Bartolomej von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 1: Schatten ohne Licht ------------------------------ Die große Uhr an der Wand zeigte 22:23 Uhr. Der Sekundenzeiger schwebte über der 32. 33. 34. 35. 36 … im Takt seiner Schritte. Von einer Ecke des durchsichtigen Käfigs zur anderen. Eine Pritsche, ein Klo – beobachtet von Kameras, die über dem Glas an der Decke befestigt waren. Ein vertrauter Zustand. Jemand wie er hatte kein Schamgefühl mehr. 22:24 Uhr. Die Tür zum Raum, in dem der Käfig stand, schwang auf. Besuch zu so später Stunde war ungewöhnlich. Aber für Jemanden, der kaum bis gar nicht schlief, kein besonderes Ereignis. Es würde den Sekundenzeiger nur etwas schneller bewegen – gefühlt. »Guten Abend, Bartolomej.« Die Schritte stoppten. Der Blick unter der Kapuze des schwarzen Hoodies hob sich nicht mehr so flüchtig wie eben, als sich die Tür geöffnet hatte. Ein Mann Ende Vierzig, teurer Anzug, frisierte Haare, offene Krawatte, polierte Lackschuhe. Oberflächliche Kleinigkeiten. Das Gesicht bekannt, vertraut, ebenso wie der Geruch, der durch die kleinen Löcher am oberen Rand der Glaswand drang. Ein teures Parfum, unverkennbar. Er müsste seinen Gegenüber nicht einmal sehen, um zu wissen, wer er war. Selbst der Klang der Schritte hatte sich eingebrannt. Bartolomej antwortete nicht auf den Gruß. Er sprach selten, weil seine Taten mehr ausdrückten, als Worte es je könnten. Und sein Vorgesetzter wusste das. »Wie ich sehe, hast du gute Laune. Ich habe Arbeit für dich.« Arbeit … Mit anderen Worten bedeutete das, dass er töten durfte. Das brachte seine Finger zum Zittern und seine leblosen Augen zum Funkeln. In seiner Kehle bildete sich ein Ton. Seine Stimmbänder vibrierten, aber nur ein Knurren drang über seine Lippen. Denn es bedeutete auch, dass er sich bis zu dem Augenblick, in dem es passieren würde, zusammenreißen musste. Und das wiederum … gefiel ihm kein bisschen. Seine Füße gerieten wieder in Bewegung und wie ein Tier schlich er vor dem Glas hin und her, genaustens von Juuri beobachtet. Er konnte die flüchtigen Zweifel sehen, die über das in die Jahre gekommene Gesicht huschten. Also zwang er seinen Körper dazu, still stehen zu bleiben und der Dinge auszuharren, die da kommen mochten. »Ich hole dir deine Kutte und deine Messer.« Juuri wandte sich ab, ohne noch einmal in den Käfig zu sehen. Bartolomejs Blick folgte ihm, bis sich die Tür wieder geschlossen hatte. Sein Gesicht drehte sich Richtung Uhr. 22:32 Uhr. Der Sekundenzeiger auf der 20. 21. 22. 23. 24 …     -     Juuri war nie allein, wenn er ihn in seiner Nähe hatte. Dieses Mal hatte Dima Dienst. Der junge Russe nahm keine Sekunde lang den Blick von ihm, als sie durch eine der zahlreichen Seitengassen Sankt Petersburg gingen und im Schatten blieben. Unter der Kutte sah Bartolomej nur das Stück Weg direkt vor seinen eigenen Schritten. Der Rest verinnerlichte sich von selbst. Juuris ruhiger Herzschlag, dessen blindes Vertrauen darauf, dass Dima ihn rechtzeitig aufhalten würde, sollte er den Drang verspüren, seinem Boss in den Nacken zu springen und … die daraus resultierende Nervosität des Leibwächters. Bartolomej war gefangen zwischen zwei Extremen und der Kick, den er dabei empfand, glich nichts anderem. Es wäre so einfach. Aber er dachte nicht einmal daran, Juuri ein Haar zu krümmen. Dieser Mann bot ihm Möglichkeiten, die sich ihm nicht bieten würden, wenn er allein wäre. Nicht, ohne dafür direkt ins Gefängnis zu wandern. Dort hatte er eingesessen, nachdem er einen von Juuris Leibwächtern ermordet hat. Das Oberhaupt des hiesigen Untergrunds hatte es nicht einmal bemerkt, bis er das Messer an der eigenen Kehle gehabt hatte. Und dann hatte Bartolomej etwas in dessen Augen gesehen. Etwas, das ihn lange genug gestoppt hatte, um weitere Sicherheitsleute auf den Plan zu rufen. Und dann … war alles dunkel geworden. Ein Schaudern ging durch seinen Körper, als er sich erinnerte. Er hörte die Sicherung der Pistole hinter sich. Ein raues Lachen drang über seine Lippen und Dimas Herzschlag setzte für einen Takt lang aus. »Entspann dich, Dima …«, ermahnte Juuri seinen Bodyguard. Ihm war das vertraute Klicken nicht entgangen. »Wir sind gleich da. Spürst du es schon, Bartos?« »… ja.