Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 13: Erster Schultag --------------------------- Jodie lag schweigend in ihrem Bett und sah nach oben an die Decke. Aus dem Augenwinkel schielte sie zu ihrem Wecker auf dem Nachtisch. Sie hatte noch fünf Minuten ehe der schrille Ton erklang und sie aufstehen musste. Und auch wenn sie bereits wach war, bevorzugte sie noch das Liegen. Jodie seufzte leise und schloss die Augen. Die Zeit verging viel zu schnell und als sie den Weckruf hörte, griff sie nach ihrem Wecker. Sie stellte ihn aus und setzte sich langsam auf. Jodie gähnte herzhaft, nahm ihre Sachen und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. Als sie mit Zähneputzen und Umziehen fertig war, ging sie zurück in ihr Zimmer und überprüfte auf dem Handy die neusten Nachrichten. Jodie war sichtlich erleichtert, dass keine Zeitung das Thema Amber oder Connor erneut aufgriff. Trotzdem war sie sich sicher, dass der Schultag nicht leichter werden würde. Manchmal spürte sie die Blicke ihrer Mitschüler auf sich, wenn sie einen Gang entlang ging oder das Klassenzimmer betrat. Gerade in der Anfangszeit nach der Entführung wurde viel über sie geredet. Einige gaben ihr die Schuld an allem, vor allem die ehemaligen Freunde von Connor. Und dann gab es auch noch die, die einfach nur im Mittelpunkt stehen wollten. In vielen Interviews gaben sich Mitschüler – von denen Jodie nicht einmal die Namen wusste – als Freunde aus. Sie machten viele Versprechungen und wollten für Jodie da sein. Einige besuchten sie sogar zu Hause, aber nach wenigen Minuten auf dem Sofa, verließen sie das Elternhaus und Jodie fühlte sich nicht besser. Nachdem Jodies Entführungsgeschichte in den Augen ihrer Mitschüler nicht für genug Schlagzeilen sorgte, stand sie wieder alleine da. Und sie überstand die Zeit auch ohne freundschaftlichen Beistand. Jetzt musste Jodie nur noch einige Monate durchhalten, ihren Abschluss machen und sich für einen Studiengang oder Kurse entscheiden. „Los geht’s“, motivierte sie sich selbst und nahm ihre Schultasche mit nach unten. „Frühstück ist fertig“, rief Angela aus der Küche. „Ich hab heute keinen Hunger“, kam es von Jodie zurück. Sie zog ihre Schuhe an und nahm die Jacke in die Hand. „Ich mach mich jetzt schon auf den Weg in die Schule. Bis später.“ „Aber Jodie…“, murmelte Angela und ging in den Flur. Aber ihre Tochter war bereits weg. Angela seufzte und ging zurück in die Küche. Jodie zog sich draußen ihre Jacke an und marschierte los. Bei jedem Schritt fühlten sich ihre Beine schwer an und der Weg zur Schule dauerte um ein Vielfaches länger. Dreißig Minuten vor Unterrichtsbeginn kam Jodie gedankenversunken in der Schule an. Als sie auf den Eingang zuging, spürte sie vermeintliche Blicke. Jodie sah sich um, aber alle Mitschüler waren in rege Unterhaltungen vertieft. Sie schüttelte den Kopf und versuchte sich nichts anzumerken. Langsam stieß sie die Eingangstür auf und sah sich nach einem vertrauten Gesicht um. Wenn es nur so einfach war, wie alle sagten. Shukichi stolperte aus dem Sekretariat, richtete dann schnell seine Brille und sah wieder die Sekretärin an. „Entschuldigung“, fing er an und kratzte sich verlegen an der Wange. „Sie haben Ihren Stundenplan vergessen“, entgegnete Mrs. Cooper. „Ah…ja…stimmt…danke…“, gab der Junge von sich und nahm den Plan. Er sah drauf und schien irritiert. „Wie komme ich denn am besten zu den Räumen?