Ahnungslose Augenblicke von Varlet ================================================================================ Kapitel 12: Shuichi ------------------- Als Masumi bei ihrem Bruder ankam, umarmte sie dessen Beine. „Du bist wirklich gekommen, Shu-nii“, rief sie freudig. Versprechen waren dehnbar und wenn es die Zeit nicht zu ließ, musste Shuichi absagen. In der Vergangenheit passierte es bereits allzu oft. Aber was hätte er anders machen können? Er studierte nun einmal nicht in Japan und konnte dementsprechend nicht andauernd hin und her pendeln. Seine Eltern wussten dies und unterstützten ihren Sohn so gut es ging. Da Shuichi allerdings auch unabhängig sein wollte, nahm er eine Stelle in einer Bar an und stand zweimal die Woche hinter dem Tresen. Hin und wieder spielte er für die Kundschaft auf dem Akkordeon und verdiente sich einen kleinen Zusatzbonus. Wann immer es ging, sprang er für einen kranken Kollegen ein, sodass er das ein oder andere Telefongespräch mit seiner Familie absagen musste. Die Wochenenden gingen entweder für die Arbeit, das Lernen oder Hausarbeiten drauf und im kommenden Semester war mindestens ein Praktikum geplant. Nur in den seltensten Fällen schaffte er es, die abgesprochenen Telefontermine mit seiner Familie einzuhalten und die 13 Stunden Zeitverschiebung waren dabei auch kein Vorteil. Nun wo die Familie auch nach New York zog, war die Situation natürlich anders. Sie konnten sich häufiger sehen. Allerdings wollte Shuichi – auch wenn er für die Renovierung und das Einrichten häufiger vorbei kam – nicht jede Woche rein schneien. Für seine kleine Schwester würde dies sicherlich bald zu einem großen Thema werden. Shuichi blickte nach unten zu ihr und schenkte ihr ein seichtes Lächeln, ehe er ihr durch die Haare wuschelte. „Komm, Shu-nii.“ Masumi griff nach seiner Hand. „Ich zeig dir mein Zimmer. Es ist schön groß.“ Das Mädchen strahlte. „Gleich, Masumi. Geh doch schon mit Shukichi nach oben, ich komm gleich nach.“ „Versprochen?“ Sie sah ihn mit ihren großen, grünen Kulleraugen an. „Versprochen“, nickte er. Masumi ließ seine Hand los und lief auf Shukichi zu, der gerade mit einer Kiste den Raum betrat. Sie sah ihn an und wartete bis er die Kiste auf den Boden stellte. Sobald dies geschehen war, ergriff sie seine Hand. „Komm, gehen wir nach oben. Shu-nii kommt auch gleich nach.“ Masumi wartete seine Reaktion nicht ab und zog ihn direkt mit. „Masumi, langsam.“ Shukichi taumelte hinter seiner Schwester her. Shuichi sah seinen Geschwistern für einen kurzen Augenblick nach. Masumi war ein wahrer Wirbelwind und wenn sie einen mit ihren Kulleraugen ansah, bekam sie fast alles, was sie wollte. Aber auch nur fast. Sie lebte noch ein unbeschwertes Leben und machte sich über nichts Sorgen. Shuichi wandte sich wieder Angela und Jodie zu. „Du musst Shuichi sein“, fing Angela an. „Ich bin Angela Starling und das ist meine Tochter Jodie.“ Shuichi nickte. „Freut mich. Sie sagten, ihr Mann sei FBI Agent?“ Natürlich fackelte er nicht lange und kam direkt auf den Punkt. „Das ist er“, antwortete Angela. „Seit über 15 Jahren“, fügte sie stolz hinzu. „Unter den Umständen nehme ich Ihr Angebot gern an.“ „Das dachte ich mir bereits“, entgegnete Angela. „Ich werde mit meinem Mann sprechen.“ „Danke.