« Dunkel. Ein Echo in der dunklen Gasse. Das Schlaflied eines Wahnsinnigen. Dima konnte regelrecht fühlen, wie ihn dieses einzelne Wort lähmte. Er hatte davon gehört. Die Dinge, die Bartolomej tun konnte. Die beiden mit Gift versetzten Dolche waren nicht das einzige Gefährliche an ihm. Es fiel ihm sehr schwer, sich zu entspannen, so wie Juuri es gefordert hatte. Seine Augen hingen an der schwarzen Kutte fest, die sich monoton hin und her bewegte. Einschläfernd. Dimas Konzentration schwand. Bartolomej musste nur schnell genug sein und … »Wir sind da.« Die Seitengasse mündete in einen Hinterhof. Ein paar Türen. Kein zweiter Ausgang. Juuri richtete seine Krawatte und drehte sich zu ihnen um. »Wartet hier.« »Sir …« »Nur eine Minute.« Juuri nickte Bartos zu und konnte sehen, dass sich unter dem Stoff der Kutte die Finger bewegten. Sie strichen über die Griffe der Dolche. Er kannte diese Bewegungen. Bartolomej roch das Blut, das noch nicht vergossen wurde. Aber sehr lange würde das nicht mehr auf sich warten lassen. Der Ältere drehte sich um und näherte sich einer der Türen. Laut klopfte er an das Metall und wartete. Bartos konnte Bewegungen hören. Aber die Pforte blieb geschlossen. Juuri klopfte ein weiteres Mal, dann räusperte er sich. »Ich weiß, dass du da bist, Matej und ich werde nicht weggehen. Die Zahlung ist fällig. Du hattest zwei Chancen. Ich will jetzt mein Geld und ich werde nicht länger warten.« »Verschwinde, Juuri! Ich habe fünf bewaffnete Männer hinter der Tür und werde nicht zögern, sie gegen dich einzusetzen.« »Gut. Das reicht mir als Antwort.« Juuri trat von der Tür zurück, drehte sich zu seinen Begleitern um. Es war nur ein kurzer Schreckmoment, als Bartolomej direkt hinter ihm stand und er nichts anderes sehen konnte als den vernarbten Hals des Kroaten. Er neigte etwas den Kopf, blickte an dem großen Körper vorbei und entdeckte Dima regungslos auf dem Boden liegend. »Ich hoffe, er atmet noch.« Der große Mann vor ihm hob leicht die Schultern und auch wenn Juuri es nicht sah, so wusste er, dass die spröden Lippen zu einem Grinsen verzogen waren. Zum Glück war er längst über den Punkt hinaus, dieses Verhalten erschreckend zu finden. Er machte dem Anderen Platz und Bartolomej näherte sich der Tür. Da waren Menschen hinter ihr positioniert. Er sah sie als Schatten in seinen Gedanken, nicht direkt durch seine Augen. Die hatte er geschlossen. Sie würden direkt mittig zielen. Es würde schnell gehen. Aber er würde schneller sein. Mit Schwung hob er sein Bein und ließ seinen Stiefel so fest auf die Tür treffen, dass das Schloss nachgab und das Metall nach innen aufschwang. Er duckte sich weg und blieb an der Wand, als er den ersten Dolch warf. Der Getroffene schwankte nach hinten, ein Schuss löste sich und löschte das einzige Licht aus, das den Flur erhellte. Alles andere … passierte so schnell, dass Matejs Leute es nicht einmal bemerkten. Ein kleiner Schnitt dort, ein weiterer da. Es war nicht einmal viel Aufwand nötig, aber der Anblick, als das VR zu wirken begann, war eine einzigartige Sensation, die Bartolomej immer wieder mit Freuden beobachtete. Es war das Einzige, das überhaupt eine Reaktion in ihm hervorrufen konnte. Juuri betrat hinter ihm den Flur. Er hörte einen einzelnen Menschen hektisch atmen und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er Bartos mitten auf dem Gang stehen – die Finger um den Hals des Schuldners, der keinen Boden mehr unter seinen Füßen hatte und sichtlich mit seiner Fassung rang. Juuri zog ein Päckchen Zigaretten aus der Innenseite seiner Tasche und klopfte eine einzelne Stange heraus. Das Licht seines Feuerzeugs erhellte die Szene vor ihm noch besser. Er sah die Angst in Matejs Blick. »Wenn ich jemandem sage, dass ich ihm Zeit für etwas gebe, das erledigt werden muss, dann gehe ich davon aus, dass derjenige dieses zuvorkommende Verhalten zu schätzen weiß und sich kümmert. Als ich meine Drohung ausgesprochen habe, dass ich mir das Geld holen komme, wenn du es mir nicht rechtzeitig bringst, dann habe ich das ernst gemeint. Nun … ich habe also nur noch eine letzte Frage. Hast du mein Geld oder nicht?« Matej zitterte am ganzen Leib und auf seiner Hose zeichnete sich ein dunkler Fleck ab. Juuri zog an seiner Zigarette und seufzte theatralisch. »Okay. Nicht die Antwort, auf die ich gehofft habe.« Er nickte Bartolomej zu und drehte sich um. Das Knacken war laut. Für Bartos war es nicht mehr, als ein Streichholz umzuknicken. Der leblose Körper fiel zu Boden und schwere Schritte folgten dem Russen durch den Schatten nach draußen. Juuri drehte sich nicht um, als er auf dem Hinterhof stehen blieb und den noch immer auf dem Boden liegenden Dima betrachtete. »Kann ich dich allein zurückbringen, ohne dass du mir Ärger machst oder muss ich jemanden anrufen?