“ „Sie müssen…“, begann Mrs. Cooper ehe sie Jodie erblickte. „Miss Starling, guten Morgen, kommen Sie doch bitte zu uns“, winkte sie sie heran. Jodie nickte und gesellte sich zu den Beiden. „Guten Morgen, was gibt es denn?“ „Wir haben einen neuen Schüler.“ Mrs. Cooper wies auf Shukichi. „Das ist Mr. Shukichi Akai, er geht in ihren Jahrgang und ich glaube, Sie haben auch einige Fächer zusammen. Bitte zeigen Sie ihm die Schule und die Räumlichkeiten. Ich verlasse mich auf Sie.“ „Ähm…“, murmelte Jodie leise und blickte zu Shukichi. Was für ein merkwürdiger Zufall. „Ja…ist gut.“ „Danke.“ Shukichi sah sie an und wartete bis die Sekretärin wieder im Büro verschwand. „Entschuldige, dass sie dich dazu verdonnert hat. Aber ich bin froh, dass ich ein bekanntes Gesicht vor mir habe.“ Er kratzte sich am Hinterkopf. „Ich war irgendwie vor dem ersten Schultag aufgeregt. Eigentlich sollte ich das nicht mehr sein“, gestand er. „Mhm? Was meinst du?“ „Meine Familie ist schon diverse Male umgezogen. Wir haben in Tokyo und in London gelebt, aber jedes Mal war mein erster Tag anders. In der Schule in Tokyo verlangte keiner eine große Vorstellung, in London hingegen fragten sie mich schon eher aus. Und hier weiß ich es noch nicht.“ „Es kommt drauf an, wie pünktlich du bist. Wenn du draußen auf dem Flur stehst und auf den Lehrer wartest, stellt er dich vorne vor und du musst ein paar Worte an die Mitschüler richten. Geh einfach direkt in den Klassenraum und warte bis alle ihre Plätze einnahmen oder frag, wo etwas frei ist. Wenn du dann schon sitzt, wirst du vom Lehrer in den meisten Fällen registriert und er stellt dich vor. Von dir wird dabei nicht so viel erwartet.“ „Das ist ein guter Hinweis“, nickte Shukichi. „Jetzt sollte ich nur noch wissen, wo ich überhaupt hin muss.“ „Zeig mir mal deinen Stundenplan.“ Jodie nahm ihm diesen aus der Hand. „Mhm…“ „Die Abkürzungen sehen für mich wie Hieroglyphen aus“, gestand er. „Waren deine anderen Stundenpläne so anders?“, wollte Jodie wissen. „Ich hatte immer das Glück, dass die Fächer komplett ausgeschrieben waren und meistens hatten wir auch immer im gleichen Raum Unterricht. Mrs. Cooper hat mir aber schon verraten, dass das hier anders ist.“ Jodie nickte. „Dein Plan ist trotzdem relativ übersichtlich und sie hatte Recht, wir haben einige Fächer zusammen. Hier schau mal.“ Jodie hielt den Plan so, dass er mit rein sehen konnte. „In jedem Kasten steht ein Fach in seiner Abkürzung. HIS für Geschichte, CHEM für Chemie und so weiter. Direkt darunter findest du das Kürzel des Lehrers. McA steht beispielsweise für McAllister. Am schwarzen Brett unserer Schule, welcher direkt neben dem Sekretariat hängt, findest du alle Kürzel. Du kannst mich aber natürlich auch gerne fragen.“ „Ich hoffe, dass ich dich nicht so oft mit irgendwelchen Fragen nerven werde.“ „Schon gut, selbst wenn, wäre es nicht schlimm.