch das Fenster schimmerte ganz wenig Licht hinein. Sie erinnerte sich wieder. Es war alles schief gegangen, was hätte schief gehen können. Die ganze Nacht hatte sie sich wach gehalten, aus Angst vor dem, was die Jungs mit ihr vor hatten. Irgendwann wurde sie aber von der Müdigkeit übermahnt und gab ihr nach. Langsam stand das Mädchen auf und versuchte den Weg zur Tür zu finden. „Hilfe“, rief sie voller Hoffnung, auch wenn ihre Rufe am Abend zuvor unbeantwortet blieben. Jodie tastete sich weiter vor, bis sie vor der Tür stand. „Hallo…ist da jemand? Bitte…helft mir…“, sie klopfte gegen die Tür. Fries schaute irritiert in den Flur. „Haben Sie das auch gehört?“ „Was meinen Sie?“, wollte Mr. Riemer wissen. „Sch…seien Sie leise“, wies ihn die Agentin an. „…lfe…“ Fries hörte das Klopfen und drehte den Kopf in diese Richtung. „Was ist hinter der Tür?“, wollte sie wissen und verengte die Augen. „Nur der Keller.“ Chad, Connor und ihre Mutter kamen zu den beiden Anwesenden. „Aufmachen, sofort.“ „Da unten ist nichts“, kam es sofort von Connor. „Davon überzeuge ich mich gerne selbst“, entgegnete die Agentin. „Soll ich lieber Verstärkung rufen oder kooperieren Sie?“ Mr. Riemer trat an die Tür und drehte den Knauf, sodass die Tür entriegelt wurde. „Jodie? Bist du da drin? Ich bin vom FBI, hörst du? Es ist alles gut, ich mach jetzt die Tür auf.“ Fries öffnete die Tür und erblickte das verängstigte Mädchen. Jodie machte einige Schritte nach hinten. „Jodie? Du bist doch Jodie, nicht wahr?“ Die Gefragte nickte. „Ich bin Agent Fries, dein Vater hat uns eingeschaltet um nach dir zu suchen. Du kannst raus kommen, dir tut keiner was. Ich verspreche es.“ Jodie schluckte und kam langsam nach vorne. Sie sah in den Flur und machte wieder einen Schritt nach hinten. Die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben. Konnte sie der Frau vor ihr trauen? Oder gehörte es zum bösen Spiel des Jungen? „Jodie? Ganz ruhig…dir tut keiner was.“ Agent Fries trat zu ihr heran und legte ihre Hand auf ihren Oberarm. „Es wird alles gut.“ Jodie schluchzte und ließ sich in die Arme der Agentin fallen, ehe sie anfing zu weinen. Fries strich ihr über den Rücken und sah aus dem Augenwinkel nach hinten. „Ich hoffe, Sie können das erklären.“ „Ich…hab…“, fing Connor leise an. „Das…ist…ganz…anders…ich…“ „Halt den Mund, Connor“, raunte sein Vater. „Du sagst jetzt nichts ohne deinen Anwalt.“ Kapitel 8: Befragung -------------------- Jodie hielt sich an der Agentin fest. Sie war verzweifelt und glücklich zu gleich. „Ich will nach Hause“, wisperte das Mädchen leise. „Ich weiß, Schätzchen“, fing Fries an. „Ich ruf jetzt zuerst einen Krankenwagen für dich und dann kümmer ich mich um Mr. Riemer.“ Agent Fries sah zu Connor. Der Junge wurde von seinem Vater zur Seite gezogen. Jodie schüttelte den Kopf. „Ich will nach Hause…“, murmelte sie ein weiteres Mal. „Ach Jodie…“ Fries strich ihr über die Wange. „Ich weiß, dass das schwer für dich ist, aber wir müssen uns jetzt an das Protokoll halten. Wenn du möchtest, rufe ich deine Eltern an, dann sind sie bei dir. Ist das in Ordnung?“ Jodie nickte. Fries sah in die Runde. „Bitte begeben Sie sich alle ins Wohnzimmer. Und machen Sie bitte keine Anstalten einen Fluchtversuch zu unternehmen.“ „Das…werde ich nicht“, sagte Connor und sah kurz zu seinem Vater. Er ging voran ins Wohnzimmer, wo seine Mutter bereits blass auf dem Sofa saß. „Oh Connor, was hast du bloß getan?“, wollte sie wissen. „Mom, ich…“ „Connor“, mahnte ihn sein Vater. Agent Fries brachte Jodie ebenfalls in den Raum. Langsam setzte sie sich auf das Sofa und starrte die Wand an. Fries sah besorgt zu ihr und rief zuerst den Krankenwagen. Im Anschluss informierte sie ihren Partner und wählte zu guter Letzt die Nummer der Starlings. Angela war überaus dankbar und versprach sich sofort auf den Weg zu machen. „Wie geht es jetzt weiter?“, durchbrach Mr. Riemer den kurzen Moment der Stille. „Ist Connor jetzt verhaftet?“ „Sobald Jodie in der Obhut der Sanitäter ist, nehme ich Connor zur Befragung mit ins Büro. Da er minderjährig ist, ist es kein Problem wenn ein Elternteil bei der Befragung dabei ist. In einem Fall wie diesen, sollten Sie auf anwaltliche Hilfe zurück kommen“, erzählte sie. „Für eine Verhaftung sehe ich momentan noch keine Grundlage, ich möchte Sie trotzdem bitten, die Aussage so schnell wie möglich abzugeben.“ Mr. Riemer schluckte. „So schnell können wir unseren Anwalt nicht mit der ganzen Sache vertraut machen.“ „Das verstehe ich. Wenn wir im Büro sind, bekommen Sie natürlich Zeit um mit Ihrem Anwalt zu sprechen.“ Auch sie mussten sich vorbereiten und das erste Untersuchungsergebnis des Gerichtsmediziners abwarten. „Was erwartet ihn? Ich meine, wenn…alles vorbei ist?“, wollte Connors Mutter wissen. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist jeder Ausgang möglich.“ Connor sah kurz zu Jodie. Als sich ihre Blicke kreuzten, sahen beide wieder weg. Die Stille war beinahe unerträglich und alle Anwesenden waren froh, als der Krankenwagen eintraf. Die Sanitäter kümmerten sich sofort um Jodie und halfen ihr auf die Trage. „Wo sind meine Mom und mein Dad?“, fragte sie leise. „Auf dem Weg…es dauert nicht mehr lange“, antwortete der Sanitäter, woraufhin Angela aufgeregt durch die offene Haustür stürzte und zu ihrer Tochter lief. „Jodie.“ „Mom…“ Tränen durchströmten das Gesicht des Mädchens. „Es tut mir so leid…ich wollte das nicht…“ „Schh…“ Angela strich ihrer Tochter über die Wange. „Es wird alles gut…jetzt wird alles gut.“ „Wir müssen Ihre Tochter jetzt ins Krankenhaus fahren“, fing der Sanitäter an. „Ja, natürlich, ich komme mit.“ „Mom…“, wisperte sie. „…ich bin wieder ein braves Mädchen…ich versprech es…Daddy soll mich nicht hassen…Mommy…“ Agent Pierce kam im Büro des FBIs in New York an und suchte seine Räumlichkeiten auf. Seine Partnerin Susanna Fries saß bereits am Schreibtisch und brütete über ihrer Akte. Sie hob den Kugelschreiber und ließ ihn in ihrer linken Hand rotieren. „Susanna?“ Die Gefragte sah zu ihm. „Ist Starling auch schon da?“ „Nein, er wollte direkt ins Krankenhaus zu Jodie um sich selbst zu vergewissern, dass es ihr auch wirklich gut geht. Er versucht zur Befragung von Connor Riemer wieder hier zu sein. Wann findet sie statt?“ „Riemer sitzt mit seinem Sohn im Befragungsraum. Sein Anwalt ist vorhin auch eingetroffen. Wir haben ihnen zwei Stunden zur Vorbereitung gegeben“, gab sie von sich. „Die kleine Jodie tut mir leid. Du hättest sie vorhin sehen müssen, sie war total verängstigt.“ „Das wird nicht spurlos an ihr vorbei gehen.“ Fries nickte. „Der vorläufige Bericht der Spurensicherung und vom Gerichtsmediziner sind eingetroffen. Amber hatte weder Drogen noch andere Mittel im Blutkreislauf. Sie ist in Folge der Strangulation erstickt. Unter ihren Fingernägeln wurden Hautpartikel gefunden, möglicherweise hat sie den Täter gekratzt.“ „Wie sieht es mit Vergewaltigung aus?“ „Kein Geschlechtsverkehr, außer es war einvernehmlich und sie haben ein Kondom verwendet“, antwortete Fries. „Gut“, murmelte Pierce. „Wir sollten schauen, ob wir Connor mit den Hautpartikeln in Verbindung bringen können.“ „Das habe ich bereits initiiert. Connor hat freiwillig eine Probe abgegeben. Die Ergebnisse liegen frühestens heute Abend vor.“ Pierce trat mit einer Akte in den Befragungsraum und setzte sich auf den freien Platz. Ihm gegenüber saßen Connor, Mr. Riemer und dessen Anwalt Dr. Mutschke. Agent Pierce musterte die Anwesenden einen Moment lang. Auf der anderen Seite des Raumes, durch den Spiegel nicht sichtbar, hörten die Agenten Black und Starling sowie der Staatsanwalt zu. „Gut“, fing Pierce an. „Connor? Wahrscheinlich ist dir das bereits bekannt, aber ich muss es trotzdem sagen: Du hast das Recht zu schweigen. Alles was du sagst, kann und wird vor Gericht gegen dich verwendet werden. Du hast das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Wenn du dir keinen Verteidiger leisten kannst, wird dir einer gestellt. Hast du das verstanden?“ Während Mr. Riemer die Augen verdrehte, nickte Connor. Leider mussten diese Sätze vor einer Vernehmung eines Verdächtigen gesprochen werden, um im Falle eines Geständnisses einen wasserdichten Fall zu haben. „Möchtest du deine Aussage machen?“ „Ja, das will ich“, antwortete Connor leise. „Ist gut“, gab Pierce von sich. „Fangen wir von vorne an. Und dieses Mal bitte die Wahrheit. Dein Bruder und du wurdet zu Amber eingeladen. Was ist dann passiert?“ Connor sah Pierce an. „Amber schrieb uns, dass Jodie kommt, also haben wir abgesagt. Später schrieb sie mir eine Nachricht und bat mich vorbei zu kommen. Das hab ich auch gemacht“, sagte er. „Vor ihrem Haus stand jemand, ich weiß aber nicht wer. Ich kannte die Person nicht.“ „Was trug die Person? Konntest du das Geschlecht erkennen?“ „Ich glaube, es war ein Mann. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Als er mich bemerkte, ging er weg. Ich rief ihm noch hinterher, aber er reagierte nicht mehr. Amber hat meine Rufe gehört und sich anschließend raus geschlichen. Wir haben ein wenig miteinander rumgemacht…“ „Ach wirklich?“ „Es ging von ihr aus. Sie sagte, ich sei süß und sie würde mich sehr gern haben…wir hatten aber nicht viel Zeit miteinander.“ Connor räusperte sich. „Danach fing Amber auch schon an über Jodie zu erzählen. Also, dass sie nicht viel Spaß hat und ihr Vater immer streng ist. Deswegen wollten sie diesem eine Lektion erteilen.“ „Und wie sollte die aussehen?“ „Nun ja“, murmelte Connor leise. „Ihre Eltern würden ja annehmen, dass sie bei Amber ist. Daher sollte ich Jodie auf dem Weg abfangen und sie zu mir nach Hause bringen. Laut Amber wusste Jodie Bescheid, wollte es aber so aussehen lassen, dass sie keine Ahnung hat. Es sollte wohl Jodies Glaubwürdigkeit später unterstützen. Ich hab wirklich nicht nachgedacht und Amber blind vertraut. Da Mom und Dad erst heute Nachmittag nach Hause kamen, hab ich zugestimmt und Jodie in den Keller gebracht. Sie hatte dort auch was zu Trinken und Amber sagte auch, dass Jodie wegen der Authentizität um Hilfe rufen würde.“ „Ich denke, Sie werden verstehen, dass mein Mandant aus jugendlichem Leichtsinn und unter Steuerung seiner Hormone gehandelt hat“, fügte Dr. Mutschke an. „Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass Jodie von Nichts weiß. Ihre Rufe habe ich durch den Fernseher übertönt und irgendwann war es auch ruhig. Amber sagte, sie würde am nächsten Morgen vorbei kommen, aber das tat sie nicht. Also bin ich wieder hin. Dort stand dann wieder der Fremde und beobachtete das Haus. Kurz darauf sind Sie raus gekommen. Ich hab mich versteckt und Sie und Agent Fries reden gehört. Da wusste ich, dass Amber bereits mehrfach zu Jodies Aufenthaltsort befragt wurde und nicht die Wahrheit sagte. Ich hab geahnt, dass da etwas schief läuft. Als ich dann nach Hause bin und Jodie gehen lassen wollte, kam mir Chad entgegen. Er meinte, wir müssten los…also bin ich einfach mit ihm mitgefahren. Ich weiß, dass das falsch war.“ Pierce sah ihn fragend an. „Was hattest du mit Jodie vor wenn du sie raus gelassen hättest?“ „Nichts…das müssen Sie mir glauben. Ich habe gedacht, wenn Mom und Dad schlafen gehen oder wenn sie im Obergeschoss sind, bringe ich Jodie nach Hause, aber dann wurde sie schon befreit. Ich hatte so große Angst Ihrer Partnerin bei der Befragung die Wahrheit zu sagen, sodass ich mich immer weiter in Lügen verstrickt habe“, erzählte er. „Ich glaube dir, Connor“, sagte Pierce. „Was war mit Amber?“ „Nichts, ich habe sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen.“ „Connor, du weißt, dass Amber tot ist.“ Es war eine Feststellung. Der Junge nickte. „Moment mal, Sie wollen doch nicht meinen Sohn dafür verantwortlich machen.“ „Was ich will und was ich nicht will, spielt im Moment keine Rolle. Wenn es nach meiner Meinung geht, kann ich Ihnen versichern, dass ich Connor nicht für den Mörder halte. Allerdings ändert sich alles, wenn Beweise auftreten“, entgegnete Pierce ruhig. „Connor, bitte denk noch einmal darüber nach: Als du am Haus der Weston warst und uns gesehen hast, was ist dann passiert?“ Connor schluckte nervös. „Ich habe mich versteckt und bin danach nach Hause gegangen.“ „Wie lange brauchst du von dem Haus der Weston bis nach Hause?“ „Ungefähr 20 bis 25 Minuten, wenn ich schnell gehe, aber…“ Connor zögerte. „…ich fühlte mich von ihr benutzt und bin noch etwas durch die Gegend geirrt. Dadurch kam ich erst eine Stunde später zu Hause an...“ „Wusste dein Bruder, dass Jodie im Keller ist?“ „Nein“, antwortete Connor. „Ich glaube…er wusste es nicht. Wenn, dann hätte er mich darauf angesprochen, da bin ich mir sicher. Chad geht nie in den Keller. Ich dachte ja auch, dass alles mit Jodie abgesprochen war.“ „Weißt du, in welchem Verhältnis Chad und Amber standen?“ „Verhältnis?“, fragte der Schüler. „Da gab es keins. Wie kommen Sie darauf?“ „Jetzt machen Sie mal halblang“, mischte sich Mr. Riemer ein. „Zuerst halten Sie Connor für den Mörder von Amber und jetzt seinen Bruder Chad. Warum müssen es ausgerechnet die Beiden sein?“ „Mr. Riemer, ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind, aber wir müssen jeder Spur nach gehen.“ Pierce sah nun wieder zu Connor. „Als du dich am Abend zuvor mit Amber getroffen hast, hat sie dich zufällig gekratzt?“ Connor wurde rot. „Connor?“, fragte Pierce. „Das hat sie…sie ist schon etwas mehr ran gegangen, als ich es erwartet hatte. Dabei hat sie mich am Unterarm gekratzt. Wie kommen Sie darauf?“ „Wir haben Partikel unter den Fingernägeln von Amber gefunden“, antwortete Pierce ruhig. „Vielleicht sind es meine…ich mein wenn sie nicht duschen war oder sich die Nägel manikürt hat…oder es kommt von Ambers Mör…“ Connor wurde still und blass. „Mein Mandant hat bereits freiwillig eine Spende abgegeben“, fing Dr. Mutschke an. „Wann können wir mit dem Ergebnis rechnen?“ „Voraussichtlich heute Abend.“ „Gut.“ Dr. Mutschke erhob sich. „Dann beenden wir das Verhör an dieser Stelle und gehen mit dem Jungen nach Hause. Auf Grundlage Ihrer Beweise gehe ich davon aus, dass er nicht verhaftet wird. Da er sowohl minderjährig als auch seine Familie hier hat, liegt keine Fluchtgefahr vor. Mr. Riemer? Connor, gehen wir. Wir haben einiges zu besprechen.“ Die beiden Angesprochenen nickten und standen auf. „Ich war es wirklich nicht“, sagte Connor noch ein weiteres Mal, als Pierce die Tür des Verhörraumes öffnete. Dr. Mutschke ging voraus und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Was passiert denn jetzt?“, wollte Mr. Riemer wissen. Dr. Mutschke schwieg bis sie in seinem Wagen saßen. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Wenn die Partikel unter den Fingernägeln des Opfers eine Übereinstimmung zu Connor aufweisen, landet der Junge in Untersuchungshaft und der Staatsanwalt wird Anklage erheben. Dann geht es im besten Fall um Körperverletzung mit Todesfolge. Im schlimmsten Fall sprechen wir gleich von Mord. Die gespielte Entführung des Mädchens kann uns auch das Genick brechen.“ Mr. Riemer schluckte. „Mit welchem Ausgang müssen wir rechnen?“ „Falls keine entlastenden Beweise gefunden werden, drohen ihm im schlimmsten Fall bis zu 15 Jahre.“ Connor schluckte. „Ich…ich kann das nicht…“, murmelte er. „Und wenn ausgeschlossen ist, dass er Amber getötet hat? Was wird ihm für die Entführung aufgebrummt?“ „Nun, das ist abhängig vom Schweregrad und vom Ausmaß der Entführung. In schweren Fällen wären es maximal zehn Jahre, in einem minder schweren Fall bis zu fünf Jahre. Eine Geldstrafe wäre ebenfalls im Bereich des Möglichen. Nachdem was ich alles weiß, gehe ich davon aus, dass für die Entführung nur eine Geldstrafe auf ihn zu kommt.“ „Und was haben Sie jetzt genau vor?“ Dr. Mutschke räusperte sich. „Solange die Ergebnisse aus dem Labor nicht vorliegen, können wir uns noch keine Strategie überlegen.“ Kapitel 9: Beweislage --------------------- Auf den Hautpartikeln konnte Fremdblut sichergestellt werden. Nach aufwändiger Untersuchung wurde unter Anderem die Blutgruppe bestimmt. Die abschließenden Ergebnisse der Untersuchung der Hautpartikel unter Ambers Fingernägeln waren zum späten Abend fertig geworden. Trotzdem saßen die FBI Agenten, Black, Starling, Fries, Pierce und der Staatsanwalt, erst am nächsten Morgen zusammen. Agent Starling war der letzte, der den Raum betrat und setzte sich sofort auf den freien Platz. „Bitte entschuldigen Sie.“ Black nickte. „Schon in Ordnung.“ „Wie geht es Ihrer Tochter?“, wollte Agent Fries wissen. „Viel besser“, antwortete Starling ruhig. „Als sie gestern abgeholt und ins Krankenhaus gebracht wurde, war sie fix und fertig. Obwohl ihr Connor Wasser zum Trinken hingestellt hat, hat sie sich nicht getraut etwas davon zu sich zu nehmen und war bereits leicht dehydriert. Die Untersuchungen waren auch nicht ganz einfach, da Jodie jedes Mal ängstlich wurde, wenn sie alleine in einem Raum gelassen wurde. Meine Frau konnte leider nicht bei allen Untersuchungen dabei sein, aber jetzt hat es Jodie überstanden. Und ich kam glücklicherweise auch kurz danach im Krankenhaus an.“ Starling sah zu Fries. „Ich bin froh, dass sie vor Ort gewesen sind, als Jodie nach Hilfe rief.“ Die Agentin nickte. „Ich bin froh, dass es Ihrer Tochter gut geht. Es geht ihr doch gut oder?“ „Ja, ja“, sagte Starling. „Der Arzt hat keine Auffälligkeiten festgestellt. Wir waren über Nacht im Krankenhaus und haben auf sie aufgepasst. Der Arzt hat sie auch schon nach Hause entlassen. Meine Frau kümmert sich jetzt dort um sie.“ „Ich will nicht taktlos klingen, Starling, aber hatten Sie bereits die Möglichkeit um mit Jodie über diesen Fall zu sprechen?“ „Leider ja“, seufzte der Agent. „Ich wollte sie noch nicht so früh damit belasten, aber nachdem sie zur Ruhe kam und etwas Zeit zum Nachdenken hatte, hat sie mir erzählt, was passiert ist. Es deckt sich eigentlich mit dem, was Connor erzählte. Er fing sie auf dem Weg zu Amber ab und erzählte, dass Amber mit Chad vor gegangen ist, um etwas mehr Zeit zu haben. Sie zögerte am Anfang, entschied sich dann aber mitzugehen um nicht als Feigling oder Angsthase da zustehen. Weil im Haus Licht brannte, schöpfte sie keinen Verdacht. Connor hat ihr dann auch noch erzählt, dass die Familie im Keller einen Partyraum hat, weswegen Jodie dort rein ist. Danach hat er sie dort drinnen eingeschlossen und das Licht ausgeschaltet. Jodie rief nach Hilfe, aber Connor übertönte ihre Laute mit dem Fernseher. Sie hat die Stimmen aus dem Fernseher gehört und dachte am Anfang auch, dass noch weitere Personen da sind. Irgendwann konnte sie diese dann dem Fernseher zu ordnen. Dennoch hatte sie solche Angst, dass sie erst am Morgen einschlief. Und als sie aufwachte, rief sie sofort um Hilfe.“ „Falls Jodie Hilfe braucht um das Geschehene zu verarbeiten, stellen wir ihr gerne einen unserer Psychologen vor. Ich suche gerne ein paar Namen heraus“, entgegnete James. „Danke, das werde ich im Hinterkopf behalten. Momentan halte ich das nicht für Notwendig, aber ich will erst noch abwarten.“ „Natürlich“, nickte James. „Was weiß Jodie über Amber?“, wollte Pierce wissen. „Wir haben ihr nicht viel erzählt. Sie weiß, dass Amber Connor anstiftete, aber nicht, dass Amber ein falsches Spiel mit ihr spielte und jetzt tot ist. Wahrscheinlich werden wir es ihr heute Abend sagen müssen, aber…“ „Aber?“ „Jodie bat mich, dass wir die Ermittlungen gegen Connor einstellen. Wenn Amber ihn dazu anstiftete indem sie log, will sie nicht, dass er bestraft wird“, antwortete Starling. Dass Jodie über ein solches Gerechtigkeitsempfinden verfügte und anderen nur ungern leid antat, machte ihn stolz. „Wie stellt sich Ihre Tochter das vor?“, wollte Pierce wissen. „Entführung zählt als Offizialdelikt und wird von Amtswegen schon verfolgt. Das Opfer muss deswegen keinen Strafantrag stellen.“ „Das hab ich Jodie natürlich auch erklärt“, entgegnete Starling. „Aber ich möchte trotzdem versuchen ihren Wünschen zu entsprechen. Auch wenn ich selber nicht davon begeistert bin, hat sie recht. Connor hat nur so gehandelt, weil er unter falschen Tatsachen dazu gebracht wurde.“ „Wenn Ihre Tochter eine offizielle Aussage macht, kann ich mit dem Anwalt des Jungen einen Deal aushandeln. Unter Anbetracht dieser Aspekte sollte er maximal Sozialstunden erhalten“, sprach der Staatsanwalt. „Es muss nur vorher geklärt werden, ob der Junge auch wegen Mord an Amber Weston angeklagt wird.“ Pierce nickte. „Die Untersuchungsergebnisse sind gestern Abend gekommen. Ich habe kurz einen Blick auf sie werfen können und es wird Sie nicht freuen“, fing er an. Pierce öffnete die Akte. „An den Partikeln unter den Fingernägeln von Amber konnten Blutspuren sichergestellt werden. Diese entsprechen der Blutgruppe von Connor Riemer. Der DNA-Abgleich ergab ebenfalls einen Treffer. Die DNA konnte eindeutig Connor zugeordnet werden.“ „Damit ist es unumgänglich. Die Beweise sprechen gegen ihn“, kam es vom Staatsanwalt. Black sah zu den Anwesenden. „Was ist mit dem Mann, den Connor gesehen haben will?“ „Wir haben nichts finden können“, fing Fries an. „Wir haben alle Nachbarn befragt, wir haben Agenten in Zivil vor das Haus der Westons positioniert, aber bisher wurde niemand gesichtet. Zur Sicherheit haben wir auch jemanden zum Krankenhaus geschickt und zum Haus der Starlings. Keine Spur. Mit den wenigen Informationen die wir von dem Jungen hatten, haben wir Leila Weston befragt. Ihr fiel niemand ein, der auf diese Beschreibung passen könnte. Aber wir sollten nicht vergessen, dass der Junge nicht viel gesehen hat und es so gut wie jeder gewesen sein kann. Oder er denkt es sich aus. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir gar nichts ausschließen. Ich kann mir, genau wie Pierce, nicht vorstellen, dass Connor den Mord begangen hat. Als wir Jodie im Keller gefunden haben, ist er sofort eingeknickt. Aber als er auf den Mord angesprochen wurde, kam nichts. Er hat sogar freiwillig eine Probe abgegeben.“ „Was aber nichts heißen muss“, entgegnete der Staatsanwalt. „Ich kenne viele Täter, die sich offiziell auf die Ermittlungen einließen und alle Proben freiwillig abgaben. Am Ende argumentierte jeder Strafverteidiger, dass man seinem Mandanten etwas unterschieben will.“ „Gut, das bringt uns an dieser Stelle nicht weiter“, warf Black ein und sah wieder zu Pierce. „Was hat die Überprüfung von Ambers Handy und Computer ergeben?“ Pierce blätterte einige Seiten um. „Auf dem Handy, das sie uns freiwillig überlassen hat, konnten wir nichts Merkwürdiges finden. Wir vermuten, dass das ihr Alibi-Handy war. Bei ihrem Zweithandy sieht es schon anders aus. Es war zwar teilweise zerstört worden, aber unsere Techniker konnten einen Großteil der Daten wiederherstellen und auf ihren Computer zurück verfolgen. Diese Daten stimmen mit dem, was auf ihrem Computer gefunden wurde, überein.“ Pierce sah zu Agent Starling. „Starling, das wird Ihnen nicht gefallen.“ „Was meinen Sie?“ „Amber führte auf dem Computer eine Art Tagebuch. Sie schrieb unter anderem auf, was sie mit Jodie machte und was sie ihr sagte. Aber auch in welchen Chats sie sich unter welchem Pseudonym anmeldete und unter welchem sie sich als Ihre Tochter dort anmeldete.“ Starling schluckte und ballte die Faust. „Das ist nicht wahr…“, murmelte er leise. „Außerdem geht aus dem Tagebuch hervor, dass Amber auf Ihre Familie neidisch gewesen ist. Deswegen hat sie Ihnen im Auto das unmoralische Angebot gemacht. Sie wollte damit Ihre Familie zerstören, aber als es nicht klappte, fing sie an Jodie zum Schwänzen zu überreden und zu den Sachen im Internet.“ „Aber warum ausgerechnet uns?“, wollte Starling wissen. „Ich vermute, es war ein purer Zufall. Amber sah, wie glücklich Sie sind und hat es Ihnen nicht gegönnt. Ihr eigener Vater hat die Familie für eine andere Frau verlassen und Amber hatte nur sporadisch Kontakt zu ihm. Wir vermuten, dass sie aus diesem Grund auch auf den Flirtportalen angemeldet war. Sie wollte Männer finden, die in einer Beziehung sind und diese dann zerstören. Laut unseren Technikern hat sie sich bei einigen ihrer Bekanntschaften als Jodie ausgegeben. Einigen hat sie Fotos geschickt“, entgegnete Pierce. „Fotos von wem?“, fragte Starling nach. „War Jodie auf diesen Fotos drauf?“ „Ja.“ „Und…was heißt das jetzt?“ „Amber hat einige dieser Männer in ein Hotel gelockt und gleichzeitig ihre Ehefrauen oder Freundinnen hinbestellt. Unsere Techniker arbeiten gerade dabei jede Person über die IP Adresse ausfindig zu machen und danach zu befragen. Wir wissen noch nicht, in wie fern Ihre Tochter von diesem Treiben wusste. Es wäre vorteilhaft, wenn Jodie uns ihren Computer deswegen zur Verfügung stellt.“ „Natürlich. Sie können diesen gleich bei uns abholen. Wir haben nichts zu verbergen“, sagte Starling. „Aber wenn es so viele Männer gibt, besteht die Möglichkeit, dass einer von diesen den Mord beging.“ „Das ist zumindest nicht auszuschließen.“ „Gut“, sagte James und stand auf. „Tun Sie, was zu tun ist. Wenn es sein muss, holen Sie sich weitere Agenten ins Team und befragen so schnell wie möglich alle Männer und ihre Frauen, Freundinnen oder Ex-Partner. Wir brauchen einen wasserdichten Fall.“ Selbst Monate später war der Fall noch immer wasserdicht und für Connor sah es alles andere als gut aus. Das FBI konnte fast alle Männer und die dazu gehörigen Frauen ausfindig machen und befragen. Zwei Männer waren wie vom Erdboden verschluckt. Einer besaß eine wechselnde IP-Adresse und war seit seinem Treffen mit Amber nicht mehr im Internet gesichtet. Die andere Person schien überall auf der Welt zu sein, mal führte sie die Spur in ein Hotel, dann wieder in ein Internetcafe. Wer immer es war, wollte nicht mehr gefunden werden und war seit dem Tag von Ambers tot nicht mehr im Internet aktiv. Obwohl sich die Agenten unter den Pseudonymen von Amber im Internet anmeldeten, schafften sie es nicht, einen Verdächtigen hervorzulocken. Da die Beweise aber gegen Connor sprachen, hatte die Staatsanwaltschaft keine andere Wahl als einen Prozess vorzubereiten. Die Geschworenen sowie die Zeugen wurden sorgfältig ausgesucht und die Verhandlung selbst der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Dennoch waren Reporter gekommen, die draußen nur auf ihre große Chance warteten. Jodie hatte ihre Aussage am ersten Tag des Prozesses gemacht und wurde dann von ihrer Mutter nach Hause gefahren. Auch Leila Weston und Tom – der Vater von Amber – wurden zu dem Verhalten ihrer Tochter befragt. Anders als Jodie kamen sie die vollen drei Prozesstage ins Gericht und warteten verzweifelt das Urteil ab. Und doch würde ihnen keiner ihre Tochter wieder zurück bringen. Nachdem Connor seine Aussage machte, wirkten die Geschworenen verunsichert. Er bestritt vehement etwas mit der Tat zu tun gehabt zu haben, gab aber die pseudo-Entführung von Jodie zu. Bei einigen Geschworenen brachte es ihm Sympathiepunkte ein, aber als die Beweise und die Aussagen der FBI Agenten, Forensiker und Techniker zum Fall dazu kamen, schien es für den Jungen aussichtslos. Alle hatten sich ein Urteil gebildet und der fremde Mann sowie die vielen Chatbekanntschaften von Amber rückten in Vergessenheit. Nach einem Tag zur Beratung, kamen die Geschworenen schließlich zu dem Schluss, dass Connor den Mord an Amber beging. Und auch der Richter zeigte kein Mitleid mit dem Jungen. Obwohl dieser noch nicht vorbestraft war, zeigte seine Bereitschaft zur Entführung von Jodie bereits ein dunkles Potential, welches nicht in Vergessenheit geraten durfte. Auch wenn es für die Eltern von Connor und dessen älterem Bruder Chad ein Schlag ins Gesicht war, wurde der Junge zu sieben Jahren ohne Bewährung verurteilt. Connor sank auf seinem Stuhl zusammen. Er hatte mich dem Schlimmsten gerechnet, aber als es dann eintrat, zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Obwohl keine Fluchtgefahr bestand, ordnete der Richter die sofortige Überführung ins Gefängnis an. Connor blieben nur wenige Minuten um sich von seiner Familie zu verabschieden. „Ich bin es nicht gewesen…“, murmelte er leise. „Connor, wir werden das Urteil anfechten“, begann Dr. Mutschke. „Du wirst sehen, im Laufe der Zeit werden neue Beweise zu Tage gebracht und du wirst wieder ein freier Mann sein.“ „Mom…“, wisperte Connor und umarmte sie. „Ich hab Angst…“ „Es wird alles gut“, behutsam strich sie ihm über den Rücken. „Wir holen dich raus“, fügte sein Vater an. „Bitte verabschieden Sie sich.“ Ein Beamter stellte sich zu der Familie. Connor schluckte und löste sich von seiner Mutter. „Ich hab euch lieb“, sprach er, ehe der Beamte in abführte. Tom Weston sah zu seiner Ex-Frau. „Es ist jetzt vorbei“, sagte er ruhig und verließ den Saal. Leila sah ihm mehrere Sekunden nach und seufzte. Auch wenn der Mord an ihrer Tochter nun bestraft und der Täter hinter Gittern gebracht wurde, verspürte sie keine Genugtuung. Nur der Schmerz war ihr geblieben. Kapitel 10: Ein Jahr danach --------------------------- Jodie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Bereits als sie am Vortag gegen 22 Uhr ins Bett ging, spürte sie, dass die Nacht alles andere als einfach werden würde. Irgendwann schaffte sie es und glitt behutsam ins Land der Träume. Doch schon bald wurde sie von den Erinnerungen der Vergangenheit verfolgt und mit ihnen konfrontiert. Jodie wachte schweißgebadet und auf dem Bett sitzend auf. Sie fuhr sich mit der Hand über ihr Gesicht und seufzte. Ein Albtraum. Das war nichts Ungewöhnliches und dennoch fühlte es sich in jenem Augenblick sehr real an. Das Mädchen brauchte einen Moment ehe sie sich wieder zurück ins Bett legte und sich ihr Herzschlag normalisierte. Jodie starrte an die Decke. Das Zimmer war dunkel und nur etwas Licht kam über das Fenster rein. Jodie zählte langsam hoch. 1…2…3…4…5… Aber es brachte nichts. Sie schüttelte den Kopf und blickte zur Seite. 1:27 Uhr. Wenn sie nicht bald was unternahm, würde es eine lange Nacht werden. „Na komm, Jodie“, sagte sie leise zu sich selbst. „Mach die Augen zu und schlaf. So wie jeden Abend.“ Jodie atmete tief durch und schloss ihre Augen. 