Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 14: Bewerbungstraining ------------------------------ Jodie wartete und wartete. In gefühlt jeder freien Minute blickte sie auf ihr Handy. Aus irgendeinem Grund war sie enttäuscht, weil sie noch immer keine Nachricht von Shuichi bekam. Sie wusste nicht einmal, warum sie sich Hoffnungen auf das Treffen mit ihm und das damit verbundene Bewerbungsprozedere für die Universitäten machte. In der Zwischenzeit verbrachte sie viel Zeit mit Shukichi. Nicht nur, dass sie ihm in den ersten Tagen an der neuen Schule die Räume zeigte und ihn mit wichtigen Informationen versorgte, wurden sie zwangsweise zu Partnern in einigen Schulprojekten. Für Jodie war es offensichtlich, sie diejenige mit der keiner zusammen arbeiten wollte und er, der Neue den keiner kannte. Innerhalb der nächsten Woche hatte er sich allerdings mit einigen Mitschülern angefreundet und schaffte das, was sie sich so sehr wünschte. Jodie wusste nicht einmal, wie er das hinbekam, aber möglicherweise lag es auch an ihr. Jodie wusste nicht, was ihm die Mitschüler über sie erzählten, aber Shukichi mied sie nicht und war immer noch nett zu ihr. Manchmal verbrachten sie die Pausen miteinander oder trafen sich bei ihr zu Hause um die Hausaufgaben zu erledigen. Wenigstens einer, der sie nicht gleich abschob, sobald es möglich war. Und Jodie war froh darüber. Mit der Zeit taute sie zwar auf, vertraute ihm aber noch nicht alles an. Doch sie waren auf einem guten Weg. Und so hatte sie wenigstens einen Freund auf dieser ganzen weiten Welt. Bisher mied es Jodie aber das ehemalige Haus der Westons ein weiteres Mal aufzusuchen. Sie konnte sich allerdings nicht vorstellen wie es sein würde, wenn sie dort Hausaufgaben machte oder lernte. Und so wie Masumi war, würde sie früher oder später in Ambers ehemaligen Zimmer sitzen und von den Erinnerungen übermahnt werden. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt um an Amber und das letzte Jahr zu denken. Jodie stand vor ihrem Kleiderschrank und nahm einen Kleiderbügel nach dem anderen raus. Zwei ganze Monate hatte sie gewartet ehe sich Shuichi bei ihr meldete. Er hatte seine Hausarbeit abgegeben und endlich Zeit für sie – und das Bewerbungsthema. Jodie sah dem Treffen mit voller Vorfreude entgegen und wollte ihm gefallen. Es war unlogisch, da sie den Studenten nicht einmal richtig kannte, geschweige denn mehrere Sätze mit ihm wechselte. Aber in vertrauter Umgebung würde sie nicht wieder so rumstammeln. Jodie hielt sich den Kleiderbügel mit einer blauen Bluse vor den Körper und betrachtete sich im Spiegel. Warum muss das nur so schwer sein? Die Schülerin seufzte, hängte das Oberteil wieder zurück und nahm ein Shirt heraus. Wieder hielt sie es vor ihren Körper, hängte es zurück und nahm das Nächste heraus. Je mehr Oberteile sie betrachtete, desto mehr kam sie zu dem Schluss, dass sie nichts Richtiges zum Anziehen hatte. All ihre Kleidung war entweder weit geschnitten oder noch zu kindlich. Wenigstens hatte sie sich bereits für eine schwarze Hose entschieden, aber der schwerere Part war eindeutig das Oberteil. Als es an der Tür klingelte, zuckte Jodie zusammen. Sofort sah sie auf die Uhr und weitete die Augen. Sie hatte die Zeit komplett vergessen und musste sich beeilen. Blindlings griff sie nach einem blauen Shirt und zog es sich an. Am liebsten wäre sie sofort aus dem Zimmer und die Treppe nach unten gelaufen. Aber sie mahnte sich nicht voreilig zu sein, damit er nicht auf die Idee kam, dass sie auf ihn wartete. Jodie atmete tief durch und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Hallo Shuichi, schön dich zu sehen“, hörte sie ihre Mutter. „Gleichfalls“, antwortete er. Jodie zählte in Gedanken bis fünf, ehe sie die Treppen runter stieg. „Hey…“, gab sie von sich. „Da bist du ja schon.