“ Jodie sah wieder auf den Stundenplan. „Unter dem Lehrerkürzel findest du den Raum. Im besten Fall hast du mindestens zehn Minuten zum Raumwechseln. Allerdings gibt es viele Lehrer, die die Hausaufgaben erst nach dem Klingeln bekannt geben und dann musst du hetzen. Besonders schlimm wird es, wenn alle Schüler gleichzeitig auf dem Flur den Raum wechseln wollen. Manchmal spürst du dann den einen oder anderen Ellbogen in der Seite. Und pass auf, dass du nicht hinfällst. Da achtet dann keiner mehr auf dich und wenn du Pech hast, trampelt dir der ein oder andere Mitschüler auf die Hand oder auf andere Stellen…“ „Hört sich ja sehr ungemütlich an“, gab der Junge von sich. „Man gewöhnt sich dran. Im Übrigen verzeihen es dir die Lehrer, wenn du in der ersten Woche noch zu spät kommst. Ab der zweiten Woche sind sie nicht mehr so gnädig mit dir. Die Pläne werden aber meistens so konzipiert, dass die Räume nah beieinander liegen. Manchmal musst du trotzdem laufen, zum Beispiel wenn du ein naturwissenschaftliches Fach hast. Die Räume dafür befinden sich in der ersten Etage.“ „Verstehe.“ Shukichi wirkte nachdenklich. „Laut Plan hab ich gleich Geschichte.“ Jodie nickte. „Ich auch. Schau mal, Mathe, Geschichte, Chemie und Sport haben wir zusammen. In deiner ersten Woche kann ich dich vor deinen Räumen abholen und zu den Richtigen bringen.“ „Macht dir das auch nichts aus? Nur weil du von Mrs. Cooper dazu verdonnert wurdest, musst du das nicht machen.“ „Ach was, das geht schon in Ordnung. Ich bin eigentlich immer recht schnell, wenn es darum geht von einem Raum in den Nächsten zu kommen.“ „Dann ist ja gut. Aber wenn du wegen mir zu spät kommst, lassen wir das.“ „Versprochen“, sagte Jodie. „Hast du schon einen Spind?“ „Ja, Nummer 232.“ „Gut, dann müssen wir in den westlichen Trakt gehen.“ Jodie sah auf die Uhr. „Und danach müssen wir in Raum 3-04. Das sollten wir schaffen. Dann folge mir mal.“ Jodie marschierte los. „Hier unten sind auch die Räume für Erdkunde, Geschichte und Mathe. Hast du schon deine Bücher bekommen?“ „Die soll ich in der Pause abholen.“ „Okay. Wie schaut es mit dem Essen aus? Hast du was da?“ „Ja, Mama hat mir was mitgegeben.“ „Das ist sehr gut“, entgegnete Jodie. „Es gibt hier auch eine Kantine, aber je später du in die Pause kommst, desto weniger Auswahl wirst du haben. Nicht zu vergessen die älteren Schüler, die sich gerne vordrängelnd. Die Tische in der Kantine sind auch sehr begehrt und wie in jeder anderen Schule gibt es ein unsichtbares Gesetz wer wo sitzen darf. Das zeig ich dir aber, wenn wir dort sind. Ansonsten kannst du auch draußen essen. Wir haben genug Bänke und Tische. Aber pass auf, dass du das Schulgelände nicht verlässt. Das mögen die Lehrer gar nicht und wenn du es doch tun musst, brauchst du eine Erlaubnis.“ Langsam merkte Jodie, wie sie in seiner Gegenwart auftaute. „Ich schlage vor, wir holen in der Pause deine Bücher ab und Essen danach entweder draußen, vor einem Klassenraum oder im nächsten Klassenraum. Wenn du sonst noch etwas aus dem Sekretariat brauchst, mach das so früh wie möglich in der Pause. Vielen Mitschülern fällt so was erst spät auf und gegen Ende der Pause zieht sich dann die Schlange. Das sehen die Lehrer im Übrigen auch nicht gern. Sie lassen es zwar als Ausrede fürs zu spät kommen gelten, aber wenn es zu oft vorkommt, musst du mit dem Direktor reden.“ Shukichi nickte. „Hier, mein Spind.