1…2…3…4…5…6…7…8…9…10…11…12…13…14…15…16…17…18…19…20… Langsam driftete Jodie wieder weg. Dieses Mal sah sie sich selbst, als würde sie einen Film schauen und mit der Protagonistin mitfiebern. Sie sah sich raus schleichen und auch wenn es klappte, hoffte sie, dass ihr Vater gleich die Tür aufriss und mit ihr schimpfte. Es geschah nichts dergleichen. Jodie ging die Straße weiter und weiter bis sie auf Connor traf. Connor, der Junge der ihr Vertrauen missbrauchte und ihr die schlimmste Nacht ihres Lebens bescherte. „Sag nein und geh wieder nach Hause“, rief sich Jodie selber zu. Aber natürlich lief es anders ab. Sie ging mit Connor mit und ließ sich schließlich in den Keller einsperren. Verzweifelt hämmerte Jodie gegen die Tür und suchte nach einem Ausweg. In ihrem Traum hämmerte sie solange gegen die Tür bis ihre Hand blutig war. Anstatt der Hilfe am nächsten Tag kam keiner um sie zu retten. Sie verbrachte weitere Tage im Keller der Familie Riemer und geriet in Vergessenheit. Niemand sorgte sich um sie und niemand suchte sie. Jodie schrak mit einem spitzen Schrei aus ihrem Traum hoch. Bereits zum zweiten Mal in einer Nacht war sie schweißgebadet, ihr Herz raste und als die Tür aufgerissen wurde, zuckte sie zusammen. „Jodie? Was ist passiert?“, besorgt trat ihre Mutter an sie heran. Jodie schluckte. „Alb…traum…“ Angela setzte sich langsam auf das Bett und strich Jodie über die Wange. „Es ist alles gut. Du bist zu Hause und dir wird nichts passieren.“ „Ich weiß“, murmelte Jodie leise. Noch immer fühlte sich Jodie in einem schlechten Traum gefangen. Sie wurde von ihrer einzigen Freundin benutzt und hintergangen. Wenn Jodie an das, was sie wegen Amber tat, dachte, fühlte sie sich schlecht. Nicht nur, dass sie die Schule schwänzte und weniger lernte, sie ließ sich auch noch dazu überreden im Internet fremde Männer anzuschreiben. Und warum? Nur weil Amber es von ihr verlangte und Jodie nicht Nein sagen wollte. Für wenige Monate hatte sie diese Freundschaft über alles gestellt und als dann heraus kam, dass Amber nur Jodies Familie zerstören wollte, war es wie ein Schlag ins Gesicht. Jodie konnte nicht einmal nachvollziehen, warum Amber sie so verachtete. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wurde sie nicht nur mehrfach von FBI Agenten befragt, auch Ambers Mutter Leila stattete ihr irgendwann einen Besuch ab. Leila entschuldigte sich mehrfach bei ihr und sie führten lange Gespräche über Amber. Trotzdem war Jodie froh, als sie sich nicht mehr mit Amber auseinandersetzen musste. Doch der Prozess gegen Connor rückte immer näher und so konnte sie nicht vergessen. Jodie war froh, dass sie trotz allem immer noch ihre Eltern an ihrer Seite hatte. Sie ließen sie nicht allein und ihr Vater nahm sich – obwohl er eigentlich arbeiten musste – häufiger frei. Glücklicherweise unterstützten ihn die Kollegen beim FBI und auch James Black – sein Partner und Leiter im Fall Amber Weston – hielt ihm den Rücken frei. Gerade in den ersten Monaten nach ihrer kurzen Entführung traute sie sich alleine nicht mehr raus, sodass ihre Eltern sie morgens an der Schule absetzen und nachmittags oder abends wieder abholen mussten. „Geht’s wieder?“ „Mhm?“ Jodies Mutter riss sie aus ihren Gedanken. „Ja…alles wieder gut…“, sagte sie leise. „Versuch noch etwas zu schlafen.“ Jodie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass ich das kann“, sprach das Mädchen und stand langsam auf. „Ich hab noch Hausaufgaben und am Montag schreiben wir Mathe…“ Angela sah zu ihr. „Du musst nicht stark sein, Jodie, wir verstehen wenn du heute und morgen keinen Kopf für die Schule hast.“ Jodie schluckte. „Schon gut, ich krieg das hin“, fing sie an. „Ich kann ja nicht jedes Jahr an diesen beiden Tagen zu Hause hocken oder nichts tun. Außerdem…ist es schon ein Jahr her und ich kann mich nicht für immer verkriechen. In zwei Jahren fällt der Tag auf einen Montag, wenn ich studiere, kann ich weder Vorlesungen noch eine Klausur schwänzen. Ich muss also versuchen, dass dieser Tag nicht anders ist, als die anderen.“ Angela musste lächeln. Ihre Tochter war erwachsener geworden. „Wir sind sehr stolz auf dich.“ „Mama…“ „Du musst nichts sagen, Jodie. Mach dich fertig, Frühstück steht unten bereit.“ Jodie nickte und sah ihrer Mutter nach. Sie wusste noch nicht wie schwer der heutige Tag werden würde. Aber sie dürfte sich nicht davon unterkriegen lassen. Jetzt musste sie nur noch selbst daran glauben, dass sie es hinbekam. „Komm, Jodie, du kannst das“, spornte sie sich selber an. Wie Jodie den Tag, vor allem den Abend ihrer Entführung, überstanden hat, konnte sie selber nicht sagen. Nachdem es ihre Eltern mit Ablenkung direkt nach dem Frühstück versuchten, ging sie zurück in ihr Zimmer und begann mit ihren Hausaufgaben. Sie brauchte lange um sich auch wirklich konzentrieren zu können. Dauernd driftete sie mit ihren Gedanken an die Zeit mit Amber. Und als es schließlich Abend wurde, fragte sich Jodie wo die Zeit nur blieb. Am Abend saß sie zuerst mit ihren Eltern zusammen, ehe sie sich in ihr Zimmer zurück zog. Die Nacht verlief ähnlich wie am Tag zuvor und Jodie war froh, als sie diese überstanden hatte. Aber auch der nächste Tag barg seine Tücken. Auch wenn die Freundschaft mit Amber schon lange Geschichte war, lief Jodie mit ihrer Mutter über den Friedhof. Sie musste das Grab einfach besuchen. Es ging nicht anders. Und trotzdem hatte Jodie aus einem unerfindlichen Grund ein ungutes Gefühl. Es erinnerte sie an das Jahr zuvor. Eine Gänsehaut legte sich über Jodies Körper und sie schüttelte den Gedanken weg. „Jodie?“ Die Angesprochene sah zu ihrer Mutter. „Ja?“ „Ist alles in Ordnung? Wir können auch nach Hause gehen. Du musst niemanden etwas Beweisen.“ „Ich weiß, Mom“, murmelte das Mädchen. „Ich möchte sie besuchen und außerdem…hast du die Blumen schon gekauft.“ Jodie sah auf den Strauß aus weißen Lilien in ihrer Hand. „Ach Jodie…“ Manchmal konnte das Mädchen wirklich stur sein. „Schon gut.“ Jodie sah sich um. Weder bei der Beerdigung noch in der Zeit danach, war Jodie auf dem Friedhof. Nach all den Offenbarungen fehlte ihr die Kraft. „Hier geht’s lang.“ Jodie folgte ihrer Mutter. Als sie am Grab ankamen, blieb Jodie wie angewurzelt stehen. Sie beobachtete den fremden Mann und als dieser zu ihr sah, wich sie instinktiv nach hinten. Jodie war auf eine Konfrontation nicht vorbereitet. „Entschuldigung, wir wollten Sie nicht stören.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Das macht doch nichts.“ Er sah zu Jodie. „Bist du eine Freundin von meiner Tochter?“ „Nicht wirklich“, murmelte Jodie. „Sie sind Mr. Weston“, entgegnete Angela wissend. „Nennen Sie mich doch Tom.“ Er sah auf den Grabstein. „Ich kann kaum glauben, dass es schon ein Jahr her ist.“ Angela nickte. „Ihr Verlust tut uns leid.“ „Danke“, sagte er leise. „Ich war nie ein vorbildlicher Vater und wir hatten auch nie ein gutes Verhältnis, aber ohne sie ist es komisch. Mittlerweile versuche ich sie wann immer es geht zu besuchen.“ Angela sah ihn mitleidig an. Aber wie hätte sie ihn trösten können? Ihr Blick ging zu Jodie. „Na komm, Schatz, legen wir die Blumen ab und gehen.“ Langsam legte Jodie die Blumen auf das Grab. Während sie sich aufrichtete, fiel ihr die Inschrift am Stein auf. Amber Weston, geliebte Tochter und Freundin. „Es hat uns wirklich sehr gefreut, Mr…Tom.“ „Ja, mich auch. Danke, dass Sie hier waren.“ Jodie vergrub ihre Hände in ihren Jackentaschen und ging stillschweigend vor. „Jodie?“ Angela folgte ihr besorgt. Sie brauchte eine Weile ehe sie mit ihrer Tochter Schritt halten konnte. „Hey, Schatz, alles in Ordnung?“ Jodie sah zu ihrer Mutter. „Das war…ein wenig viel auf einmal“, gestand sie leise. „Ich hab irgendwie nicht erwartet, dass wir jemanden an Ambers Grab treffen. Ich will jetzt einfach nach Hause.“ „Wir sind bald da“, entgegnete Angela ruhig. „Mr. Weston wirkt nett, nicht wahr? Wir haben ihn auch an dem einen Tag im Gerichtssaal gesehen, erinnerst du dich?“ Jodie nickte. „Kann sein. Amber war nicht so begeistert von ihm, weil er nie dar war.“ „Er arbeitet für eine Zeitung oder?“ „Als Fotograf“, murmelte Jodie. „Für ein gutes Foto reiste er immer durch die halbe Welt. Amber hat erzählt, dass sie das immer schrecklich fand, vor allem weil er dadurch auch oft ihren Geburtstag verpasst hat.“ Jodie seufzte. „Wann ist das alles endlich vorbei?“ Angela strich ihr über den Arm. „Es wird nie richtig vorbei sein, aber es wird besser werden. Du wirst dich immer an das erinnern, was passiert ist. Und das ist auch gut so. Sobald die Zeit reif ist, wirst du es verarbeitet haben und kannst wieder nach vorne sehen.“ „Na hoffentlich“, entgegnete das Mädchen. „Mom?“ Die Angesprochene sah zu ihrer Tochter. „Ja?“ Jodie reagierte nicht und starrte auf den Transporter, der auf die Einfahrt des ihr bekannten Hauses fuhr. Eigentlich wollte sie nicht in die Straße, in der das Haus der Westons lag, blicken, aber nun war es geschehen. „Jodie?“ „Da…zieht…jemand ein…“, murmelte sie leise. „Scheint so“, Angela blickte zur Einfahrt. „Wer hätte gedacht, dass sich das Haus so schnell verkaufen lässt.“ Nach Ambers Tod blieb Leila noch einige Monate in ihrem Haus wohnen. Einige Wochen nach der Verhandlung wurde sie vom Schmerz übermahnt und hielt es in ihren eigenen vier Wänden nicht mehr aus. Sie wurde überall an Amber erinnert und zog letztlich die Reißleine. In einer Nacht und Nebel Aktion packte sie ihre Sachen und verließ die Stadt um neuanzufangen. Von dort aus organisierte sie über eine Umzugsfirma alles weitere. Aufgrund der frischen Ereignisse um Ambers Ermordung war es schwer gewesen einen neuen Käufer zu finden. Wie in Trance bewegte sich Jodie auf das Haus zu. „Jodie?“ Amber folgte ihr besorgt. Als Jodie auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen blieb, blieb auch sie stehen. „Schatz? Ist alles in Ordnung?“ „Ja“, sagte sie leise. „Ich muss wissen…wer…“ Sie wartete bis die neuen Käufer in Sichtweite waren. Als die Haustür aufging, blieb Jodies Herz stehen. Eine Frau – möglicherweise Amerikanerin – kam hinaus und ging auf den Umzugswagen zu. Ihr folgte ein kleines, japanisch-stämmiges Mädchen. „Da seid ihr ja“, sagte die Ältere als ihr Mann und Sohn aus dem Wagen stiegen. Der Mann, das erkannte Jodie auf Anhieb, war wie das Mädchen und sein Sohn japanisch-stämmig. Während die Familie die ersten Kisten aus dem Wagen holte und ins Haus ging, ging Jodie auf den Umzugswagen zu und schließlich zum Fenster des Hauses. Sie spähte hinein. „Kann ich helfen?“ Jodie wirbelte erschrocken herum als sie die fremde Stimme hörte und stieß augenblicklich gegen den Jungen, der einen neuen Karton fallen ließ. Es schepperte und kurz darauf kamen die beiden Erwachsenen nach draußen. Er kam zurück in sein Büro und fegte sämtliche Unterlagen vom Tisch. Es war noch nicht vorbei. Viel zu lange hatte er gewartet. Zuerst Jodies vermeintliche Entführung, dann Ambers Mord und anschließend die Verurteilung von Connor. Hätte er eher zugeschlagen, wäre aber alles auf ihn zurück zu führen gewesen. Und jetzt nach einem Jahr war es fast zu spät. Connors Anwalt arbeitete an einer Neuaufnahme des Verfahrens, seine Familie beantragte für einen Tag Freigang, das Haus der Westons wurde verkauft und die Zeitungen waren beinahe soweit die Geschichte wieder ans Tageslicht zu holen, nur um sie den Lesern in Erinnerung zu rufen. Jetzt zu handeln war gefährlich, aber er konnte nichts dem Zufall überlassen. Das Aufrollen des Verfahrens konnte ihm den Hals brechen. Er musste Vorsorgen, um seiner eigenen Sicherheit willen. Kapitel 11: Neuankömmlinge -------------------------- Jodie machte einen Schritt nach hinten und spürte bereits das kalte Fensterglas in ihrem Rücken. Ohne es zu realisieren, stand sie auf dem frischen Blumenbeet und blickte den fremden Jungen an. „Oh nein“, stieß Shukichi aus und kniete sich sofort zu dem Karton. Mit Bedacht riss er das Klebeband herunter, schob die Kartonlaschen auseinander und begutachtete den Inhalt. Das Geschirr lag in Scherben vor ihm. „Oh Mist“, murmelte er anschließend. Das würde Ärger geben. „Shukichi?“ Mary sah zu ihrem Sohn. „Was ist passiert?“ Jodie beobachtete den Jungen mit den mittellangen, zerzausten, braunen Haaren und blauen Augen. Wie sie, trug auch er eine Brille mit großen, runden Gläsern. Er wirkte schlaksig und ungeschickt zugleich. Und jetzt bekam er Ärger für etwas, was sie verschuldete. „Mama…“, fing er an. „Ich…“ „Das ist unsere Schuld“, begann Angela und stellte sich neben Jodie. „Wir bitten um Entschuldigung und werden den Schaden natürlich ersetzen.“ Mary sah Angela skeptisch an, ehe ihr Blick zu Jodie ging. „Ist ja nur Geschirr“, entgegnete Tsutomu ruhig. „Machen Sie sich deswegen nur keine Umstände. Es waren nicht gerade die hübschesten Teller.“ „Was soll denn das heißen?“ Mary stemmte die Hände in die Seiten. „Das Geschirr haben wir von meinen Eltern zur Hochzeit bekommen.“ „So hab ich das nicht gemeint“, versuchte er zu beschwichtigen. „Trotzdem würde mich interessieren, warum zwei fremde Personen durch unser Fenster gespäht haben.“ Jodie fühlte sich ertappt. „Ich…ich…“, stammelte sie leise. Wie sollte sie Fremden erklären, was sie dazu bewogen hat, zum Haus zu gehen? Sie wusste ja nicht einmal selbst, warum sie hier stand. „Wir wollten gerade nach Hause gehen, als wir Ihren Umzugswagen sahen“, fing Angela an. „Da wurden wir neugierig und haben durch das Fenster geschaut. Wir wissen, dass man so etwas natürlich nicht macht, aber in dem Moment gewann unsere Neugier.“ „Wohnen Sie in der Gegend?“, wollte Tsutomu wissen. „Wir wohnen ein paar Straßen weiter. Oh, wo sind meine Manieren. Ich bin Angela Starling und hier neben mir steht meine Tochter Jodie.“ Sie reichte dem fremden Ehepaar die Hand. „Hallo“, murmelte diese leise. „Tsutomu Akai“, stellte sich der Mann vor. „Das sind meine Frau Mary und mein Sohn Shukichi.“ Er vernahm ein Husten und sah nach unten. Seine kleine Tochter stand direkt hinter ihm und hielt sich an seiner Hose fest. „Und das hier ist unser kleiner Wirbelwind Masumi.“ „Ich bin nicht klein“, gab diese von sich. „Und du hast Shu-nii vergessen.“ Angela lächelte und kniete sich zu ihr. „Es freut mich dich kennen zu lernen, Masumi. Verrätst du mir, wer Shu-nii ist?“ Masumi sah zu ihrem Vater. „Darf ich?“ Tsutomu nickte. „Shu-nii ist mein anderer großer Bruder.“ „Ach so..? Und lernen wir diesen noch kennen?“ Masumi nickte. „Er kommt ganz bald hier her. Er war sogar vor uns hier“, erzählte sie. „Unser ältester Sohn Shuichi lebt bereits seit einem Jahr in New York“, erklärte Mary. „Und studiert hier Ingenieurswissenschaften.“ „Das ist ja großartig“, entgegnete Angela. „Ja, Shu-nii kann alles.“ Tsutomu schmunzelte. „Masumi ist sehr stolz auf ihren älteren Bruder. Und nehmen Sie es ihr nicht übel, wenn Sie manches Mal nicht verstehen, was sie sagt. Sie braucht noch eine Weile um zwischen dem Japanischen und dem Englischen zu wechseln. Manchmal vertauscht sie auch noch die Begriffe.“ „Aber nicht doch. Das ist kein Problem.“ Angela sah zu Jodie. „Jodie war in dem Alter genauso. Obwohl sie nur eine Sprache spricht, konnte ich sie manches Mal auch nicht verstehen.“ „Mom!“ Jodie wurde rot. „Ich hör ja schon auf“, sagte Angela schmunzelnd. „Wenn ich Ihnen beim Kisten reinbringen helfen kann, sagen Sie es nur. Falls Sie Hilfe beim Renovieren oder Aufbauen von Möbeln brauchen, können Sie uns natürlich auch informieren.“ „Das ist nicht nötig. Wir schaffen das schon“, antwortete Mary. „Shu-nii kommt nachher auch zum helfen“, warf das kleine Mädchen ein. „Ich verstehe“, kam es von Angela. „Dann sollte ich lieber nicht helfen, nicht wahr, Masumi?“ Masumi dachte nach und nickte dann. „Ja, dann kann Shu-nii viel helfen.“ Tsutomu strich ihr durch das Haar. „Geh doch schon wieder rein und hilf Shukichi.“ Er sah seinen Sohn an. Shukichi schloss die Kiste mit dem kaputten Geschirr und nahm sie hoch. „Na komm, Masumi, gehen wir rein.“ Masumi nickte und folgte ihrem Bruder. „Kannten Sie die Vormieter?“, wollte Mary wissen. „Das kann man so sagen“, antwortete Angela. „Amber, die Tochter der Westons war mit meiner Tochter Jodie befreundet. Jodie war öfters hier.“ „Oh“, stieß der Mann aus. „Wir haben gehört, was passiert ist. Schreckliche Sache.“ „Ja, das war wirklich eine schreckliche Sache“, murmelte Angela zustimmend. „Auch wenn es nur ein schwacher Trost ist, aber wenigstens haben sie denjenigen gefunden, der diese Tat begangen hat“, sprach Tsutomu. „Falls er es war“, sagte Jodie leise. „Wie?“ Mary sah sie erstaunt an. „Ich kann…mir nicht vorstellen, dass es…Connor war…“ „Jodie hat den Jungen kennen gelernt“, fügte Angela hinzu. „Irgendwie kann sich keiner von uns vorstellen, dass er es wirklich gewesen ist. Aber die Beweise sprechen gegen ihn.“ Tsutomu nickte. „Man sollte den Beweisen Glauben schenken, außer man hat einen Hinweis, dass die Beweise falsch sind. Natürlich haben wir uns vor dem Hauskauf die Historie des Hauses und den Hintergrund zu dieser Gegend angesehen. Nachdem, was alles in den Medien berichtet wurde, scheint es nicht so, als seien die Beweise fingiert gewesen.“ Angela war erstaunt. „Sie haben recht“, sagte sie. „Wird ihr älterer Sohn auch hier wohnen?“, wollte sie wissen um das Thema zu wechseln. „Es ist nicht geplant. Shuichi will lieber unabhängig sein und bleibt in seiner Wohnung. Von den Zimmern her, müsste er sich sonst eines mit seinem Bruder teilen und ich nehme nicht an, dass er das möchte“, antwortete Tsutomu. „Ich kann es ja auch verstehen und würde nicht anders handeln. Er ist ein junger Mann und möchte nach einem Jahr Unabhängigkeit nicht wieder im Hotel Mama wohnen. Und seine Wohnung ist auch näher zum Campus. Natürlich hätten wir nichts dagegen, sollte er sich anders entscheiden, aber Sie wissen ja wie das mit den Kindern ist.“ Angela nickte. „Ich will gar nicht wissen wie es sein wird, wenn Jodie im nächsten Jahr studiert und möglicherweise von zu Hause ausziehen will.“ Sie sah zu ihrer Tochter. „Auch wenn es ein ganz normaler Prozess ist. Ich wollte damals auch nicht mehr bei meinen Eltern wohnen.“ „Mom?“ Angela nickte. „Ja, natürlich, wir wollten Sie nicht so lange aufhalten.“ „Das haben Sie doch nicht. Es war uns eine Freude Sie kennen zu lernen“, sprach Mary. „Die Freude ist ganz auf unserer Seite. Komm, gehen wir, Jodie.“ Jodie sah zum Haus. „Kann…kann ich rein? Nur…kurz?“ „Jodie?!“ „Nein, ist schon gut“, entgegnete Tsutomu und blickte zu Jodie. „Geh ruhig rein.“ „Danke“, murmelte das Mädchen und ging langsam auf die Haustür zu. Sie zögerte einen Moment, trat dann aber ein. Jodie sah sich um. Obwohl sie so oft im Haus war, kam ihr alles fremd vor. Es war nicht mehr das Haus, das sie kannte. Im Flur standen die ersten Kisten und Jodie konnte bereits in das Wohnzimmer blicken. Das Sofa und weitere Kisten standen im Raum. Jodie blickte zu den Treppen. Sie wusste, wohin diese führten und stieg langsam nach oben. Angela runzelte die Stirn und wollte ihrer Tochter nachgehen. „Warten Sie“, kam es von Tsutomu. „Ich glaube, es ist besser für Ihre Tochter, wenn sie alleine nach oben geht. Auch wenn es schwer ist, sie muss es alleine schaffen.“ Angela schluckte. „Das ist nicht so einfach für Jodie.“ „Ich weiß. Wie gesagt, ich kenne die Historie des Hauses und dieser Gegend. Ihre Tochter war das Entführungsopfer, nicht wahr?“ Angela nickte. „Die Zeitungen haben nicht viel darüber berichtet. Ist es richtig, dass es nur ein Scherz sein sollte, der gehörig in die Hose ging?“ „Was das angeht, hat die Zeitung nicht gelogen.“ Angela seufzte. „Amber hat die Entführung damals inszeniert und den Jungen glauben gemacht, dass es mit Jodie abgesprochen war. Jodie wusste allerdings nichts davon. Auch die Zeit danach war nicht einfach für Jodie.“ „Dann sollten Sie ihr jetzt wirklich diesen Moment lassen. Sie sind zwar Ihre Mutter, aber es gibt Dinge im Leben, die muss ein Kind selbst schaffen, auch wenn es schwer ist…“ Tsutomu brachte sie ins Wohnzimmer. „Ich weiß, das Zimmer ist noch nicht fertig, aber setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?“ „Machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Ein Wasser ist ausreichend.“ Jodie stand vor Ambers Zimmer. Ganz langsam legte sie die Hand auf die Türklinke, atmete tief durch und drückte die Tür auf. Es sah nicht mehr so aus, wie sie es kannte. Die ganzen Möbel von Amber waren verschwunden und es erinnerte nichts mehr an das Mädchen. Statt weißen Wänden fand Jodie diese in einem hellen rosa vor. Ein Bett – viel kleiner als das von Amber – stand abgedeckt an der Stelle, wo sich früher der Computer von Amber befand. Jodie fuhr mit den Fingerspitzen über die Folie. „Das ist Masumis Zimmer.“ Jodie zuckte zusammen und sah zur Tür. „Das habe ich mir gedacht“, murmelte Jodie. „Das war früher Ambers Zimmer.“ „Es tut mir leid, was passiert ist. Das muss schlimm für dich gewesen sein.“ „Wie mans nimmt“, murmelte Jodie. „Ich war früher oft hier…wir saßen auf ihrem Bett oder auf dem Boden und haben…Spaß gehabt. Aber…“ Jodie brach ab und kämpfte mit den Tränen. „Ist schon gut“, entgegnete Mary. „Willst du noch weitere Zimmer sehen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich geh zurück zu meiner Mom.“ Jodie wischte sich die Tränen weg und ging an Mary vorbei. Ihr Weg führte sie nach unten, wo sie die Stimme ihrer Mutter hörte. „Wollten Sie schon immer nach New York oder sind Sie wegen Ihrem Sohn hier her?“ Tsutomu lachte. „Sowohl als auch. Wir haben schon lange mit dem Gedanken an einen Umzug gespielt, aber immer passte irgendwas nicht. Entweder es lag an der Arbeit oder wir konnten nichts Passendes finden. Als Shuichi dann seinen Studienplatz in New York bekam, haben wir uns intensiver mit dem Umzug beschäftigt. Wir haben schnell das Haus gefunden, der Preis war akzeptabel und Shuichi hat sich vor dem Kauf in der Umgebung etwas Umgesehen.“ „Vielleicht kann sich Ihr Sohn mal mit Jodie unterhalten. Nächstes Jahr möchte sie auch mit dem Studium anfangen, allerdings hat sie sich noch für kein Hauptfach entschieden. Ein Austausch mit einem Studenten, auch was die Bewerbungen angeht, ist da bestimmt hilfreich.“ Angela sah zu ihrer Tochter die ins Wohnzimmer kam. „Mom…“, murmelte Jodie leise. „Das muss doch nicht sein.“ „Ich frag doch nur ganz unverbindlich.“ „Das ist kein Problem“, sagte der Mann. „Shuichi wollte sowieso demnächst mit seinem Bruder die Bewerbungsunterlagen durchgehen. Jodie kann sich dem gern anschließen. Natürlich nur wenn du möchtest.“ „Wahrscheinlich ist es keine schlechte Idee“, gab sie schließlich klein bei. „Gut. Am besten Sie geben mir Ihre Adresse, Angela. Unser Ältester macht sich momentan sehr rar. Wenn er nicht in der Uni ist, lernt oder arbeitet er.“ „Aber er kommt und hilft uns“, warf Masumi ein, als sie mit ihrer Mutter ins Wohnzimmer kam. „Das hat er mir versprochen. Er wollte meinen Schrank aufbauen.“ „Natürlich kommt er“, nickte Tsutomu. Er wandte sich wieder zu Jodie und Angela. „Shuichi ist immer sehr wortkarg unterwegs…außer es handelt sich Rätsel oder irgendwelche Baupläne.“ „Sie müssen sehr stolz auf ihn sein. Einen Ingenieur kann man immer in der Familie brauchen.“ „Das sind wir“, nickte Mary. „Aber er will nicht als Ingenieur arbeiten“, platzte Masumi heraus. „Will er nicht?“ „Masumi“, mahnte Mary ihre Tochter. „Tschuldigung, Mama“, sagte das Mädchen und kletterte auf das Sofa. Tsutomu lachte. „Man merkt fast gar nicht, dass Shuichi ihr Held ist.“ „Darf ich fragen, was Ihr Sohn später machen will, wenn er nicht als Ingenieur arbeiten möchte?“ Tsutomu räusperte sich. „Shuichis Berufswunsch ist etwas Ungewöhnlich“, gestand er. „Und ich muss auch gestehen, dass wir am Anfang alles andere als begeistert waren. Aber mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt. Er kommt zu sehr nach uns, was manchmal nicht unbedingt einfach ist. Seit einigen Jahren hat er sich in den Kopf gesetzt zum FBI zu gehen.“ „Wirklich?“ Angela sah die Familie erstaunt an. „Ja, unser Sohn hat große Pläne. Wir unterstützen ihn natürlich dabei und greifen ihm so gut wie es nur geht unter die Arme.“ „Wenn Ihr Sohn möchte, kann er gerne bei uns vorbei kommen. Mein Mann ist FBI Agent. Die Beiden haben sicher einiges miteinander zu besprechen.“ Masumi weitete ihre Augen. „Wirklich?“ „Ja“, nickte Angela. „Er ist Special Agent und bereits seit einigen Jahren im Dienst“, antwortete sie stolz. „Das ist wirklich interessant.“ Mehrere Augenpaare blickten zur Wohnzimmertür. „Shu-nii“, stieß Masumi aus, kletterte vom Sofa runter und lief auf ihren großen Bruder zu. Kapitel 12: Shuichi ------------------- Als Masumi bei ihrem Bruder ankam, umarmte sie dessen Beine. „Du bist wirklich gekommen, Shu-nii“, rief sie freudig. Versprechen waren dehnbar und wenn es die Zeit nicht zu ließ, musste Shuichi absagen. In der Vergangenheit passierte es bereits allzu oft. Aber was hätte er anders machen können? Er studierte nun einmal nicht in Japan und konnte dementsprechend nicht andauernd hin und her pendeln. Seine Eltern wussten dies und unterstützten ihren Sohn so gut es ging. Da Shuichi allerdings auch unabhängig sein wollte, nahm er eine Stelle in einer Bar an und stand zweimal die Woche hinter dem Tresen. Hin und wieder spielte er für die Kundschaft auf dem Akkordeon und verdiente sich einen kleinen Zusatzbonus. Wann immer es ging, sprang er für einen kranken Kollegen ein, sodass er das ein oder andere Telefongespräch mit seiner Familie absagen musste. Die Wochenenden gingen entweder für die Arbeit, das Lernen oder Hausarbeiten drauf und im kommenden Semester war mindestens ein Praktikum geplant. Nur in den seltensten Fällen schaffte er es, die abgesprochenen Telefontermine mit seiner Familie einzuhalten und die 13 Stunden Zeitverschiebung waren dabei auch kein Vorteil. Nun wo die Familie auch nach New York zog, war die Situation natürlich anders. Sie konnten sich häufiger sehen. Allerdings wollte Shuichi – auch wenn er für die Renovierung und das Einrichten häufiger vorbei kam – nicht jede Woche rein schneien. Für seine kleine Schwester würde dies sicherlich bald zu einem großen Thema werden. Shuichi blickte nach unten zu ihr und schenkte ihr ein seichtes Lächeln, ehe er ihr durch die Haare wuschelte. „Komm, Shu-nii.“ Masumi griff nach seiner Hand. „Ich zeig dir mein Zimmer. Es ist schön groß.“ Das Mädchen strahlte. „Gleich, Masumi. Geh doch schon mit Shukichi nach oben, ich komm gleich nach.“ „Versprochen?“ Sie sah ihn mit ihren großen, grünen Kulleraugen an. „Versprochen“, nickte er. Masumi ließ seine Hand los und lief auf Shukichi zu, der gerade mit einer Kiste den Raum betrat. Sie sah ihn an und wartete bis er die Kiste auf den Boden stellte. Sobald dies geschehen war, ergriff sie seine Hand. „Komm, gehen wir nach oben. Shu-nii kommt auch gleich nach.“ Masumi wartete seine Reaktion nicht ab und zog ihn direkt mit. „Masumi, langsam.“ Shukichi taumelte hinter seiner Schwester her. Shuichi sah seinen Geschwistern für einen kurzen Augenblick nach. Masumi war ein wahrer Wirbelwind und wenn sie einen mit ihren Kulleraugen ansah, bekam sie fast alles, was sie wollte. Aber auch nur fast. Sie lebte noch ein unbeschwertes Leben und machte sich über nichts Sorgen. Shuichi wandte sich wieder Angela und Jodie zu. „Du musst Shuichi sein“, fing Angela an. „Ich bin Angela Starling und das ist meine Tochter Jodie.“ Shuichi nickte. „Freut mich. Sie sagten, ihr Mann sei FBI Agent?“ Natürlich fackelte er nicht lange und kam direkt auf den Punkt. „Das ist er“, antwortete Angela. „Seit über 15 Jahren“, fügte sie stolz hinzu. „Unter den Umständen nehme ich Ihr Angebot gern an.“ „Das dachte ich mir bereits“, entgegnete Angela. „Ich werde mit meinem Mann sprechen.“ „Danke.“ „Da gibt es aber noch eine Kleinigkeit“, fing Angela an. „Mom“, sagte Jodie leise. „Ich weiß Bescheid“, gab Shuichi von sich. „Im Gegenzug zu diesem Treffen soll ich mit Ihrer Tochter die Bewerbungsunterlagen für die Universität oder das College durchgehen.“ „Woher weißt du…?“ Angela sah ihn ungläubig an. „Die Haustür stand sperrangelweit offen.“ Shuichi sah zu seinen Eltern. „Ihr müsst besser aufpassen. Auch wenn ihr gerade im Umzugsstress seid, sollte die Tür nicht die ganze Zeit offen stehen. Vor allem dann nicht, wenn keine Kisten rein getragen werden. Die Kriminalitätsrate in Japan ist sehr gering, während die in den Vereinigten Staaten sehr hoch ist.“ „Das ist mein Sohn“, entgegnete Tsutomu. „Ein kleiner Besserwissen.“ „Von wem er das nur hat“, kam es süffisant von Mary. „Zur Hälfte von dir und zur anderen Hälfte von mir.“ „Gut gerettet“, schmunzelte Mary. „Ich sage nur, wie es ist.“ Shuichi steckte seine Hand in die Hosentasche. „Also Jodie, wie stehst du zu der Sache mit den Bewerbungsunterlagen?“ Dafür, dass das Mädchen ebenfalls beim FBI arbeiten wollte, war sie still, beinahe zu still. „Du musst das nicht machen. Ich schaff das schon alleine“, kam es sofort von Jodie. „Meine Mom hat das nur so gesagt. Und mein Vater wird sich auch trotzdem mit dir zusammen setzen. Es gibt dabei keine Bedingungen“, ratterte sie runter. „Jodie?“, Angela sah ihre Tochter an. „Es ist doch keine Schande, sich für die Bewerbung Hilfe zu holen. Das machen alle. Shuichi hat sich bestimmt auch Hilfe geholt. Das hast du doch, nicht wahr?“ „Um ehrlich zu sein, nein. Der Bewerbungsprozess in Japan ist anders als hier. Da sich drüben keiner meiner Lehrer damit auskannte, habe ich mich selbstständig damit auseinander gesetzt und das erste Studienjahr in Japan absolviert“, antwortete der Student und blickte zu Jodie. „Wenn der Umzug soweit abgeschlossen ist, helfe ich Shukichi bei seiner Bewerbung. Du kannst dich gern anschließen.“ Jodie nickte. „Okay“, murmelte sie leise. „Sag Bescheid, wenn du Zeit hast.“ „Hast du eine Handynummer unter der ich dich erreichen kann?“, wollte er wissen. „Hab ich“, nickte Jodie und schwieg. „Und die wäre?“ „Ach ja…tschuldige…“ Jodie holte ihr Handy hervor und suchte nach der Nummer. „Du kennst deine Nummer nicht auswendig?“ „Das Handy ist noch neu…genau wie die Nummer…ich hab sie noch nicht so oft verwendet“, gestand sie. Während des gesamten Prozesses vor einem halben Jahr und in der folgenden Zeit, wurde sie immer wieder von Reportern kontaktiert. Wie diese an ihre Nummer kamen, war ihr unklar. „Ach, da ist sie ja.“ Sofort ratterte sie die Zahlen runter. Shuichi sah sie überrascht an, nahm ihr dann aber das Handy aus der Hand und tippte darauf rum. Nachdem er ihr Adressbuch fand, speicherte er seine Nummer ein und rief sich an. „So, jetzt hab ich deine Nummer.“ Jodie nickte verlegen. Oh Gott, das ist so peinlich, sagte sie zu sich selbst. Obwohl Jodie dachte, dass der Tag nicht schlimmer werden würde, trat sie nun von einem Fettnäpfchen in das Nächste. Und dieser Junge machte die Situation nicht leichter. Er hatte etwas Ernstes, aber auch Tröstliches an sich. Obwohl sie ihn nicht kannte, fühlte sie sich wohl in seiner Nähe, auch wenn er sie verlegen machte. Jodie steckte in einem Dilemma. „Na gut“, begann Angela. „Wir sollten jetzt auch langsam gehen. Mein Mann fragt sich sonst wieder warum wir solange weg sind.