“ Angela hing die Jacke des Studenten an die Garderobe. Jodie nickte. „Wir gehen dann ins Wohnzimmer.“ „Wenn ihr etwas braucht, sagt Bescheid. Ich bin in der Küche und bereite das Essen vor.“ Angela sah zu Shuichi. „Du bist natürlich eingeladen.“ „Danke, das Angebot nehme ich gerne an“, entgegnete der Student. „Machen wir, Mom“, murmelte Jodie. „Wollen wir loslegen? Hier geht’s lang“, fügte Jodie hinzu und ging in das Wohnzimmer. Shuichi sah sich im Flur und im Wohnzimmer um. Der Tisch war bereits vorbereitet. Neben einem Laptop lagen ein Schreibblock sowie mehrere Stifte. Der Student setzte sich an den Tisch und holte seinen Laptop und einen USB-Stick aus seiner Tasche. „Möchtest du etwas Trinken oder eine Kleinigkeit essen? Wir haben Wasser, Saft, Cola oder wenn dir Tee oder Kaffee lieber sind, auch das. Ich könnte uns auch ein paar Snacks rausstellen.“ „Wasser reicht“, antwortete Shuichi. Jodie nickte. „Bin gleich wieder da.“ Sie huschte in die Küche, nahm zwei Gläser und eine Flasche Wasser. Auf einen Teller verteilte sie einige Kekse und ging mit voll bepackten Händen zurück ins Wohnzimmer. Sie stellte alles ab und sah auf Shuichi. Sofort musste sie lächeln. Der Student hatte sich bereits eingerichtet und tippte auf seinem Laptop rum. „Hast du dir schon überlegt, wie du studieren willst?“ „Wie ich studieren will?“, wiederholte Jodie leise und setzte sich. „Du hast verschiedene Möglichkeiten. Du könntest ein duales Studium anfangen und damit parallel erste Berufserfahrung sammeln. Aber es kann kompliziert werden, weil du beides unter einen Hut bekommen musst. Am Wochenende mal Spaß haben, ist dann nicht mehr drin.“ Shuichi sah zu ihr. „Du könntest natürlich auch auf Eliteuniversitäten wie Harvard oder Yale gehen und direkt zu deinem Bachelor einen Masterabschluss machen. Dann ist es natürlich unumgänglich, dass du für die Studienzeit dorthin ziehst. Oder du entscheidest dich für ein ganz normales College und machst erst einmal nur deinen Bachelorabschluss. Je nachdem, was du dir für deinen späteren Lebensweg vorstellst, ist es eine wichtige Entscheidung.“ Jodie schluckte. Dazu müsste ich wissen, was ich später will. Warum war es nur so schwer? Es schien als wüsste jeder, was er später mit seinem Leben anfangen wollte, nur sie nicht. „Gehst du deswegen hier aufs College weil es dich deinem Ziel näher bringt?“, wollte sie wissen. Akai nickte. „Um FBI Agent zu werden, ist es ausreichend wenn man eine abgeschlossene Hochschulbildung sowie eine dreijährige Berufserfahrung vorweisen kann. Ich hätte wahrscheinlich auch an den Eliteuniversitäten studieren können, aber dann hätte sich mein gesamter Zeitplan in die Länge gezogen. Und wenn ich erst einmal FBI Agent bin, kann ich weitere Kurse in meiner Freizeit belegen.“ Jodie sah ihn überrascht an. „Verstehe“, murmelte sie. „Du scheinst sehr früh gewusst haben, was du werden willst.