« Er drehte sich um und betrachtete den Mann mit der Kutte, der vor der Tür stehen geblieben war und wieder an den Griffen seiner Dolche spielte. Da war ein Knistern in der Luft. Es hielt Sekunden an. Vielleicht auch Minuten. Dann verschwand es. Die Hände unter dem schwarzen Stoff hielten still. Der Kopf senkte sich. »Gut.« Der Mafiaboss zog abermals an seiner Zigarette. »Nimm Dima mit. Wir können ihn hier nicht liegen lassen. Du musst dir dringend abgewöhnen, meine Leute umzubringen.« Keine Antwort. Er hatte auch keine erwartet.   -     Die Kutte war fort und mit ihr die Messer. Nur die Kapuze seines Pullovers schützte sein entstelltes Gesicht noch, als er ohne Widerstand den Weg zu seinem Käfig einschlug. Juuri entriegelte das Schloss, zog die schwere Tür auf und sah dabei zu, wie der Tod sie passierte. Auch wenn er es vor niemandem zugeben wollte, so fiel Juuri doch jedes Mal ein Stein von Herzen, wenn er die Tür hinter Bartos schließen und verriegeln konnte. Panzerglas. Hier kam der Kroate nicht raus. »Gute Arbeit. Wir sehen uns morgen. Brauchst du noch irgendetwas?« Das Kopfschütteln ließ sich nur erahnen, aber wurde zur Kenntnis genommen. Juuri löschte das Hauptlicht des Raumes. Nur im Käfig erleuchtete eine einzelne Lampe weiter das karge Innenleben und den Mann, der abermals von einer Ecke zur anderen wanderte, bis er mittig stehen blieb und den Blick wieder an die Uhr heftete. 01:46 Uhr. Der Sekundenzeiger schwebte über der 3. 4. 5. 6. 7 … Bartolomej leckte sich über die Lippen und grinste. Er war gesättigt. Kapitel 2: Phantom ohne Gesicht ------------------------------- Ein irrationaler Teil seines Gehirns sucht in seinen Erinnerungen nach einem Vergleich zu dem Schmerz, der sich wie Feuer in seinem ganzen Körper ausbreitet, als die Klinge des Fremden sein Gesicht aufschlitzt. Er sucht so verzweifelt, dass die Ohnmacht keine Chance hat, um ihn von dieser Qual zu befreien. Seine Sicht wird zu einem Meer aus Blut. Keine klaren Konturen mehr, dafür ein intensiver, metallischer Geruch, der sich sofort auf seine Zunge legt. Weil er schreit. Und weil er sich diesem Schmerz nicht entziehen kann, egal in welche Richtung er sich zu bewegen versucht. Der rationalere Teil seiner Gedanken schreit etwas von Gefahr, von Flucht, von Du wirst verdammt noch einmal sterben. Jetzt. Hier. Und du hast nicht einmal gesehen, wer es gewesen ist. Der Schmerz lässt sich mit nichts vergleichen. Trotz des ganzen Blutes versucht er etwas zu sehen, denjenigen zu erkennen, der ihn auf den Boden presst und lacht. Ist es ein Lachen? Bullseye ist an einem Punkt, an dem nur noch weißes Rauschen in seinen Ohren dröhnt. Die Erkenntnis, dass sein Leben zu Ende ist, kommt überraschend nüchtern. »Du wirst gar nicht ohnmächtig. Beeindruckend.« Das Rauschen wird lauter, bildet Silben, Worte. Auch der Trotz scheint zu den irrationalen Bereichen seines Kopfes zu gehören, denn Gott … wie sehr sich Kyrill wünscht, endlich das Bewusstsein zu verlieren. Er blinzelt das Blut weg, aber nur eines seiner Augen bewegt sich. Das Andere … ist einfach nicht mehr da. Wo ist es? Warum bewegt es sich nicht mehr? »Man fühlt sich regelrecht beobachtet …« Die Stimme ist verwaschen und dringt trotzdem unter seine Haut. Seine Fingerspitzen kribbeln. Der Schmerz verlagert sich an den Punkt, von dem er ausstrahlt und Bullseye nimmt all seine Kraft zusammen, um sich gegen den festen Griff zu stemmen. Es ist nur eine Hand, die seine Handgelenke über ihm auf dem Boden fixiert, während die andere mit dem Messer zugange ist. Der beißende Druck verschwindet, zieht eine brennende Spur an seinem Hals entlang, als er sich zur Seite wälzt, den linken Fuß auf den Grund unter sich stemmt und das Gewicht von sich hebelt. Der Stich, der folgt, ist nur ein weiteres Feuer. Es streut Adrenalin. Er wirft sein eigenes Messer blind. Es schlittert klirrend über den Asphalt. Sein Körper will sein Gleichgewicht nicht finden. Er schwankt nach links, dreht sich halb um sich selbst, ehe er sich ins Gesicht greift und tastet. Er spürt das Blut, das an seinem Arm hinunter läuft. Er fixiert seine eigenen Füße, deren Ränder verschwommen bleiben. Und dann … entdeckt er einen blutunterlaufenen Augapfel, dessen blau umrahmte Pupille ihn anklagend anstarrt. Er liegt im Dreck, als er zurück auf die Knie sinkt. Seine tastenden Finger finden nur eine leere Augenhöhle. Dann wird alles schwarz.      -     Als er wieder wach wird, ist seine Umgebung kaum anders als zuvor. Nur nicht ganz so kalt. Nicht ganz so dreckig. Trotzdem zirkuliert mit dem ersten bewussten, sehr tiefen Atemzug Staub in seinen Lungen und er hustet. Das erinnert seinen Körper an den Schmerz. Er ist noch da und brennt schlimmer als vorher. Bullseye keucht gequält und schließt das Auge, nur um es gleich wieder aufzureißen.   Sein Auge. Sein … linkes Auge … es lag auf dem dreckigen Asphalt, ehe alles dunkel wurde.   Da ist Widerstand an seinen Händen, als er sich ein weiteres Mal ins Gesicht greifen will. Wieder über seinem Kopf, nur liegt er dieses Mal nicht, sondern steht auf Zehenspitzen an einer kalten Wand. Grobes Material schneidet ihm ins Fleisch, aber als er nach oben sieht, entdeckt er in der Dunkelheit nicht viel. Sein Gesicht fühlt sich an, als hätte ihm jemand die Haut abgezogen und würde die frei gewordene Stelle nun in Salz wälzen. Ein weiteres Ächzen zieht ein anderes Geräusch nach sich. Schritte. Bullseye zuckt zusammen und starrt in die finstere Leere vor sich. Da ist noch immer angetrocknetes Blut an seinem verbliebenen Auge, das sich selbst durch permanentes Blinzeln nicht löst.   »Sei still … er darf nicht wissen, dass wir hier sind.«   Es ist der Fremde, der ihn angegriffen hat. Bullseye erkennt die verwaschene Stimme sofort. Er tritt zu, aber trifft nichts. Dennoch ist die Gewissheit, dass wenigstens seine Beine frei beweglich sind, fast beruhigend. Das schafft etwas mehr Ordnung in seinem Kopf, dessen Gedanken lange nicht mehr so chaotisch gewesen sind wie in diesem Augenblick. Der Andere scheint angespannt zu sein. Er darf nicht wissen, dass wir hier sind. Wer ist er? Juuri? Die Schritte entfernen sich wieder und auch wenn es sehr viel Anstrengung kostet, gewöhnt sich sein Auge langsam an die Finsternis und er kann die Kontur eines Mannes erkennen, der an einem Fenster zu stehen scheint. Es ist zugenagelt. Nur durch ein paar Lücken dringt das Licht der Straße ins Innere, doch der Staub, der hier schwebt, bricht es vielfach, sodass es nicht wirklich für Helligkeit sorgt. Aber es reicht aus. Es muss reichen. »… warum?«, presst er hervor, weil er will, dass der Fremde näher kommt, damit er ihn treten kann. Ihm weh tun kann. Oft hat er dieses Bedürfnis nicht, denn trotz seines Metiers ist er ein Mensch, der ein friedliches Dasein bevorzugt. Er würde einen Menschen nie töten, nur weil ihm danach ist, aber der Mann dort am Fenster … der bildet eine Ausnahme. Den würde er gerade mit Freuden umbringen. Der hat ihm sein Auge genommen. Wie soll er jetzt weiter mit Martha arbeiten? Welcher Einäugige bezeichnet sich selbst noch als Scharfschützen?   Die Schritte kommen zurück, doch wieder verharren sie außerhalb seiner Reichweite. »Er wollte dich mitnehmen. Das kann ich nicht zulassen. Du bist ein starker Mann, Kyrill.« Juuri benutzt immer seinen richtigen Namen, deswegen ergibt es Sinn, dass sein Gegenüber den Decknamen nicht kennt, den er mittlerweile sehr viel öfter benutzt als den Namen auf seinem Ausweis. Bullseye spürt, wie sehr er zittert und hofft gleichzeitig, dass man davon nicht viel sieht. Er ist noch nie in einer solchen Situation gewesen. Was ist da schief gelaufen? Die Informationen seines sonst so weitsichtigen Elternteils waren nicht richtig. Oder vielleicht sind sie es gewesen und dieser Mann da vor ihm ist nur ein weiterer Faktor, der zu denen gehört, die man einfach nicht mit einberechnen kann, weil sie sich nicht berechnen lassen. Hoffentlich haben es wenigstens die beiden Frauen, die ihn zu dem Deal begleitet haben, heraus geschafft. Er will nicht Schuld an ihrem Tod sein. Bullseye schluckt. Ja, seine Lage ist wirklich sehr befremdlich. Sie überfordert ihn. Er ist sich nicht ganz sicher, was er tun soll. Es gibt wahrlich nicht viele, die ihm überlegen sind und diesen Mistkerl … hat er nicht einmal gesehen. »Du … hättest es zu Ende bringen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest. Ich werde dich umbringen, du Arschloch!