“ Sie sah zu Shuichi. „Er meldet sich dann bei dir. Die Nummer hat ja Jodie.“ Akai nickte. „Wann immer es ihm passt. Ich bin sehr geduldig.“ Manchmal, sagte sich Tsutomu und warf einen Blick auf seinen Sohn. „Wir können die Tage mal einen Kaffee zusammen trinken“, entgegnete Mary. „Ja, gerne“, stimmte Angela sofort zu. „Und falls sie doch Hilfe brauchen, lassen Sie es uns wissen. Ich zeige Ihnen auch gerne die Gegend hier.“ „Auf das Angebot kommen wir bestimmt zurück.“ Shuichi blieb im Wohnzimmer bis die Verabschiedung zu Ende war und beide Mütter ihre Telefonnummern tauschten. Shuichi setzte sich auf das Sofa und tippte auf seinem Handy herum. Als seine Eltern wieder kamen, blickte er hoch. „Wohnen die Starlings nebenan?“, wollte er wissen. „Nicht direkt“, antwortete Mary. „Sie wohnen einige Straßen weiter weg und haben den Umzugswagen zufällig gesehen. Da wurden sie auch schon neugierig und kamen her.“ Shuichi verengte die Augen. „Und das kommt euch nicht merkwürdig vor?“ „Du siehst Gespenster, Shuichi“, sagte Tsutomu. „Du weißt doch, ich habe eine gute Menschenkenntnis und von den Beiden geht keine Gefahr aus. Außerdem glaube ich, dass dir Agent Starling eine Menge hilfreiche Tipps geben kann. Es kann nie schaden, Freunde beim FBI zu haben, wenn man dort anfangen will.“ „Mhm…“, murmelte Shuichi. Mary sah zu ihrem Sohn. „Das Passwort für das Internet liegt neben dem Telefon im Flur. Wenn du deinen Laptop mitgebracht hast, kannst du dich an die Recherche machen.“ Sie kannte ihren Sohn nur zu gut. Shuichi schmunzelte. „Dauert nicht lange.“ Er stand vom Sofa auf. „Da bin ich mir sicher“, entgegnete Tsutomu. „Und du recherchierst erst über die Familie, wenn alle Kisten aus dem Wagen in den Zimmern sind.“ Shuichi musste lachen. „Du willst doch nur dabei sein. Dabei dachte ich, dass du dich bereits über alles in dieser Gegend informiert.“ „Du doch auch“, gab der Ältere zurück. Shuichi ließ sich mit seinem Laptop auf das Sofa fallen. Kisten in das Haus schleppen war zwar nicht anstrengend, aber wenn er schon da war, wurde er gleich noch zum Auspacken verdonnert. Und da Masumi die ganze Zeit nach seiner Aufmerksamkeit rang, musste er auch auf sie Rücksicht nehmen. Hauptsächlich war er in ihrem Zimmer zugange und baute die ersten Möbelstücke auf. Als er damit fertig war, erwischte er seine kleine Schwester beim Schlafen auf dem Bett. Sofort umspielte ein Lächeln seine Lippen. Sie drückte ihren Teddy an sich und schlief friedlich. Während seine Mutter das Abendessen vorbereitete und Shukichi in seinem Zimmer seine alte Spielkonsole anschloss, konnte er die Zeit für die Recherche verwenden. Sobald die Suchmaschine geladen war, suchte er nach Agent Starling. Shuichi war sofort in seinem Element – Recherche um einem möglichen Rätsel auf die Spur zu kommen. Tsutomu setzte sich neben seinem Sohn. „Was gefunden?“ „Kann man so sagen. Agent Starling wird in vielen Zeitungsartikeln genannt. In vielen Fällen war er leitender Agent und wird sehr häufig gelobt. Ich bin auch auf einen älteren Zeitungsausschnitt gestoßen. Vor gut zwölf Jahren wurden er und seine Familie Opfer eines Anschlages, aber Starling konnte die Täterin überwältigen und die Hintermänner überführen. Außerdem wurde Starling oft für seine Taten ausgezeichnet. Vielleicht kann es wirklich nicht schaden, einen Kontakt beim FBI zu haben.“ Tsutomu nickte. „Wie ich schon sagte, die Familie ist in Ordnung. Und einen FBI Agenten in der näheren Nachbarschaft zu haben, kann auch für uns nicht schlecht sein.“ „Ich finde es trotzdem merkwürdig, dass sie ausgerechnet heute hier waren.“ „Amber Weston, die Tochter der früheren Besitzerin war eine Freundin von Jodie.“ Tsutomu sah ihn an. „Erinnerst du dich noch an die Artikel zur Ermordung von Amber und welches weitere Ereignis damit im Zusammenhang stand?“ „Die vorgetäuschte Entführung“, murmelte Shuichi nachdenklich. „Ich erinnere mich. Die Zeitungen schrieben, dass dieser Connor zuerst ein Mädchen auf Anordnung von Amber entführte und Amber am nächsten Morgen umbrachte. Man war sich über das Motiv nicht einig. Zum Schutz von Jodie haben sie lediglich ihren Vornamen genannt. Natürlich hat es bei mir geklingelt, als ich ihren Vornamen hörte.“ Shuichi tippte wieder etwas in das Suchfeld. „Da haben wir es. Es wird spekuliert, dass Connor herausfand, dass Jodie in die Entführung nicht eingeweiht war und Amber daraufhin zur Rede stellte. Bei ihrem Streit, brachte er Amber ausversehen um. Eine andere Theorie ist, dass Connor in Amber verliebt gewesen ist, sie aber nichts von ihm wissen wollte und er sie deswegen umbrachte. Es gibt noch weitere Theorien, zum Beispiel, soll er Amber beim Sex gewürgt haben, woraufhin sie erstickte.“ Tsutomu sah auf den Bildschirm. „Er hat die Tat nie gestanden.“ „Ich weiß“, murmelte Shuichi. „Stattdessen beteuerte immer wieder seine Unschuld. Aber die Beweise sprechen eindeutig gegen ihn.“ „Die Tat ist jetzt genau ein Jahr her.“ Tsutomu grübelte. „Das erklärt, warum es die Familie in die Gegend verschlagen hat.“ „Möglich“, sagte Shuichi. „Du hast noch Zweifel?“ „Zweifeln ist gesund“, antwortete der Student. „Es gibt auch Artikel in denen Jodies Beteiligung am Mord diskutiert wird.“ „Du glaubst doch nicht, dass sie damit irgendwas zu tun hat? Du hast Jodie gesehen, wirkt sie für dich wie eine Mörderin?“, wollte Tsutomu wissen. „Das hat nichts mit dem Aussehen zu tun“, fing Shuichi an. „Es kann sein, dass sie auf Amber wütend war und sich Rächen wollte. Spielen wir das Szenario einmal durch: Jodie wird von Connor entführt. Vielleicht steckt sie dem Jungen, dass nichts abgesprochen war und stachelt ihn gegen Amber auf. Oder aber die Entführung ging von ihr aus, wie Amber behauptet hat und Connor hat aus lauter Wut Amber umgebracht. Jodie kennt die Wahrheit, kann sie aber keinem sagen, weil alles aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist zwar ein Jahr vergangen, aber sie muss immer noch mit den Konsequenzen leben.“ Tsutomu sah ihn an. „Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“ „Wenn du meinen Instinkt fragst, ich mir auch nicht. Aber bei einem Fall muss man jede Kleinigkeit und jedes mögliche Szenario bedenken. Wie heißt es doch so schön? Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“ Tsutomu schlug seinem Sohn begeistert auf den Rücken. „Du kommst wirklich nach denen Eltern und ich bin mir sicher, dass du eines Tages ein wirklich guter FBI Agent werden wirst. Und jetzt verrate mir, was ist die unwahrscheinliche Wahrheit?“ „Die Wahrheit ist“, fing er an. „…dass ich Jodies Beteiligung an Ambers Ermordung für ausgeschlossen halte.“ Kapitel 13: Erster Schultag --------------------------- Jodie lag schweigend in ihrem Bett und sah nach oben an die Decke. Aus dem Augenwinkel schielte sie zu ihrem Wecker auf dem Nachtisch. Sie hatte noch fünf Minuten ehe der schrille Ton erklang und sie aufstehen musste. Und auch wenn sie bereits wach war, bevorzugte sie noch das Liegen. Jodie seufzte leise und schloss die Augen. Die Zeit verging viel zu schnell und als sie den Weckruf hörte, griff sie nach ihrem Wecker. Sie stellte ihn aus und setzte sich langsam auf. Jodie gähnte herzhaft, nahm ihre Sachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie mit Zähneputzen und Umziehen fertig war, ging sie zurück in ihr Zimmer und überprüfte auf dem Handy die neusten Nachrichten. Jodie war sichtlich erleichtert, dass keine Zeitung das Thema Amber oder Connor erneut aufgriff. Trotzdem war sie sich sicher, dass der Schultag nicht leichter werden würde. Manchmal spürte sie die Blicke ihrer Mitschüler auf sich, wenn sie einen Gang entlang ging oder das Klassenzimmer betrat. Gerade in der Anfangszeit nach der Entführung wurde viel über sie geredet. Einige gaben ihr die Schuld an allem, vor allem die ehemaligen Freunde von Connor. Und dann gab es auch noch die, die einfach nur im Mittelpunkt stehen wollten. In vielen Interviews gaben sich Mitschüler – von denen Jodie nicht einmal die Namen wusste – als Freunde aus. Sie machten viele Versprechungen und wollten für Jodie da sein. Einige besuchten sie sogar zu Hause, aber nach wenigen Minuten auf dem Sofa, verließen sie das Elternhaus und Jodie fühlte sich nicht besser. Nachdem Jodies Entführungsgeschichte in den Augen ihrer Mitschüler nicht für genug Schlagzeilen sorgte, stand sie wieder alleine da. Und sie überstand die Zeit auch ohne freundschaftlichen Beistand. Jetzt musste Jodie nur noch einige Monate durchhalten, ihren Abschluss machen und sich für einen Studiengang oder Kurse entscheiden. „Los geht’s“, motivierte sie sich selbst und nahm ihre Schultasche mit nach unten. „Frühstück ist fertig“, rief Angela aus der Küche. „Ich hab heute keinen Hunger“, kam es von Jodie zurück. Sie zog ihre Schuhe an und nahm die Jacke in die Hand. „Ich mach mich jetzt schon auf den Weg in die Schule. Bis später.“ „Aber Jodie…“, murmelte Angela und ging in den Flur. Aber ihre Tochter war bereits weg. Angela seufzte und ging zurück in die Küche. Jodie zog sich draußen ihre Jacke an und marschierte los. Bei jedem Schritt fühlten sich ihre Beine schwer an und der Weg zur Schule dauerte um ein Vielfaches länger. Dreißig Minuten vor Unterrichtsbeginn kam Jodie gedankenversunken in der Schule an. Als sie auf den Eingang zuging, spürte sie vermeintliche Blicke. Jodie sah sich um, aber alle Mitschüler waren in rege Unterhaltungen vertieft. Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich nichts anzumerken. Langsam stieß sie die Eingangstür auf und sah sich nach einem vertrauten Gesicht um. Wenn es nur so einfach war, wie alle sagten. Shukichi stolperte aus dem Sekretariat, richtete dann schnell seine Brille und sah wieder die Sekretärin an. „Entschuldigung“, fing er an und kratzte sich verlegen an der Wange. „Sie haben Ihren Stundenplan vergessen“, entgegnete Mrs. Cooper. „Ah…ja…stimmt…danke…“, gab der Junge von sich und nahm den Plan. Er sah drauf und schien irritiert. „Wie komme ich denn am besten zu den Räumen?“ „Sie müssen…“, begann Mrs. Cooper ehe sie Jodie erblickte. „Miss Starling, guten Morgen, kommen Sie doch bitte zu uns“, winkte sie sie heran. Jodie nickte und gesellte sich zu den Beiden. „Guten Morgen, was gibt es denn?“ „Wir haben einen neuen Schüler.“ Mrs. Cooper wies auf Shukichi. „Das ist Mr. Shukichi Akai, er geht in ihren Jahrgang und ich glaube, Sie haben auch einige Fächer zusammen. Bitte zeigen Sie ihm die Schule und die Räumlichkeiten. Ich verlasse mich auf Sie.“ „Ähm…“, murmelte Jodie leise und blickte zu Shukichi. Was für ein merkwürdiger Zufall. „Ja…ist gut.“ „Danke.“ Shukichi sah sie an und wartete bis die Sekretärin wieder im Büro verschwand. „Entschuldige, dass sie dich dazu verdonnert hat. Aber ich bin froh, dass ich ein bekanntes Gesicht vor mir habe.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich war irgendwie vor dem ersten Schultag aufgeregt. Eigentlich sollte ich das nicht mehr sein“, gestand er. „Mhm? Was meinst du?“ „Meine Familie ist schon diverse Male umgezogen. Wir haben in Tokyo und in London gelebt, aber jedes Mal war mein erster Tag anders. In der Schule in Tokyo verlangte keiner eine große Vorstellung, in London hingegen fragten sie mich schon eher aus. Und hier weiß ich es noch nicht.“ „Es kommt drauf an, wie pünktlich du bist. Wenn du draußen auf dem Flur stehst und auf den Lehrer wartest, stellt er dich vorne vor und du musst ein paar Worte an die Mitschüler richten. Geh einfach direkt in den Klassenraum und warte bis alle ihre Plätze einnahmen oder frag, wo etwas frei ist. Wenn du dann schon sitzt, wirst du vom Lehrer in den meisten Fällen registriert und er stellt dich vor. Von dir wird dabei nicht so viel erwartet.“ „Das ist ein guter Hinweis“, nickte Shukichi. „Jetzt sollte ich nur noch wissen, wo ich überhaupt hin muss.“ „Zeig mir mal deinen Stundenplan.“ Jodie nahm ihm diesen aus der Hand. „Mhm…“ „Die Abkürzungen sehen für mich wie Hieroglyphen aus“, gestand er. „Waren deine anderen Stundenpläne so anders?“, wollte Jodie wissen. „Ich hatte immer das Glück, dass die Fächer komplett ausgeschrieben waren und meistens hatten wir auch immer im gleichen Raum Unterricht. Mrs. Cooper hat mir aber schon verraten, dass das hier anders ist.“ Jodie nickte. „Dein Plan ist trotzdem relativ übersichtlich und sie hatte Recht, wir haben einige Fächer zusammen. Hier schau mal.“ Jodie hielt den Plan so, dass er mit rein sehen konnte. „In jedem Kasten steht ein Fach in seiner Abkürzung. HIS für Geschichte, CHEM für Chemie und so weiter. Direkt darunter findest du das Kürzel des Lehrers. McA steht beispielsweise für McAllister. Am schwarzen Brett unserer Schule, welcher direkt neben dem Sekretariat hängt, findest du alle Kürzel. Du kannst mich aber natürlich auch gerne fragen.“ „Ich hoffe, dass ich dich nicht so oft mit irgendwelchen Fragen nerven werde.“ „Schon gut, selbst wenn, wäre es nicht schlimm.“ Jodie sah wieder auf den Stundenplan. „Unter dem Lehrerkürzel findest du den Raum. Im besten Fall hast du mindestens zehn Minuten zum Raumwechseln. Allerdings gibt es viele Lehrer, die die Hausaufgaben erst nach dem Klingeln bekannt geben und dann musst du hetzen. Besonders schlimm wird es, wenn alle Schüler gleichzeitig auf dem Flur den Raum wechseln wollen. Manchmal spürst du dann den einen oder anderen Ellbogen in der Seite. Und pass auf, dass du nicht hinfällst. Da achtet dann keiner mehr auf dich und wenn du Pech hast, trampelt dir der ein oder andere Mitschüler auf die Hand oder auf andere Stellen…“ „Hört sich ja sehr ungemütlich an“, gab der Junge von sich. „Man gewöhnt sich dran. Im Übrigen verzeihen es dir die Lehrer, wenn du in der ersten Woche noch zu spät kommst. Ab der zweiten Woche sind sie nicht mehr so gnädig mit dir. Die Pläne werden aber meistens so konzipiert, dass die Räume nah beieinander liegen. Manchmal musst du trotzdem laufen, zum Beispiel wenn du ein naturwissenschaftliches Fach hast. Die Räume dafür befinden sich in der ersten Etage.“ „Verstehe.“ Shukichi wirkte nachdenklich. „Laut Plan hab ich gleich Geschichte.“ Jodie nickte. „Ich auch. Schau mal, Mathe, Geschichte, Chemie und Sport haben wir zusammen. In deiner ersten Woche kann ich dich vor deinen Räumen abholen und zu den Richtigen bringen.“ „Macht dir das auch nichts aus? Nur weil du von Mrs. Cooper dazu verdonnert wurdest, musst du das nicht machen.“ „Ach was, das geht schon in Ordnung. Ich bin eigentlich immer recht schnell, wenn es darum geht von einem Raum in den Nächsten zu kommen.“ „Dann ist ja gut. Aber wenn du wegen mir zu spät kommst, lassen wir das.“ „Versprochen“, sagte Jodie. „Hast du schon einen Spind?“ „Ja, Nummer 232.“ „Gut, dann müssen wir in den westlichen Trakt gehen.“ Jodie sah auf die Uhr. „Und danach müssen wir in Raum 3-04. Das sollten wir schaffen. Dann folge mir mal.“ Jodie marschierte los. „Hier unten sind auch die Räume für Erdkunde, Geschichte und Mathe. Hast du schon deine Bücher bekommen?“ „Die soll ich in der Pause abholen.“ „Okay. Wie schaut es mit dem Essen aus? Hast du was da?“ „Ja, Mama hat mir was mitgegeben.“ „Das ist sehr gut“, entgegnete Jodie. „Es gibt hier auch eine Kantine, aber je später du in die Pause kommst, desto weniger Auswahl wirst du haben. Nicht zu vergessen die älteren Schüler, die sich gerne vordrängelnd. Die Tische in der Kantine sind auch sehr begehrt und wie in jeder anderen Schule gibt es ein unsichtbares Gesetz wer wo sitzen darf. Das zeig ich dir aber, wenn wir dort sind. Ansonsten kannst du auch draußen essen. Wir haben genug Bänke und Tische. Aber pass auf, dass du das Schulgelände nicht verlässt. Das mögen die Lehrer gar nicht und wenn du es doch tun musst, brauchst du eine Erlaubnis.“ Langsam merkte Jodie, wie sie in seiner Gegenwart auftaute. „Ich schlage vor, wir holen in der Pause deine Bücher ab und Essen danach entweder draußen, vor einem Klassenraum oder im nächsten Klassenraum. Wenn du sonst noch etwas aus dem Sekretariat brauchst, mach das so früh wie möglich in der Pause. Vielen Mitschülern fällt so was erst spät auf und gegen Ende der Pause zieht sich dann die Schlange. Das sehen die Lehrer im Übrigen auch nicht gern. Sie lassen es zwar als Ausrede fürs zu spät kommen gelten, aber wenn es zu oft vorkommt, musst du mit dem Direktor reden.“ Shukichi nickte. „Hier, mein Spind.“ Er zog den Zettel mit der Kombination für das Schloss heraus, drehte auf die richtigen Zahlen und öffnete seinen Spind. „Am besten du besorgst dir in den nächsten Tagen ein neues Schloss mit einer neuen Kombination. Das alte Schloss musst du behalten bis du den Spind abgibst. Und lager deine Bücher hier, außer du brauchst sie zum Lernen. Und noch ein Hinweis, schau direkt vor Ort in deine Bücher rein. Es kam schon einmal vor, dass Schüler Bücher bekamen, die beschrieben waren oder in denen Seiten fehlten. Als es erst am Ende des Schuljahres auffiel, ließen die Lehrer natürlich nicht mit sich reden und die Bücher mussten vom Schüler ersetzt werden. Gut, dann auf zu Geschichte…und danach quälen wir uns mit Mathe.“ Jodie machte sich auf den Weg in den Raum. Shukichi nickte verlegen. „Was ist los?“ „Ich war immer gut in Geschichte und Mathe“, gestand er. „Ach so…das ist doch nicht schlimm“, kam es von Jodie. „Willst du später wie dein Bruder hier studieren oder woanders?“ „Wahrscheinlich. Aber ich bin mir noch nicht sicher. Ich könnte mir auch vorstellen in Japan zu studieren, allerdings ist dort der Schwierigkeitsgrad der Aufnahmeprüfung nicht zu verachten.“ „Weißt du schon, was du studieren willst?“ „Noch nicht so ganz“, antwortete er. „Vielleicht mach ich etwas mit Richtung Mathe oder Naturwissenschaften. Ich rätsel gern…naja ich hab ja noch etwas Zeit um mich festzulegen und der Vorteil am Studium in den Staaten ist ja auch der, dass man sich erst einmal ausprobieren kann. Was das angeht, bin ich wohl nicht wie mein Bruder.“ „Wusste er denn so früh schon, was er werden will?“ „Das kannst du laut sagen. Manchmal hab ich das Gefühl, ich stehe in seinem Schatten. Naja…Shuichi hat diesen Berufswunsch schon länger. Weißt du, wir waren vor einiger Zeit in Japan im Urlaub und dort ist dann tatsächlich jemand ermordet worden. Es war total spektakulär, als ein fremder Wagen die Klippe runter raste und direkt ins Meer stürzte. Shuichi sprang sofort ins Wasser und wollte helfen, aber der Mann war bereits tot. Anfangs ging die Polizei von einem Unfall aus, aber später konnte Fremdeinwirkung festgestellt werden. Mein Bruder hat geholfen den Fall zu lösen.“ Shukichi wirkte stolz. „Er hat erzählt, dass er bereits länger mit dem Gedanken spielte FBI Agent zu werden und dass dies der Auslöser war, wegen dem er sich ganz sicher war. Von unseren Eltern gab es ein tierisches Donnerwetter, aber mittlerweile haben sie sich damit abgefunden.“ „Seit ich klein bin, war es auch mein Wunsch beim FBI zu arbeiten. In meinen Vorstellungen habe ich immer mit meinem Vater zusammen gearbeitet. Wir waren quasi ein Team. Aber…jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ „Du schaffst das bestimmt“, entgegnete Shukichi. „Und mein Bruder ruft dich sicher auch bald an. Das hat er gestern noch einmal versichert.“ „Ach ja?“ „Wenn mein Bruder etwas verspricht, dann hält er sich auch daran. Naja…meistens…wegen dem Umzug wird es aber wohl noch etwas dauern. Ich glaube, Shuichi hat noch eine Hausarbeit die er schreiben muss. Aber sobald er sich etwas Zeit freischaufelt, meldet er sich.“ Jodie nickte. „Ich bin geduldig und wir haben ja noch Zeit mit unseren Bewerbungen.“ Jodie blieb vor einer Tür stehen. „So, wir sind da. Willkommen zu deiner ersten Unterrichtsstunde.“ Kapitel 14: Bewerbungstraining ------------------------------ Jodie wartete und wartete. In gefühlt jeder freien Minute blickte sie auf ihr Handy. Aus irgendeinem Grund war sie enttäuscht, weil sie noch immer keine Nachricht von Shuichi bekam. Sie wusste nicht einmal, warum sie sich Hoffnungen auf das Treffen mit ihm und das damit verbundene Bewerbungsprozedere für die Universitäten machte. In der Zwischenzeit verbrachte sie viel Zeit mit Shukichi. Nicht nur, dass sie ihm in den ersten Tagen an der neuen Schule die Räume zeigte und ihn mit wichtigen Informationen versorgte, wurden sie zwangsweise zu Partnern in einigen Schulprojekten. Für Jodie war es offensichtlich, sie diejenige mit der keiner zusammen arbeiten wollte und er, der Neue den keiner kannte. Innerhalb der nächsten Woche hatte er sich allerdings mit einigen Mitschülern angefreundet und schaffte das, was sie sich so sehr wünschte. Jodie wusste nicht einmal, wie er das hinbekam, aber möglicherweise lag es auch an ihr. Jodie wusste nicht, was ihm die Mitschüler über sie erzählten, aber Shukichi mied sie nicht und war immer noch nett zu ihr. Manchmal verbrachten sie die Pausen miteinander oder trafen sich bei ihr zu Hause um die Hausaufgaben zu erledigen. Wenigstens einer, der sie nicht gleich abschob, sobald es möglich war. Und Jodie war froh darüber. Mit der Zeit taute sie zwar auf, vertraute ihm aber noch nicht alles an. Doch sie waren auf einem guten Weg. Und so hatte sie wenigstens einen Freund auf dieser ganzen weiten Welt. Bisher mied es Jodie aber das ehemalige Haus der Westons ein weiteres Mal aufzusuchen. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen wie es sein würde, wenn sie dort Hausaufgaben machte oder lernte. Und so wie Masumi war, würde sie früher oder später in Ambers ehemaligen Zimmer sitzen und von den Erinnerungen übermahnt werden. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt um an Amber und das letzte Jahr zu denken. Jodie stand vor ihrem Kleiderschrank und nahm einen Kleiderbügel nach dem anderen raus. Zwei ganze Monate hatte sie gewartet ehe sich Shuichi bei ihr meldete. Er hatte seine Hausarbeit abgegeben und endlich Zeit für sie – und das Bewerbungsthema. Jodie sah dem Treffen mit voller Vorfreude entgegen und wollte ihm gefallen. Es war unlogisch, da sie den Studenten nicht einmal richtig kannte, geschweige denn mehrere Sätze mit ihm wechselte. Aber in vertrauter Umgebung würde sie nicht wieder so rumstammeln. Jodie hielt sich den Kleiderbügel mit einer blauen Bluse vor den Körper und betrachtete sich im Spiegel. Warum muss das nur so schwer sein? Die Schülerin seufzte, hängte das Oberteil wieder zurück und nahm ein Shirt heraus. Wieder hielt sie es vor ihren Körper, hängte es zurück und nahm das Nächste heraus. Je mehr Oberteile sie betrachtete, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie nichts Richtiges zum Anziehen hatte. All ihre Kleidung war entweder weit geschnitten oder noch zu kindlich. Wenigstens hatte sie sich bereits für eine schwarze Hose entschieden, aber der schwerere Part war eindeutig das Oberteil. Als es an der Tür klingelte, zuckte Jodie zusammen. Sofort sah sie auf die Uhr und weitete die Augen. Sie hatte die Zeit komplett vergessen und musste sich beeilen. Blindlings griff sie nach einem blauen Shirt und zog es sich an. Am liebsten wäre sie sofort aus dem Zimmer und die Treppe nach unten gelaufen. Aber sie mahnte sich nicht voreilig zu sein, damit er nicht auf die Idee kam, dass sie auf ihn wartete. Jodie atmete tief durch und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Hallo Shuichi, schön dich zu sehen“, hörte sie ihre Mutter. „Gleichfalls“, antwortete er. Jodie zählte in Gedanken bis fünf, ehe sie die Treppen runter stieg. „Hey…“, gab sie von sich. „Da bist du ja schon.“ Angela hing die Jacke des Studenten an die Garderobe. Jodie nickte. „Wir gehen dann ins Wohnzimmer.“ „Wenn ihr etwas braucht, sagt Bescheid. Ich bin in der Küche und bereite das Essen vor.“ Angela sah zu Shuichi. „Du bist natürlich eingeladen.“ „Danke, das Angebot nehme ich gerne an“, entgegnete der Student. „Machen wir, Mom“, murmelte Jodie. „Wollen wir loslegen? Hier geht’s lang“, fügte Jodie hinzu und ging in das Wohnzimmer. Shuichi sah sich im Flur und im Wohnzimmer um. Der Tisch war bereits vorbereitet. Neben einem Laptop lagen ein Schreibblock sowie mehrere Stifte. Der Student setzte sich an den Tisch und holte seinen Laptop und einen USB-Stick aus seiner Tasche. „Möchtest du etwas Trinken oder eine Kleinigkeit essen? Wir haben Wasser, Saft, Cola oder wenn dir Tee oder Kaffee lieber sind, auch das. Ich könnte uns auch ein paar Snacks rausstellen.“ „Wasser reicht“, antwortete Shuichi. Jodie nickte. „Bin gleich wieder da.“ Sie huschte in die Küche, nahm zwei Gläser und eine Flasche Wasser. Auf einen Teller verteilte sie einige Kekse und ging mit voll bepackten Händen zurück ins Wohnzimmer. Sie stellte alles ab und sah auf Shuichi. Sofort musste sie lächeln. Der Student hatte sich bereits eingerichtet und tippte auf seinem Laptop rum. „Hast du dir schon überlegt, wie du studieren willst?“ „Wie ich studieren will?“, wiederholte Jodie leise und setzte sich. „Du hast verschiedene Möglichkeiten. Du könntest ein duales Studium anfangen und damit parallel erste Berufserfahrung sammeln. Aber es kann kompliziert werden, weil du beides unter einen Hut bekommen musst. Am Wochenende mal Spaß haben, ist dann nicht mehr drin.“ Shuichi sah zu ihr. „Du könntest natürlich auch auf Eliteuniversitäten wie Harvard oder Yale gehen und direkt zu deinem Bachelor einen Masterabschluss machen. Dann ist es natürlich unumgänglich, dass du für die Studienzeit dorthin ziehst. Oder du entscheidest dich für ein ganz normales College und machst erst einmal nur deinen Bachelorabschluss. Je nachdem, was du dir für deinen späteren Lebensweg vorstellst, ist es eine wichtige Entscheidung.“ Jodie schluckte. Dazu müsste ich wissen, was ich später will. Warum war es nur so schwer? Es schien als wüsste jeder, was er später mit seinem Leben anfangen wollte, nur sie nicht. „Gehst du deswegen hier aufs College weil es dich deinem Ziel näher bringt?“, wollte sie wissen. Akai nickte. „Um FBI Agent zu werden, ist es ausreichend wenn man eine abgeschlossene Hochschulbildung sowie eine dreijährige Berufserfahrung vorweisen kann. Ich hätte wahrscheinlich auch an den Eliteuniversitäten studieren können, aber dann hätte sich mein gesamter Zeitplan in die Länge gezogen. Und wenn ich erst einmal FBI Agent bin, kann ich weitere Kurse in meiner Freizeit belegen.“ Jodie sah ihn überrascht an. „Verstehe“, murmelte sie. „Du scheinst sehr früh gewusst haben, was du werden willst.“ „Kann man so sagen. Als ich im Urlaub in Japan bei der Fallaufklärung eines Mordes geholfen habe, hat sich mein Berufswunsch manifestiert“, antwortete der Student. „Hast du schon eine Vorstellung von dem, was du später machen willst?“ „Naja…“ Jodie errötete. „Um ehrlich zu sein…wollte ich früher immer FBI Agentin werden. Als ich ein Kind war, stellte ich mir immer vor, wie ich zusammen mit meinem Vater die Fälle löse. Ich weiß, es ist sehr kitschig, aber…naja…“ „Und wie sieht es jetzt aus? Kannst du dir die Arbeit immer noch vorstellen?“ „Das ist es ja, ich weiß es nicht. Ich möchte Menschen helfen, aber ich weiß nicht, ob ich als FBI Agentin so hilfreich bin“, entgegnete Jodie. „Momentan habe ich das Gefühl, dass alle wissen was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, nur ich nicht.“ „Mhm…“, murmelte Shuichi nachdenklich. „Ich würde dir dann keine Eliteuniversität empfehlen. Sie haben außerdem ein härteres Auswahlverfahren und du kommst eher dort rein, wenn du ein Nachkomme eines ehemaligen Studenten bist oder deine Familie viel Geld hat. Am besten du gehst auf ein College in New York falls du zu Hause wohnen bleiben willst. An sich kannst du alles Mögliche studieren. Um beim FBI anzufangen gibt es keine bestimmte Studienrichtung. So wie ich das bei meinen Recherchen verstanden habe, ist es sogar gewünscht, dass man auch in anderen Bereichen gewisse Erfahrungen mitbringt. Sicherlich ist es nicht verkehrt, wenn man Kurse belegt wie Kriminologie oder Forensik, aber auch mit Mathe, Chemie oder Literatur kommt man weit.“ „Ja, das ist wahr“, sagte Jodie. „Dad hat auch schon davon erzählt. Einer seiner Kollegen war mal Anwalt und ein anderer hat Musik studiert.“ „Interessant.“ Akai überlegte. „Naja, wenn du dich bei den Colleges bewirbst, musst du ein Bewerbungsformular ausfüllen und einen Aufsatz schreiben. Das Thema findest du auf der Website des Colleges. Erhoff dir nicht zu viel, nur in den seltenen Fällen sind die Themen gleich. Außerdem musst du dir rechtzeitig ein paar Empfehlungsschreiben holen. Dabei ist es fast egal, wer dir diese ausstellt, Lehrer sind immer die erste Wahl. Ein weiterer wichtiger Teil deiner Bewerbung sind die SAT und ACT-Tests. Dabei wird deine Studierfähigkeit getestet, aber ich denke, da musst du dir keine Sorgen machen. Viel wichtiger ist das Thema deines Aufsatzes. Du solltest aufpassen, dass es nicht zu klischeehaft wird. Wenn das Thema Wer hat dich inspiriert? ist, nimm keine Autoren oder Eltern. Das macht jeder und du kannst dich nicht von den anderen Bewerbungen abheben. Eine Ausnahme ist es natürlich, wenn deine Eltern etwas Besonderes vollbracht haben. In deinem Fall wäre dein Vater nicht schlecht. Du könntest über einen seiner Fälle schreiben und wie sehr dir das geholfen hat. Kreativität kommt aber auch gut an.“ Shuichi überlegte. „Viele Colleges bieten auch Schnupperstunden an. Entweder sie sind ganztätig in den Schulferien oder du musst dich freistellen lassen. Andere finden auch am Abend statt. Oder du fragst bei laufenden Vorlesungen an, ob du als Gast teilnehmen kannst. Ich hab mich mal für dich umgehört.“ Shuichi rief ein Dokument auf seinem Laptop auf. „Es gibt mehrere Kurse in die du gehen könntest. Vorrangig habe ich bei meinen Dozenten nachgefragt und wenn wir sie frühzeitig darüber informieren, stellt es kein Problem dar.“ Jodie sah ihn überrascht an. „Du studierst Ingenieurswissenschaften, nicht wahr?“ Akai nickte. „Das ist richtig. In meinem Studiengang geht es im Grundstudium hauptsächlich um Mechanik, Physik, Elektrotechnik und Werkstoffkunde. Es ist die Frage wie interessant eine Vorlesung für dich wäre. Das musst du entscheiden. In den nächsten Semestern wird es allerdings in meinem Studiengang anspruchsvoller. Dann kommen Mathe, Chemie und Informatik dazu und ich werde Wahlfächer im Bereich Kriminologie wählen. Es gibt aber auch Auflagen bei denen du ein Haupt- und ein Nebenfach wählen musst. Das kommt immer darauf an, wie komplex dein Hauptfach ist. Bei den Ingenieurswissenschaften hast du neben dem theoretischen Unterricht noch praktische Fächer, wodurch es nicht möglich ist ein Nebenfach zu belegen.“ „Du hast dir ja ein richtiges Pensum aufgehalst. Hast du nie das Gefühl, dass es zu viel ist oder dass du für andere Sachen im Leben keine Zeit hast?