“ „Da gibt es aber noch eine Kleinigkeit“, fing Angela an. „Mom“, sagte Jodie leise. „Ich weiß Bescheid“, gab Shuichi von sich. „Im Gegenzug zu diesem Treffen soll ich mit Ihrer Tochter die Bewerbungsunterlagen für die Universität oder das College durchgehen.“ „Woher weißt du…?“ Angela sah ihn ungläubig an. „Die Haustür stand sperrangelweit offen.“ Shuichi sah zu seinen Eltern. „Ihr müsst besser aufpassen. Auch wenn ihr gerade im Umzugsstress seid, sollte die Tür nicht die ganze Zeit offen stehen. Vor allem dann nicht, wenn keine Kisten rein getragen werden. Die Kriminalitätsrate in Japan ist sehr gering, während die in den Vereinigten Staaten sehr hoch ist.“ „Das ist mein Sohn“, entgegnete Tsutomu. „Ein kleiner Besserwissen.“ „Von wem er das nur hat“, kam es süffisant von Mary. „Zur Hälfte von dir und zur anderen Hälfte von mir.“ „Gut gerettet“, schmunzelte Mary. „Ich sage nur, wie es ist.“ Shuichi steckte seine Hand in die Hosentasche. „Also Jodie, wie stehst du zu der Sache mit den Bewerbungsunterlagen?“ Dafür, dass das Mädchen ebenfalls beim FBI arbeiten wollte, war sie still, beinahe zu still. „Du musst das nicht machen. Ich schaff das schon alleine“, kam es sofort von Jodie. „Meine Mom hat das nur so gesagt. Und mein Vater wird sich auch trotzdem mit dir zusammen setzen. Es gibt dabei keine Bedingungen“, ratterte sie runter. „Jodie?“, Angela sah ihre Tochter an. „Es ist doch keine Schande, sich für die Bewerbung Hilfe zu holen. Das machen alle. Shuichi hat sich bestimmt auch Hilfe geholt. Das hast du doch, nicht wahr?“ „Um ehrlich zu sein, nein. Der Bewerbungsprozess in Japan ist anders als hier. Da sich drüben keiner meiner Lehrer damit auskannte, habe ich mich selbstständig damit auseinander gesetzt und das erste Studienjahr in Japan absolviert“, antwortete der Student und blickte zu Jodie. „Wenn der Umzug soweit abgeschlossen ist, helfe ich Shukichi bei seiner Bewerbung. Du kannst dich gern anschließen.“ Jodie nickte. „Okay“, murmelte sie leise. „Sag Bescheid, wenn du Zeit hast.“ „Hast du eine Handynummer unter der ich dich erreichen kann?“, wollte er wissen. „Hab ich“, nickte Jodie und schwieg. „Und die wäre?“ „Ach ja…tschuldige…“ Jodie holte ihr Handy hervor und suchte nach der Nummer. „Du kennst deine Nummer nicht auswendig?“ „Das Handy ist noch neu…genau wie die Nummer…ich hab sie noch nicht so oft verwendet“, gestand sie. Während des gesamten Prozesses vor einem halben Jahr und in der folgenden Zeit, wurde sie immer wieder von Reportern kontaktiert. Wie diese an ihre Nummer kamen, war ihr unklar. „Ach, da ist sie ja.“ Sofort ratterte sie die Zahlen runter. Shuichi sah sie überrascht an, nahm ihr dann aber das Handy aus der Hand und tippte darauf rum. Nachdem er ihr Adressbuch fand, speicherte er seine Nummer ein und rief sich an. „So, jetzt hab ich deine Nummer.“ Jodie nickte verlegen. Oh Gott, das ist so peinlich, sagte sie zu sich selbst. Obwohl Jodie dachte, dass der Tag nicht schlimmer werden würde, trat sie nun von einem Fettnäpfchen in das Nächste. Und dieser Junge machte die Situation nicht leichter. Er hatte etwas Ernstes, aber auch Tröstliches an sich. Obwohl sie ihn nicht kannte, fühlte sie sich wohl in seiner Nähe, auch wenn er sie verlegen machte. Jodie steckte in einem Dilemma. „Na gut“, begann Angela. „Wir sollten jetzt auch langsam gehen. Mein Mann fragt sich sonst wieder warum wir solange weg sind.