« Das Lachen hat er auch schon einmal gehört. Es dringt genauso mühelos unter seine Haut wie der Unterton, der in den Worten mitschwingt. Wie das Schlaflied eines Verrückten, eines Psychopathen und doch … anders. Bullseye hatte schon oft Kontakt mit weniger kompetenten Persönlichkeiten. Trotzdem hat er keinen Vergleich und kann sich auch an keine Situation erinnern, die der hier ähnlich gewesen wäre. Er ist schwer verletzt, festgebunden und sein Peiniger redet etwas von Stärke und klingt dabei fast schon bewundernd. Reiß dich zusammen, ermahnt er sich selbst und schließt das Auge. Er ist verrückt. Das macht ihn berechenbar. Aber Irrtümer sind menschlich. Auch das weiß er. »Ja, das wirst du, da bin ich mir sicher. Deswegen habe ich dich festgebunden.« Bullseye sieht in die Richtung der Stimme. »Und was hast du jetzt mit mir vor?« Die Gestalt dreht sich herum. »Das weiß ich noch nicht. Ich musste erst sicher gehen, dass Juuri weg ist. Dass ich abgehauen bin, wird ihm nicht gefallen. Er wird mich dafür eine ganze Weile eingesperrt lassen, aber das ist es mir wert. Du bist zu interessant. Ich will noch ein wenig Zeit mit dir verbringen.« So viele Worte, die keinen Sinn ergeben. Eingesperrt? Dieser Typ ist sonst weggeschlossen? Nachvollziehbar, aber das macht seine Situation keinesfalls besser. Ein Kloß bildet sich in seiner Kehle und Bullseye kriegt ihn einfach nicht hinuntergeschluckt. Diese Informationen verraten ihm einiges von dem Angreifer und nichts davon hilft ihm weiter. Wo hat Juuri diesen Kerl gefunden? Russe ist er jedenfalls nicht. Der Akzent ist seltsam. Die ganze Sprache klingt, als würde der Andere sonst nicht so viel reden. Vielleicht stimmt auch irgendetwas mit seinen Lippen oder Zähnen nicht. Wenn er nur mehr sehen könnte … »Ich habe kein Interesse daran, mich mit dir zu beschäftigen«, knurrt er deswegen leise und zerrt abermals an den Fesseln. Seine Schultern sind müde von der Haltung und auch seine Finger verlieren mehr und mehr an Gefühl. Wie lange war er ohnmächtig? »Das ist mir egal«, erklärte der Fremde und im gebrochenen, diffusen Licht blitzt eine Klinge auf. »Ich will es so. Dein Blut hat eine nette Farbe, auch wenn ich zugeben muss, dass ich eine Gänsehaut bekommen habe, als mich dein Auge da vom Gehweg aus angestarrt hat. Ich wollte es nur zerschneiden, aber es ist einfach herausgeplatzt. Ich habe wohl zu tief geschnitten. Aber so eine Klinge kann schon sehr überzeugend sein, nicht wahr? Du hast mit einem Mal ganz still gehalten.« Bullseye weiß davon nicht mehr viel. Nur der Schmerz ist realer denn je. Die Worte verursachen eine Übelkeit, die er kaum ignorieren kann. »Du bist krank.« »Nein«, schmunzelt der Fremde und kommt tatsächlich näher, ganz ungeachtet der Gefahr zu seinen Füßen.   Bullseye schaltet schnell. Sein rechtes Bein saust nach oben, trifft und der Kerl gibt ein leises Ächzen von sich, aber trotz der Stahlkappen in Kyrills Boots weicht er nicht zurück, sondern packt stattdessen sein Sprunggelenk und verdreht das Bein nach außen. Ein scharfer Schmerz zuckt durch seine Hüfte, doch er kann Schlimmeres verhindern, indem er der Bewegung schnell genug folgt, allerdings kostet ihn das seinen Vorteil. Der andere Mann steht zwischen seinen Beinen und ist so nahe, dass Bullseye der scharfe Geruch nach Schweiß in die Nase steigt. In einer anderen Situation, mit einem sympathischeren Menschen vor sich, hätte er das vielleicht gar nicht so schlecht gefunden, doch in diesem Kontext intensiviert das die Übelkeit. Sein Magen gurgelt qualvoll. Doch das ist nicht alles. Die Klinge … viel zu fest presst sich die Schneide gegen seine Kehle, dringt bereits durch seine Haut. Wenn er jetzt etwas sagt oder schluckt, dann kann er atmen für immer vergessen … »Das war nicht schlecht«, kommentiert der Andere diesen kläglichen Versuch. Bullseye blinzelt in die Dunkelheit und bereut es sofort. Das Lid des fehlenden Auges bewegt sich mit, reißt ein, lässt frisches Blut über die Öffnung rinnen und in sie hinein. Er sieht nur ein Kinn. Der Rest ist unter einer schwarzen Kapuze verborgen. Der Mann ist deutlich größer als er, aber schlanker. Im Grunde hätte er ihn viel einfacher überwältigen sollen, aber das beweist nur wieder, dass man sich nicht auf Äußerlichkeiten verlassen darf. Der Kerl ist schnell und stark. Mehr braucht es für den Job nicht. Und Bullseye gibt es nicht gern zu, doch den scheint der Kerl gut zu machen. Schließlich ist er von ihm fertig gemacht worden. »Wer … bist du?