“ Der Student schmunzelte. „Solange ich weiß, auf welches Ziel ich hinarbeite, kommt es mir nicht so schwer oder langwierig vor. Natürlich war das erste Semester nicht gerade einfach und interessant, aber da muss man durch. Grundlagen sind das A und O. Und du wirst sie in jedem Studiengang finden. Was natürlich auch wichtig ist, ist es sich zu informieren, welche Prüfungsleistungen du erbringen musst. Wenn du regelmäßig Klausuren schreiben musst, aber lieber mündliche Prüfungen ablegst, solltest du das in deine Pläne auch berücksichtigen. Auf jeden Fall würde ich dir raten, dich frühzeitig auf die Prüfungen vorzubereiten. Gerade am Anfang hat man das Gefühl, dass das Semester noch lang ist und man viel Zeit hat. Die Prüfungen kommen dann schnell. Und je nach Studiengang gibt es Dozenten die gerne Mal eine Zwischenprüfung schreiben oder einen unangekündigten Test.“ Shuichi musterte sie. „Du siehst gerade aus, als hätte ich dich abgeschreckt.“ „Was? Nein, nein, das war sehr aufschlussreich.“ Jodie sah zu ihm. „Ich wünschte, ich wüsste auch schon, was ich später werden will und wie ich mir mein Leben in einigen Jahren vorstelle.“ „Du solltest dich damit nicht so stressen“, fing Shuichi an. „Das College ist auch dafür da um sich auszuprobieren. Du kannst anfangs auch nur Kurse belegen und im nächsten Semester mit dem Studiengang starten. Und wenn du dich dazu entscheidest zum FBI zu gehen, wird dir dein Vater sicher dabei helfen.“ Jodie seufzte leise. „Das ist auch ein Problem. Ich hab davor Angst, dass ich auf seine Hilfe zurückgreifen muss.“ „Wie meinst du das?“ „Er tut so viel für mich“, fing Jodie an. „Was ist, wenn ich es aus eigenem Antrieb nicht schaffe? Ich hab einfach Angst, dass ich immer seine Hilfe brauchen werde. Deswegen will ich eigentlich auch nicht, dass er seine Kontakte spielen lässt und…mich kennen natürlich viele seiner Kollegen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich bei der Bewerbung dann bevorzugt werde. Das ist einfach so ein komisches Gefühl. Würde ich mich dann immer fragen, ob ich nur FBI Agentin bin, weil mein Vater Agent Starling ist?“ Shuichi lächelte. „So wie du dich anhörst, habe ich keinen Zweifel daran, dass du es schaffen wirst, egal als was du später arbeiten möchtest. Und wenn du wirklich beim FBI anfängst, wird zwar auch deine Vergangenheit bewertet, aber sie schauen sich auch dein Können an. Und wer weiß, vielleicht arbeiten wir irgendwann zusammen.“ Kapitel 15: Infotag: Kriminologie --------------------------------- Angela stand in der Küche und kümmerte sich um den Abwasch. Jodie trocknete gedankenversunken das nasse Geschirr ab. „Sollen wir Kaffee aufsetzen?“, wollte die Schülerin von ihrer Mutter wissen. Angela schielte kurz zur Küchenuhr. „Ich denke, dafür ist es ein wenig zu spät.“ „Mhm…“, murmelte Jodie. „Ich kann Kekse vorbereiten. Dad und Shuichi können sicher etwas zu Knabbern vertragen.“ „Ich glaube nicht“, antwortete Angela. „Wir haben gerade gegessen und beide schienen mehr als gesättigt zu sein. Lassen wir ihnen die Zeit um sich über die Arbeit eines FBI Agenten zu unterhalten.“ Jodie räumte das Geschirr weg und überlegte. „Er wird sich schon von dir verabschieden bevor er geht.“ Jodie errötete. „Das…das ist nicht wichtig…“ „Na gut.“ Angela sah ihrer Tochter zu und schmunzelte. Sie wusste genau, was ihre Tochter die ganze Zeit beschäftigte. „Haben wir noch Kaffee?“ Angela sah zu ihrem Mann. „Ich koch dir einen oder lieber zwei?“ „Einer reicht“, antwortete er. „Shuichi ist nach Hause gefahren. Jodie, er wird sich bei dir melden, wenn das mit den Vorlesungen im College klappt.“ Jodie schluckte. Von wegen verabschieden. „Ist gut…ich geh dann in mein Zimmer und mach noch Hausaufgaben.“ „Und was hältst du von dem jungen Akai?“, wollte Angela von ihrem Mann wissen, nachdem Jodie die Küche verließ. „Hat er das Zeug um FBI Agent zu werden?“ Der Agent lehnte sich gegen die Theke. „Er ist wahrlich sehr motiviert, vielleicht sogar zu sehr. Aber er erinnert mich an mich selbst.“ Angela lachte. „Ach wirklich? Du warst doch immer ein Draufgänger und hast alles getan, nur nicht wenn es für die Schule war.“ Sie erinnerte sich noch genau an diese Zeit. Kennengelernt hatten sie sich in ihrem Abschlussjahr als sie mit ihrer Familie nach New York zog und in der neuen Umgebung verloren wirkte. Ihr Mann gehörte zu den Sportlern, alles was mit Lernen oder Hausaufgaben zu tun hatte, wurde ignoriert. Und wann immer es ging, schwänzte er den Unterricht. Jodie war ihm im letzten Jahr so ähnlich, dass es beinahe beunruhigend wurde. Wie ihr Vater hatte auch sie sich gefangen, auch wenn die Umstände andere waren. Aufgrund seiner vielen Fehlzeiten verdonnerte ihn der Direktor ihrer Schule Babysitter zu spielen. Ganz am Anfang hatte Angela kein Interesse an ihrem jetzigen Mann, aber je mehr er sich ins Zeug legte, desto mehr rührte es ihr Herz und sie fühlte sich mit ihm verbunden. Gemeinsam setzten sie sich an die anfallenden Hausaufgaben und lernten zusammen, bis sie von einem College aufgenommen wurden. Angestachelt durch eine mögliche Karriere als Sportler, hatte Starling noch keine Idee, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Erst als er in seinem ersten Semester feststellte, dass er genauso gut oder eher genauso schlecht spielte wie die anderen, stellte er seine bisherigen Entscheidungen in Frage und konzentrierte sich auf die Wahl seiner Kurse. Nach einer Reihe von Fehlversuchen stellte er fest, dass er gut darin war, Pläne zu machen und zu kombinieren. Menschen helfen zu wollen war ebenfalls nicht verkehrt. Da er allerdings partout nicht zur Polizei wollte, blieben nur noch wenige Möglichkeiten offen – eine Detektei beispielsweise. In seinem fünften Semester wurde er unfreiwillig in einen Unfall verwickelt bei dem das FBI involviert war. Und auf Anhieb wusste er, was er mit seinem Leben anfangen wollte. „Stimmt doch gar nicht“, entgegnete der Agent. „Das hätte ich an deiner Stelle auch gesagt“, sagte Angela. „Ich finde es nett, dass er Jodie bei den Bewerbungen hilft. In den letzten Jahren hat sich doch schon einiges verändert.“ „Er hilft dich auch seinem Bruder. Eine Person mehr macht keinen Unterschied, außerdem hast du das ganze doch eingefädelt.“ Der Agent grinste. „Hilfe bei Jodies Bewerbung und er bekommt ein Gespräch mit mir.“ „Erwischt“, gab Angela von sich. „Aber du musst zugeben, dass das eine sehr gute Idee gewesen ist. Jodie kommt endlich wieder unter Menschen und findet vielleicht Freunde. Amber war nicht der richtige Umgang für unsere Jodie, aber bei Shukichi und Shuichi hab ich ein gutes Gefühl. Und vielleicht findet Jodie auch in den Infoveranstaltungen und den Vorab-Vorlesungen Gleichgesinnte. Das ist mehr, als wir in den letzten Jahren hatten. Und außerdem hab ich bei Shuichi ein wirklich gutes Gefühl.“ „Ein gutes Gefühl?“ Der FBI Agent sah sie fragend an. „Was willst du denn damit sagen?“ „Nichts, ich hab keine Hintergedanken falls du das denkst.“ „Keine Hintergedanken?“ Angela schmunzelte. „Sollte ich welche haben? Unsere Tochter wird bald erwachsen.“ Agent Starling nickte. „Und bald steht sie auf eigenen Füßen und muss ihre eigenen Entscheidungen treffen.“ „Ich weiß“, sagte sie ruhig. „Irgendwann wird die Zeit kommen, wo sie einen netten Jungen trifft, wenn sie das nicht schon hat…“ „Oh, Angela…ich wusste, dass du das sagst…“ Wochen später saß Jodie im Hörsaal des Colleges und hörte dem Dozenten zu. Für angehende Studenten gab es, wie von Shuichi bereits erwähnt, eine Vielzahl an Infoveranstaltungen und Vorab-Vorlesungen, die auch zu passablen Zeiten stattfanden. Für eine solche Vorlesung waren erstaunlich viele Schüler oder anderweitig Interessierte gekommen. Da sich Jodie vermehrt mit der Arbeit eines FBI Agenten auseinander setzte, suchte sie sich Veranstaltungen aus, mit denen sie in diesem Berufsfeld Fuß fassen konnte. Die Schülerin schlug ihren Notizblock auf und sah nach vorne zum Dozenten. „Herzlich Willkommen in der Informations-Vorlesung Kriminologie. Ich bin Dr. Decker und unterrichte den Kurs seit nunmehr fünfzehn Jahren. Bevor wir tiefer in die Materie eintauchen, müssen wir uns die Frage stellen, was ist überhaupt Kriminologie.“ Er blickte in die Runde. „Irgendwelche Vorschläge?“ Zwei Studenten meldeten sich. „Sie in dem roten Pullover.“ „Die Aufklärung von Verbrechen“, antwortete der Junge. „Und was denken Sie?“ Er blickte auf die zweite Meldung. „Das Verstehen von Verbrechen.“ „Ist doch das gleiche“, schaltete sich der erste Junge ein. Der Dozent schmunzelte. „Ob es das gleiche ist, werden Sie hoffentlich am Ende Ihrer ersten Vorlesung sagen können.“ Er räusperte sich. „Der Begriff Kriminologie stammt aus dem lateinischen und griechischen. Er setzt sich zusammen aus den Wörtern crimen, also Verbrechen, und logos, Verstehen. Das bedeutet also, dass die Kriminologie die Lehre von Verbrechen ist. Sie werden sich in der Vorlesung mit vielen wissenschaftlich fundierten Erklärungen für das Vorkommen, die Verteilung oder Veränderung von Kriminalitätsphänomenen, ihrer Prävention und Kontrolle beschäftigen. Ich kann Ihnen jetzt schon raten, dass Sie die Begrifflichkeiten immer parat haben müssen. Ich bin gern jemand, der zwischendurch seine Studenten etwas quält und abfragt. Zusätzlich dazu werden wir uns aber auch mit den Methoden beschäftigen, dies umschließt den Einsatz von Befragungen, das durchführen von Experimenten und ihre Auswertung, Beobachtungen oder die Sammlung von Daten. Genau heißt dies, dass Sie sich während der Vorlesung sowohl mit den psychologischen, den wirtschaftlichen, den pädagogischen als auch kulturellen, individuellen und sozialen Ursachen von Verbrechen auseinander setzen werden. Sie lernen dabei wie Sie die grundlegenden Hintergründe von Straftaten untersuchen und werden alles anwenden, was Sie gelernt haben. In verschiedenen Übungen werden Sie Fallaufgaben in Gruppen, aber auch alleine bearbeiten. Damit bereiten wir Sie auf die Abschlussleistung vor. Zwar sollten Sie sich sowohl mündlich als auch in den Übungen beteiligen und diese meistern, aber letzten Endes zählt nur die Note von der Abschlussprüfung.“ Decker sah in die Runde. „Und bitte, lassen Sie sich nicht dazu hinreißen den Kurs zu wählen, wenn Ihre größte Motivation das Fernsehen ist. Sendungen wie CSI und was es alles gibt, sind reine Fiktion. So schnell wie dort Morde und Verbrechen aufgeklärt werden, werden Sie es in der Realität nie erleben. Falls Sie sich hingegen entschieden haben Profiler oder für die Polizei tätig zu werden, kann ich Ihnen nur raten, es noch einmal zu überdenken. Informieren Sie sich vorab im Internet oder bei Berufsberatern. Sie werden sicherlich sehr schnell herausfinden, wie Sie in andere Berufe einsteigen können ohne meine und Ihre Zeit hier zu verschwenden. Und falls Sie sich doch für den Kurs entscheiden, würde ich Ihnen raten passende Nebenfächer oder Kurse zu wählen, wie Rechtsmedizin oder Psychologie. Versuchen Sie ihr Lernfeld möglichst gut zu umreißen. Viele Fächer bauen aufeinander auf oder sind hilfreich füreinander.“ Der Dozent sah ein weiteres Mal in die Gesichter der Schüler. „Gut, dann möchte ich Ihnen jetzt einen Fall vorstellen, den wir in den restlichen 90 Minuten zusammen analysieren werden.“ Jodie kam aus dem Hörsaal und hielt ihre Schultasche festumklammert. Ihr Kopf rauchte und sie hatte das Gefühl nichts mehr aufnehmen zu können. Aber es war interessant und lehrreich. Jodie zog ihr Handy aus der Hosentasche und tippte darauf herum. „Pfosten.“ Das Mädchen blieb stehen und sah nach vorne. Das wäre um ein Haar schief gegangen, sagte sie zu sich selber. Sofort sah sie nach hinten. „Oh…hey…“, murmelte sie. Shuichi schmunzelte. „Und wie war es?“ „Ganz interessant. Schade, dass Shukichi nicht mit dabei sein konnte, aber mit seiner Grippe sollte er wirklich nicht raus gehen. Er hat mir erzählt, dass er gerne rätselt, ich glaube die Vorlesung wäre auch ganz gut für ihn gewesen.“ „Du kannst ihm alles berichten, wenn er wieder gesund ist. Dann glaubt er mir endlich.“ „Er glaubt dir nicht?“, wollte sie wissen. „Manchmal behauptet er, ich sei von meinem Berufswunsch besessen und nimmt an, dass ich vieles einfach nur beschönige.“ „Verstehe“, murmelte Jodie. „Die Vorlesung war aber wirklich gut. Ich habe zwischendurch in die Gesichter der anderen geschaut und ich glaube, es hat viele abgeschreckt, als Dr. Decker darauf einging, dass die Parallelen zum Fernsehen nicht da sind.“ „Das kenn ich“, fing Shuichi an. „Im letzten Jahr hatte ich auch solche Studenten in der Vorlesung. Die haben alles in Frage gestellt, weil sie es aus dem Fernsehen anders kannten. Decker wäre fast an die Decke gegangen. Er hat dann in jeder Vorlesung erwähnt, dass es nicht wie im Fernsehen läuft und doch gab es einige, die die Aussage immer wieder in Frage stellten. Aber wenn du die Wahrheit in Fernsehserien zeigst, würde sie keiner gucken.“ Jodie nickte. „Ich sehe die Einschaltquoten schon sinken.“ Shuichi musterte sie einen Augenblick. „Hier geht’s lang.“ „Mhm? Ist das der kürzeste Weg zum Bus?“ Shuichi marschierte auf den Parkplatz und warf einen Blick nach hinten. „Ich fahr dich nach Hause.“ „Du hast ein Auto?“, wollte sie irritiert wissen. „Auto und Führerschein. Soll ich ihn dir zeigen?“ „Nein, nein, ich war nur…überrascht und wäre mit dem Bus nach Hause gefahren…naja eigentlich wollte ich meinen Vater bitten mich abzuholen…“ „Kannst du ein anderes Mal machen.“ Shuichi öffnete seine Wagentür und stieg ein. Sobald Jodie drinnen saß, startete er den Motor und fuhr los. „Ich hab gehört, was vor einem Jahr passiert ist.“ Jodie schluckte. „Ist lange her…“ „Tut mir leid. Wir müssen nicht darüber reden.“ „Mir auch“, murmelte das Mädchen und sah aus dem Fenster. „Ich hab…damals der falschen Person…vertraut…“ „Du hast nicht mitbekommen, was diese Amber mit dir vor hatte?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab mich…am Anfang natürlich gefragt, warum Amber ausgerechnet mit mir…befreundet sein wollte, aber weil ich…keine richtigen Freunde hatte, wollte ich wohl…die Anzeichen nicht sehen. Sie hat mich zum Schwänzen und Lügen angestiftet und…ich hab mitgemacht, weil ich sie als Freundin nicht verlieren wollte. Eigentlich wollte ich an dem Abend auch nicht mit Connor mit gehen…aber ich dachte, wenn ich es nicht tue, lacht sie mich aus und nennt mich ein Baby. Ich war so dumm…“ Jodie wischte sich die aufkommenden Tränen weg. „Und auf einmal war ich im Keller und wusste nicht, was mit mir passiert…und dann war Amber tot.“ „Glaubst du, dass es dieser Connor war?“ Jodie wusste nicht, warum sie so offen über die Geschehnisse sprechen konnte, aber die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. „Wenn du eine ehrliche Antwort willst: Nein, aber ich hoffe es. Ich kenne Connor zwar nicht wirklich, aber das was ich erlebt hab und was mein Instinkt mir sagt, dann kann er es unmöglich gewesen sein. Andererseits heißt das, dass der Mörder noch frei rumläuft…und wenn er einen Groll gegen Amber hatte, habe ich Angst, dass er diesen auch gegen mich hat…selbst wenn es über ein Jahr her ist. Man weiß nicht, was in einem Menschen vorgeht…“ Shuichi nickte. „Falls du mal Hilfe brauchst, ruf mich oder Shukichi an. Und falls dein Vater keine Zeit hat um dich abzuholen, ruf lieber mich an, anstatt mit dem Bus oder der Bahn zu fahren.“ Jodie lächelte leicht. „Danke. Kennst du das…wenn du auf einmal ein komisches Gefühl in der Bauchgegend bekommst?“ „Mhm?“ „Ich weiß auch nicht. Irgendwie fühle ich mich in der letzten Zeit beobachtet. Das hatte ich damals auch schon…“ Shuichi sah aus dem Fenster. „Ich kann nichts Verdächtiges erkennen.“ „Wahrscheinlich spielt mir meine Fantasie nur einen Streich.“ „Kann sein. Aber wenn du es damals auch schon hattest, sollten wir das nicht außer Acht lassen.“ „Aber wegen dem Gefühl kann ich mich nicht einigeln und in der Schule krank melden.“ Shuichi dachte nach. „Hat es damals aufgehört?“ „Ja.“ „Dann wird es dieses Mal auch aufhören.“ Jodie sah zu ihm. „Das ist alles? Keine Analyse?“ Akai zuckte mit den Schultern und lächelte. „Was soll ich sagen? Ich bin nur ein kleiner Student.“ Kapitel 16: Fotografie ---------------------- Jodie kam in das Klassenzimmer und setzte sich auf ihren Platz. Sie stellte ihre Tasche ab und bemerkte dann aus dem Augenwinkel eine Bewegung. „Shukichi? Geht es dir wieder besser?“ Der Junge nickte. „Den Umständen entsprechend.“ Er putzte sich die Nase. „Ich konnte mich am Wochenende einigermaßen erholen und bis auf die Nachwirkungen der Grippe sind alle Symptome weg. Ich bin auch nicht mehr ansteckend.“ Er sah sie an. „Der Vorteil ist natürlich, dass ich deswegen wieder in die Schule kann.“ Jodie schmunzelte. „Andere würden es als Nachteil sehen. Aber es freut mich, dass es dir wieder gut geht. Und wegen der Vorfreude auf die Schule hast du dich entschieden, heute viel zu früh zu kommen?“ „Nicht ganz“, entgegnete er. „Shuichi hat mich an der Schule abgesetzt. Weil er aber noch vor der Vorlesung in seine Wohnung wollte, mussten wir eher losfahren.“ „Er…hat bei euch…übernachtet?“, wollte sie leise wissen, während einige ihrer Mitschüler in den Klassenraum kamen. „Ja, Masumi hatte gestern Geburtstag und sie hat sich gewünscht, dass Shuichi nicht nur mitfeiert und hat ihn sogleich dazu verpflichtet, ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen und sie heute früh in den Kindergarten zu bringt. Es wäre für ihn zu stressig geworden, wenn er dauernd hin und her fahren müsste.“ Shukichi sah zu ihr. „Er hat mir erzählt, dass die Vorlesung zu Kriminologie ganz gut gewesen ist.“ Jodie zuckte zusammen. Hat er ihm noch was erzählt? Vielleicht, dass… „Jodie?“ Shukichi wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. „Hallo? Jemand zu Hause?“ Das Mädchen schüttelte kurz den Kopf. „Tschuldige..ja, die Vorlesung war gut. Vielleicht gibt es in einigen Monaten noch eine, dann solltest du auf jeden Fall dabei sein. Ich glaube, dir hätte sie auch gefallen.“ Shukichi kicherte. „Das hat mein Bruder auch gesagt.“ „Ach ja? Wir scheinen ja das gleiche zu denken“, sagte Jodie. McAllister kam in den Klassenraum. „Bitte setzen Sie sich.“ Der Lehrer stellte sich nach vorne an das Pult und sah in die müden Gesichter der Schüler. „Wie Sie wissen, ist dies ihr letztes Schuljahr. Und natürlich können wir nachempfinden, wie Sie sich fühlen. Einige von Ihnen werden bereits wissen, was sie danach machen wollen, aber es gibt immer noch zahlreiche Personen unter Ihnen, die sich noch uneins sind. Deswegen möchten wir Ihnen helfen. Wir werden nun wöchentlich eine berufstätige Person zu uns einladen und Ihnen die Gelegenheit geben Fragen zu stellen und besseren Einblick in die verschiedenen Berufsgebiete zu bekommen.“ McAllister räusperte sich. „Den Beginn wird der Vater einer…sagen wir…ehemaligen Schülerin machen.“ Der Lehrer sah auf die Tür. „Mr. Weston?“ Die Tür ging auf und Tom Weston – der Vater von Amber – betrat den Raum. Er stellte seinen Laptop auf den Tisch und blickte in die Runde. „Schönen guten Morgen“, begann er. „Einige von Ihnen werden mich als Vater von Amber noch in Erinnerung haben. Wahrscheinlich ist es für Sie komisch, dass ich nach über einem Jahr wieder hier in dieser Schule bin, aber glauben Sie mir, so geht es mir auch.“ Er atmete tief durch. „Aber wir wollen heute nicht über Amber oder die Vergangenheit reden. Ich bin hier um mit Ihnen über die Fotografie im Journalismus zu sprechen. Wie Sie es sicherlich nun geahnt haben, bin ich Fotograf. Ich arbeite für die Daily News, die einige von Ihnen sicher kennen werden. Für diejenigen die es nicht tun: Die Daily News ist eine große Tageszeitung mit täglichem Erscheinungsdatum. Auch wenn man nicht selbst als Journalist tätig ist, ist es trotzdem wichtig auf dem Laufenden des aktuellen Tagesgeschehen zu sein. Da das Tagesgeschehen nicht immer gleich ist, ist es auch wichtig auf Abruf zu arbeiten. Unsere Zeitung hat natürlich mehrere Fotografen eingestellt. Viele von uns arbeiten eng mit einem einzigen Journalisten zusammen, aber es ist auch möglich, dass wir von einem anderen Kollegen angefordert werden. Sie können sich das ganz einfach vorstellen: Ein Ereignis passiert, die Zeitung, in vielen Fällen aber auch ein Journalist, wird informiert, dann werden die Fotografen gerufen und zusammen fährt man zum Ort des Geschehens. Für unsere Arbeit gibt es keine fixen Arbeitszeiten, es kann also gut sein, dass man mitten in der Nacht aufstehen und arbeiten muss. Aber das sollte Sie jetzt nicht abschrecken. Für die Nachtarbeit gibt es einen ordentlichen Preisbonus und es ist vertraglich regelbar, ob Nachtschichten möglich sind. Gut, genug zur Einleitung, ich zeige Ihnen jetzt einige Bilder.“ Tom startete seinen Laptop. Nachdem er das Passwort eingab und die Verbindung zu seinen Daten bestand, rief er ein vorbereitetes Dokument auf. In der Zwischenzeit bereitete McAllister den Beamer im Klassenzimmer vor und Tom schloss diesen an seinen Laptop an. „So, da haben wir es“, fing er an. „Für das ungeübte Auge sieht dieses Bild nach einem ganz normalen Bild aus. Was sehen Sie?“ Mehrere Finger schnellten in die Luft. „Sie hier vorne bitte.“ „Drei Personen, Frau, Feuerwehrmann und ein Baby. Um die drei Personen herum wütet ein Feuer.“ Tom Weston nickte. „Genau. Als die Flammen tobten, wurden mehrere Fotos geschossen. Wichtig in meinem Beruf ist nicht nur das fotografieren. Wenn es schnell gehen soll, entwickel ich die Bilder selbstständig.“ Er klickte die nächsten Bilder in der Datei an. „Wie Sie sehen, sind hier die anderen Bilder die geschossen wurden. Wären diese ausgewählt worden, wäre die ganze Atmosphäre anders. Es ist also auch wichtig, dass man eine Vorauswahl trifft und das richtige Bild aussucht. Sie brauchen zudem eine ruhige Hand und müssen darauf achten, dass die Bilder nicht verwackelt oder unscharf werden. Und natürlich muss das Bild zur Schlagzeile passen. Das beste Bild bringt einem nichts, wenn es nicht verwendet werden kann. Aber Sie dürfen sich auch nicht auf nur eine Sache fokussieren und festbeißen. Manchmal erkennt man erst im Hintergrund wichtige Details, die sonst niemanden aufgefallen wären. Am besten ist es, wenn Sie eine große Auswahl vorweisen können. Aber nicht nur die Personen auf dem Bild sind wichtig, auch der Hintergrund muss stimmen. Ein falscher Hintergrund kann alles kaputt machen und die Situation in ein falsches Licht stellen.“ Tom klickte weiter. „Wie Sie hier sehen sind die Personen immer noch die gleichen, nur der Hintergrund ist anders. Jetzt sieht es nicht mehr danach aus, dass der Feuerwehrmann ein Baby rettet. Nun könnte es sein, dass der Feuerwehrmann nur sein Baby entgegen nimmt und eine friedliche Idylle herrscht. Sie sehen also, dass es nicht ausreicht nur ein Foto zu machen. Sie müssen mit den Bildern spielen, aber nicht so sehr, dass es nach Fälschung aussieht. Und selbst wenn es nicht auf Anhieb klappen sollte, ist das kein Grund um sich zu schämen oder zu verstecken. Versuchen Sie es bei freien Zeitungen, eröffnen Sie einen Blog oder suchen sich andere Medien. Und wenn Sie ganz großes Glück haben, können Sie auch als Fotograf Kolumnen für Zeitungen schreiben oder Leserbriefe beantworten. Im Studiengang Fotografie lernen Sie alles was Sie benötigen um auf das Detail zu achten. Und falls Sie lieber Journalist werden wollen, wäre das auch ein gutes Sprungbrett. Manchmal ist es nicht gut, wenn man eine ganz klare Linie bei seiner Berufswahl fährt. Sie müssen selbst schauen, wie Sie etwas Negatives in etwas Positives umwandeln.“ Tom räusperte sich. „Wie dem auch sei, um Ihnen den Studiengang Fotografie ein wenig näher zu bringen, habe ich Ihnen einen kleinen Rundgang durch den Campus organisiert. Es gibt allerdings zwei Haken bei der Sache: Nummer eins: es gibt nur drei Plätze. Mehr konnte der Leiter des Fachbereichs nicht genehmigen. Haken Nummer 2: Die Veranstaltung findet diesen Freitagabend von 18 bis 20 Uhr statt. Sollten viele Fragen vorliegen oder sollten Sie mehr sehen wollen, besteht die Möglichkeit, dass die Veranstaltung verlängert wird. Sicher stellen sich nun einige von Ihnen die Frage, wie Sie an der Veranstaltung teilnehmen können. Wir lassen das Glück entscheiden. Mr. McAllister hat vor Unterrichtsbeginn Ihre Namen auf einen Zettel Papier geschrieben. Wir werden gleich unsere drei Gewinner auslosen, aber bevor wir damit beginnen, melden Sie sich bitte, wenn Sie nicht teilnehmen wollen. Sie werden dann aussortiert.“ Tom sah in die Runde. Knapp die Hälfte der Schüler hielt ihre Hand nach oben, Jodie hingegen sah stumm nach vorne. Sie hatte abgeschaltet und bekam nicht mit, was vor sich ging. „Gut“, entgegnete McAllister und sortierte die Namen der Nichtteilnehmer aus. Dann faltete er die Zettel und legte sie in ein vorbereitetes Glas. „Wir ziehen jetzt der Reihe nach, Mr. Weston?“ Der Fotograf zog den ersten Namen. „Maja Shephard.“ „Nate Richardson“, sagte McAllister und sah zu Tom. „Dann wollen wir unseren letzten Gewinner ziehen.“ Tom nickte und zog den letzten Namen aus dem Glas. „Jodie Starling.“ Bei der Nennung ihres Namens schreckte das Mädchen hoch. „Was?“, fragte sie leise. „Herzlichen Glückwunsch“, entgegnete Tom. „Sie drei haben die Führung mit dem Bereichsleiter Fotografie an diesem Freitag gewonnen. Bitte kommen Sie um 18 Uhr pünktlich an den Haupteingang. Sie werden dort abgeholt.“ Maja meldete sich. „Entschuldigung? Sie werden bei der Führung nicht dabei sein?“ „Ich werde im Laufe der Führung zu Ihnen stoßen. Sollte Ihnen allerdings etwas dazwischen kommen oder Sie stellen fest, dass Sie zu spät sind, geben Sie bitte rechtzeitig Bescheid.“ Tom holte drei Visitenkarten aus seiner Tasche raus und verteilte sie an die Schüler. Mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchgegend besuchte Jodie die Führung des Fachbereichs. Eigentlich wollte sie absagen, aber nachdem sie mit ihren Eltern über alles sprach, ließ sie sich umstimmen. Ihre Eltern hatten Recht, alles was in der Vergangenheit passiert war, war vergangen. Sie durfte sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen, nur weil der Vater von Amber dafür verantwortlich war. Und auch in der Arbeitswelt konnte man sich nicht immer alles aussuchen, es würden immer unangenehme Augenblicke auf sie zukommen. Und selbst wenn sie nachher FBI Agentin werden wollte, würde sie es sowohl mit Journalisten als auch Fotografen zu tun haben, sodass es nicht schaden konnte, wenn sie jetzt einen kleinen Einblick in diese Arbeit bekam. Jodies Vater fuhr sie zur Veranstaltung und versprach sie wieder abzuholen, wenn es vorbei war. Jodie sollte ihn nur anrufen, wenn es soweit war. Jodie folgte ihren Mitschülern und sah sich die Bilder an der Wand an. Aber in Wahrheit hörte sie nur mit halbem Ohr zu. Den Großteil der Zeit beobachtete sie Tom Weston. Sie konnte den Mann nicht einschätzen. In der Vergangenheit hatte er zu Amber kaum Kontakt und jetzt traf sie ihn schon zweimal. Schweigend versuchte sie sich wieder auf den Rundgang zu konzentrieren, aber im Vergleich zu dem, was sie schon besuchte, war Fotografie ein totaler Reinfall. Leider hatten ihre beiden Mitschüler zahlreiche fragen, sodass sich die Veranstaltung immer weiter in die Länge zog. Irgendwann setzte sich Jodie wegen Unwohlsein von der Gruppe ab und ging nach draußen um frische Luft zu holen. Jodie schloss die Augen und atmete tief ein und aus. „Jodie?“ Die Angesprochene zuckte zusammen und drehte sich um. „Mr. Weston…“, murmelte sie. „Was kann ich für Sie tun?“ „Ich wollte nachsehen, wie es dir geht.“ „Besser. Es war wohl ein langer Tag…“, murmelte sie. „Vielen Dank für die Führung, aber ich denke, ich sollte jetzt lieber nach Hause.“ „Das versteh ich“, nickte er. „Soll ich dich nach Hause fahren? Es ist schon recht spät und ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass dir etwas Passiert.“ „Machen Sie sich darüber keine Sorgen.“ Shuichi ging an Tom vorbei und stellte sich neben Jodie. „Ich fahr dich.“ „Eh…Shuichi…“ Jodie sah irritiert auf den Studenten. „Geht das auch wirklich in Ordnung?“, wollte Tom sicherheitshalber wissen. „Klar“, schalte sich Akai ein. „Meine Vorlesung ist jetzt vorbei. Lass uns gehen.“ Shuichi nahm ihre Hand und zog sie mit. „Auf Wiedersehen“, gab Jodie noch von sich. Als sie bei seinem Wagen ankamen, öffnete er die Tür und sie stieg ein. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“ „Mein Bruder hat mir von dieser Veranstaltung erzählt“, fing der Student an. „Ich dachte mir schon, dass es bei euch spät werden würde und bevor dein Vater extra hier her fährt, nehm ich dich mit.“ Es war nur die halbe Wahrheit. Als Shukichi zu Hause von der Führung erzählte und die Anwesenheit von Tom Weston erwähnte, war sein Spürsinn geweckt. Der Zufall war zu groß gewesen, weswegen er sich von dem Fotografen ein eigenes Bild machen wollte. Shuichi startete den Motor und fuhr los. „Was hältst du von Weston?“ „Mhm?“, murmelte Jodie nachdenklich. „Ich kann ihn nicht wirklich einschätzen. Ich bin in seiner Nähe irgendwie verwirrt... Es ist so ein mulmiges Gefühl. Amber erzählte immer, dass ihr Vater nie da war und er nur selten in New York blieb…und jetzt treffe ich ihn schon zweimal. Es kann aber auch sein, dass es nur daran liegt, weil er Ambers Vater ist. Warum fragst du?“ „Nur so“, antwortete er. „Wie war die Führung?“ „Ging so“, sagte Jodie. „Fotografie ist nichts für mich. Manchmal war es interessant, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es das Richtige für mich ist.“ „Es ist auch hilfreich zu wissen, was man nicht machen will. Wie läuft es mit deinen Bewerbungen?“ „Ganz gut, denke ich. Ich hab jetzt die Themen für die Aufsätze rausgesucht und den ersten geschrieben“, antwortete sie. „Soll ich mir die mal angucken?“ „Wenn es dir nichts ausmacht…“ „Ist kein Problem.“ Shuichi steuerte auf das Haus der Starlings zu. Er parkte seinen Wagen in der Einfahrt der Familie und stieg aus. „Den kurzen Weg schaff ich schon alleine“, entgegnete sie. Shuichi sah sich um. „Ich geh lieber auf Nummer sicher.