“ „Kann man so sagen. Als ich im Urlaub in Japan bei der Fallaufklärung eines Mordes geholfen habe, hat sich mein Berufswunsch manifestiert“, antwortete der Student. „Hast du schon eine Vorstellung von dem, was du später machen willst?“ „Naja…“ Jodie errötete. „Um ehrlich zu sein…wollte ich früher immer FBI Agentin werden. Als ich ein Kind war, stellte ich mir immer vor, wie ich zusammen mit meinem Vater die Fälle löse. Ich weiß, es ist sehr kitschig, aber…naja…“ „Und wie sieht es jetzt aus? Kannst du dir die Arbeit immer noch vorstellen?“ „Das ist es ja, ich weiß es nicht. Ich möchte Menschen helfen, aber ich weiß nicht, ob ich als FBI Agentin so hilfreich bin“, entgegnete Jodie. „Momentan habe ich das Gefühl, dass alle wissen was sie mit ihrem Leben anfangen wollen, nur ich nicht.“ „Mhm…“, murmelte Shuichi nachdenklich. „Ich würde dir dann keine Eliteuniversität empfehlen. Sie haben außerdem ein härteres Auswahlverfahren und du kommst eher dort rein, wenn du ein Nachkomme eines ehemaligen Studenten bist oder deine Familie viel Geld hat. Am besten du gehst auf ein College in New York falls du zu Hause wohnen bleiben willst. An sich kannst du alles Mögliche studieren. Um beim FBI anzufangen gibt es keine bestimmte Studienrichtung. So wie ich das bei meinen Recherchen verstanden habe, ist es sogar gewünscht, dass man auch in anderen Bereichen gewisse Erfahrungen mitbringt. Sicherlich ist es nicht verkehrt, wenn man Kurse belegt wie Kriminologie oder Forensik, aber auch mit Mathe, Chemie oder Literatur kommt man weit.“ „Ja, das ist wahr“, sagte Jodie. „Dad hat auch schon davon erzählt. Einer seiner Kollegen war mal Anwalt und ein anderer hat Musik studiert.“ „Interessant.“ Akai überlegte. „Naja, wenn du dich bei den Colleges bewirbst, musst du ein Bewerbungsformular ausfüllen und einen Aufsatz schreiben. Das Thema findest du auf der Website des Colleges. Erhoff dir nicht zu viel, nur in den seltenen Fällen sind die Themen gleich. Außerdem musst du dir rechtzeitig ein paar Empfehlungsschreiben holen. Dabei ist es fast egal, wer dir diese ausstellt, Lehrer sind immer die erste Wahl. Ein weiterer wichtiger Teil deiner Bewerbung sind die SAT und ACT-Tests. Dabei wird deine Studierfähigkeit getestet, aber ich denke, da musst du dir keine Sorgen machen. Viel wichtiger ist das Thema deines Aufsatzes. Du solltest aufpassen, dass es nicht zu klischeehaft wird. Wenn das Thema Wer hat dich inspiriert? ist, nimm keine Autoren oder Eltern. Das macht jeder und du kannst dich nicht von den anderen Bewerbungen abheben. Eine Ausnahme ist es natürlich, wenn deine Eltern etwas Besonderes vollbracht haben. In deinem Fall wäre dein Vater nicht schlecht. Du könntest über einen seiner Fälle schreiben und wie sehr dir das geholfen hat. Kreativität kommt aber auch gut an.“ Shuichi überlegte. „Viele Colleges bieten auch Schnupperstunden an. Entweder sie sind ganztätig in den Schulferien oder du musst dich freistellen lassen. Andere finden auch am Abend statt. Oder du fragst bei laufenden Vorlesungen an, ob du als Gast teilnehmen kannst. Ich hab mich mal für dich umgehört.“ Shuichi rief ein Dokument auf seinem Laptop auf. „Es gibt mehrere Kurse in die du gehen könntest. Vorrangig habe ich bei meinen Dozenten nachgefragt und wenn wir sie frühzeitig darüber informieren, stellt es kein Problem dar.“ Jodie sah ihn überrascht an. „Du studierst Ingenieurswissenschaften, nicht wahr?