«, zischt er leise, sehr bedacht darauf, dass sich sein Kehlkopf nicht bewegt dabei. Er will den Namen des Menschen wissen, den er gleich umbringen wird … sobald er es schafft, irgendwie frei zu kommen. Die Chancen stehen schlecht. Der Druck des Messers wächst. »Bartolomej.« Bartolomej. Der Atem des Anderen streift seine Kinnlinie, so nahe ist das unbekannte Gesicht unter der Kapuze ihm. Dann raschelt es leise und der Stoff verschwindet. Darunter … ein nahezu kahl geschorener Kopf, farblose Augen und dann … ein Geflecht aus schlecht miteinander verwachsenen Hauptpartien, das sich bis zum Hals fortsetzt. Ein Großteil der Unterlippe ist einfach … nicht da. Dahinter funkeln helle Zähne. Das Grinsen macht das ganze Gesicht zu einer einzigen Fratze und unwillkürlich wendet Bullseye den Blick ab. Das … erklärt die undeutliche Sprache. »Was? Macht dir Angst, was du siehst? Schau mich an, verdammt!« Bartolomej schiebt die Klinge höher und presst sie von unten gegen seine Zunge. Bullseye muss dem Anderen das Gesicht wieder zuwenden, um dem Druck nach hinten ausweichen zu können. Millimeter nur. Widerwillig blinzelt er den Verunstalteten an. Ihm drängt sich die Frage auf, was diesem Mann passiert ist, aber eigentlich kann er es sich denken. Die Narben sehen nach einer Verbrennung aus. Vielleicht wurde Bartolomej von seiner Mutter mit kochendem Wasser überschüttet. Er hat nicht die leiseste Ahnung, wie nahe er mit seiner Vermutung liegt. »Sieh hin! Sieh dir an, zu was Menschen fähig sind und dann sag mir noch einmal, dass ich krank bin!« In dem Tonfall ändert sich nichts, dabei sollte so etwas doch Wut oder Trauer hervorrufen, einfach aufgrund der Erinnerungen, die einen da übermannen. Doch die Gleichgültigkeit bleibt. Ebenso wie die Tatsache, dass nichts diese Sache hier entschuldigt – nicht einmal eine grausame Kindheit. »Du bist krank. Daran ändert auch deine Visage nichts … oder wie du zu ihr gekommen bist. Du hast nichts anderes getan. Du hast mich ebenfalls entstellt und wir hatten nie etwas miteinander zu tun.« »Das spielt keine Rolle. Alle Menschen sind gleich. Sie treten in dein Leben, sie erwarten Dinge von dir und wenn du sie nicht erfüllst, tun sie dir schreckliche Sachen an. Aber das kannst du nicht verstehen. Für dich wird sich die Welt weiter drehen, ob nun mit beiden Augen oder mit nur einem. Außer ich setze dir hier und jetzt ein Ende.« »Warum hast du das dann nicht schon längst getan?« Das scheint Bartolomej nachdenklich zu stimmen, denn er antwortet nicht sofort. Dann heben sich die breiten Schultern. »Ist lange her, dass ich jemanden interessant genug fand, um ihn nicht umbringen zu wollen, aber so wie es aussieht, bist du auch nur einer von den vielen, die verschwinden können.« Das Messer zieht seine Spur. Bullseye kann sich nicht noch mehr strecken. Die verzogenen Lippen berühren fast sein Kinn. »Hast du Angst vor dem Tod?« »Ja …« »Hm …«   Das Messer entfernt sich und Bullseye holt hastig Luft. Er versteht es nicht, aber das ist nicht wichtig. Er starrt in die leeren Augen. Die Fratze verzerrt sich weiter, neigt sich ein wenig. Alles an dem Anderen ist abstoßend. Und Bartolomej scheint das zu wissen. Das macht ihn alles andere als berechenbar. Bullseye hat sich geirrt und er kann spüren, dass dieser Mann nicht nur auf seiner Haut Spuren hinterlässt. Er glaubt nicht, dass er dieses Gesicht jemals wieder vergessen wird. Nur am Rande nimmt er wahr, dass sich etwas an Bartolomejs Haltung verändert. Und plötzlich ruckt der Kopf in Richtung des Fensters. Die Kapuze wird wieder über den kahlen Kopf gezogen, der Schweißgeruch schwindet. Bartolomej starrt abermals durch die Lücken des zugenagelten Fensters, ehe er verhalten flucht. »Ich schätze, wir müssen unsere kleine Unterhaltung auf ein anderes Mal verschieben.« In der Finsternis wird eine Tür aufgerissen und das flüchtig eintretende Licht von den Straßenlaternen draußen offenbart einen alten Lagerraum. Bartolomejs Silhouette unterbricht den blassen Schein. In der Tür dreht sich der große Körper noch einmal um. »Bis bald, Kyrill. Es war fast eine Freude, dich kennenzulernen, aber ich kann dir versprechen – das nächste Mal kommst du mir nicht davon.