“ Jodie schmunzelte und ging zur Haustür. Sie drehte sich zu ihm. „Da wären wir“, sprach sie leise. „Danke fürs heimb…“ Shuichi beugte sich zu ihr runter. Sein Gesicht war ihrem viel zu nah. Jodies Herz pochte ununterbrochen. Je näher er kam, desto nervöser wurde sie. Sie blickte in seine tiefgrünen Augen und als seine Lippen ihre streiften, konnte sie nichts anderes mehr tun, als ihre Augen zu schließen. Kurz darauf spürte sie seine Lippen auf ihren und gab sich ihrem ersten Kuss hin. Kapitel 17: Furcht ------------------ Voller Wut schlug er gegen den Sandsack. Es war alles schief gegangen, was hätte schief gehen können. Dabei war alles doch nur ein Unfall. Er wollte nur mit den Mädchen reden und dann war alles aus dem Ruder gelaufen. Und Ambers Art und Weise machte es nicht leichter. Natürlich war er auch Schuld an der Situation, immerhin ließ er sich auf den Chat mit ihr ein und hatte noch anderes mit ihr vor. Hätte er von Anfang an gewusst wer am anderen Ende des Computers saß, hätte er die Finger davon gelassen. Danach hatte er nur noch gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Er ließ sich nicht mehr im Chat blicken und verwischte all seine Spuren. Aber auch nach über einem Jahr konnte er nicht mit seiner Tat abschließen. Anwälte waren immer auf der Hut und suchten sowohl nach Beweisen als auch nach dem fremden Mann, der von Connor gesehen wurde. Und dann war da noch Jodie. Sie hatte noch nie so richtig an Connors Schuld geglaubt. Eigentlich wollte er auch nur wissen, was Jodie ahnt oder nicht ahnt. Aber das Schicksal spielte ihm mal wieder einen Streich. Hätte er doch nur aus seinem Fehler von damals gelernt und sich rechtzeitig Plan B ausgedacht. Jetzt musste es schnell gehen. Er sah auf den Sandsack und schüttelte den Kopf. Es war Zeit. Sein Besucher hatte sich bereits entschieden. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit schnellen Schritten ging er nach unten in den Keller. Sobald er an der richtigen Kellertür stand, drückte er sein Ohr gegen diese. Es war still, was hieß, dass der Junge entweder noch bewusstlos war oder dass er auf seine Erlösung wartete. Dieses Mal hatte er sich einen Plan B zur Sicherheit zurecht gelegt, hoffte aber, diesen nicht einsetzen zu müssen. Er steckte den Schlüssel in das Schloss, drehte diesen und öffnete die Tür. Da der Raum dunkel war, betätigte er den Lichtschalter. Connor saß an der Wand. Seine linke Hand war mittels Kabelbinder an einem Heizungsrohr festgekettet. Sofort blickte er an die Tür. „Was…was wollen Sie von mir?“, wollte Connor von ihm wissen. Er lächelte. „Wie fühlt man sich, wenn man selbst in den Keller gesperrt wird und keiner einem zur Hilfe kommt?“ Connor schluckte. „Ich…das…das war damals ein Missverständnis. Ich schwöre…bitte…“ Der Mann kam näher und kniete sich zu ihm. „Ein Missverständnis? Glaubst du das wirklich?“ „Ich bin es nicht gewesen. Ich habe Amber nicht umgebracht…ich war es nicht…es war der Mann, der das Haus beobachtet hat…ich wollte doch nur…“ Connor brach den Satz ab. „Sie…Sie waren das…Sie haben Amber umgebracht? Aber wieso? Ich…verstehe das nicht…“ „Ambers Tod war ein bedauerlicher Unfall“, gestand er. „Anfangs wollte ich mich stellen, aber der Zufall war mir hold und alle Beweise sprachen gegen dich.“ „Aber Sie sind…Sie…“ Connor schluckte. „Ich…ich werde keinem etwas Sagen. Ich verspreche es…Bitte lassen Sie mich gehen…ich sitze die Strafe…ab und dann…kann ich wieder nach Hause…“ Connor hätte alles gesagt um zu überleben. „Mhm?“, er überlegte gespielt. „Du wirst wirklich keinem etwas Sagen?“ Connor nickte. „Ich verspreche es. Keiner wird von mir etwas Erfahren…wenn Sie mich zurück bringen…werden sie meine Haft vielleicht verlängern…weil ich heute nicht rechtzeitig zurück kam…aber ich werde nichts verraten…wirklich…“ Er legte den Kopf schief. „Gut, ich mache jetzt deine Hand los und du machst keine schnellen Bewegungen. Haben wir uns verstanden?“ „Ja…ich tue…was Sie sagen.“ „Danke, du bist wirklich ein guter Junge.“ Der Mann zog ein Springmesser aus seiner Hosentasche, ließ die Klinge hervorschnellen und schnitt den Kabelbinder durch. Connor rieb sich das Handgelenk und beobachtete seinen Entführer. Er kannte genug Fernsehserien und er hatte das Gesicht des Mannes gesehen. Er konnte ihn beschreiben und identifizieren. Damit war er eine Gefahr. Connor wusste, dass er diesen Raum nicht leben verlassen würde, wenn er nicht was unternahm. Als der Entführer beschäftigt war, die letzten Spuren zu beseitigen, schnellte Connor los und sprintete aus dem Raum. Er lief und lief und warf sich am Ende des Ganges gegen eine Tür. Sofort drückte er die Klinke nach unten, aber es passierte nichts. „Nein, nein…“, stieß er aus. „Bitte…“ Connor schluckte. Wie sollte er jetzt entkommen? Connor drehte sich um und dachte nach. Eine andere Abzweigung hatte er auf seinem Weg auch nicht gesehen. Und dann hörte er die Schritte. Sein Entführer war ihm bereits auf den Fersen. Connor rüttelte noch einmal an der Türklinke und drückte sich erneut gegen die Tür. „Geh schon auf“, zischte er leise. Dann betastete er die obere Seite des Türrahmes und wurde fündig. Seine Hand zitterte, als er den Schlüssel in dieser hielt. „Zu spät, Connor.“ Jodie schwebte auf Wolke sieben. Mit Shuichi fühlte sich alles richtig an. Und schön. Das lange Warten hatte sich gelohnt. Jodie war froh, dass sie alles auf sich zukommen ließ und nicht, wie damals von Amber gefordert, einfach mit irgendwem rummachte. Andererseits war der Abend mit Amber, Connor und Chad noch offen und keiner wusste, was passiert wäre. Als sich ihre Lippen wieder trennten, öffnete Jodie langsam ihre Augen. „Danke“, wisperte sie. Schlagartig schoss die rote Farbe auf ihre Wangen und sie spürte ein aufkommendes Hitzegefühl. Sie hatte sich für den Kuss bedankt. Peinlicher konnte es nicht mehr werden. „Ich…ich…ich…“ Jodie blickte zur Seite und wich nach hinten, wo sie die Tür im Rücken spürte. Shuichi legte seine Hand an ihre Wange. „Schau mich an, Jodie“, sagte er. Langsam hob sie den Blick. „Shu…“ Ein weiteres Mal spürte sie seine Lippen auf ihren und er stahl sich den nächsten Kuss. Nachdem der Student diesen löste, schmunzelte er. „Bitte“, hauchte er gegen Jodie Lippen. Jodie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Klingeln ihres Handys übertönte glücklicherweise diese wenigen Sekunden. „Du solltest jetzt rein“, fing Shuichi an. „Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen, weil du nicht angerufen hast.“ Jodie nickte und versuchte das Handy aus ihrer Jackentasche rauszuholen. Ihre Hand zitterte, was sie sich aber nicht anmerken lassen wollte. „Gut Nacht.“ „Gute Nacht“, wiederholte Jodie leise. Ihr Blick folgte dem Stunden bis dieser an seinem Wagen stand. Da das Klingeln ihres Handys nicht endete, zog sie dieses endlich aus der Jackentasche und drückte den Anruf ihres Vaters weg. Das würde ein Donnerwetter geben, aber es war ihr egal. Unverzüglich holte sie ihren Haustürschlüssel aus der Hosentasche, schloss die Tür auf und kam rein. Gerade als sie dabei war ihre Jacke auszuziehen, kamen ihre Eltern in den Flur. „Jodie? Du wolltest doch anrufen, wenn du nach Hause willst“, entgegnete der Agent. „Bin zu Hause“, antwortete sie. Ihre Eltern sahen einander irritiert an. „Ist bei dir alles in Ordnung?“ „Ja…ich geh in mein Zimmer.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen ging sie die Treppen nach oben. Der Agent sah ihr nach und blickte dann zu seiner Frau. „Hast du das gesehen? Irgendwas stimmt doch nicht mit ihr. Wie kam sie nach Hause? Ich sollte sie doch abholen.“ Starling sah nach oben. „Ich geh mal nach ihr sehen.“ „Liebling“, begann Angela. „Du solltest ruhig bleiben. Ich geh nach ihr sehen. Mit mir wird sie eher sprechen als mit dir. Frauensachen und so…“ Starling seufzte. „Na gut.“ Angela ging die Treppe nach oben und klopfte an Jodies Zimmertür. „Jodie? Kann ich rein kommen?“ Jodie saß mittlerweile auf dem Bett und tippte auf ihrem Handy rum. Sie schrieb eine Nachricht nach der anderen und löschte sie wieder. Wollen wir uns morgen treffen?, Danke für den schönen Abend, Bist du gut nach Hause gekommen? Jodie seufzte. Sie wusste nicht, was sie dem Studenten schreiben sollte. Sollte sie ihm überhaupt so schnell schreiben? Das Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihren Gedanken. „Komm rein.“ Jodie legte das Handy weg. Angela öffnete die Tür und kam rein. Sie setzte sich zu Jodie aufs Bett. „Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“ „Ja, alles…gut.“ „Jodie, dein Vater und ich, wir machen uns Sorgen um dich. Ist wirklich alles bei dir in Ordnung? Du wirkst so…abwesend. Du solltest deinen Vater doch anrufen wenn du nach Hause willst. Wie bist du überhaupt nach Hause gekommen.“ „Er hat mich geküsst“, antwortete Jodie leise, aber überglücklich. Es musste einfach raus. „Er? Jodie sah zu ihrer Mutter und lächelte. „Ähm…naja…Shuichi war auch auf dem Universitätsgelände und hat mich nach Hause gefahren.“ „Und dich dann geküsst?“ „Ja.“ „Wolltest du das?“ Jodie nickte. Und wie sie es wollte. „Und jetzt weißt du nicht, wie du reagieren sollst, ob du ihm schreiben sollst und bist zu aufgeregt um zu schlafen?“ Jodie sah ihre Mutter irritiert an. Angela kicherte. „Ich war auch mal jung und hab mich genauso gefühlt, wie du jetzt.“ „Und was mach ich jetzt?“ „Du bewahrst die Ruhe. Du magst ihn sehr, nicht wahr?“ Jodies Wangen röteten sich. „Ist das…so offensichtlich?“ „Ein wenig, aber das ist nicht schlimm. Das gehört zum verliebt sein dazu.“ „Und das heißt?“, murmelte das Mädchen. „Das heißt, du legst das Handy jetzt weg und lässt es einfach auf dich zu kommen.“ „Ich versuchs“, sagte Jodie. „Ich kann ja ein paar Hausaufgaben machen.“ Angela nickte. „Kann ich dich auch wirklich alleine lassen“ „Natürlich, Mom“, sagte Jodie. Angela stand auf und ging zur Tür. „Aber bleib nicht die ganze Nacht wach.“ Jodie sah ihrer Mutter nach und schmunzelte. Sie und Shuichi. Aber dann ebbte das positive Gefühl ab. Waren sie jetzt zusammen? Hatte ihm der Kuss vielleicht nicht gefallen? Musste sie jetzt etwas Bestimmtes beachten? Die Schülerin sah an sich herab und schluckte. Was wenn er sich schnell mit ihr langweilte? Oder sie gar nicht wusste, was zu tun war. Shuichi hatte sicherlich schon erste Erfahrungen gesammelt und erwartete bestimmt das gleiche von ihr. Konnte sie überhaupt seine Erwartungen erfüllen? Zweifel überkamen sie, als sie sich auf das Bett legte und die Decke anstarrte. Angela kam die Treppen nach unten und ging in das Wohnzimmer. Ihr Mann stand auf der Terrasse und hielt das Handy am Ohr. „Arbeitstier“, murmelte sie, musste aber auch lächeln. Als Frau eines FBI Agenten wusste sie genau, was sie erwartete. Ihr Mann war immer im Dienst, auch wenn er Feierabend oder Urlaub hatte. Und das war eine Sache die sie an ihm liebte. Er war immer bereit sich und seine freie Zeit für seine Mitmenschen und die Unschuldigen zu opfern. Als der Agent zurück in das Wohnzimmer kam, wirkte er blass. „Bei Jodie ist alles in Ordnung. Der junge Akai hat sie nach Hause gebracht.“ Sie beobachtete ihren Mann. „Was ist passiert?“, wollte sie leise wissen. Der Agent schluckte. „Connor…hat heute…anlässlich des 50. Geburtstages seines Vaters…einen Tag Freigang bekommen.“ Angela wirkte verunsichert. „Und…das heißt…?“ Sie wusste natürlich was es hieß. „Er hätte um 19 Uhr wieder zurück sein müssen, aber…“ „Nein…“, wisperte sie leise. „…sag es nicht…“ „Er kam nicht zurück“, murmelte der Agent. Angela sah in den Flur. „Glaubst du…er…?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Starling und ballte die Faust. „Das FBI wurde erst eben informiert. James schickt uns zwei Agenten die sich draußen positionieren werden. Du gehst nachher nach oben und achtest darauf, dass Jodie nicht runter kommt. Ich kümmer mich in der Zwischenzeit hier unten um eure Sicherheit.“ Als Angela am nächsten Morgen aufstand, fühlte sie sich wie gerädert. Sie konnte kaum einschlafen und wenn es doch soweit war, schrak sie immer wieder hoch. Zur Sicherheit ging sie mehrmals in der Stunde an das Fenster und spähte raus. Obwohl sie von den Agenten wusste und ihr Mann unten Wache hielt, fühlte sie sich wie auf dem Präsentierteller. Müde kam Angela die Treppen runter und ging ins Wohnzimmer. Die Bettdecke, die sie ihm runterbrachte, lag ordentlich zusammen gelegt auf dem Sofa. Geräusche aus der Küche ließen sie erstarren. Angela verhielt sich ruhig und atmete tief durch, ehe sie die Küche aufsuchte. Zunächst lugte sie vorsichtig rein, dann überkam sie die Erleichterung. Ihr Mann stand an dem Herd und kochte gerade Frühstückseier ab. Der Tisch war ebenfalls gedeckt. „Morgen“, murmelte sie leise und ging zu ihm. Sobald er die Hände frei hatte, umarmte sie ihren Mann. „Haben sich deine Kollegen schon gemeldet?“ „Morgen“, sagte Starling und schüttelte den Kopf. „Nichts. Aber über Nacht war es hier ruhig.“ „Wenigstens etwas. Wir sollten Jodie aber die Wahrheit sagen.“ „Das habe ich vor.“ „Guten Morgen.“ Jodie kam gut gelaunt in die Küche und setzte sich an den Tisch. „Greif schon mal zu“, entgegnete ihr Vater und stellte eine Kanne mit Kaffee hin. Jodie nickte und nahm eine Scheibe Brot die sie mit einer Scheibe Schinken belegte. „Wie war die gestrige Führung?“, wollte der Agent wissen. „Mhm? Ganz okay“, sagte Jodie. „Aber?“ Er wusste immer, wann es ein Aber gab. „Fotografie ist nicht meins. Alles was dahinter steht, sieht ja gut aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das machen möchte.“ „Ich verstehe“, entgegnete ihr Vater. „Und wie laufen deine Bewerbungen so?“ „Ich würde sagen, ganz gut. Ich schreibe gerade den ersten Aufsatz. Ich werde mich sowohl für Kriminologie als auch Literaturwissenschaften bewerben. Vielleicht belege ich dann noch ein paar medizinische Kurse.“ „Willst du denn immer noch zum FBI?“ Jodie ließ die Scheibe Brot wieder auf den Teller gleiten und sah ihren Vater an. „Wenn ich ehrlich bin, weiß ich das noch nicht, Dad. Ich kann es mir vorstellen, aber ich bin noch unsicher. Ich möchte Menschen helfen, aber ich weiß noch nicht in welcher Form.“ Jodie schluckte und wirkte mit einem Mal verunsichert. „Ich werde…vielleicht das Studium nicht innerhalb von drei Jahren beenden.“ „Mhm?“ Agent Starling sah sie an und lächelte. „Du hast alle Zeit der Welt. Setz dich mit dem Studium nicht unter Druck. Wenn du im ersten Semester feststellst, dass die Kurse nichts für dich sind, wählst du eben andere. Das ist vollkommen in Ordnung. Immerhin musst du zufrieden mit deiner Berufswahl sein und nicht ich.“ Jodie lächelte. „Danke, Dad.“ „Jodie, da gibt es noch etwas, was ich dir sagen muss“, fing der Agent an. Sie sah ihn an. „Ja?“ „Connor…“ Starling räusperte sich. „Er hatte gestern einen Tag Freigang bekommen.“ Jodie wurde blass. „Nein…“, murmelte sie leise. „Dad…bitte nicht…nein…sag mir nicht, dass…“ „Es tut mir leid, Jodie.“ Kapitel 18: Verlorener Sohn --------------------------- Jodie schluckte. Er hatte gestern einen Tag Freigang bekommen, hörte sie die Worte ihres Vaters. Sie hätten sich über den Weg laufen können. Und was dann? „Jodie?“ Die Angesprochene sah ihren Vater mit einem leeren Blick an. Angela und ihr Mann wechselten den Blick, ehe das Handy den Agenten klingelte. „Entschuldigt, da muss ich ran gehen“, sagte er und stand auf. Angela sah ihrem Mann nach, ehe sie sich wieder Jodie zuwandte. „Jodie?“ Sie legte ihre Hand auf Jodies Arm. „Connor…wieso ist…er…“ „Keiner weiß, warum er nicht wieder zurück kam…aber sie finden ihn bestimmt schnell. Die Polizei und das FBI ist informiert.“ Jodie nickte nur. „Wir haben es gestern Abend erfahren. Ich weiß, wir hätten es dir früher sagen sollen, aber wir wollten nicht, dass du dir die ganze Nacht um die Ohren schlägst. Das FBI hat Agenten zu unserem Haus geschickt, sie haben die ganze Nacht Wache gehalten. Dein Vater war ebenfalls auf den Beinen und hat im Wohnzimmer die Stellung gehalten“, erklärte sie. „Jodie, ich glaube nicht, dass Connor hier herkommt um dir etwas Anzutun.“ „Aber sicher…weißt du es nicht…“ „Jodie, du hast damals vor Gericht auf die Frage, ob du glaubst, dass er fähig ist, Amber umzubringen, die Wahrheit gesagt. Er hat nichts davon, wenn er hier auftaucht.“ „Außer wenn er mit mir sprechen wollte.“ Der Agent kam zurück in die Küche. „Connor hat damals sowohl beim Verhör als auch bei der Verhandlung ausgesagt, dass er den Mord nicht begangen hat. Vielleicht hat er irgendwie Beweise für seine Unschuld gefunden, was ich allerdings für sehr unrealistisch halte.“ Angela funkelte ihren Mann an. Gerade erst hatte sie ihre Tochter beruhigt und jetzt das. „Von Connor geht keine Gefahr aus“, sprach der Agent. „Er wurde gefunden?“, fragte Jodie leise. Starling nickte. „Connor ist tot.“ „Was?“, stieß Angela aus. „James bittet uns zur Befragung ins Büro.“ Zwei Polizeiwagen, ein Krankenwagen sowie zwei Zivilfahrzeuge standen in der Einfahrt der Familie Riemer. Agent Pierce parkte den Wagen direkt neben dem Krankenwagen. Während er ausstieg, schob er sich die Sonnenbrille auf den Kopf. „Was glaubst du, werden wir hier erwarten?“ Agent Fries sah in Richtung des Hauses. „Das ist eine gute Frage“, antwortete sie. „Wer hätte gedacht, dass wir nach einem Jahr wieder hier sind.“ „Lass uns an die Arbeit gehen.“ Die Sanitäter kamen ohne einen Patienten aus der Tür. Pierce zückte seinen Dienstausweis. „Was können Sie uns sagen?“ „Für den Jungen konnten wir leider nichts mehr tun“, kam es von dem begleitenden Arzt. „Mrs. Riemer musste ich ein starkes Beruhigungsmittel geben. Ihre Kollegen von der Polizei können Ihnen zum Sachverhalt mehr sagen.“ Pierce nickte und trat durch die offene Haustür. Zusammen marschierten sie direkt in das Wohnzimmer. Mrs. Riemer lag ruhig gestellt auf dem Sofa. Ihr Mann saß geschockt auf dem Sofa und Chad – der älteste Sohn der Familie – lief von Raum zu Raum. „Chad“, fing Fries an. Der Angesprochene stoppte. „Ja, bitte?“ „Agent Fries, du müsstest mich noch vom letzten Jahr kennen. Neben mir steht Agent Pierce. Wir wurden informiert, dass sich dein Bruder Connor hier aufhält.“ Der Junge nickte. „Connor liegt…oben…Sie müssen…die Treppe hoch gehen, dann die zweite Tür…links…“ „Danke. Chad. Ist bei dir alles in Ordnung? Sollen wir den Arzt zurückholen?“ „Nein, nein…“, murmelte er. „Ich…krieg das schon hin…“ Fries nickte. „Ich weiß, es ist schwer und hört sich wenig einfühlsam ein, aber wenn wir oben gewesen sind, müssen wir mit dir und deinen Eltern sprechen. Bitte verlass das Haus nicht.“ „Ist gut…“ Fries ging die Treppe nach oben. Der Tod von jungen Menschen ging ihr immer nah, vor allem wenn sich zeigte, dass ein Gewaltverbrechen vorlag. Aber sie durfte den Tod von fremden Menschen nicht so sehr an sich heran lassen. Agenten mussten immer die Distanz wahren und durften die Ermittlungen nicht gefährden. Pierce folgte ihr in den Raum. Er zückte seinen Ausweis und stellte sich den Polizisten vor. „Was wissen wir?“ „Nachdem Connor Riemer gestern Abend nicht mehr in den Vollzug zurückkehrte, haben wir die Gegend nach dem Jungen durchkämmt. Als erste Maßnahme führten wir ein Gespräch mit den Eltern. Sie gaben an, nicht zu wissen wo ihr Sohn ist. Der Vater hätte ihn vor dem Gefängnis abgesetzt und dann mehr gesehen. Heute Morgen rief er uns an, weil sie seinen leblosen Körper im Kinderzimmer fanden. Der Vater schwört, dass Connor gestern Abend nicht mehr hier herkam.“ „Verstehe“, murmelte Pierce nachdenklich. „Danke, wir übernehmen jetzt.“ Die Polizisten tauschten Blicke aus und zogen sich dann zurück. Für fast alle Polizisten war es eine Qual, wenn sie einen Fall an das FBI abtreten mussten. Aber da das FBI die höheren Befugnisse besaß, konnten sie jeden Fall an sich reißen. Pierce zog sein Handy heraus, strich über den Bildschirm und tippte eine Nachricht. „Neuigkeiten?“ „Noch nicht“, murmelte er. Kurz darauf hörte er den Signalton einer eingehenden Nachricht. „Mhm…gut…Black hat die Starlings auf meinen Rat hin ins Büro gebeten.“ „Du glaubst, sie haben etwas mit dem Tod des Jungen zu tun?“ „Nein“, gestand er. „Aber ich möchte alle Möglichkeiten betrachten, damit wir sicher sein können, dass uns nichts durch die Lappen geht.“ „Mhm…Ich glaube auch nicht, dass sie irgendwas damit zu tun haben. Wussten sie überhaupt, dass Connor gestern Freigang bekommen hat?“ „Normalerweise werden das Opfer und die nächsten Familienmitglieder über einen genehmigten Freigang informiert.“ Pierce sah der Spurensicherung bei der Entnahme von Proben zu. „Sieht nach Selbstmord aus.“ „Wir sollten abwarten, was der Gerichtsmediziner nach der Analyse sagt“, entgegnete Fries. Pierce nickte. „Bleib du hier“, sagte er. „Ich geh nach unten und befrag die Familie.“ Ehe Pierce nach unten ging, sah er sich auf der oberen Etage um. Das Elternschlafzimmer war groß und das Bett ordentlich gemacht. Er ging zu den Nachttischschränken und öffnete die Schubladen. Soweit er sehen konnte, befanden sich keine ungewöhnlichen Gegenstände in diesen. Neben dem Schlafzimmer befand sich das Badezimmer, gegenüber lagen die Zimmer von Chad und Connor. Pierce zog sein Notizbuch heraus und zeichnete den Grundriss des Hauses auf. Als er damit fertig war, ging er nach unten ins Wohnzimmer. „Mr. Riemer“, begann Pierce und sah zu dem Mann. Er wirkte um Jahre gealtert. Der Angesprochene sah nach oben. „Zunächst möchte ich Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen. Aber es ist unerlässlich, dass ich Ihnen einige Fragen stelle. Wie Sie mitbekommen haben, befindet sich oben die Gerichtsmedizin sowie die Spurensicherung. Ist es Ihnen Recht, wenn wir mit der Befragung beginnen?“ „Natürlich“, murmelte der Mann. „Setzen…Sie sich doch“, er wies auf den zweiten Sessel. „Wissen Sie schon wer das meinem Sohn angetan hat?“ „Danke.“ Pierce nahm Platz und zog sein Notizbuch heraus. „Wieso nehmen Sie an, dass es Mord war?“ „Egal was mein Sohn durchmachen musste, er hätte sich nie das Leben genommen.“ „Ich verstehe“, murmelte Pierce. „Bitte erzählen Sie mir, was gestern passiert ist.“ Mr. Riemer nickte. „Ich wurde gestern 50 Jahre alt. Wir wollten ein wenig feiern und da durfte natürlich auch Connor nicht fehlen. Unser Anwalt beantragte den Freigang für ihn. Er wurde zuerst abgelehnt, aber unser Anwalt Einspruch eingelegt. Nach mehreren Versuchen hat es dann doch geklappt. Chad hat Connor gestern um 9 Uhr abgeholt und ist direkt mit ihm nach Hause gekommen. Wir haben zusammen gefrühstückt. Danach hat er seiner Mutter in der Küche beim Backen meines Geburtstagkuchens geholfen.“ Mr. Riemer schluckte. „Anschließend sind wir zu unserem Lieblingsitaliener gefahren und haben dort gegessen. Als wir wieder nach Hause kamen, sind Chad und Connor nach oben gegangen und haben auf der Konsole gespielt. Sie waren die ganze Zeit hier. Connor wollte das Haus nicht verlassen, nicht einmal als wir zum Italiener wollten. Wir mussten ihn schon fast dazu überreden. Einige Nachbarn haben auch komisch geschaut, weil er hier war und es war ihm sehr unangenehm. Sie sehen ihn alle als Mörder, aber Connor hat nichts getan. Er hat Amber nicht umgebracht…wenn…dann hätte er es zugegeben“, sprach Mr. Riemer. Pierce räusperte sich und versuchte wieder auf das eigentliche Thema zurück zu kommen. „Was geschah nachdem Ihre beiden Söhne oben waren?“ „Nichts. Meine Frau hat das Abendessen gekocht. Wir haben noch ein letztes Mal zusammen gegessen. Um 17:00 Uhr fuhr ich Connor zurück, da er um 18 Uhr wieder im Gefängnis sein musste. Ich wollte nicht, dass uns ein Stau in die Quere kommt. Sie wissen ja, wie es an einem Freitag ist…“ „Sie haben gestern keinen Besuch bekommen? Keine Freunde, Bekannte oder die Familie?“ „Nein, wir haben niemanden eingeladen. Viele unserer Bekannten wollten nichts mehr mit uns zu tun haben, als Connor wegen dem Mord an Amber verurteilt wurde. Wir wurden auch von einigen Arbeitskollegen, Nachbarn und sogar von Familienmitgliedern wie aussätzige behandelt. Es war vor allem für meine Frau schwer, da sie sich oft mit Freunden traf. Aber wir standen trotz allem hinter unserem Sohn.“ Pierce nickte und machte sich Notizen. „Sie sagten, Sie haben ihn zurück gefahren. Haben Sie gesehen, dass er das Gebäude betreten hat?“ Mr. Riemer sah bedrückt drein. „Er ist aus dem Wagen ausgestiegen und in Richtung des Gefängnisses gegangen. Das war gegen 17:35 Uhr. Es schmerzte, weil er wieder zurück musste…als er schon fast an der Eingangstür war, bin ich los gefahren.“ „Ich verstehe. Wussten Sie, dass Connor erst um 19 Uhr zurück sein musste?“ Mr. Riemer schüttelte den Kopf. „Nicht gestern Abend. Wir wurden um halb acht von unserem Anwalt angerufen. Er erzählte, dass Connor nicht zurück kam und versprach, sofort vorbei zu kommen. Kurz darauf standen auch schon Polizisten vor unserer Tür. Wir wurden befragt und sie durchsuchten unser Haus. Alle dachten, dass wir Connor verstecken würde. Ich schwöre bei Gott, als wir gestern Abend ins Bett gingen, war er nicht in seinem Zimmer.“ Mr. Riemer schluckte. „Glauben Sie uns auch nicht?“ „Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mr. Riemer, wir verfolgen momentan jede Spur.“ „Unser Anwalt teilte uns mit, dass die Westons über den Freigang informiert wurden. Könnte es sein, dass diese…“ „Mr. Riemer, wir wollen jetzt nicht darüber spekulieren. Ich verspreche Ihnen aber, dass wir diesen Fall ganz nüchtern betrachten werden und wenn es Mord war, finden wir den Täter.“ „Pierce?“ Der Agent sah in Richtung der Tür. „Bitte entschuldigen Sie mich.“ Er stand auf und ging in den Flur. „Wie schaut es aus?“ Fries verschränkte die Arme. „Wir fanden eine Packung Schlaftabletten unter der Bettdecke des Jungen. Nach Öffnen stellten wir fest, dass ein kompletter Blister ausgedrückt wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen wir davon ausgehen, dass Connor alle Tabletten schluckte.“ „Also Selbstmord“, murmelte Pierce. „Genaueres kann der Gerichtsmediziner sagen, wenn die Obduktion abgeschlossen ist. Es ist allerdings bedenklich, weil auch keine Spuren eines Einbruches vorhanden sind. Ich frage mich, ob Connor wirklich so verzweifelt gewesen ist, dass er Tabletten schluckte. Soweit ich informiert bin, hat er im Gefängnis keine Feinde.“ „ Mr. Riemer erzählte, dass die Familie von vielen Nachbarn, Freunden und Kollegen wie Außenseiter behandelt wird. Wenn Connor davon Wind bekommen hat, könnte er ihnen so helfen wollen.“ „Mhm…“, murmelte Fries leise. Das Handy der Agentin klingelte. „Tschuldige, da muss ich ran.“ „Natürlich.“ Pierce ging zurück in das Wohnzimmer. „Mr. Riemer? Wir werden Ihren Sohn jetzt in die Gerichtsmedizin überführen lassen.“ „Dann war es Mord?“ „Wie ich bereits sagte, wir müssen jeder Spur nachgehen. Man hat bei Ihrem Sohn Schlaftabletten gefunden. Haben Sie eine Ahnung wie er an diese heran gekommen ist?“ Mr. Riemer schluckte. „Meine Frau…seit der Verhandlung im letzten Jahr hat sie Probleme beim Einschlafen. Es gab Tage, da musste sie diese Tabletten nehmen…Connor hat sie genommen?“ „Es sieht sehr danach aus. Wissen Sie, wie viele Tabletten in der Verpackung vorrätig waren?“ Er überlegte. „Ich glaube, es war eine ganz neue Packung. Was heißt das jetzt?“ „Bleiben Sie erst einmal ruhig. Sobald wir in unseren Ermittlungen weiter sind, werden wir Sie natürlich darüber in Kenntnis setzen.“ „Pierce?“ Der Angesprochene sah zu seiner Kollegin. „Was ist passiert?“ „Mr. Riemer? Kannte Ihr Sohn Tom Weston?“ „Wir haben ihn im Gerichtssaal gesehen“, antwortete der Mann. „Nach seiner Verurteilung sprach Connor davon, dass er mit den Westons reden wollte. Er wollte ihnen seine Version der Geschichte erzählen ohne dass Polizei oder Anwälte dabei waren. Die Familie lehnte jeden Kontakt zu unserem Sohn ab.“ „Er hatte also auch in den letzten Monaten keinen Kontakt mit Mr. Weston?“ „Nicht das ich wüsste“, antwortete Mr. Riemer. „Aber ich hab ihn natürlich nicht bei meinen Besuchen danach gefragt. Für mich war das kein Thema. Aber wieso wollen Sie das wissen?“ Fries steckte ihr Handy weg. „Mrs. Weston wird gerade von unseren Kollegen befragt. Mr. Weston war in seiner Wohnung nicht anzutreffen. Von einem Nachbarn bekamen wir den Hinweis, dass Mr. Weston häufig am Wochenende in seinem Büro im College arbeitet. Er hat dort zwei Räumlichkeiten gemietet um in Ruhe seine Fotos zu entwickeln und zu bearbeiten. Mr. Riemer, unsere Männer haben Mr. Weston dort gefunden. Ihm steckte ein Messer im Bein und er verlor sehr viel Blut.“ Mr. Riemer schluckte. „Ich weiß nicht, was das mit Connor zu tun hat...“ „Mr. Weston kämpfte mit dem Bewusstsein“, gab Fries von sich. „Der Notarzt hat ihn mittlerweile stabilisieren können. Sie verfrachten ihn gerade ins Krankenhaus.“ „Ich weiß immer noch nicht, was Sie mir damit sagen wollen, Agent Fries“, unterbrach Mr. Riemer die Agentin. „Die Agenten vor Ort versuchten herauszufinden, wer ihm das angetan hat.“ Mr. Riemer schluckte. „Sie wollen doch nicht sagen…?“ „Bevor er wieder das Bewusstsein verlor, sagte er einen Namen: Connor.“ Kapitel 19: Zufälle ------------------- „Was für ein Fall“, murmelte Pierce, als er auf den Parkplatz vor dem Büro einfuhr. „Hättest du im letzten Jahr gedacht, dass es so weiter geht?“ „Du kennst meine Meinung“, entgegnete Fries ruhig. „Ich hab den Jungen schon damals nicht für schuldig gehalten und hätte der Staatsanwalt nicht so schnell verhandeln wollen…“ „Du weißt ganz genau, dass die Beweise gegen Connor standen und dass der Staatsanwalt nicht hätte ewig warten dürfen.“ „Beweise können fingiert sein. Wir hatten zu wenig Zeit, um…“ „Jetzt hör aber mal auf“, raunte Pierce. „Ich weiß, es passt dir nicht, dass der Junge verurteilt wurde. Ich glaube ja auch nicht daran, dass er es gewesen ist, aber der Fall ist abgeschlossen, Ende. Jetzt geht es darum, dass wir herausfinden, ob Connor Selbstmord beging oder nicht.“ Fries stieg aus dem bereits geparkten Wagen aus und zog ihr Handy heraus. „Neuigkeiten?“, wollte Pierce wissen. Die Agentin strich mit dem Finger über das Display und rief eine E-Mail auf. „Weston wird in diesem Augenblick notoperiert. Zwei Agenten sind zur Sicherheit im Krankenhaus geblieben. Sie werden auch nachher vor seinem Zimmer wache halten. Nur für den Fall, dass der Angreifer doch nicht Connor war.“ „Gut“, nickte Pierce. „Wissen wir was Weston gestern Abend gemacht hat?“ „Und ob“, gab Fries von sich und ging in das Gebäude. „Gestern Abend fand eine Führung im Bereich Fotografie am College statt. Weston stieß gegen 19 Uhr zu der kleinen Gruppe bestehend aus drei Schülern und dem Bereichsleiter. Und dreimal darfst du raten, welcher Schüler ebenfalls vor Ort war.“ „Jetzt spann mich nicht auf die Folter“, entgegnete der Agent. „Chad?“ „Ganz falsch. Jodie Starling.“ „Das ist nicht dein ernst. Wenn das alles ein Zufall ist, dann bin ich der Weihnachtsmann.“ „Ein Bart steht dir nicht“, konterte die Agentin und wurde im nächsten Augenblick wieder ernst. „Unsere Kollegen haben bereits mit dem Bereichsleiter gesprochen. Die Schüler wurden ausgelost. Vielleicht hatte die kleine Starling wirklich nur Glück gehabt.