“ Sie sah zu Shuichi. „Er meldet sich dann bei dir. Die Nummer hat ja Jodie.“ Akai nickte. „Wann immer es ihm passt. Ich bin sehr geduldig.“ Manchmal, sagte sich Tsutomu und warf einen Blick auf seinen Sohn. „Wir können die Tage mal einen Kaffee zusammen trinken“, entgegnete Mary. „Ja, gerne“, stimmte Angela sofort zu. „Und falls sie doch Hilfe brauchen, lassen Sie es uns wissen. Ich zeige Ihnen auch gerne die Gegend hier.“ „Auf das Angebot kommen wir bestimmt zurück.“ Shuichi blieb im Wohnzimmer bis die Verabschiedung zu Ende war und beide Mütter ihre Telefonnummern tauschten. Shuichi setzte sich auf das Sofa und tippte auf seinem Handy herum. Als seine Eltern wieder kamen, blickte er hoch. „Wohnen die Starlings nebenan?“, wollte er wissen. „Nicht direkt“, antwortete Mary. „Sie wohnen einige Straßen weiter weg und haben den Umzugswagen zufällig gesehen. Da wurden sie auch schon neugierig und kamen her.“ Shuichi verengte die Augen. „Und das kommt euch nicht merkwürdig vor?“ „Du siehst Gespenster, Shuichi“, sagte Tsutomu. „Du weißt doch, ich habe eine gute Menschenkenntnis und von den Beiden geht keine Gefahr aus. Außerdem glaube ich, dass dir Agent Starling eine Menge hilfreiche Tipps geben kann. Es kann nie schaden, Freunde beim FBI zu haben, wenn man dort anfangen will.“ „Mhm…“, murmelte Shuichi. Mary sah zu ihrem Sohn. „Das Passwort für das Internet liegt neben dem Telefon im Flur. Wenn du deinen Laptop mitgebracht hast, kannst du dich an die Recherche machen.“ Sie kannte ihren Sohn nur zu gut. Shuichi schmunzelte. „Dauert nicht lange.“ Er stand vom Sofa auf. „Da bin ich mir sicher“, entgegnete Tsutomu. „Und du recherchierst erst über die Familie, wenn alle Kisten aus dem Wagen in den Zimmern sind.“ Shuichi musste lachen. „Du willst doch nur dabei sein. Dabei dachte ich, dass du dich bereits über alles in dieser Gegend informiert.“ „Du doch auch“, gab der Ältere zurück. Shuichi ließ sich mit seinem Laptop auf das Sofa fallen. Kisten in das Haus schleppen war zwar nicht anstrengend, aber wenn er schon da war, wurde er gleich noch zum Auspacken verdonnert. Und da Masumi die ganze Zeit nach seiner Aufmerksamkeit rang, musste er auch auf sie Rücksicht nehmen. Hauptsächlich war er in ihrem Zimmer zugange und baute die ersten Möbelstücke auf. Als er damit fertig war, erwischte er seine kleine Schwester beim Schlafen auf dem Bett. Sofort umspielte ein Lächeln seine Lippen. Sie drückte ihren Teddy an sich und schlief friedlich. Während seine Mutter das Abendessen vorbereitete und Shukichi in seinem Zimmer seine alte Spielkonsole anschloss, konnte er die Zeit für die Recherche verwenden. Sobald die Suchmaschine geladen war, suchte er nach Agent Starling. Shuichi war sofort in seinem Element – Recherche um einem möglichen Rätsel auf die Spur zu kommen. Tsutomu setzte sich neben seinem Sohn. „Was gefunden?“ „Kann man so sagen. Agent Starling wird in vielen Zeitungsartikeln genannt. In vielen Fällen war er leitender Agent und wird sehr häufig gelobt. Ich bin auch auf einen älteren Zeitungsausschnitt gestoßen. Vor gut zwölf Jahren wurden er und seine Familie Opfer eines Anschlages, aber Starling konnte die Täterin überwältigen und die Hintermänner überführen. Außerdem wurde Starling oft für seine Taten ausgezeichnet. Vielleicht kann es wirklich nicht schaden, einen Kontakt beim FBI zu haben.