« Dann verschwindet er und lässt Bullseye zurück, der nicht weiß, was gerade passiert. Doch die Bedrohung ist weg und so ruft er, schreit, so laut er kann, auch wenn es den Blutfluss an seinem Hals und hinter seinem Kinn noch verstärkt. Er tritt gegen einen leeren Kanister zu seiner Rechten. Noch mehr Krach. Er kann draußen Stimmen hören und schneller werdende Schritte. Jelenas Gesicht taucht in der Tür auf, wenig später das seiner Mutter. »Kyrill …« Die kurzen Haare fallen ihr ins Gesicht, als sie vor ihm auf die Knie sinkt und er zum ersten Mal das blanke Entsetzen in ihrem Blick erkennen kann. Er wollte nie der Grund dafür sein und doch … »Es … tut mir leid. Ich … ich habe versagt«, presst er hervor, während er im Hintergrund das Keuchen von Swjeta und Jelena hören kann. »Was redest du denn da? Kyrill … wir müssen dich sofort ins Krankenhaus bringen.« Das klingt so gut, dass Bullseye nur lächeln kann. Sie werden ihm sein Auge nicht wiedergeben können, aber wenigstens … wird sich nichts entzünden und ihm wird nicht das halbe Gesicht zerfallen, so wie bei dem Mann, der ihn in diese Situation gebracht hat. »Juuri … er … er hat einen neuen Mann an seiner Seite«, beginnt er, doch Olga schüttelt den Kopf, steht hastig auf und schneidet mit seinem Messer die Seile über seinem Kopf durch. Sie muss es draußen auf der Straße gefunden haben. Er hat es einst von ihr geschenkt bekommen. »Du kannst mir später davon erzählen. Swjeta! Notruf!« »Jelena telefoniert schon.« »Gut.«   Bullseye schließt das Auge und sinkt gegen seine Mutter, als seine Arme frei sind und seine Schultergelenke unheilvoll knirschen. Die Übelkeit kehrt zurück. Und die Dunkelheit. Er will ihre schmale Schulter nicht mit seinem Gewicht belasten, aber er kann nicht anders. Jede Kraft weicht aus seinem Körper, als ihm bewusst wird, dass er jetzt tot wäre, wäre sein Team nicht zurückgekommen, um ihn zu befreien. Dieser ganze Deal, den er gemeinsam mit den beiden Frauen im Hintergrund über die Bühne bringen sollte, hat er vollkommen versaut. Er fragt sich nicht einmal, wo Jelena und Swjeta gewesen sind. Er weiß noch, dass er ihnen zugebrüllt hat, dass sie fliehen sollen, aber was war dann passiert? Das Chaos ist zurück und immer wieder blitzt Bartolomejs Fratze vor seinem inneren Auge auf. Sie macht ihn schwach und er zeigt diese Schwäche, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubt. Er hofft einfach, dass Olga nicht fragen wird. Er wird ihr kurz erzählen, wer Juuris neuer Mann ist, aber nichts von dem, was geschehen ist. Er will nicht, dass sie ihn für schwach hält. Er ist alles, was sie hat. Und beinahe … hätte sie alles verloren. Die Dunkelheit intensiviert sich. Er kann noch ihr Fluchen hören, ehe alles ganz still wird. Jemand lacht in der Ferne.   Es ist Bartolomej. Kapitel 3: Junge ohne Herz -------------------------- I     Jeder hat diesen einen Menschen, an den er in schwachen Momenten denkt. Jeder – da gibt es keine Ausnahme. Bartolomej hat nicht viele von ihnen. An seinen letzten kann er sich nur schwer erinnern, also versucht er es gar nicht erst. Er muss Jahre zurückliegen. Ein flüchtiger Augenblick des Fühlens. Ein normaler Mensch würde ihn gar nicht bemerken. Er würde vorbeiziehen und nur den Randgedanken, dass man wegen irgendetwas traurig ist, aber dass es vorbeigeht, zurücklassen – so wie immer. Bei ihm ist es anders. Schwache Momente bedeuten aufwühlende Gedanken und blasse Erinnerungen, die Narben wieder aufreißen, die er für vergessen gehalten hat. Was ihm widerfahren ist, liegt viele Jahre zurück, aber es hat einen Teil seines Inneren getötet. Vielleicht den einzigen Teil, der überhaupt zu solcher Schwäche fähig gewesen ist. Wann hast du schon einmal so etwas wie Liebe erfahren?, fragt er sich dann. Warum vergleichst du diese hastigen Atemzüge mit etwas, das du nicht kennst? Niemand kann ihm darauf eine Antwort geben. Bartolomej erwartet auch keine. Niemand ist Zeuge dieser Momente. Manchmal schleichen sie sich nachts in sein Bewusstsein, wenn er keinen Schlaf findet, das Ticken der riesigen Uhr an der Wand außerhalb seines Käfigs zu laut ist und das Licht der einen Glühbirne innerhalb der gläsernen Mauern zu grell. Dann denkt er an Adrijano und fragt sich, wie es sich angefühlt hätte, den Anderen zu küssen und dann erinnert er sich, dass er ihn niemals wiedersehen wird, um es in Erfahrung bringen zu können und würgt diese Erinnerungen ab, ergibt sich der Monotonie und zieht weiter seine Kreise, um ihn wieder zu vergessen. Diesen einen Menschen, der ihm nicht so egal gewesen ist wie alle anderen. Dieser eine Mensch, dem er nicht egal gewesen ist, als es geschehen ist. Diese Sache, die alles verändert hat. Diese eine Sache, die ihn innerlich getötet hat. Und dann lacht er, weil es keinen Sinn macht, überhaupt darüber nachzudenken. Ein dunkler, wehleidiger Laut, der nicht zu ihm gehören kann und doch so tief aus seinem kalten Herzen kommt, dass es fast schon schmerzt, auch wenn er das gar nicht mehr fühlen sollte.     