“ „Selbst wenn, das riecht nach mehr. Überleg doch mal, zuerst erhält Connor Freigang und verschwindet. Gleichzeitig darf Jodie an einer Führung teilnehmen bei der auch Weston anwesend ist. Danach wird Weston überfallen und wir finden Connor Tod auf.“ „Glaubst du Weston hat Connor aus Rache ermordet und benutzt Starling als Alibi?“ „Möglich. Wissen wir, wann Starling die Führung verlassen hat?“ „Der Bereichsleiter gab an, dass es nicht einmal 21 Uhr gewesen sei, als sie draußen frische Luft schnappen wollte. Weston eilte ihr nach, da sie wohl recht blass gewesen war. Er war aber nicht lange draußen und gab an, dass Jodie nach Hause gefahren ist.“ „Du weißt ja sehr gut Bescheid“, meinte Pierce ruhig. „Auf unsere Leute ist eben verlass. Frischfleisch zu haben, kann auch von Vorteil sein. Sie bemühen sich und versuchen alle möglichen Informationen so schnell wie möglich zusammen zu tragen.“ „Gut. Gehen wir rein, Starling müsste auch schon da sein.“ Pierce beschleunigte seine Schritte, während Agent Starling zusammen mit seiner Frau und Tochter im großen Verhörzimmer warteten. James saß ihnen gegenüber und Jodie wirkte sichtlich nervös. „James, ist das wirklich notwendig?“, wollte Starling wissen. „Du kennst das Protokoll“, sagte der Gefragte. „Daran lässt sich nichts ändern.“ Starling seufzte als die Tür aufging. „Bitte entschuldigen Sie die Verspätung.“ Die beiden Agenten setzten sich auf die Seite von James Black. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.“ „Stimmt es, dass Connor tot ist?“, wollte Jodie sofort wissen. Fries nickte. „Leider ja.“ „Was ist passiert?“, fragte Starling. Pierce räusperte sich. „Ich denke, wir sollten lieber andersherum anfangen.“ Er sah zu Jodie. „Jodie, bitte erzähl uns von deinem gestrigen Tag.“ Das Mädchen sah zu ihrem Vater, er nickte. „Ich war ganz normal in der Schule. Zu Hause war ich dann um 15 Uhr und habe mit meiner Mutter gegessen. Danach habe ich an einer Führung im Fachbereich Fotografie teilgenommen. Hierfür hat mich mein Vater gegen 18 Uhr am Eingang des Colleges abgesetzt. Bei der Führung waren zwei Klassenkameraden von mir dabei und Mr. Weston, er kam allerdings etwas später. Er hat alles organisiert. Gegen halb neun bin ich nach draußen gegangen um frische Luft zu schnappen. Dort habe ich mich kurz mit Mr. Weston unterhalten. Danach bin ich nach Hause gefahren. Ich kam nach neun an und bin direkt nach oben in mein Zimmer. Heute Morgen hat mir Dad dann von Connor erzählt.“ „Dein Vater hat dich auch abgeholt?“ Jodie errötete. „Nein…ich hab dort…einen Freund getroffen…er hat mich nach Hause gebracht.“ „Shuichi Akai“, entgegnete Starling. „Sie können ihn gerne befragen, ich gebe Ihnen die Telefonnummer oder Adresse.“ Pierce nickte. „Mrs. Starling, Mr. Starling, könnten Sie jetzt bitte Ihren Tag gestern beschreiben?“ „Ich war arbeiten“, fing der Agent an. „Wie mehrere Agenten bezeugen können, war ich von 8 bis 16 Uhr im Büro. Danach bin ich nach Hause gefahren, damit ich Jodie rechtzeitig zur Veranstaltung fahren kann. Nachdem ich sie abgesetzt habe, bin direkt nach Hause gefahren. Dort kam ich ungefähr um 18:30 Uhr an. Den restlichen Abend verbrachten wir vor dem Fernseher. Kurz nachdem Jodie nach Hause kam, wurden wir über das Verschwinden von Connor informiert.“ „Ja, das stimmt“, fing Angela an. „Nachdem Jodie in der Schule war, bin ich auch zur Arbeit gefahren. Da ich halbtags arbeite, kam ich gegen 14 Uhr nach Hause und bereitete das Essen vor. Danach habe ich das Haus nicht mehr verlassen.“ Pierce machte sich Notizen. „Wie lange kennen Sie diesen Shuichi Akai?“ „Seit einigen Wochen“, antwortete Starling. „Seine Familie ist in das Haus der Westons gezogen. Der jüngste Sohn der Familie, Shukichi, geht auf die gleiche Schule wie Jodie. Sie sind befreundet. Shuichi hilft Jodie bei den Bewerbungen für die Universität. Er selbst studiert hier bereits.“ „Und er ist Jodies Freund?“ Jodie wurde rot. „Glauben Sie, dass er oder einer von uns etwas mit Connors Tod zu tun hat?“, wollte Starling wissen. „Sie kennen das doch. Wir müssen alle Optionen und Möglichkeiten durchgehen.“ Agent Starling beugte sich nach vorne. „Glauben Sie mir, Pierce, wir haben allen Grund den Jungen zu hassen, aber wir haben ihn nicht ermordet. Wir wussten nicht einmal, dass er gestern Freigang hatte.“ „Wieso wurden wir eigentlich nicht informiert? Jodie ist doch auch ein Opfer von ihm“, kam es sofort von Angela. „Nun“, begann Fries. „es ist so, dass bei einem beantragten Freigang das Opfer und seine Familie informiert werden. Die Entführung haben wir mehr oder minder unter der Hand verhandelt, sodass Connor nur wegen dem Mord an Amber vor Gericht stand. Deswegen wurden auch nur die Westons informiert. Jodie, als du bei der Führung gewesen bist, hast du irgendwas Merkwürdiges an Mr. Weston bemerkt?“ Jodie überlegte. „Etwas Merkwürdiges?“, murmelte sie. „Ich glaube nicht, aber ich kenn ihn ja auch nicht wirklich. Er war Ambers Vater, aber nie zu Hause und die Eltern lebten getrennt. Er wirkte aber nicht nervös.“ „Von welchem Todeszeitpunkt sprechen wir eigentlich?“, fragte Starling nach. „Der Gerichtsmediziner schätzt ihn zwischen 22 und 4 Uhr.“ „Dann sollte klar sein, dass wir nichts damit zu tun haben“, sagte der Agent. „Nachdem wir über das Verschwinden von Connor informiert wurden, wurde unser Haus von zwei Agenten beobachtet. Ich denke, die hätten mitbekommen, wenn wir das Haus verlassen hätten.“ „Möglich, aber wenn man will, kann man einen Weg finden. Sie als FBI Agent kennen da sicher einige Methoden.“ Pierce schlug sein Notizheft zu. „Hören Sie, Sie stehen nicht unter Anklage. Wir müssen uns trotzdem alles Offen halten und dazu ist es notwendig zu wissen, was Sie gestern getan haben. Momentan häufen sich die Zufälle…“ „Was meinen Sie jetzt damit?“, wollte Starling wissen. „Zählen Sie doch die Fakten auf: Connor hat Freigang und verschwindet. Am gleichen Abend findet am College eine Veranstaltung statt bei der sowohl Ihre Tochter als auch Mr. Weston anwesend sind. In das ehemalige Haus der Westons zieht eine neue Familie ein und Ihre Tochter freundet sich mit beiden Söhnen an.“ „Ich verstehe was Sie meinen“, murmelte der Agent. „Warum wurde er erst heute Morgen gefunden?“ Pierce sah zu dem nickenden James. „Mr. Riemer gibt an, dass Connor gestern Abend nicht zurück nach Hause kam. Allerdings konnten wir auch keine Einbruchsspuren finden. Möglich, dass irgendwo ein Ersatzschlüssel versteckt gewesen ist, aber wie dem auch sei, Fakt ist, dass Connor irgendwie in das Haus kam.“ „Und jetzt erzählen Sie mir, was Sie uns verschweigen.“ Pierce runzelte die Stirn. „Sagen Sie es ihm“, kam es von James. „Wir haben Schlaftabletten neben Connors Leiche gefunden. Der Bericht aus der Gerichtsmedizin liegt noch nicht vor. Es sieht alles nach einem Selbstmord aus. Außerdem…wurde Mr. Weston im Verlauf des gestrigen Abends überfallen. Er liegt mit einer Stichverletzung im Bein im Krankenhaus.“ „Sie glauben, dass es Connor war?“ „Ehe er das Bewusstsein komplett verloren hat, nannte er diesen Namen.“ „Haben Sie Weston schon befragt?“, wollte Starling wissen. „Noch nicht. Aber wir fahren gleich hin.“ „Ich komme mit.“ „Das halte ich für keine gute Idee“, entgegnete James. Pierce stand vor dem Krankenzimmer des Fotografen. „Irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse?“, wollte er von dem Agenten vor der Tür wissen. „Nein, Sir. Alles ruhig.“ „Danke. Machen Sie ruhig Pause.“ Pierce ging in das Krankenzimmer und sah sich um. „Mr. Weston“, fing Fries an. „Wir sind froh, dass Sie die Operation gut überstanden haben und sich in der Lage fühlen mit uns zu sprechen.“ Tom nickte. „Was kann ich für Sie tun?“, wollte er leise wissen. Pierce zog sein Notizheft heraus. „Mr. Weston, bitte erzählen Sie uns was gestern Abend passiert ist. Fangen wir doch am besten mit der Führung im Fachbereich Fotografie an.“ „Wie Sie wahrscheinlich wissen, wurde ich zu einer Informations-Veranstaltung an Ambers ehemaliger Schule eingeladen. Es ging darum, den Schülern von meinem Beruf zu erzählen. Um es etwas spannender und interaktiver zu gestalten, konnte ich den Bereichsleiter der Fotografie überzeugen drei Schülern eine Führung zu gewähren. Wir haben die Schüler ausgelost und uns am Freitag mit Ihnen getroffen. Gegen 17 Uhr hatte ich noch etwas zu tun und war in meinen Büroräumen im College. Um etwa 19 Uhr bin ich dann zu der Führung dazu gestoßen“, antwortete er. „Gegen halb neun ist Jodie Starling nach draußen gegangen. Sie war eine…Freundin von Amber. Weil es ihr nicht gut ging, bin ich ihr nach draußen gefolgt. Ich schlug ihr vor, dass ich sie nach Hause fahre. Nachdem das mit Amber passiert ist, machte ich mir um sie Sorgen, aber sie wurde bereits von einem fremden Jungen abgeholt.“ „Danach sind Sie wieder zurück gegangen?“ „Ja, aber die Führung dauerte nicht mehr lange. Als sie vorbei war, bin ich wieder in meine Räume gegangen. Es war zwar spät, aber ich wollte noch ein paar Fotos bearbeiten, damit ich einen freien Samstag habe.“ Er schluckte und sah zur Seite. „Geht es, Mr. Weston?“, wollte Fries wissen. „Ja…entschuldigen Sie…das ist doch etwas viel für mich“, murmelte er. „Schon gut. Erzählen Sie uns einfach wieso es möglich ist, dass Sie noch so spät abends arbeiten können.“ „Es sind keine Schließzeiten vorgeschrieben. Wenn man länger Zeit braucht, dann wird das akzeptiert. Gegen 23 Uhr macht der Nachtwächter seine erste Runde und überprüft die Räume. Wir haben uns kurz unterhalten, danach ist er weiter und ich machte meine Arbeit. Eine halbe Stunde später, klopfte es wieder an der Tür. Ich war zwar überrascht, aber ich hab mir einfach nichts dabei gedacht. Als ich die Tür geöffnet habe, sah ich eine schwarze Gestalt. Ich wollte die Tür zuschlagen, aber er stand schon mit dem Fuß drin.“ „Haben Sie den Angreifer erkannt?“ „Ja“, entgegnete der Fotograf. „Er sagte die ganze Zeit über Ich hab Amber nicht umgebracht. Ich war es nicht. Ich wollte, das er geht und drohte, die Polizei zu rufen. Ich wusste ja, dass er für diesen Tag Freigang bekam, aber es hieß, dass er um 19 Uhr wieder zurück wäre. Für die Führung hab ich mein Handy ausgeschaltet und vergessen es wieder an zu machen. Als Connor merkte, dass ich nicht mit ihm reden wollte, stieß er mich nach hinten. Wir rangelten und dann spürte ich ein Stechen im Bein. Er sagte noch: Keiner versteht mich. Als er bemerkte, was er getan hat, lief er raus und schlug dabei die Tür zu. Ich bin vor Schmerz bewusstlos geworden. Als ich meine Augen öffnete, sah ich den Notarzt und danach bin ich hier aufgewacht.“ „Und Sie sind sich sicher, dass es Connor Riemer war?“ Tom nickte. „Ich habe mir seit damals sein Gesicht eingeprägt. Er ist es gewesen.“ Er stockte. „Oh Gott, Sie müssen sofort zu den Starling. Das Mädchen könnte in Gefahr sein. Wer weiß, was Connor vor hat.“ „Machen Sie sich darum keine Sorgen“, sprach Pierce. „Connor wird weder Ihnen noch Jodie etwas tun.“ „Sie haben ihn gefasst?“ „Wie man es nimmt. Wurde Connor bei der Rangelei verletzt?“, wollte Pierce wissen. „Ich weiß es nicht. Ich stieß ihn weg, vielleicht hat er die ein oder andere Beule am Kopf…darum hab ich mich in dem Moment nicht gekümmert.“ „Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?“ Tom überlegte und schüttelte den Kopf. „Nein…sonst war alles wie immer. Was passiert jetzt mit Connor?“ Die Agenten schwiegen. „Bitte…ich muss es wissen.“ „Connor ist tot.“ Weston blickte schockiert drein. „Nein…das kann doch nicht…das ist nicht fair…er muss doch für Ambers tot…das ist nicht fair…verdammte Scheiße…“ Kapitel 20: Angst ----------------- Jodie schlurfte in den Flur und hing ihre Jacke an die Garaderobe. Sie wusste, dass es nicht gut aussah. Wie der Agent sagte, lagen zu viele Zufälle vor und auch wenn sie die Schlaftabletten bei Connor fanden, glaubte keiner an seinen Selbstmord. Und das konnte nur eines heißen. Allein bei dem Gedanken bekam Jodie eine Gänsehaut. Sie wollte sich nur noch verkriechen und nicht mehr rauskommen. Hatte sich Connor im Gefängnis oder woanders Feinde gemacht? Oder war Amber der gemeinsame Nenner? Es gab genug Menschen, die Connor nicht mochten, aber war das Grund genug um ihn umzubringen? Jodie war verängstigt und hatte ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend. Warum war es ausgerechnet jetzt passiert? Sie war noch nicht einmal über die Ereignisse aus dem letzten Jahr hinweg gekommen und jetzt das. Was hatte sie verbrochen um so bestraft zu werden? Befand sich auf ihrem Rücken ein unsichtbares Tritt-mich-Schuld? „Ich geh nach oben in mein Zimmer“, sagte das Mädchen leise. „Jodie“, fing Angela an. Die Angesprochene sah zu ihren Eltern und schüttelte den Kopf. „Ich möchten gern etwas alleine sein. Ich weiß, ihr meint es nur gut, aber…“ Jodie brach den Satz ab. „…ich brauch jetzt etwas Zeit für mich.“ „Ist schon gut“, entgegnete ihr Vater. „Wir geben dir Bescheid, wenn wir etwas Neues erfahren.“ „Danke“, antwortete Jodie und rang sich ein gezwungenes Lächeln ab. Langsam ging sie die Treppen nach unten und betrat ihr Zimmer. Jodie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, ehe sie sich auf das Bett warf und ihr Gesicht im Kissen verbarg. Angela seufzte. „Was hast du jetzt vor?“ „Was meinst du?“, wollte Starling wissen. „Was sollte ich vor haben?“ „Ich kenne dich gut genug, mein Lieber. Ich sehe dir an, wenn du etwas Planst. Für mich bist du wie ein offenes Buch.“ „Ich muss unbedingt herausfinden, was mit Connor passiert ist. Aber ich kann Jodie unter diesen Umständen nicht unbeachtet lassen. Wir sind leider an einem Punkt angelangt, an dem es für Jodie nicht mehr ausreichend ist, wenn sie nur mit uns spricht. Deswegen rufe ich nun Akai an.“ Angela sah ihn überrascht an. „Du willst ihn wirklich anrufen?“ „Angela, ich bin nicht von gestern. Natürlich habe ich bemerkt, dass unsere Tochter bis über beide Ohren in ihn verliebt ist. Jodie braucht jetzt etwas Aufmunterung und Ablenkung und momentan ist er der einzige, der dazu in der Lage ist. Es reicht bestimmt aus, wenn sie ein paar Hausaufgaben machen oder Bewerbungen durchgehen.“ „Bewerbung durchgehen?“, wiederholte Angela. „Angela…was du wieder denkst…“ „Ich hab doch nichts gesagt“, entgegnete sie. „Ruf ihn an, ich seh trotzdem nach Jodie.“ Ehe der Agent etwas Sagen konnte, ging sie die Treppen nach oben und betrat Jodies Zimmer. Jodie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und setzte sich auf. „Mama…“ Angela setzte sich zu ihr aufs Bett. „Ich weiß, es ist schwer für dich und wahrscheinlich kann ich nichts sagen, was dich aufmuntern kann, aber ich will, dass du weißt, dass wir immer für dich da sind. Egal was passiert.“ „Das weiß ich doch“, murmelte Jodie. Angela strich ihrer Tochter über die Wange. „Ich weiß, du möchtest stark sein…das hast du von deinem Vater…aber es ist in Ordnung traurig oder verängstigt zu sein. Du musst das nicht vor uns verstecken.“ „Ich…ich weiß einfach nicht was ich machen soll, Mom“, gestand Jodie. „Ich dachte, es wäre endlich vorbei und ich würde Connor frühestens dann sehen, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird. Ich hätte nie gedacht, dass es dieses Ende nimmt…hat er sich wirklich selbst umgebracht oder wurde er umgebracht…und was ist, wenn es derjenige auch auf mich abgesehen hat? Ich hab so ein schlechtes Gefühl b ei der Sache…“ Angela nahm ihre Tochter in den Arm und strich ihr über den Rücken. „Connor hatte gestern Freigang“, kam es dann von Jodie. „Wir wussten nichts davon…was wäre denn gewesen, wenn ich ihn auf der Straße getroffen hätte? Vielleicht hat er mich auch den ganzen Tag beobachtet…Und…als er dann nicht zurück kam…vielleicht stand er vor unserem Haus, ehe er zu Mr. Weston gegangen ist.“ Jodie schluckte. „Wahrscheinlich hat er mich auch bei der Führung am College gesehen…oder…“ „Ganz ruhig, Jodie…du zitterst ja“, sagte Angela und drückte sie an sich. „Er war nicht hier. Du hast sie doch im Büro gehört. Nachdem klar war, dass Connor verschwunden ist, haben Agenten unser Haus beobachtet. Sie hätten ihn bemerkt…außerdem hat dein Vater die ganze Nacht unten Wache gehalten. Dir droht keine Gefahr.“ „Und…wenn es doch Mord war?“, wollte Jodie wissen. „Dann finden sie denjenigen, der es getan hat. Aber…?“ „Wenn der eigene Sohn als Mörder verurteilt wird, haben es die Eltern nicht leicht. Er durfte nur wegen dem Geburtstag seines Vaters das Gefängnis verlassen. Mit aller Wahrscheinlichkeit ist bei der Familie niemand zu Besuch gekommen oder Connor erlebte mit, wie die Familie ausgegrenzt wird. Vielleicht wollte er es seinen Eltern einfach nur leichter machen.“ Jodie schluckte. „Das wäre…möglich, aber…erinnerst du dich, was Connor damals gesagt hat? Er hat eine fremde Person vor Ambers Haus gesehen und war der Meinung, dass dieser Mann Amber umbrachte. Was wenn…er jetzt von eben diesem auch umgebracht wurde?“ „Ach Jodie.“ Angela sah sie an. „Du machst dir einfach zu viele Gedanken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es so ist.“ „Ich hab trotzdem Angst.“ „Ja, ich weiß. Aber du musst wirklich keine Angst haben. Ruh dich etwas aus, ja?“ Shuichi lag auf dem Sofa in seiner Wohnung. Ein aufgeschlagenes Buch befand sich auf seinem Bauch, während die Augen des Studenten geschlossen waren. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt die Energieerhaltung in einem thermodynamischen System. Er sagt aus, dass die Energie in einem abgeschlossenen System konstant ist. In dem geschlossenen System entspricht die Summe der inneren und äußeren Energie der Summe, der am System verrichteten oder entnommenen Arbeit und Wärme. Damit lassen sich Energien ineinander umwandeln. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik gibt die Richtung von Prozessen an und erlaubt die Herleitung der thermodynamischen Temperatur und der Entropie. Wärme kann nicht von alleine von einem Körper mit niedriger Temperatur auf einen Körper mit höherer Temperatur übertragen werden. Alle spontan ablaufenden Prozesse sowie Prozesse bei denen Reibung stattfindet, sind irreversibel. In einem geschlossenen System kann die Entropie nicht geringer werden. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt, dass der absolute Nullpunkt der Temperatur nicht erreicht werden kann. Nicht zu vergessen, der nullte Hauptsatz. Er besagt, dass wenn sich System eins mit System zwei im Gleichgewicht befindet, und System zwei im Gleichgewicht mit System drei steht, System eins und System drei auch im Gleichgewicht liegen, sagte Shuichi sich selbst. Er öffnete die Augen und nahm das Buch wieder zur Hand. Das Thema war leicht und bisher kam er mit dem Lernen sehr gut voran. Als sein Handy klingelte, setzte sich der Student auf. Er strich über den Bildschirm und nahm das Gespräch entgegen. „Akai.“ „Hier ist Starling. Es geht um Jodie.“ „Ist irgendwas passiert?“ „Hast du heute schon Zeitungen oder Nachrichten im Internet gelesen?“ „Bin noch nicht dazu gekommen.“ Shuichi verengte die Augen. „Um was geht es?“ Starling fuhr mit der Maus über einen Artikel und klickte ihn an. „Connor, der Junge der wegen Mord an Amber Weston verurteilt wurde, durfte gestern seine Familie besuchen.“ „Was? Weiß Jodie davon? Hat er ihr etwa aufgelauert?“ Shuichi stand auf. „Wir haben erst gestern Abend davon erfahren, als Connor nicht zurück ins Gefängnis kam.“ Starling seufzte. „Heute Morgen wurde Connor tot aufgefunden.“ „Er ist tot?“ Shuichi trat an sein Fenster. „Wurde er ermordet?“ „Das ist noch unklar“, antwortete der Agent. „Man hat uns zum Verhör ins Büro gebeten. Jodie hat das alles ziemlich zugesetzt.“ „Ich bin unterwegs“, entgegnete Shuichi und ging in den Hausflur wo er in seine Schuhe. „Danke. Den Rest erzähle ich dir sobald du da bist.“ Starling legte auf und sah wieder auf seinen Computer. Connor war nicht nur in vollem Munde, es gab auch mehrere Spekulationen zu seinem Tod. Starling runzelte die Stirn. Das konnte noch heiter werden. Mittlerweile saß Jodie an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Unglücklicherweise landete sie immer wieder mit ihren Gedanken bei Connor. Nachdem Jodie ihren Computer hochfuhr, suchte sie im Internet nach den neusten Meldungen. Obwohl die Tat erst vor wenigen Stunden öffentlich wurde, wimmelte es bereits von Einträgen. Einige waren froh, dass Connor nicht mehr am Leben war, andere gaben ihr die Schuld und wie es im Internet üblich war, begann die Hasstirade gegen sie. Jodie seufzte leise und schaltete den Computer wieder aus. Sie marschierte wieder zu ihrem Bett, legte sich hin und starrte an die Decke. Hört das nie auf? Als es an der Zimmertür klopfte, sah Jodie zu dieser. „Herein.“ Shuichi öffnete die Tür und trat ein. Jodies Augen weiteten sich. „Shuichi.“ „Hey.“ Jodie setzte sich mit einem Mal auf. „Was…was machst du denn hier?“, wollte sie wissen. Akai sah sie fragend an. „Das hört sich fast wie ein Vorwurf an. Soll ich lieber gehen?“ „Nein.“ Jodie stand vom Bett auf und richtete die Bettdecke. „Ich hab nicht gewusst, dass du heute…her kommen wolltest…“ „Dein Vater hat mich über die Ereignisse informiert. Deswegen bin ich hergekommen.“ Jodie kamen die Tränen. „Ach Dad…“, wisperte sie leise und umarmte Shu einfach. Der Student zuckte überrascht zusammen, drückte sie dann aber an sich. „Es ist alles in Ordnung“, sagte er. Jodie schüttelte den Kopf. „Nein…nichts ist gut…ich hab Angst…“ „Ich weiß. Connor kann dir nichts mehr tun.“ Er strich ihr sachte über das Haar. „Du glaubst nicht, dass er Selbstmord begangen hat?“ „Ich weiß es nicht“, murmelte sie. „Ich hab so ein ungutes Gefühl…es soll endlich aufhören…ich will doch nur in Ruhe leben…“ Jodie fing an zu weinen. „Es wird besser…irgendwann wirst du nicht mehr daran denken“, antwortete der Student. Er war noch nie gut darin eine andere Person zu trösten. Aber er gab sich Mühe. „Aber wann? Es ist jetzt über ein Jahr her…und immer wenn ich das Gefühl hab, dass es vorbei ist, fängt es wieder an.“ Jodies Beine gaben nach. Sie glitt mit Shuichi auf den Boden. Die Geschichte wurde immer wieder an die Oberfläche geholt. Wie hatte sie überhaupt eine Chance um damit abzuschließen. Jodie hielt sich an ihm fest. „Ich bin…froh, dass du hier bist…“ „Ich auch“, antwortete Akai ruhig. „Und jetzt weine nicht.“ „Ich versuchs…“, murmelte Jodie. „Ich will euch keine Sorgen bereiten…aber was soll ich machen? Ich kann es nicht verdrängen. Nicht in dieser Phase.“ Er nickte. „Das versteh ich und deine Eltern auch. Das FBI arbeitet doch auch schon auf Hochtouren.“ „Wahrscheinlich hast du recht“, kam es von Jodie. „Wir waren ja auch beim Verhör im Büro…und gestern hielten auch schon Agenten Wache vor unserem Haus.“ „Na siehst du? Sie setzen alle Hebel in Bewegung um die Wahrheit ans Licht zu holen.“ Jodie nickte. „Ja, das stimmt.“ Shuichi sah zu ihr nach unten. „Geht’s dir wieder besser?“ Das Mädchen nickte. „Ja…danke…“ „Wenn du dich hier nicht mehr sicher fühlst, kann ich ein paar Nächte bleiben oder du kommst zu mir mit…oder zu meiner Familie. Sie haben bestimmt nichts dagegen, wenn du dort übernachtest. Andererseits würdest du durch Masumi kein Auge zu machen.“ „Du meinst, ich könnte…“ „Ich sehe keinen Grund, warum es nicht gehen sollte“, antwortete er. „Aber das ist…Ambers altes Haus“, wisperte Jodie. „Ich wollte damit nicht sagen, dass ich etwas gegen deine Familie habe…es ist nur so, ich…“ „Ist schon gut“, sprach der Student. „Dir macht keiner einen Vorwurf.“ „Danke…“ „Hast du noch Schulaufgaben zu machen?“ Jodie sah irritiert zu ihm hoch. „Ja, schon, aber…meine Konzentration…ich kann an nichts anderes denken…“ Shuichi beugte sich zu ihr runter und küsste sie kurz. „Jetzt besser?“ Jodie wurde rot. „N…nein…“ „Nicht?“ Er sah sie überrascht an. Shuichi schmunzelte. Ein weiteres Mal trafen ihre Lippen aufeinander, diesmal leidenschaftlicher als zuvor. „Und jetzt?“ „N…nein…“, wiederholte sie leise. „Jetzt…frag ich mich wieder…wie es…mit uns weiter geht…und…“ „Und?“, wollte er wissen. „Wieso wieder?“ „Äh…vergiss was ich gesagt hab“, murmelte die Schülerin. „Ich…“ Shuichi musste schmunzeln und hob Jodie hoch. „Shu…“, stieß sie erschrocken aus. „Was ist?“, wollte er mit einem Lächeln auf den Lippen wissen. „Komm mir jetzt nicht damit, dass du zu schwer sein solltest. Das ist definitiv nicht der Fall.“ Daran dachte ich auch nicht, sagte Jodie zu sich selbst. Ihr Gesicht glühte als sie von Shuichi auf das Bett gelegt wurde. „Versuch etwas zu schlafen, ich bleib hier und pass auf dich auf.“ Kapitel 21: Offenlegung ----------------------- Nachdem Jodie endlich zu Ruhe gekommen und eingeschlafen war, kam Shuichi die Treppe nach unten. Sogleich betrat er das Wohnzimmer und blickte nachdenklich auf Angela. Angela legte ihr Handy auf den Tisch und sah zu Shuichi. „Da bist du ja wieder“, fing sie an. „Geht es Jodie ein wenig besser?“, wollte sie wissen. „Einigermaßen. Sie schläft jetzt. Wissen Sie wo sich Ihr Mann gerade aufhält? Ist er noch hier?“ „Du findest ihn in seinem Arbeitszimmer. Du weißt ja, wo es ist.“ Akai nickte. „Danke.“ Er lächelte ein wenig. „Jodie wird es bald wieder besser gehen.“ „Das wird es…bestimmt“, murmelte Angela. Irgendwann würde die Zeit alle Wunden heilen. Shuichi ging wieder aus dem Raum und trabte die Treppenstufen nach oben, wo er das Zimmer aufsuchte. Nachdem er zum Eintreten aufgefordert wurde, öffnete der Student die Tür. „Können wir reden?“, fragte Akai nach. Agent Starling saß an seinem Schreibtisch und blickte auf den Computer-Monitor. Mit der Maus klickte er auf eine elektronische Akte und begutachtete ihren Inhalt kritisch. Bereits während der Ausbildung zum FBI Agenten in Quantico wurde er darauf getrimmt nicht an Zufälle zu glauben. Und sobald sie sich häuften, sollte man sie erst recht hinterfragen. Starling runzelte die Stirn. Alle Zufälle waren viel zu gut aufeinander abgestimmt. Aber was bedeutete das wirklich? Hatte Connor Recht und der Mord an Amber wurde tatsächlich von der unbekannten Person verübt? Bereits vor der Urteilsverkündung stand Fremdeinwirkung im Raum, vor allem weil das FBI nicht jede Person aufspüren konnte, mit der Amber im Internet zugange war. Und da war immer noch der Mann, der das Haus der Westons beobachtete. Jene Person die Connor zweimal sah. Genau wie die beiden Personen aus dem Internet, verschwand auch dieser. Das plötzliche Verschwinden aller drei Personen machte sie verdächtig. Aber da alle Beweise gegen Connor vorlagen und der Staatsanwalt Anklage erheben musste, wurden die Ermittlungen abgeschlossen. Oder hatten die Kollegen nicht richtig ermittelt, weil der Fall wasserdicht war? Die ganze Zeit wollten sie alle an Connors Schuld glauben und nahmen in Kauf, dass ein Mörder frei herum lief. War Connor deswegen nach über einem Jahr ermordet worden? Wurde er zur Gefahr für den wahren Täter oder hielt es der Junge einfach nicht mehr aus? So viele Fragen waren noch offen und das FBI sah tatenlos zu. Auch wenn jetzt die Packung mit den Schlaftabletten neben Connor gefunden wurde und der Fall beinahe gelöst war, wollte er nicht den gleichen Fehler machen. Starling hob den Blick. „Entschuldige, ich war in Gedanken. Setz dich doch bitte.“ Er wies auf den freien Stuhl vor seinem Tisch. Shuichi schloss die Tür und nahm Platz. „Danke, dass Sie mich informiert haben“, fing er an. „Ich war bei Jodie. Sie hat das alles sehr mitgenommen, aber es geht ihr wieder den Umständen entsprechen. Sie braucht Zeit zum Verarbeiten. Ihre Tochter bedeutet mir viel, deswegen erzählen Sie mir bitte alles, was es zu diesem Mord an Connor zu wissen gibt. Ich möchte keine Überraschungen erleben.“ Der Agent beobachtete Shuichi. „Wieso interessiert dich der Fall so sehr? Liegt es nur an Jodie?“ „Natürlich ist Jodie auch ein Faktor. Aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass mehr dahinter steckt. Und…ich will vorbereitet sein, falls es Jodie als nächstes Treffen sollte.“ Starling verengte die Augen. „Wie kommst du darauf, dass Jodie die Nächste ist?“ „Ist es nicht offensichtlich?“, konterte Akai. „Zuerst wird Jodie im Auftrag von Amber von Connor entführt. Dann stirbt Amber und Connor wird verhaftet und wegen Mord verurteilt. Über ein Jahr später stirbt Connor. Die Medien berichteten von Selbstmord und andere schrieben darüber, dass er ein sehr zuvorkommender Häftling war. Sie müssen zugeben, nach allem was bisher bekannt ist, könnte man nun auf den Gedanken kommen, dass Jodie in Gefahr ist.“ Starling seufzte. „Du siehst es also auch…“ „Ich weiß nur nicht, warum der Täter über ein Jahr gewartet hat.“ Shuichi verschränkte die Arme. „Spätestens jetzt sollten Sie mir alles erzählen.“ Agent Starling nickte. „Was ich dir jetzt erzähle, ist vertraulich. Du darfst es keiner Menschenseele erzählen, auch nicht deinen Eltern.“ „Ich verspreche es.“ „Unsere Ermittlungen begannen vor über einem Jahr als Jodie verschwunden ist und Amber tot aufgefunden wurde. Vieles haben wir vor der Presse geheim halten können.“ Agent Starling rief eine weitere Akte auf dem Computer auf. „Als Jodie damals über Nacht nicht nach Hause gekommen ist, verdächtigten wir sofort Amber. Amber hatte damals einen sehr schlechten Einfluss auf Jodie. Die beiden Mädchen schwänzten die Schule, machten keine Hausaufgaben und wie wir später erfuhren, trieben sie sich in verschiedenen Chaträumen herum. Jodie hatte schon einmal versucht von zu Hause abzuhauen um sich mit Amber zu treffen. Da war es natürlich verständlich, dass wir auch dieses Mal davon ausgingen, dass sie bei ihr ist. Wir fuhren zum Haus der Westons und sprachen mit Amber, die aber ihre Unschuld beteuerte. Im Nachhinein wissen wir, dass Amber uns anlog. Ich hatte zwar die ganze Zeit gehofft, dass Jodie von Amber versteckt wird, ahnte aber, dass mehr dahinter steckte. So bat ich das FBI – über meinen Kollegen James Black – die Suche nach Jodie anzustoßen. In meinem Beruf macht man sich viele Feinde und man weiß nie, ob sie es nicht auf die eigene Familie abgesehen haben. Während wir also immer noch auf ein Lebenszeichen unserer Tochter warteten, wurde die Leiche von Amber gefunden. Die Agenten hatten sie zuvor befragt und warnten sie auch davor alleine raus zu gehen. Leila, Ambers Mutter, sagte aus, dass es Amber nicht interessierte und sie trotzdem zum Joggen rausging. Amber wurde dann im Waldstück gefunden. Daraufhin wurde Agent Pierce an den Tatort gerufen. Glücklicherweise konnte eine Vergewaltigung frühzeitig ausgeschlossen werden. Da sich ihr Zweithandy noch bei ihr befand, war auch keine Rede von einem Raub. Wir konnten zudem keine Spuren finden, die auf einen Kampf hinwiesen. Daher gingen wir davon aus, dass sie ihren Mörder kannte. Unter Ambers Fingernägeln wurden Hautpartikel gefunden, die letzten Endes Connor zugeordnet werden konnten. In der Zwischenzeit wurde die Familie Riemer von Agent Fries befragt. Durch einen Zufall hat sie im Keller der Familie Jodie finden können. Unter Zugzwang gestand Connor, dass er im Auftrag von Amber handelte. Sie ließ ihn glauben, dass Jodie uns einfach nur reinlegen wollte. Er gab auch zu, dass Amber ihn gekratzt hat. Unglücklicherweise brach ihm dieser Sachverhalt vor Gericht das Genick. Alle gingen davon aus, dass Amber und Connor auch eine sexuelle Beziehung teilten und er sie vorher würgte.