“ Er zog den Zettel mit der Kombination für das Schloss heraus, drehte auf die richtigen Zahlen und öffnete seinen Spind. „Am besten du besorgst dir in den nächsten Tagen ein neues Schloss mit einer neuen Kombination. Das alte Schloss musst du behalten bis du den Spind abgibst. Und lager deine Bücher hier, außer du brauchst sie zum Lernen. Und noch ein Hinweis, schau direkt vor Ort in deine Bücher rein. Es kam schon einmal vor, dass Schüler Bücher bekamen, die beschrieben waren oder in denen Seiten fehlten. Als es erst am Ende des Schuljahres auffiel, ließen die Lehrer natürlich nicht mit sich reden und die Bücher mussten vom Schüler ersetzt werden. Gut, dann auf zu Geschichte…und danach quälen wir uns mit Mathe.“ Jodie machte sich auf den Weg in den Raum. Shukichi nickte verlegen. „Was ist los?“ „Ich war immer gut in Geschichte und Mathe“, gestand er. „Ach so…das ist doch nicht schlimm“, kam es von Jodie. „Willst du später wie dein Bruder hier studieren oder woanders?“ „Wahrscheinlich. Aber ich bin mir noch nicht sicher. Ich könnte mir auch vorstellen in Japan zu studieren, allerdings ist dort der Schwierigkeitsgrad der Aufnahmeprüfung nicht zu verachten.“ „Weißt du schon, was du studieren willst?“ „Noch nicht so ganz“, antwortete er. „Vielleicht mach ich etwas mit Richtung Mathe oder Naturwissenschaften. Ich rätsel gern…naja ich hab ja noch etwas Zeit um mich festzulegen und der Vorteil am Studium in den Staaten ist ja auch der, dass man sich erst einmal ausprobieren kann. Was das angeht, bin ich wohl nicht wie mein Bruder.“ „Wusste er denn so früh schon, was er werden will?“ „Das kannst du laut sagen. Manchmal hab ich das Gefühl, ich stehe in seinem Schatten. Naja…Shuichi hat diesen Berufswunsch schon länger. Weißt du, wir waren vor einiger Zeit in Japan im Urlaub und dort ist dann tatsächlich jemand ermordet worden. Es war total spektakulär, als ein fremder Wagen die Klippe runter raste und direkt ins Meer stürzte. Shuichi sprang sofort ins Wasser und wollte helfen, aber der Mann war bereits tot. Anfangs ging die Polizei von einem Unfall aus, aber später konnte Fremdeinwirkung festgestellt werden. Mein Bruder hat geholfen den Fall zu lösen.“ Shukichi wirkte stolz. „Er hat erzählt, dass er bereits länger mit dem Gedanken spielte FBI Agent zu werden und dass dies der Auslöser war, wegen dem er sich ganz sicher war. Von unseren Eltern gab es ein tierisches Donnerwetter, aber mittlerweile haben sie sich damit abgefunden.“ „Seit ich klein bin, war es auch mein Wunsch beim FBI zu arbeiten. In meinen Vorstellungen habe ich immer mit meinem Vater zusammen gearbeitet. Wir waren quasi ein Team. Aber…jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“ „Du schaffst das bestimmt“, entgegnete Shukichi. „Und mein Bruder ruft dich sicher auch bald an. Das hat er gestern noch einmal versichert.“ „Ach ja?“ „Wenn mein Bruder etwas verspricht, dann hält er sich auch daran. Naja…meistens…wegen dem Umzug wird es aber wohl noch etwas dauern. Ich glaube, Shuichi hat noch eine Hausarbeit die er schreiben muss. Aber sobald er sich etwas Zeit freischaufelt, meldet er sich.“ Jodie nickte. „Ich bin geduldig und wir haben ja noch Zeit mit unseren Bewerbungen.“ Jodie blieb vor einer Tür stehen. „So, wir sind da. Willkommen zu deiner ersten Unterrichtsstunde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)