“ Tsutomu nickte. „Wie ich schon sagte, die Familie ist in Ordnung. Und einen FBI Agenten in der näheren Nachbarschaft zu haben, kann auch für uns nicht schlecht sein.“ „Ich finde es trotzdem merkwürdig, dass sie ausgerechnet heute hier waren.“ „Amber Weston, die Tochter der früheren Besitzerin war eine Freundin von Jodie.“ Tsutomu sah ihn an. „Erinnerst du dich noch an die Artikel zur Ermordung von Amber und welches weitere Ereignis damit im Zusammenhang stand?“ „Die vorgetäuschte Entführung“, murmelte Shuichi nachdenklich. „Ich erinnere mich. Die Zeitungen schrieben, dass dieser Connor zuerst ein Mädchen auf Anordnung von Amber entführte und Amber am nächsten Morgen umbrachte. Man war sich über das Motiv nicht einig. Zum Schutz von Jodie haben sie lediglich ihren Vornamen genannt. Natürlich hat es bei mir geklingelt, als ich ihren Vornamen hörte.“ Shuichi tippte wieder etwas in das Suchfeld. „Da haben wir es. Es wird spekuliert, dass Connor herausfand, dass Jodie in die Entführung nicht eingeweiht war und Amber daraufhin zur Rede stellte. Bei ihrem Streit, brachte er Amber ausversehen um. Eine andere Theorie ist, dass Connor in Amber verliebt gewesen ist, sie aber nichts von ihm wissen wollte und er sie deswegen umbrachte. Es gibt noch weitere Theorien, zum Beispiel, soll er Amber beim Sex gewürgt haben, woraufhin sie erstickte.“ Tsutomu sah auf den Bildschirm. „Er hat die Tat nie gestanden.“ „Ich weiß“, murmelte Shuichi. „Stattdessen beteuerte immer wieder seine Unschuld. Aber die Beweise sprechen eindeutig gegen ihn.“ „Die Tat ist jetzt genau ein Jahr her.“ Tsutomu grübelte. „Das erklärt, warum es die Familie in die Gegend verschlagen hat.“ „Möglich“, sagte Shuichi. „Du hast noch Zweifel?“ „Zweifeln ist gesund“, antwortete der Student. „Es gibt auch Artikel in denen Jodies Beteiligung am Mord diskutiert wird.“ „Du glaubst doch nicht, dass sie damit irgendwas zu tun hat? Du hast Jodie gesehen, wirkt sie für dich wie eine Mörderin?“, wollte Tsutomu wissen. „Das hat nichts mit dem Aussehen zu tun“, fing Shuichi an. „Es kann sein, dass sie auf Amber wütend war und sich Rächen wollte. Spielen wir das Szenario einmal durch: Jodie wird von Connor entführt. Vielleicht steckt sie dem Jungen, dass nichts abgesprochen war und stachelt ihn gegen Amber auf. Oder aber die Entführung ging von ihr aus, wie Amber behauptet hat und Connor hat aus lauter Wut Amber umgebracht. Jodie kennt die Wahrheit, kann sie aber keinem sagen, weil alles aus dem Ruder gelaufen ist. Es ist zwar ein Jahr vergangen, aber sie muss immer noch mit den Konsequenzen leben.“ Tsutomu sah ihn an. „Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“ „Wenn du meinen Instinkt fragst, ich mir auch nicht. Aber bei einem Fall muss man jede Kleinigkeit und jedes mögliche Szenario bedenken. Wie heißt es doch so schön? Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“ Tsutomu schlug seinem Sohn begeistert auf den Rücken. „Du kommst wirklich nach denen Eltern und ich bin mir sicher, dass du eines Tages ein wirklich guter FBI Agent werden wirst. Und jetzt verrate mir, was ist die unwahrscheinliche Wahrheit?“ „Die Wahrheit ist“, fing er an. „…dass ich Jodies Beteiligung an Ambers Ermordung für ausgeschlossen halte.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)