“ „Davon habe ich in der Zeitung gelesen“, entgegnete Shuichi. „Weil Amber die Entführung in Auftrag gab, gingen viele Medien davon aus, dass sie es beim Sex ruppiger mochte und schließlich erstickte.“ „Das ist korrekt“, sprach Starling. „Connor beteuerte bei der Befragung seine Unschuld. Er erzählte immer wieder von einer fremden Person die er vor dem Haus der Westons gesehen hat. Er konnte diese Person aber nicht beschreiben und so dachten viele, dass es ein Hirngespinst war. Wir haben Ambers Computer beschlagnahmt und bei der weiteren Untersuchung ein Tagebuch gefunden. Amber gab zu, dass sie sich in mehreren Internetportalen anmeldete und auch Jodie dazu brachte sich dort anzumelden. Es handelte sich hauptsächlich um Chats zu fremden Männern die mehr wollten als reden.“ Starling schluckte. „Viele Männer befanden sich zu diesem Zeitpunkt in anderen Beziehung. Es war schrecklich zu hören, dass Jodie dort mitmachte. Glücklicherweise zog Jodie aber früh die Notbremse und beendete die Gespräche. Aber das hielt Amber nicht auf. Sie meldete sich einfach unter Jodies Internetpseudonym an und führte die Chats fort. Letzen Endes fanden wir heraus, dass sich Amber mit mehreren Männern im Hotel traf. Sobald diese auf das Zimmer kamen und sich auszogen, verschwand Amber mit einer Kamera.“ „Sie wollen sagen, dass Amber die Zimmer vorher mit einer Kamera ausstattete und die Männer dann erpresse?“ „So war es“, nickte Starling. „Manchmal wollte sie Geld, in anderen Fällen eine neue Handtasche.“ „Gab sie sich danach zufrieden?“ „Nein. Sie machte die Männer ausfindig und steckte den Freundinnen was fast passiert wäre. Unsere Techniker haben fast alle Männer aus den Chats ausfindig gemacht. Sie und ihre Freundinnen oder Ehepartner wurden befragt. Alle haben ein Alibi. Zwei Männer sind allerdings wie vom Erdboden verschluckt. Einer besaß eine wechselte IP-Adresse und war seit seinem Treffen mit Amber nicht mehr in den Portalen unterwegs. Wir konnten die Adresse bis zu einem Bürokomplex verfolgen, aber keinen Mitarbeiter als Chatpartner ausmachen.“ „Und die andere Person?“, fragte Akai. „Das ist schon schwieriger“, murmelte der Agent. „Unsere zweite Person besaß ebenfalls eine wechselte IP-Adresse. Wir haben versucht den Standort einzugrenzen, allerdings führte uns das in verschiedene Städte und Länder. Es wird sogar noch komplizierter, da die jeweiligen IP-Adressen entweder zu Hotels oder Internetcafés führten.“ „Ich verstehe“, sagte Shuichi leise. „Person zwei nutzte also das Versteck in der Öffentlichkeit. Somit haben wir nun theoretisch drei Männer: Zwei Internetbekanntschaften und den Fremden vor dem Haus. Wir können aber auch nicht ausschließen, dass eine Internetbekanntschaft Ambers Wohnort herausfand.“ Starling nickte. „Und wir haben keine Möglichkeit um diese Personen ausfindig zu machen.“ „Ich verstehe“, murmelte Shuichi. „Was wissen Sie über den jetzigen Fall mit Connor?“ „Connors Vater feierte gestern seinen 50. Geburtstag. Zu diesem Anlass durfte Connor den Tag bei seiner Familie verbringen. Der Tag verlief ohne Probleme. Mr. Riemer brachte seinen Sohn zurück und fuhr los. Danach verläuft sich die Spur und Connor wurde am Morgen in seinem Zimmer aufgefunden. Neben ihm lag eine Packung Schlaftabletten.“ „Konnte rekonstruiert werden, was in den Stunden dazwischen passiert ist?“ „Teilweise“, antwortete Starling. „Connor soll sich auf den Weg zum College gemacht haben, wo er auf Tom Weston traf. Weston gab an, dass Connor nur seine Unschuld beteuerte. Die Beiden rangelten, woraufhin Connor ihm ein Messer in das Bein ragte und weglief. In der Zwischenzeit wurde die Familie über Connors Abwesenheit im Gefängnis informiert und auch wir fingen an, ihn zu suchen. Keiner weiß, wann oder wie Connor ins Haus kam. Die Spurensicherung geht davon aus, dass entweder die Terrassentür oder ein Fenster offen war. Mrs. Riemer nimmt seit der Verhandlung Schlaftabletten. Diese könnte Connor gefunden und selbst genommen haben. Die Gerichtsmedizin arbeitet noch daran.“ „Ich verstehe.“ Shuichi wirkte nachdenklich. „Er hat also Weston ins Bein gestochen. Woher stammte das Messer?“ „Wissen wir noch nicht. Der Notarzt konnte anhand der Blutmenge am Boden bestätigen, dass Weston in der Nacht angegriffen wurde.“ „Tom Weston hat doch diese College-Führung für Jodie organisiert, nicht wahr?“ Agent Starling nickte. „Wieder so ein Zufall.“ „Bekanntlich lügen Beweise nicht, aber sie können manipuliert sein.“ „Und in unserem Fall sehen die Beweise ein wenig zu gut aus“, entgegnete der Agent. „Ich bin wirklich froh, dass du Jodie gestern Abend nach Hause gefahren hast. Ich will gar nicht wissen, was passiert wäre, wenn Jodie auf Connor getroffen wäre.“ „Ich weiß, was Sie meinen. Weston wollte Jodie nach Hause fahren. Falls Connor die Beiden zusammen gesehen hätte, hätte es übel enden können.“ Starling schluckte. „Zum Glück hattest du gestern Abend noch die Vorlesung.“ „Ich hatte keine“, gestand der Student. „Shukichi erzählte mir von Weston und dass Jodies Name gezogen wurde. Mein Bauchgefühl sagte mir bereits gestern Abend, dass irgendwas im Busch ist.“ Der Agent schüttelte sich kurz. „Ich will mir nicht ausmalen, was gestern hätte alles passieren können. Allerdings sieht es momentan so aus, dass der Fall als Selbstmord abgeschlossen wird. Außer wir finden Beweise die etwas anderes Sagen.“ „Wissen Sie, was ich merkwürdig finde? Nach Ambers Tod vergingen Monate in denen die Verhandlung vorbereitet wurde. Wenn wir von einem anderen Täter ausgehen, frage ich mich, warum er erst jetzt zuschlägt.“ „Vielleicht sollte keine Verbindung auftauchen. Und wenn Connor etwas Passiert wäre, hätte das FBI wegen Mord an Amber ermittelt.“ Starling lehnte sich nach hinten. „Ich setzte mich gleich mit Connors Anwalt in Verbindung. Vielleicht hat er neue Erkenntnisse für uns.“ „Die Sache gefällt mir nicht“, murmelte Shuichi. „Mir auch nicht. Wir haben schon damals nicht daran geglaubt, dass Connor Amber ermordet hat. Allerdings sprechen die Beweise eine andere Sprache. Hätte es nicht so schnell eine Anklage gegeben, hätten wir sicher in alle anderen Richtungen ermittelt. Aber Connors Tod…“ „Glauben Sie, dass es Weston war?“ „Das kann ich dir nicht sagen“, sprach Starling. „Ich kenne den Mann so gut wie gar nicht. Wir haben uns bei der Verhandlung das erste Mal unterhalten und dann nicht mehr gesehen. Natürlich ist Rache ein Motiv und wir werden der Sache nachgehen. Es ist nicht auszuschließen, dass es nur ein Unfall war, falls Connor bei der Rangelei stürzte und falsch mit dem Kopf aufkam.“ „Mhm…was ist mit Ambers Mutter?“ „Nein“, schüttelte Starling den Kopf. „Ihr trau ich keinen Mord zu. Nicht einmal aus Rache. Leila ist nach dem Tod von Amber weggezogen.“ „War sie zu ihrem Todestag wieder hier?“ „Das kann ich dir nicht sagen. Gesehen habe ich sie nicht, allerdings ist Leila eine zierliche Frau. Wie sollte sie Connor in sein Zimmer bringen?“ „Das sind gute Argumente“, murmelte Shuichi. „Ich würde mich gerne mehr auf Tom Weston fokussieren.“ Starling sah ihn fraglich an. „Ich weiß nicht, was es ist, aber irgendwas stört mich ganz gewaltig an dem Mann.“ Kapitel 22: Spurensuche ----------------------- Agent Starling lehnte sich nach hinten und schloss für einen Moment die Augen. Von Entspannung konnte keine Rede sein. Selbst den laufenden Fernseher blendete er aus. Wäre er gefragt worden, was sie sahen, würde er keine Antwort geben können. Auch die Wohnzimmercouch war in diesem Moment unbequem. Starling öffnete seine Augen und blickte in die Richtung ihres Flurs. So weit war es bereits gekommen. Er fühlte sich in seinem eigenen Haus unwohl. „Schatz, jetzt lass doch die ständigen Blicke“, kam es von Angela. Sie lehnte sich an ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Jodie ist in Sicherheit.“ Starling seufzte. „Ich weiß“, murmelte er. „Es ist nur die ganze Situation und dann ist auch noch…“ „Ach Liebling“, unterbrach sie ihn. „Jodie und Shuichi schauen sich oben in ihrem Zimmer nur eine DVD an. Da wird schon nichts passieren. Und du hast mir doch erzählt, dass er diesen japanischen Kampfsport macht. Kung…mhm…wie hieß es nochmal…“ „Jeet Kune Do“, gab Starling von sich. „Genau, das meinte ich. Wenn was passiert, wird er sie schon beschützen. Und du bist dann ja auch noch da.“ „Mhm…“ Starling wirkte nicht überzeugt. „Es ist das erste Mal, dass Jodie über Nacht männlichen Besuch hat.“ Angela sah ihn irritiert an. „Was glaubst du, was die Beiden tun werden? Unser Zimmer liegt auf der gleichen Etage und die Beiden müssten sich doch dauernd sorgen, dass wir etwas mitbekommen. Außerdem kennt Shuichi doch den Ernst der Lage und wird heute Abend sicher nicht daran denken.“ „Aber…“ „Kein Aber. Du hast mir doch selbst gesagt, dass Jodie langsam erwachsen wird. Natürlich macht sie dann auch ihre eigenen Erfahrungen und wir sollten ihr nicht im Weg stehen. Und besser sie ist hier, als das sie sich wieder raus schleicht…wie damals.“ „Ich weiß.“ „Du bist immer noch nicht überzeugt, nicht wahr?“ Es war so typisch. In der Theorie konnte sie ihre Erfahrungen machen, aber kaum wurde alles real, begleitete ihn die Sorge. „Jodie ist halt mein kleines Mädchen“, antwortete Starling. „Das wird sie auch immer bleiben. Jodie kennt ihn doch noch gar nicht so lange. Bis auf einen kleinen Kuss ist da noch gar nichts passiert. Du solltest auch nicht vergessen, dass unsere Jodie gerade andere Sorgen hat. Und wenn du dir trotzdem Sorgen machst, kannst du ja alle fünf Minuten in ihr Zimmer stürzen.“ Angela musste kichern. „Sie haben sich geküsst?“ Seine Frau kratzte sich verlegen an der Wange. „Stimmt ja…hab ich dir gar nicht erzählt.“ Angela sah ihren Mann entschuldigend an. „Das war keine Absicht und kurz darauf erfuhren wir ja auch von der Sache mit Connor. Und bevor du gleich wütend wirst, vergiss nicht, wir mögen den Jungen.“ Der Agent seufzte. „Wenn ich das gewusst hätte…“ „Dann hättest du was getan? Ihn rausgeworfen?“ „Ich weiß es nicht.“ Der Agent löste sich von seiner Frau und stand auf. „Und jetzt? Willst du nach den Beiden sehen?“ „Es tut mir leid, Angela, aber mir ist wohler, wenn ich sehe, dass bei Jodie alles in Ordnung ist.“ Angela schüttelte lachend den Kopf. Manchmal war ihr Mann dickköpfig und unbelehrbar. „Falls sie fragt, ich hab versucht es dir auszureden.“ „Angela…“ Starling seufzte und ging in den Flur. Shuichi kam ihm auf den Treppen entgegen. „Alles in Ordnung bei Jodie?“ Akai nickte. „Wir haben nach dem Abendessen ein paar Hausaufgaben von Jodie gemacht und danach DVD geschaut.“ „Und jetzt schläft sie?“ „Ja“, antwortete Shuichi. „Ich würde heute Nacht gern bei Jodie bleiben und auf sie aufpassen. Morgen früh hole ich meinen Laptop und wir können die Beweise noch einmal durchgehen.“ Der Agent sah ihn überrascht an. „Du willst alle Beweise noch einmal durchgehen?“ „Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir etwas Übersehen haben.“ „Mhm…von mir aus. Ich werde Angela Bescheid geben, sie wird dir das Sofa vorbereiten.“ „In Ordnung.“ Shuichi fuhr nach dem Frühstück bei den Starlings nach Hause, duschte und holte seinen Laptop. Da Jodie am Montag eine wichtige Klausur schrieb, zog sie sich zum Lernen in ihr Zimmer zurück. Shuichis Rückkehr in das Haus ihrer Eltern bemerkte sie nicht. Der Student zog es auch vor gleich zur Sache zu kommen und suchte den Agenten in seinem Arbeitszimmer auf. Während Shuichi seinen Laptop hochfuhr, setzte Starling in der Küche eine Kanne frischen Kaffee auf. Shuichi gähnte. Die Nacht war kurz. Kaum lag er auf der Couch im Wohnzimmer, ließ er alle Informationen noch einmal Revue passieren. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass sie etwas Übersahen. Er wusste nur nicht was. Es musste nur Klick machen. Ein Hinweis, ein Wort, irgendwas und er würde sicher eine Idee haben, aber sein Kopf blieb leer. Shuichi stand auf und trat an das Fenster. Die Welt draußen sah friedlich aus – so als wäre nie irgendwas passiert. Aber die Wahrheit war anders. Menschen starben, entweder durch Unfälle, Krankheit oder Mord. Und letzteres galt es zu verhindern oder aufzuklären. Shuichi ballte die Faust. Das Leben war manchmal wirklich nicht fair, aber sie mussten das Beste daraus machen. Als Agent Starling wieder in den Raum kam, beobachtete er den Studenten skeptisch und stellte anschließend den Kaffee auf den Tisch. „Bedien dich ruhig“, sagte er. Shuichi drehte sich um und nickte. Er nahm wieder Platz. „Ist Jodie in ihrem Zimmer?“ „Ja, sie lernt für die Klausur morgen.“ „Verstehe…“ Shuichi schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und nippte an dieser. „Haben Sie in der Zwischenzeit irgendwelche Neuigkeiten von Ihren Kollegen erfahren?“ „Die Gerichtsmediziner haben eine Blutprobe von Connor einem Schnelltest unterzogen. Sie haben Spuren von einem Schlafmittel nachweisen können. Außerdem hatte er eine Beule am Hinterkopf.“ „Das spricht für den Selbstmord und die mögliche Rangelei mit Weston“, murmelte Shuichi. Agent Starling nickte. „Weitere Untersuchungen stehen noch aus.“ „Stellen wir das erst einmal hinten an. Mir lässt die Sache mit den Chatpartnern keine Ruhe. Wissen Sie, was aus denen geworden ist, die das FBI identifizieren konnte?“ „Man sollte meinen, dass diese aus ihrem Fehler lernen…als wir nach ihnen suchten, bewegten sie sich weiterhin in den Portalen. Ich kann mir vorstellen, dass viele immer noch dort sind.“ „Mhm…dann sind diese beiden Unbekannten eine Ausnahme. Andererseits ist es vollkommen normal, dass sie sich nicht mehr im Internet bewegen. Dennoch machen sie mich stutzig. Person A besitzt eine wechselnde IP-Adresse, was darauf schließen lässt, dass er einen alten Router besitzen muss. Allerdings verschwindet diese Person dann von der Bildfläche. Person B scheint überall auf der ganzen Welt aktiv zu sein…und das in der kurzen Zeit.“ „Am Anfang dachten wir, dass es sich bei Person B um einen Hacker handelt, der so tut, als wäre er überall auf der ganzen Welt sein. Unsere Techniker haben es zweimal überprüft und schätzten beide Male das System als sehr sicher ein.“ „Also jemand der viel Zeit hat oder viel reisen kann.“ Agent Starling nickte. „Sie haben doch bestimmt die genauen Orte, Hotels, was auch immer, eingrenzen können. Das möchte ich einmal durchgehen.“ „In Ordnung.“ Agent Starling fuhr mit der Computermaus über eine Datei und druckte den Inhalt aus. „Die erste Nachricht schickte Amber am 13. April. Er antwortete direkt darauf und befand sich zu diesem Zeitpunkt in New York. Zwei Tage später schrieb er von Houston aus. Dann war es ein Internetcafé in Florida und zwei Wochen später eine Hotel in Texas.“ „Viele verschiedene Bundesstaaten“, murmelte Shuichi nachdem der Agent alle Orte aufzählte. „Ich erkenne kein Muster.“ „Das haben wir auch nicht. Die Bundesstaaten sind willkürlich. Genauso wie die Städte in denen er war“, entgegnete Starling. „Der zeitliche Unterschied der Nachrichten bestätigt, dass er reisen musste. Bei normalen Arbeitszeiten hätte sich zumindest ein zeitliches Muster gebildet.“ „Es war keine Eingrenzung anhand des Verkehrsmittels möglich?“ „Leider nicht. Wir holten uns natürlich die Informationen von der Bahn, der Schifffahrt und von den Flughäfen. Die Abgleiche haben uns auch nicht weitergeholfen. Hin und wieder tauchte zwar der gleiche Name auf, aber auch da lief unsere Suche ins Leere.“ Shuichi sah auf den Zettel mit den Daten. „Es waren Wochentage…wenn er also nicht jede Woche einige Tage frei gehabt hat, muss reisen zu seinem Beruf gehören.“ „Oder er ist stinkreich und kann tun und lassen was er will“, warf der Agent ein. „Aus dem gesamten Chatinhalt lässt sich leider nichts ableiten. Er wusste, was er tat, als er mit Amber schrieb. Auffällig ist aber, dass er zu Beginn viele Stunden im Chat mit ihr verbrachte. Vor ihrer Ermordung wollte er nichts mehr von ihr wissen. Er machte Amber für das Scheitern seiner Beziehung verantwortlich, blockierte sie aber nicht als seinen Kontakt.“ „Sehr merkwürdig“, murmelte Shuichi. „Halten Sie es für denkbar, dass er wusste wo sie wohnt?“ „Wir können es nicht ausschließen. Vielleicht ist er der Mann der von Connor gesehen wurde. Allerdings…schrieb der Mann immer in der Mehrzahl wenn er mit Amber chattete.“ „Amber schrieb unter Jodies Namen mit ihm…und er wusste es?“ Shuichi verschränkte die Arme. „Das macht doch keinen Sinn. Er glaubt zu wissen, dass zwei Mädchen ihn erpressen und begeht dann nur den Mord an Amber? Warum hat er sich damals nicht auch Jodie geholt?“ Agent Starling sah ihn an. „Vielleicht wollte er das? Jodie war zu diesem Zeitpunkt bereits bei Connor. Er könnte Jodie damals im Visier gehabt haben. Und als sie dann nicht mehr greifbar war, schwenkte er auf Amber um? Sicher ist, dass Amber genau wusste, mit wem sie es zu tun hatte.“ „Falls diese Person unser Täter ist, stellt sich mir die Frage, ob er von Anfang an überhaupt einen Mord geplant hatte. Was, wenn es ein Unfall war und er deswegen Jodie in Ruhe ließ“ „Aber einen Unfall hätte er melden können“, warf Starling ein. „Seine Beziehung war bereits zerstört, was hätte er zu verlieren gehabt?“ „Seinen Job?“, fragte Shuichi. „Oder da steckt noch mehr dahinter…seine Integrität? Vielleicht war es ein Lehrer?“ Shuichi sah erneut auf den Zettel mit den Chat-Daten. „Dann passt das reisen nicht.“ „Richtig.“ „Haben Sie im letzten Jahr irgendwas Verdächtiges bei Jodie bemerkt? Wurde sie verfolgt oder beobachtet?“ „Gerade in der Anfangszeit gab es sehr anhängliche Reporter und einige Klassenkameraden ließen sich auch hier blicken. Aber ansonsten war da nichts. Natürlich fiel es Jodie schwer alleine zu sein. Deswegen fuhr ich sie jeden Morgen in die Schule und holte sie auch wieder ab. Wenn ich mal nicht konnte, war Angela an der Reihe. Durch den Prozess zog sich das alles in die Länge, sodass Jodie ein gutes dreiviertel Jahr brauchte, ehe sie sich wieder alleine nach draußen traute. So verschreckt wie Jodie gewesen war, hätte sie bemerkt, wenn sie beobachtet wurde.“ Shuichi überlegte. „Dieser ganze zeitliche Ablauf macht keinen Sinn.“ „Ich weiß“, nickte der Agent. „Hätte er damals direkt danach Jodie umgebracht, wären unsere Ermittlungen ausgeweitet worden. Wenn wir annehmen, dass es der gleiche Täter ist, dann hat er über ein Jahr gewartet…eigentlich müsste er doch sehen, dass es keine Beweise gegen ihn gab. Connor stellte keine Gefahr für ihn dar.“ „Ich versteh das nicht“, gestand Shuichi. „Uns fehlt das Warum in den ganzen Taten. Warum hat er Amber umgebracht? Warum hat…“ „Ganz ruhig“, unterbrach Starling ihn. „Du versuchst schon so zu denken wie ein FBI Agent. Aber eine wichtige Sache vergisst du. Ein Täter legt oftmals eine ganz andere Logik an den Tag als wir. Viele verfolgen bestimmte Pläne, andere handeln spontan. Sie haben aber alle eines gemeinsam: Der Sinn hinter ihren Taten ergibt sich erst dann, wenn man sie stellen und verhören konnte.“ „Ja, Sie haben Recht“, nickte Shuichi. „Eine andere Frage. Was wissen Sie alles über Tom Weston. Mich wundert es, dass Connor ihn angegriffen hat.“ „Das Motiv dahinter werden wir jetzt nicht mehr erfahren“, entgegnete der Agent. „Weston…über ihn ist nicht so viel bekannt. Er hat die Familie vor vielen Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen. Zu Amber hatte er nur wenig Kontakt. Aus Ambers Tagebuch wissen wir, dass sie nicht gut mit ihrem Vater klar kam. Außerdem konnten seine damalige Lebensgefährtin und Amber nicht miteinander warm werden.“ Shuichi grübelte. „Und er ist Fotograf für eine Tageszeitung?“ „Genau, für die Daily News. Das war auch ein Grund, warum er so wenig Kontakt zu Amber hatte. Er war dauernd unterwegs, wenn sie ihn brauchte.“ Akai verengte die Augen und startete eine Suche im Internet. „Normalerweise wird der Name des Fotografen doch unter jedes veröffentlichte Bild gedruckt, nicht wahr?“ „Das stimmt“, gab Starling von sich. Shuichi rief die Website der Tageszeitung auf und klickte sich durch das Online-Archiv. Immer wieder sah er auf den Zettel mit den verschiedenen Daten. „Bingo.“ „Du hast was?“ „Ich wusste, dass mich mein Bauchgefühl nicht trügt“, sagte er. „Hier, sehen Sie mal. Am 16. Mai gab es einen Artikel über einen Brand in Florida. Einen Tag zuvor hat unser Unbekannter mit Amber aus einem Hotel in Florida gechattet. Am 27. Mai fand in Chicago eine Messe statt. Einen Tag vorher gab es wieder einen Chat mit Amber. Und hier, noch mehr, 5. Juni, Gipfeltreffen in Mexiko und am Tag wieder ein Chat mit Amber.“ Shuichi suchte weiter. „Die anderen Daten passen ebenfalls zu den Nachrichten. Entweder stammt der Chat vom Vortag oder erstreckte sich über mehrere Tage.“ „Das heißt…“ Shuichi nickte. „Da an den Artikeln verschiedene Autoren beteiligt sind, ist unser gemeinsamer Nenner Tom Weston.“ Starling schluckte. „Aber warum sollte er seine eigene Tochter umbringen? Und warum diese Chats? Das kann doch nicht…“ „Die Antwort haben Sie selbst gegeben, Agent Starling. Ein Täter verfolgt seine eigenen Pläne und wir werden das ganze Ausmaß erst dann erkennen, wenn wir ihn geschnappt haben.“ „Ich informiere das FBI.“ Shuichi stand auf. „Ich fahr ins Krankenhaus und rede mit Weston.“ „Nein, tust du nicht.“ Kapitel 23: FBI Regeln ---------------------- Shuichi verengte die Augen und ballte die Faust. „Was soll das heißen: Nein, tust du nicht?“, wollte er von dem FBI Agenten wissen. Starling blickte ihn. „Du hast mich schon verstanden. Wir haben keine Beweise gegen Tom Weston, nur Indizien“, fing der FBI Agent an. „Es ist auch möglich, dass Weston gar nichts mit allem zu tun hat und auch nur als Bauernopfer hingestellt wird. Aus diesem Grund werde ich alleine ins Krankenhaus fahren und Weston befragen.“ „Bei allem Respekt, Sie können mich nicht ausgerechnet jetzt ausbremsen. Ich war maßgeblich an der Aufklärung beteiligt. Es steht mir zu, mit Ihnen ins Krankenhaus zu fahren und bei der Befragung dabei zu sein.“ Agent Starling verzog keine Miene. „Ich kann deine Reaktion verstehen, aber du überschreitest deine Kompetenzen. Selbst wenn du Agent in Ausbildung wärst, würden auch für dich Regeln gelten. Zivilisten und nicht-autorisierte Personen nehmen an keiner Befragung teil.“ „Agent Starling…“ Shuichi stand auf. Ihm gefiel nicht, was er hörte. „Meine Antwort wird sich nicht ändern. Es hat einen Grund warum wir keine Zivilisten mitnehmen. Und du stehst Jodie mittlerweile zu nah um objektiv an die Sache heran zu gehen. Natürlich trifft das auch auf mich zu, aber ich weiß, wo meine Grenzen liegen.“ Starling räusperte sich. „Und wenn sich doch heraus stellt, dass Weston nicht unser Mann ist, möchte ich dich hier wissen, bei Jodie.“ Shuichi sah ihn reglos an. „Ich sehe dir an, dass du darüber nicht glücklich bist. Aber stell dir nur mal vor, dass Weston wirklich nichts mit der Sache zu tun hat und gerade in diesem Augenblick jemand das Haus beobachtet. Wenn ich weg bin, sind Angela und Jodie auf sich allein gestellt. Daher möchte ich, dass du hier bleibst und auf Beide aufpasst.“ Akai biss sich auf die Unterlippe. „Natürlich sorge ich mich um Jodie, aber ich bin trotzdem der Meinung, dass ich bei der Befragung dabei sein sollte. Vielleicht sehe ich…“ „…Sachen die kein anderer sieht?“, unterbrach der Agent. „Das nehme ich in Kauf. Bei der Befragung im Krankenhaus wird wahrscheinlich nicht viel rauskommen“, entgegnete er. „Ich halte das noch immer für keine gute Idee“, gab Shuichi von sich. „Weston wird sich bestimmt nicht einschüchtern lassen. Vielleicht kann ich ihn etwas aus der Reserve locken.“ Der Agent seufzte. „Du lässt wohl nie locker. Gut, ich mache dir einen Vorschlag. Du bleibst hier, während ich zu Weston ins Krankenhaus fahre und ihn befrage. Aufgrund der Indizien gegen ihn, werden wir ihn zum Verhör ins Büro einladen. Dort kann ich dich mitnehmen. Überleg es dir gut, du wärst damit bei einem offiziellen Verhör dabei.“ Shuichi war noch nicht komplett überzeugt, nickte aber. „Deal.“ Der Student ging aus dem Arbeitszimmer, während Starling seine Notizen in die Tasche steckte. Als er aus dem Zimmer kam, hörte er Shuichi bereits im Flur mit seiner Frau reden. „Was soll das heißen?“ Angela sah den Studenten irritiert an. „Jodie fiel hier die Decke auf den Kopf. Sie ist schon vorhin schon kurz um den Block gegangen, aber das hat ihr auch nicht geholfen.“ „Und wo ist sie jetzt?“, wollte Akai wissen. „Sie wollte ins Krankenhaus um mit Mr. Weston zu sprechen. Wir hielten das für eine gute Idee, damit sie das Geschehene verarbeiten kann.“ „Das glaub ich nicht…“, murmelte Shuichi und lief aus dem Haus. Als er an seinem Wagen ankam, zog er die Schlüssel aus der Hosentasche und schloss die Tür auf. Gerade als er einsteigen wollte, spürte er den Griff des Agenten an seiner Schulter. Starling schüttelte den Kopf. „Ich lass mich nicht abwimmeln!“, gab Akai von sich. „Wir fahren mit meinem Wagen“, antwortete der Agent und ging zu diesem. Nachdem er eingestiegen war, startete er den Motor und nahm aus dem Augenwinkel jede Bewegung des Studenten wahr. Sobald dieser im Auto saß, fuhr Starling los. „Regel Nummer eins wenn du beim FBI arbeiten willst: Stürze nie so auffällig aus dem Raum. Wärst du gerade bei den Angehörigen eines Opfers, hättest du gezeigt, dass etwas nicht stimmt. Du musst den Angehörigen immer zeigen, dass du alles unter Kontrolle hast.“ „Verstanden…“, murmelte Shuichi. „Ruf Jodie an. Mit Glück hat sie noch nicht mit Weston gesprochen.“ Shuichi nickte und zog sein Handy heraus. Er wählte die Nummer seiner Freundin und ließ es mehrmals klingeln. „Verdammt…sie geht nicht ran.“ „Das muss nichts heißen“, antwortete Starling leise. „Wenn sie im Krankenhaus ist, hat sie das Handy möglicherweise auf lautlos gestellt.“ Akai hoffte es. Er hoffte es mit jeder Zelle seines Körpers. Nie würde er es sich verzeihen, wenn ihr etwas passierte. „Regel Nummer zwei: Ich nehme dich zwar mit, aber du bleibst im Hintergrund. Das Krankenhaus ist ein öffentlicher Ort. Neben uns werden Ärzte, Schwestern, Patienten und Angehörige vor Ort sein. Sollte Weston tatsächlich unser Mann sein, darf ich nicht zulassen, dass den anderen Zivilisten etwas Passiert. Fühlt er sich angegriffen, kann es böse enden.“ Shuichi grummelte leise. „Verstanden“, gab er ein weiteres Mal von sich. Jodie stand vor der Krankenzimmertür des Fotografen. Sie hatte es sich einfacher vorgestellt, musste sich nun aber doch Mut zureden. Jodie atmete tief durch und klopfte an. „Herein.“ Langsam drückte das Mädchen die Türklinke nach unten und trat ein. Eine Krankenschwester stand neben dem Fotografen und legte ihm eine Blutdruckmanschette um den Arm. „Oh…Entschuldigung“, murmelte Jodie leise. „Ich wollte nicht stören.“ „Das tust du nicht. Komm ruhig rein“, sagte die Krankenschwester und wandte sich der Blutdruckmessung zu. „Der Blutdruck sieht passabel aus. 125 zu 82. Sehr gut.“ Sie lächelte und legte die Blutdruckmanschette auf den Wagen. „Nach Rücksprache mit Dr. Bennett können wir Sie auf eigenen Wunsch entlassen. Aber falls Sie sich nicht gut fühlen und Probleme am Bein entdecken, spielen Sie bitte nicht den Helden. Lassen Sie sich unverzüglich ins Krankenhaus bringen.“ „Verstanden“, antwortete Weston und lächelte. „Ich bringe Ihnen gleich die Entlassungspapiere.“ „Danke“, sagte er und sah ihr nach. „Sie lassen sich entlassen?“, wollte Jodie leise wissen. „Ja, mir fällt hier die Decke auf den Kopf. Zu Hause kann ich auch rumliegen.“ Er musterte Jodie. „Geht es dir gut?“ Sie nickte. „Es tut mir leid…was passiert ist.“ „Aber nicht doch. Es war nicht deine Schuld“, entgegnete der Fotograf. Er rieb sich über sein verletztes Bein. „Es heilt. In paar Tagen werde ich nur noch eine Narbe übrig behalten.“ Jodie schluckte. Als sie weiter sprechen wollte, ging die Tür auf und die Krankenschwester kam mit den Entlassungspapieren rein. „So, hier bitte unterschreiben.“ Weston nahm den Stift entgegen und unterschrieb. „Auch wenn Sie eine sehr nette Krankenschwester waren, hoffe ich, dass wir uns nicht wiedersehen.“ „Gleichfalls“, gab die Frau von sich. „Passen Sie auf sich auf.“ Sie nahm die Papiere entgegen und verließ erneut den Raum. Jodie blickte auf den Fotografen. „Sind Sie sicher, dass Sie nach Hause wollen?“ „Aber natürlich“, antwortete Weston. „Ich habe keine Angst und…ich habe gehört, was mit Connor passiert ist.“ Das Mädchen schluckte. „Ich wusste nicht einmal, dass er für einen Tag raus konnte“, flüsterte sie. „Ich schon.“ Tom seufzte. „Ich wurde darüber informiert und wollte an dem Tag nicht alleine sein. Tagsüber wäre es kein Problem gewesen, aber am späten Abend…deswegen habe ich auch die Führung am College organisiert. Sie sollte mich ablenken. Als alle weg waren, wollte ich weiter arbeiten…ich fühlte mich dort sicher…“ „Ich verstehe“, murmelte Jodie. „Wollten Sie mich deswegen an dem Abend nach Hause bringen?“ Tom nickte. „Als…als Connor Sie angriff…hat er irgendwas…gesagt?“ „Er hat immer wieder beteuert, dass er Amber nicht umbrachte. Als ich nichts davon hören wollte, wurde er wütend…und naja…was dann passiert ist, hast du sicher gehört.“ Jodie schluckte. „Das…das tut mir leid…“ Weston stand langsam auf. „Geht es?“ „Gerade so. Ich werde einfach das gesunde Bein belasten.“ Tom griff nach einer Krücke. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Kannst du die Tasche nehmen, die neben dem Bett steht und mich nach unten bringen?“ „Natürlich“, sagte Jodie und nahm die Tasche. Tom ging langsam zur Tür und öffnete diese. „Warten Sie…ich mach das schon“, kam es sofort von Jodie und sie eilte zu ihm. „Glauben Sie…es hört irgendwann auf?“ „Was meinst du?“ Tom ging aus dem Zimmer und auf den Fahrstuhl zu. Als er vor diesem stand, drückte er auf den Knopf und wartete. „Die ganze Geschichte…zuerst Amber…jetzt Connor…“ „Du glaubst, dass es Mord war?“ Tom betrat den Aufzug. „Ich weiß es nicht“, gestand Jodie während sie ihm folgte. „Connor ist…es ist merkwürdig.