“ Akai nickte. „Das ist richtig. In meinem Studiengang geht es im Grundstudium hauptsächlich um Mechanik, Physik, Elektrotechnik und Werkstoffkunde. Es ist die Frage wie interessant eine Vorlesung für dich wäre. Das musst du entscheiden. In den nächsten Semestern wird es allerdings in meinem Studiengang anspruchsvoller. Dann kommen Mathe, Chemie und Informatik dazu und ich werde Wahlfächer im Bereich Kriminologie wählen. Es gibt aber auch Auflagen bei denen du ein Haupt- und ein Nebenfach wählen musst. Das kommt immer darauf an, wie komplex dein Hauptfach ist. Bei den Ingenieurswissenschaften hast du neben dem theoretischen Unterricht noch praktische Fächer, wodurch es nicht möglich ist ein Nebenfach zu belegen.“ „Du hast dir ja ein richtiges Pensum aufgehalst. Hast du nie das Gefühl, dass es zu viel ist oder dass du für andere Sachen im Leben keine Zeit hast?“ Der Student schmunzelte. „Solange ich weiß, auf welches Ziel ich hinarbeite, kommt es mir nicht so schwer oder langwierig vor. Natürlich war das erste Semester nicht gerade einfach und interessant, aber da muss man durch. Grundlagen sind das A und O. Und du wirst sie in jedem Studiengang finden. Was natürlich auch wichtig ist, ist es sich zu informieren, welche Prüfungsleistungen du erbringen musst. Wenn du regelmäßig Klausuren schreiben musst, aber lieber mündliche Prüfungen ablegst, solltest du das in deine Pläne auch berücksichtigen. Auf jeden Fall würde ich dir raten, dich frühzeitig auf die Prüfungen vorzubereiten. Gerade am Anfang hat man das Gefühl, dass das Semester noch lang ist und man viel Zeit hat. Die Prüfungen kommen dann schnell. Und je nach Studiengang gibt es Dozenten die gerne Mal eine Zwischenprüfung schreiben oder einen unangekündigten Test.“ Shuichi musterte sie. „Du siehst gerade aus, als hätte ich dich abgeschreckt.“ „Was? Nein, nein, das war sehr aufschlussreich.“ Jodie sah zu ihm. „Ich wünschte, ich wüsste auch schon, was ich später werden will und wie ich mir mein Leben in einigen Jahren vorstelle.“ „Du solltest dich damit nicht so stressen“, fing Shuichi an. „Das College ist auch dafür da um sich auszuprobieren. Du kannst anfangs auch nur Kurse belegen und im nächsten Semester mit dem Studiengang starten. Und wenn du dich dazu entscheidest zum FBI zu gehen, wird dir dein Vater sicher dabei helfen.“ Jodie seufzte leise. „Das ist auch ein Problem. Ich hab davor Angst, dass ich auf seine Hilfe zurückgreifen muss.“ „Wie meinst du das?“ „Er tut so viel für mich“, fing Jodie an. „Was ist, wenn ich es aus eigenem Antrieb nicht schaffe? Ich hab einfach Angst, dass ich immer seine Hilfe brauchen werde. Deswegen will ich eigentlich auch nicht, dass er seine Kontakte spielen lässt und…mich kennen natürlich viele seiner Kollegen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich bei der Bewerbung dann bevorzugt werde. Das ist einfach so ein komisches Gefühl. Würde ich mich dann immer fragen, ob ich nur FBI Agentin bin, weil mein Vater Agent Starling ist?“ Shuichi lächelte. „So wie du dich anhörst, habe ich keinen Zweifel daran, dass du es schaffen wirst, egal als was du später arbeiten möchtest. Und wenn du wirklich beim FBI anfängst, wird zwar auch deine Vergangenheit bewertet, aber sie schauen sich auch dein Können an. Und wer weiß, vielleicht arbeiten wir irgendwann zusammen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)