“ Weston grübelte. „Ich glaube, wir sollten nach vorne sehen.“ „Ja…wahrscheinlich“, gab Jodie von sich. Die Tür des Fahrstuhls schloss sich. Sobald Starling seinen Wagen vor dem Krankenhaus parkte, machte er sich mit schnellen Schritten auf den Weg in das Zimmer von Tom Weston. Akai hatte anfangs Schwierigkeiten seinem Tempo zu folgen, schlug sich aber wacker. „Regel Nummer drei: Bleib immer ruhig, egal wie wütend oder aufgestachelt du bist.“ Als der Agent vor der Zimmertür stand, vergewisserte er sich, dass seine Dienstwaffe geladen war. Im äußersten Notfall würde er sie einsetzen. Starling klopfte an die Zimmertür, aber die Antwort blieb aus. Schnell drückte er die Klinke nach unten und betrat das leere Zimmer. Das Bett war gemacht und nichts wies mehr auf einen Patienten hin. Sofort ließ er den Blick durch den Raum schweifen und betrat dann das Badezimmer. Leere. „Verdammt“, murmelte er. Shuichi öffnete die Schranktür im Raum und schluckte. „Jodie könnte auch wieder zu Hause sein…“ „Mhm…“, gab der Agent von sich und ging nach draußen. Als er am Schwesternzimmer ankam, zückte er seinen Dienstausweis. „FBI, Special Agent Starling“, stellte er sich vor. „Können Sie mir sagen, was mit Mr. Weston aus Zimmer 453 passiert ist? Er wurde gestern früh hier eingeliefert.“ „Einen Moment“, antwortete die Schwester und tippte den Namen in den Computer ein. „Ach, da haben wir es. Mr. Weston wurde vor einer halben Stunde auf eigenen Wunsch entlassen.“ Eine halbe Stunde. Sie hatten ihn um eine halbe Stunde verpasst. „War ein junges Mädchen bei ihm? Blonde Haare, blaue Augen…sie trägt eine Brille?“ Die Krankenschwester nickte. „Ja, sie war da. Die beiden sind vorhin zusammen gegangen.“ Starling schluckte. „Wissen Sie wohin?“ „Normalerweise fahren die Patienten wieder nach Hause.“ „Danke“, murmelte Starling und lief zurück zu seinem Wagen. „Haben Sie seine Adresse?“, wollte Akai wissen. „Ja.“ Der Agent stieg ein und startete seinen Motor. Bevor er losfuhr, steckte er das Handy in die Freisprechanlage und wählte die Nummer von James Black. „Black“, nahm der Angerufene das Gespräch an. „James, ich bin es“, fing Starling an. „Ich glaube, ich weiß, wer für Ambers Tod verantwortlich ist.“ „Aber das wissen wir doch“, warf James ein. „Nein! Wir nahmen an, dass es Connor war, weil alle Beweise gegen ihn sprachen. Aber ich glaube, dass Connor nur ein Bauernopfer war. James, wir hätten uns von diesen Beweisen nicht blenden lassen dürfen.“ Starling fuhr auf die Straße und setzte den Blinker. „Erinnerst du dich an den User mit den unterschiedlichen IP Adressen?“ „Natürlich. Er war über die ganze Welt verteilt gewesen.“ „Wir haben alle Daten noch einmal komplett aufgeschlüsselt. James, es gibt in Ambers Umgebung eine Person, die an all diesen Orten gewesen ist.“ James schluckte. „Wer?“ „Tom Weston, Ambers Vater. Ich weiß, es hört sich makaber an, aber die Daten stimmen nahezu überein. Ich bin mir sicher, wenn wir in jedem Hotel und in jedem Internetcafé nach Weston fragen, werden wir fündig.“ „Ich lasse den Sachverhalt prüfen.“ „Danke.“ „Ich frage mich aber, was für ein Motiv Weston hatte“, gab James von sich. „Wir wissen doch, dass sich Amber mit vergebenen Männern traf. Es könnte Zufall gewesen sein, dass sie ausgerechnet ihren Vater traf. Vielleicht wurde er wütend und alles artete aus…Und was Connor angeht…möglich, dass er Weston vor dem Haus sah…“ „Was das angeht, können wir nur spekulieren. Wir brauchen Westons Aussage“, gab James von sich. „Ich weiß.“ „Ich schicke ein Agententeam ins Krankenhaus.“ „Das bringt nichts mehr. Er wurde auf eigenen Wunsch entlassen…und er hat Jodie.“ „Was? Weston hat Jodie entführt?“ „Nicht entführt“, antwortete Starling. „Sie wollte wohl im Krankenhaus mit ihm reden und ist dann mit ihm gegangen…wir sind auf dem Weg zu seiner Wohnung.“ „Wir?“, wollte James wissen. „Shuichi Akai. Ich hab dir von ihm erzählt.“ James dachte nach. „Der Student…natürlich.“ „Genau der. James, du musst mir Unterstützung zu der Wohnung von Tom Weston schicken. Und ruf einen Krankenwagen. So wie ich Weston einschätze, wird er es wie einen Selbstmord aussehen lassen.“ „Ich kümmere mich drum.“ „Danke, bis später.“ Starling legte auf. „Sie haben gelogen“, entgegnete Shuichi. „Regel Nummer vier: Wenn Gefahr im Verzug ist, ist sofortiges Handeln notwendig, egal welche Mittel man einsetzen muss. Ich lüge meine Kollegen nur an, wenn ich mir sicher bin, auf der richtigen Spur zu sein.“ Kapitel 24: Geständnis ---------------------- Während der Taxifahrt schwiegen sie einander an. So vieles stand zwischen ihnen und blieb ungesagt. Und dann stand Jodie vor ihrem Elternhaus, während Tom weiter zu seinem Büro am College wollte. Ein komisches Gefühl breitete sich in ihr aus, sodass sich Jodie gedankenversunken auf den Weg machte. Das Wetter schien sich ihrer Stimmung anzupassen. Kühl und melancholisch. Als Jodie endlich auf dem Gelände ankam, glaubte sie zu spät zu sein, aber der Wachmann belehrte sie eines besseren. Tom hatte die Fakultät noch nicht verlassen, weswegen sich Jodie den Weg zu dessen Büro erklären ließ. Als sich die Schülerin durch die Gänge bewegte, bekam sie eine Gänsehaut. Ihr Instinkt warnte sie. Und doch sah sie gerade jetzt keinen anderen Ausweg. Sie musste mit Weston reden, ein letztes Mal. Jodie atmete tief durch und klopfte an die große braune Tür. Es antwortete niemand. Langsam drehte sie den Türknauf und die Tür sprang auf. Tom kam gerade aus dem Nebenraum und sah Jodie überrascht an. „Jodie…was machst du hier?“, wollte er wissen. „Entschuldigung…ich wollte nicht stören. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich hier bin“, gab sie von sich. Der Raum passte zu ihrer Vorstellung. Zwei Schreibtische standen in einem 90 Grad Winkel nebeneinander und waren überfüllt mit Papieren. In seiner Ablage befanden sich mehrere Bilder. Im Raum selbst waren zwei Seile gespannt an denen mehrere Bilder aufgehängt waren. „Ich weiß…es wirkt chaotisch“, entgegnete Tom. „Aber Kreativität hat ihren Preis. Wenn ich nicht gerade für die Zeitung fotografiere, geh ich mit der Kamera raus und knipse vor mich her. Und nichts geht über organisiertes Chaos.“ Er lächelte. „Wenn du den Raum schon schlimm findest, solltest du meine Dunkelkammer nicht betreten.“ „Dunkelkammer?“ „Hier drüben.“ Er wies auf den Nebenraum. „Eigentlich sollte im Nebenraum ein anderes Büro eingerichtet werden, aber ich hab ihn zur Dunkelkammer umfunktioniert. Wann immer es mit den Fotos schnell gehen muss, entwickel ich sie selbst. Wenn du willst, zeig ich dir den Raum auch.“ „Danke, aber das ist nicht notwendig. Die Führung am Freitag war zwar interessant, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich später etwas in der Fotografie mache. Wollten Sie nicht eigentlich nach Hause fahren?“ Weston seufzte. „Eigentlich...du sagst es“, antwortete er. „Vorher wollte ich hier mal nach dem Rechten sehen. Wer weiß, welches Chaos die Polizei hinterlassen hat. Und wenn ich schon zu Hause bleiben muss, will ich wenigstens etwas Arbeiten.“ „Ach so…“ Jodie sah sich um und blickte auf den dunklen Fleck am Boden. „Da war es…dort wurde ich gefunden, nachdem Connor hier war.“ Jodie schluckte. „Jodie? Geht’s?“ Das Mädchen nickte. „Ich…es ist…ich weiß nicht…was ich sagen soll…“, murmelte sie. „Du siehst sehr blass aus. Na komm, setz dich.“ Er schob ihr einen Stuhl zu. „Soll ich uns einen Tee holen?“ „Machen Sie sich keine Umstände“, sagte sie leise und setzte sich. „Aber nicht doch. Das sind keine Umstände.“ Tom ging raus. Jodie sah wieder auf die Stelle mit dem getrockneten Blut. Wie gut, dass sie an jenem Abend nach Hause gefahren wurde. Sie wollte sich nicht ausmalen was passiert wäre, wenn sie länger blieb oder auf Connor traf. Langsam stand die Schülerin auf und sah sich im Raum um. Jodie trat an den Schreibtisch und stolperte über eine Tasche. Sofort fielen verschiedene Unterlagen heraus. „Mist“, stieß Jodie aus. Sie kniete sich hin und sammelte alles auf. Ihre hektischen Bewegungen am Anfang wurden immer langsamer. Einige Bilder zeigten sie und Amber, andere Bilder sie und Shuichi. Mit zittriger Hand öffnete sie den Reisepass. Nick Leonard, murmelte Jodie und betrachtete das Foto von Tom. Wollte er sich absetzen? Jodie schluckte, in ihrem Kopf drehte sich alles. Als sie die Bewegung des Türknaufes bemerkte, packte sie die Unterlagen hektisch in die Tasche zurück und sprang auf ihre Beine. Lass dir nichts anmerken, Jodie, sagte sie zu sich selbst. Tom öffnete die Tür und trat ein. Er hielt eine Kanne mit Tee und zwei leere Tassen in der Hand. „Kannst du mir die Tassen bitte abnehmen?“ Aus dem Augenwinkel sah er zu seiner Tasche. Jodie wollte nicht, nahm ihm aber die Tassen ab. Sie stellte sie auf den Schreibtisch, als sie das Klicken eines Schlosses hörte. Erschrocken drehte sich Jodie um. „Sie…Sie haben ab…abgeschlossen…“ Instinktiv griff sie in ihre Jackentasche und versuchte etwas Spitzes zu fassen. Neben ihrem Handy fand sie nur noch eine Münze. Aber wie sollte sie ihn damit außer Gefecht setzen? Mit ihrem Schlüssel hätte sie bessere Chancen gehabt. „Reflex“, antwortete er. „Ich…ich sollte…jetzt nach Hause…mein Vater…wir werden bald essen.“ „Essen?“ Tom sah sie überrascht an. „Bist du sicher, dass du jetzt gehen willst?“ Tom ging zu seiner Tasche und stellte sie auf den Stuhl. „Warum musstest du auch in meinen Sachen rumwühlen?“ „Das…das hab ich nicht…sie fiel um und...ich hab nichts gesehen.“ „Warum bist du dann so nervös?“ „Ich…ich bin nicht…“, murmelte Jodie leise. „Gib es doch zu, Jodie.“ „Ja, sie haben…Recht…aber…es war keine Absicht. Ich bin gestolpert…und die Sachen fielen raus…ich hab sie nur wieder…einpacken wollen…“ „Und da hast du sie gesehen“, folgerte Weston. „Es war keine Absicht…ich…ich werde nichts verraten.“ „Jodie, ich bin Fotograf, ich mache von vielen Menschen Bilder“, gab Tom von sich. „Ich…ich weiß…“, murmelte sie. „Es ist nur Zufall, dass du drauf bist. Und jetzt tu mir den Gefallen und zieh deine Hand aus der Tasche.“ Jodie schluckte. „Na wird’s bald?“ Langsam zog sie die Hand hervor. „Bitte…lassen Sie mich gehen…ich werde schweigen…“ Tom seufzte. „Das hat Connor auch gesagt. Und ihm konnte ich auch nicht trauen.“ Weston musterte sie von oben bis unten. „Es tut mir wirklich leid, Jodie, aber jetzt muss ich es auch zu Ende bringen.“ Jodie schluckte. „Sie haben Connor…?“ „Ach Jodie“, fing Tom an. „Es tut mir wirklich leid, weil es so enden muss.“ „Sie müssen das nicht…tun“, wisperte Jodie. „Ich weiß…sie geben Connor Schuld an Ambers Tod…“ „Ambers Tod“, schnaubte Tom. „Es war ein Unfall. Ich hab das nicht gewollt. Sie hat mich nur so zur Weißglut getrieben.“ Jodie wurde wieder blass. „Sie…sie waren das? Sie haben Ihre Tochter…aber…warum?“ „Jetzt tu doch nicht so dumm. Du weißt doch, was Amber die ganze Zeit getan hat. Sie war in diesem Chat unterwegs und hat mich angeschrieben. Wir wollten uns treffen und wer ist im Hotelzimmer? Amber. Sie hat alles meiner Freundin erzählt und mich dann erpresst. Amber wollte alles öffentlich machen. Dabei hab ich doch gar nichts getan. Ich wollte doch nur mit ihr reden, aber Amber hat mich ausgelacht. Sie hat mich Feigling genannt und sie…sie ließ einfach nicht locker.“ Tom schluckte. „Ich wollte doch nur, dass sie den Mund hält und hab sie gewürgt. Aber anstatt endlich ruhig zu sein…weißt du, was sie getan hat? Sie hat mich noch angefeuert und nannte mich eine Lusche, weil ich aufhören wollte. Dann hab ich einfach Rot gesehen und…dann war es vorbei.“ Tom schluchzte leise. „Keiner weiß, wie es ist, wenn man seine eigene Tochter auf dem Gewissen hat…keiner kann das verstehen…meine Schuldgefühle haben mich fast umgebracht und dann war auf einmal Connor im Fokus. Ich konnte doch nicht ins Gefängnis gehen. Weißt du, was die dort mit einem machen?“ Jodie beobachtete ihn und schielte kurz zur Dunkelkammer. Ob man von dort auch auf den Flur kam. „Du verurteilst mich…das seh ich dir an.“ „Sie hätten…sich stellen müssen…Connor ist für Ihre Tat…“ „Ich konnte nicht mehr die Wahrheit sagen, Jodie. Sie hätten alles auf den Kopf gestellt und die Fotos von dir gefunden. Du wurdest zur gleichen Zeit entführt…sie hätten es mir angehängt. Dein Vater hätte mich nie und nimmer gehen gelassen.“ „Haben Sie…denn gar kein schlechtes Gewissen? Es sind zwei…Menschen tot…“ „Und wie ich das habe“, antwortete Tom. „Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie vor mir…aber es ist nun mal passiert. Was soll ich machen? Ich werde damit weiterleben müssen und ich darf nicht zulassen, dass jemand davon erfährt.“ Jodie schluckte. „Aber Sie können doch nicht…jeden der es weiß…umbringen. Und es war doch ein Unfall bei Amber…Ihnen wäre doch nichts passiert.“ „Ach ja? Glaubst du das? Ich wäre in allen Schlagzeilen“, warf Tom ein. „Mein Ruf und meine Karriere wären zerstört worden. Niemand würde mehr mit mir arbeiten wollen. Ich konnte das nicht riskieren.“ „Und…was war mit…Connor? War er…wirklich hier?“ „Das war er“, nickte Tom. „Natürlich wurde ich über seinen Freigang informiert, aber ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Was meinst du, wie überrascht ich war, als er auf einmal vor der Bürotür stand? Er hat mir die ganze Zeit erzählt, dass er Amber nicht umgebracht hat. Was hätte ich denn antworten sollen? Ja, ich weiß?“ Tom strich sich durchs Haar. „Wir haben gerangelt und ich habe ihn zur Seite gestoßen. Dabei schlug er sich den Kopf an, damit hatte ich genug Zeit um mich nach der Führung um ihn zu kümmern.“ „War es Absicht…dass ich daran teilnehme?“, wollte Jodie wissen. „Nein, das war ein dummer Zufall. Willst du noch mehr wissen?“, schnaubte Tom. „Wie konnten Sie Connor nach Hause bringen?“ Tom lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. „Ich wollte ihn im Garten ablegen, aber die Terrassentür stand offen. Also schlich ich mich rein und legte ihn oben in sein Bett. Der Rest war ein Kinderspiel.“ „Und Ihr Bein…hat das wirklich Connor…getan?“, fragte Jodie. „Nein, ich musste improvisieren.“ Jodie schluckte. „Sie…Sie erzählen mir das alles…weil ich auch sterben soll, nicht wahr?“ „Du bist ein schlaues Mädchen, Jodie. Und es tut mir wirklich leid, dass es so enden muss. Ich wollte das wirklich nicht. Aber wenn du mein Geheimnis verrätst, ist mein Leben vorbei.“ „Aber…mein Vater…er wird Sie suchen…auch wenn Sie untertauchen…er wird nichts unversucht lassen…“ „Glaubst du, dass ich das nicht weiß?“, wollte Tom wissen. „Wärst du bloß nicht hierhergekommen, es war nicht mein Ziel dein Leben auch noch auszulöschen. Du hast dein Schicksal selbst gewählt.“ „Dann lassen Sie es…bitte…“, wisperte sie. „Lassen Sie mich…am Leben…bitte…“ „Dafür ist es zu spät.“ Tom seufzte. „Geh jetzt an den Schreibtisch und nimm einen Zettel hervor. Dann schreibst du einen Abschiedsbrief.“ „Aber…“, murmelte Jodie. „Bitte Jodie, meinst du, ich weiß nicht, was hier gespielt wird? Du versuchst Zeit zu schinden. Jeder andere hätte versucht aus dem Raum zu entkommen, aber du verwickelst mich in ein Gespräch. Glaubst du wirklich, dass dein Vater die ganze Zeit auf der anderen Seite der Tür wartet und mein Geständnis hört? Er wird ganz bestimmt nicht durch diese Tür stürmen. Es gibt keine Beweise gegen mich und ich glaube, keiner weiß, wo du dich gerade befindest.“ Jodie schluckte. Sie sah zur Tür. Dad…bitte…wenn du draußen bist…komm rein… „Jetzt mach schon Jodie, ich möchte nicht ungemütlich werden. Schreib, dass dir alles zu viel wurde und es dir leid tut.“ Jodie nahm einen Kugelschreiber und schrieb zittrig ihre letzten Worte auf den Zettel. „Keiner wird glauben…dass ich ausgerechnet hier…“ „Du wirst auch nicht hier gefunden werden. Ich bringe dich an Ambers Grab.“ Weston musterte sie. „So und jetzt gieß dir bitte den Tee ein und trink ihn schön brav aus.“ Langsam tat Jodie, was ihr gesagt wurde. Als sie die Teetasse in der Hand hielt, schwappte ein Teil über. Jodie zitterte. „Was…was ist da drin?“ „Pfefferminztee“, antwortete Tom. „Mit Schlafmittel gestreckt. Keine Sorge, du wirst nicht leiden. Es wird alles ganz schnell gehen. Du wirst müde werden und dann einschlafen. Wehr dich nicht dagegen. Es ist schon schlimm genug, dass ich das tun muss.“ Wieder sah Jodie zur Tür. Dad…bitte…komm endlich…rette mich… Jodie schluchzte. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Und nicht jetzt. Sie hatte von Anfang an keinen Ausweg gesehen. Deswegen musste sie Tom lange genug in ein Gespräch verwickeln, in der Hoffnung, dass sich ihr Vater schnell auf die Suche nach ihr machte. Jetzt lief die Zeit ab. „Jetzt mach schon“, raunte Tom nervös. „Bitte…können wir nicht nochmal…darüber reden?“, fragte die Schülerin leise. Tom verengte die Augen. „Willst du, dass ich ungemütlich werde?“ Jodie schluckte und setzte die Tasse zum Trinken an. Sie nahm den ersten Schluck. „Alles auf einmal, wenn ich bitten darf“, kam es von Tom. „Und wenn du fertig bist, öffnest du schön den Mund.“ Jodie sah in die Tasse, dann wieder auf die Tür. Shuichi… Jodie unterdrückte ihre Tränen nicht mehr. Dad…bitte…helft mir…ich will nicht…sterben… Wieder blickte sie in die Tasse. „Augen zu und durch“, wisperte sie leise und versuchte sich selbst Mut zu machen. Welche andere Wahl hatte sie schon? Es kam niemand. Weder Shuichi noch ihr Vater. Langsam setzte sie die Tasse an den Mund und trank ihren Inhalt in einem Rutsch aus. Kapitel 25: Ende und Anfang --------------------------- Agent Starling schlug mit der Faust gegen die Wand. „Verdammt“, gab er fluchend von sich. Die Wohnung von Tom Weston war sauber, zu sauber. Nichts wies darauf hin, dass er hier war. „Agent Starling“, fing Shuichi an. „Ich weiß“, antwortete der Agent. „Wir sollten hier nicht rumstehen. Machen wir uns weiter auf die Suche nach Jodie.“ Starling ging an die Haustür. Die Kollegen kamen gerade erst an. Als er sie sah, schüttelte er den Kopf. „Fehlanzeige. Kümmert euch um die Tür.“ Da Gefahr im Verzug war, hatte er keine andere Möglichkeit als sie aufzubrechen. Der FBI Agent ging zurück zu seinem, Wagen. „Wo kann er sie noch hingebracht haben?“, wollte er wissen und blickte zu Shuichi. „College?“ „Oder an das Grab seiner Tochter“, kam es von dem Studenten. „ Wenn er es zu Ende bringen will, ist das Grab für mich am naheliegendsten“ „Mhm…“, gab Starling von sich. „Gut, fahren wir zum Friedhof.“ Er stieg in seinen Wagen und steckte das Handy in die Freisprechanlage. Während er sich anschnallte, ging ein Anruf ein. Jodies Name stand auf dem Display. Ihm und Shuichi, der nun ebenfalls eingestiegen war, stockte für einen Moment der Atem. „Jodie…“, wisperte der Agent und nahm das Gespräch über den Lautsprecher entgegen. „Jodie? Wo bist du?“, fragte er gleich. Es herrschte Stille auf der anderen Seite der Leitung. Jodie, jetzt sag doch was, flehte der Agent innerlich. „Bitte…lassen Sie mich gehen…ich werde schweigen…“ Tom seufzte. „Das hat Connor auch gesagt. Und ihm konnte ich auch nicht trauen. Es tut mir wirklich leid, Jodie, aber jetzt muss ich es auch zu Ende bringen.“ „Sie haben Connor…?“ „Ach Jodie. Es tut mir wirklich leid, weil es so enden muss.“ „Sie müssen das nicht…tun“, wisperte Jodie. „Ich weiß…sie geben Connor Schuld an Ambers Tod…“ „Ambers Tod“, schnaubte Tom. „Es war ein Unfall. Ich hab das nicht gewollt. Sie hat mich nur so zur Weißglut getrieben.“ „Sie…sie waren das? Sie haben Ihre Tochter…aber…warum?“ Starling schluckte. Es gab keine Hintergrundgeräusche. „Sie ist am College“, sagte er leise und startete den Motor. „Im Handschuhfach ist ein Diktiergerät. Halt es an das Handy und nimm das Geständnis auf.“ Mit zittriger Hand stellte Jodie die Tasse ab. Die Angst war ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. „Gleich wird alles gut“, sagte Weston ruhig. „Ich…“, flüsterte das Mädchen. Ihr wurde schummrig. Das Bild vor ihren Augen verdoppelte sich. Jodie bemerkte, dass es ihr schwer fiel, sich auf den Beinen zu halten. Sie machte ein paar Schritte, torkelte und versuchte sich am Schreibtisch festzuhalten. Sie wollte nicht sterben, nicht so und auch nicht so jung. Außerdem hatte sie nicht einmal ihren Eltern gesagt wie sehr sie sie liebte und wie sehr sie sie brauchte. Jodies Beine gaben nach, sie musste sich hinknieten und krallte sich mit der linken Hand an den Schreibtisch. Krampfhaft versuchte sie die Augen aufzuhalten. Tom sah ihr mit einem besorgten und bedrückten Blick zu. Er hatte es nicht gewollt. Aber wenn er sich entscheiden musste, war sein eigenes Leben wichtiger. Er wollte Jodies Qual nicht mit ansehen, wusste er doch was passieren würde. Sie konnte sich jetzt schon nicht mehr auf den Beinen halten und schon bald würden Krämpfe, Zittern, Kreislauf- und Atemstörungen hinzukommen. Dann wäre es vorbei und er konnte ein friedliches Leben führen. Ohne Angst und Sorge. Es war Ambers Schuld. Sie hatte ihn zu diesem Monster gemacht, sie hatte ihn gezwungen diese vielen Taten zu begehen. Sie, sein eigen Fleisch und Blut. Und bald war es vorbei. Aber egal wie oft er sich sagte, ein Blick zu Jodie reichte, damit sein schlechtes Gewissen wieder hoch kam. Bei Connor konnte er nicht zu sehen und verließ den Ort des Geschehens. Deswegen drehte sich Tom um und sortierte seine Unterlagen auf dem Schreibtisch. Jodie zitterte und Übelkeit kam in ihr hoch. „Bitte…“, wisperte sie leise. „…helfen…S…s…“ Tom schüttelte den Kopf. „Es ist gleich vorbei“, sprach er. „Nur noch wenige Augenblicke…dann ist es vorbei…Es ist gleich vorbei…“, wiederholte er. „B…bi…tt…e….“ Weston sah kurz zu ihr. „Du solltest nicht dagegen ankämpfen. Je mehr du dich wehrst, desto länger wird es dauern…und entsprechend schmerzhafter werden.“ Mom…Dad…es tut mir so leid…Shuichi… Jodie schloss langsam ihre Augen und driftete weg. „Danke“, wisperte Tom als er auf Jodie blickte. Er atmete tief durch und strich sich über das Gesicht. Tom wandte sich der Tür und schloss diese auf. Sobald er in den Flur trat, versicherte er sich, dass nicht doch Studenten oder Dozenten im Gebäude waren. Danach ging Weston wieder in sein Büro und zog aus einer Schublade Handschuhe heraus. Um unerkannt Jodie in seinen Wagen zu bringen, musste er nur in den Keller kommen. Von dort war es über den Hinterausgang ein Kinderspiel. Sein Wagen stand noch immer auf dem Parkplatz. Tom sah wieder zu Jodie. „Wenn ihr es bloß nicht mit diesem Chat angefangen hättet“, sagte er leise und streifte sich die schwarzen Handschuhe über. „Dann wollen wir mal.“ Die Bürotür wurde aufgerissen. „FBI. Tom Weston Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles was Sie sagen kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet. Sie haben das Recht zu jeder Vernehmung einen Anwalt hinzuzuziehen.“ Agent Starling hielt seine Dienstwaffe auf Tom gerichtet. „Und jetzt treten Sie langsam weg von meiner Tochter.“ Weston drehte sich um. „Das ist nicht so wie es aussieht“, entgegnete er. „Ich…ich war in meiner Dunkelkammer als Jodie umgefallen ist. Ich wollte ihr helfen und sie ins Krankenhaus bringen.“ „Das glaube ich kaum.“ Der Agent verengte die Augen. „Halten Sie die Hände so das ich sie sehen kann. Und machen Sie keine schnellen Bewegungen. Wenn sie versuchen zu fliehen, schieße ich.“ „Das ist ein Missverständnis“, fing Tom an. „Sie machen einen Fehler.“ „Den Fehler haben Sie gemacht“, zischte Starling. „Kümmer dich um Jodie.“ Shuichi ging an dem Agenten vorbei. Als Weston zwei verdächtige Schritte machte und versuchte ihn als Schild einzusetzen, war der Student schneller. Ohne dass Tom wusste, wie ihm geschah, lag er auf dem Boden und hielt sich den Bauch. Akai wandte sich von ihm ab und kniete sich zu Jodie hin. Er beugte seinen Kopf an ihren Mund. „Sie atmet noch“, rief er. Shuichi drehte Jodie auf die Seite. „Sie muss sich übergeben“, entgegnete der Agent. „Ich weiß“, antwortete Shuichi und tat alles in seiner Macht stehende. Er hielt Jodie fest im Arm als sie während des Erbrechens unter einem starken Hustenreflex litt. „Der Krankenwagen ist unterwegs, halte durch Jodie…du schaffst das…“, gab Akai von sich. „Ich…ich zeig Sie an…“, murmelte Tom und versuchte aufzustehen. „Machen Sie das, Mr. Weston, machen Sie das“, gab der Agent von sich. „Wir werden ja sehen, wie das Gericht entscheidet.“ Die Agenten Fries und Pierce kam nun ebenfalls in den Raum. „Starling? Alles unter Kontrolle?“ „Kann man so sagen. Legen Sie ihm Handschellen an.“ Agent Pierce lächelte siegessicher. Er ging zu dem Fotografen und zog dessen Arme nach hinten, ehe er die Handschellen anlegte. „Sie machen einen Fehler“, zischte Weston. „Das werden Sie bereuen.“ „Ach ja? Mr. Weston, Ihnen sollte doch bewusst sein, dass wir Sie nicht ohne Beweise verhaften.“ „Sie haben keine Beweise.“ Weston wurde unsanft nach oben gezogen. „Was hab ich denn getan? Bitte, sagen Sie es mir“, fügte er arrogant hinzu. „Sie haben Ihre Tochter, Amber Weston, vor über einem Jahr stranguliert und zugelassen, dass ein Unschuldiger verurteilt wird. Außerdem begingen Sie den Mord an Connor Riemer und versuchten Mord an Jodie Starling.“ Tom lachte. „Mit diesen Anschuldigungen kommen Sie nicht weiter.“ „Glauben Sie? Gerade in diesem Moment wird Ihre Wohnung gründlich auf den Kopf gestellt.“ „Das dürfen Sie gar nicht!“ „In bestimmten Situationen dürfen wir das. Und machen Sie sich keine Sorge, es existiert ein Durchsuchungsbefehl.“ Agent Starling sah zu Jodie. „Sie haben nicht bemerkt, dass Jodie vorhin meine Nummer gewählt hat, nicht wahr?“ „Was?“ Weston wurde blass. „Wenn Jodie draußen unterwegs ist, hat sie ihr Handy immer in der Jackentasche um im Notfall Hilfe zu rufen. Sie muss meine Nummer nicht einmal wählen, wozu gibt es die Kurzwahl? Wir haben Ihr Geständnis gehört.“ Starling sah zu Pierce und nickte. „Bringen Sie ihn weg.“ Tom versuchte sich aus dem Griff des Agenten zu befreien. „Damit kommen Sie nicht durch. Das riecht doch nach Verschwörung…Sie, Ihre Tochter und ihr Freund… Sie haben nichts gegen mich in der Hand.“ Starling sah zu ihm. „Wir haben Ihr Gespräch mit Jodie aufgezeichnet.“ „Das haben Sie nicht…“ Tom wurde raus gebracht. „Nein, das ist falsch. Das darf nicht so enden…nein….nein…“ Toms Schreie hallten durch den Flur. Jodie öffnete ihre Augen. Sie sah verschwommen und das Licht an der Decke blendete sie. „Mhm…“, gab das Mädchen von sich. Angela schreckte hoch. Sofort setzte sie sich zu Jodie ans Bett. „Jodie?“, fragte sie leise. Langsam richtete Jodie ihren Kopf zu ihrer Mutter. „M…mom?“ „Ja, ich bin es.“ Angela lächelte und strich Jodie über die Wange. „Es ist alles gut.“ „Was…was ist…passiert?“ Angela schluckte. „Was ist das letzte an das du dich erinnerst?“, wollte sie wissen. „Ich…ich war bei Weston…im Krankenhaus…er brachte mich…nach Hause…aber ich bin dann…zum College gefahren…um mit ihm zu reden. Ich musste…Tee trinken…mit Schlafmittel…danach weiß ich…nichts mehr.“ „Ich bin so stolz auf dich, mein Schatz. Als du bemerkt hast, dass etwas nicht mit rechten Dingen vor sich geht, hast du auf deinem Handy die Nummer deines Vaters gewählt. Er hat alles mit angehört und das Gespräch aufgenommen. Sie haben ihn…Weston wird dir nie wieder zu nahe kommen.“ Angela wischte sich ihre Tränen weg. „Alle sagen…dass du so mutig…gewesen bist…“ „Ich…ich hatte solche Angst…“, murmelte Jodie. „Ich kannte ja….sein Gesicht…und in der…einen Vorlesung hieß es…dass man nur dann…das Gesicht sieht, wenn…wenn man sterben soll…“ „Ja, ich weiß…“, wisperte Angela. „Aber es ist alles gut gegangen. Sie haben ihn verhaftet. Er hat zwar versucht sich heraus zu reden, aber man hat ihm nicht geglaubt. Mittlerweile haben sie seine Wohnung und das Büro auf den Kopf gestellt. Es gibt genug Beweise gegen ihn…Jodie, ich bin so froh, dass du wieder aufgewacht bist…“ „Mom“, murmelte das Mädchen. „Der Tee…ich…“ „Shuichi hat genau richtig gehandelt. Er hat dafür gesorgt, dass du dich übergeben musst. Den Rest haben dann die Sanitäter gemacht. Sie haben dir im Krankenhaus den Magen ausgepumpt. Du hast über einen Tag geschlafen.“ Angela schluchzte. Jodie sah ihre Mutter an. „Ich wollte nicht…dass ihr euch Sorgen macht.“ „Du kannst doch am wenigstens dafür. Jetzt solltest du dich aber ausruhen, ja? Sobald du wieder zu Kräften gekommen bist, nehmen wir dich nach Hause und lassen es uns gut gehen, ja?“ „In Ordnung“, murmelte Jodie. Sie schloss die Augen und schlief Sekunden später wieder ein. Angela blieb die ganze Zeit über bei ihr. Als Jodie einige Stunden später wieder aufwachte, waren auch ihr Vater und Shuichi im Raum. „Hey…du bist ja wach“, sagte ihr Vater. Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Dad…“, murmelte Jodie. „Ich wusste…dass du kommst…“ „Aber natürlich. Ich bin immer für dich da.“ Jodie blickte zu Shuichi. „Hi…“ „Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht.“ „Danke.“ „Jetzt tut doch nicht so unnahbar“, kam es von Angela. „Wir wissen doch schon längst, was zwischen euch los ist.“ „Mom!“ Jodie wurde rot. Als sie wieder zu Shuichi sah, erblickte sie dessen Lächeln im Gesicht. Wie gern wäre sie auch so selbstsicher wie er. „Ich hab gehört…was passiert ist“, fing sie an. „Du warst die ganze Zeit bei mir.“ Shuichi nickte. „Auf einmal so bescheiden?“ Agent Starling schlug ihm herzhaft auf den Rücken. „Durch seine Mithilfe konnten wir Weston erst auf die Spur kommen. Dem FBI ist es allerdings unangenehm, weil wir nicht schon vor über einem Jahr darauf kamen, dass es Weston war.“ „Dad, ihr könnt nichts dafür“, fing Jodie an. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass Mr. Weston seine eigene Tochter auf dem Gewissen hat.“ „Da hat Jodie recht“, entgegnete Shuichi. „Es gab für das FBI keinen Anhaltspunkt, dass der eigene Vater in die Sache verwickelt ist. Außerdem sprachen alle Beweise gegen Connor.“ Starling nickte. „Ich weiß ja, dass ihr recht habt…“ „Was passiert jetzt eigentlich mit Mr. Weston?“, wollte Jodie wissen. „Führt dieses Geständnis zu mildernden Umständen?“ „Um Gottes willen, nein“, sagte der Agent. „Wegen der Schwere seiner Tat und seinem Willen weitere Menschen ins Unglück zu stürzen, kommt er um eine Freiheitsstrafe nicht herum, egal wie gut sein Anwalt ist. Hätte er nach dem Tod von Amber mit uns gesprochen, wäre es sicher nie so weit gekommen. Sein Anwalt plädiert auf Unzurechnungsfähigkeit aufgrund von Verfolgungswahn. Aber nach meiner Erfahrung wird er um eine Haftstrafe nicht herum kommen.“ „Dann…ist es endlich vorbei?“, fragte Jodie leise. Agent Starling nickte. „Ja, es ist vorbei.“ Er lächelte. „Und ein neuer Anfang für dich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)