II     Adrijano war niemand Besonderes. Er sah nicht besonders gut aus, er war nicht beliebter als die meisten anderen, nicht der Klassenstreber und auch nicht der Beste im Sport. Dunkle Haare, helle Augen und ein Allerweltsgesicht – so wie es jeder hier hatte. Und doch geriet er stets in Bartolomejs Fokus, vor allem dann, wenn Adrijanos Klasse Sportunterricht hatte und Bartos sich unter den mobilen Tribünen vor seinen Klassenkameraden versteckte. Er war ein Sonderling. Nicht, weil er seltsam aussah. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, fielen ihm nicht sonderlich viele Unterschiede auf. Seine Augen waren vielleicht etwas leerer als üblich, seine Lippen mehr nach unten verzerrt als nach oben, allgemein grimmiger als andere Schüler. Außerdem war er so viel größer als alle anderen seiner Altersklasse. Aber das war doch kein Grund, um … schlechter von ihm zu denken. Von seinen Familienverhältnissen wusste auch niemand. Zumindest hatte er nie etwas davon erzählt, aber vielleicht tratschten die Leute in der Stadt zu sehr und er hatte es nur nicht mitbekommen. Er konnte sich jedenfalls nicht erklären, warum die Anderen mieden ihn. Wenn sie das nicht taten, dann ärgerten sie ihn, spielten ihm Streiche und je älter sie wurden, desto schlimmer waren die Dinge, die sie sich einfallen ließen. Adrijano bemerkte von all dem nichts. Er war – so hatte Bartolomej gehört – in der Stufe über ihm und würde nur noch bis zum Sommer hier sein.   Es war schon Winter, als er sich am gleichen Ort versteckte, nur war es noch schwerer ihn zu finden, denn die Massen an Schnee sorgten dafür, dass die Tribünen eingefahren wurden und draußen kein Unterricht mehr stattfand. Trotzdem nutzten viele die Rückseite der Schule dafür, um Dingen nachzugehen. Zigaretten wurden hin und her getauscht oder auch gleich geraucht. Andere kamen her, um sich nahe zu sein, ohne dass gleich alle davon Wind bekamen. Eines Tages war auch Adrijano einer von diesen Menschen, die mit einem anderen verschwanden, um herumzuknutschen. Bartolomej sah es aus der Ferne und das Gefühl, das in seinem Inneren aufstieg, konnte er nicht benennen, aber es fühlte sich an, als würde es seine Eingeweide durch den Fleischwolf drehen. Er kannte das Mädchen nicht, das Adrijano gegen die Wand drückte und in deren Hose er unkoordiniert herum fummelte, doch in diesem Augenblick hasste er sie so abgrundtief, dass er sich vorstellte, wie er sie aus dem Weg räumen konnte. Dann wurde dieser Gedanke von der Frage ersetzt, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er an ihrer Stelle wäre und Adrijanos Lippen auf seinen spürte. Das war ihm bei niemandem sonst passiert. Nie. Und dieser Wunsch erschreckte und verstörte ihn.     III     Er war 16, als vier seiner Mitschüler ihn während der großen Pause zu den Toiletten zerrten, die kaum jemand benutzte, weil sie widerlich waren und nie sauber gemacht wurden. Er schrie nicht. Er wehrte sich auch nicht. Das tat er erst, als er den Campingkocher mit dem Topf an der Wand stehen sah. Dampf stieg von dem kochenden Wasser auf und alles in ihm schrie nach Flucht. Doch trotz seiner Größe hatte er gegen vier ebenfalls recht kräftig gebaute Jungen nicht den Hauch einer Chance. Sie schrien ihn an, warfen ihm vor, seine Mutter sei eine Hure und sein Vater ein Säufer, dass er stank und allen Schülern Angst einjagte, weil er ständig schaute, als würde er jeden Einzelnen von ihnen umbringen wollen. Sie hatten Topflappen. Drei hielten ihn am Boden, der Vierte deutete an, den kochenden Inhalt über ihn zu schütten, wenn er sich nicht entschuldigte. Er tat es, auch wenn er nicht verstand, wofür. Er flehte sie an, wehrte sich weiter, traf den Kerl, der den Topf hielt, mit den Füßen. Vielleicht war er im Endeffekt selbst Schuld daran, dass sein Mitschüler das Gleichgewicht verlor, der Topf seinen Händen entglitt und samt dem Inhalt auf ihn fiel. Für den Schmerz existierte keine Beschreibung, kein Vergleich … nichts. Das Gefühl, als sich der Stoff seines Shirts unter die Haut brannte … Das entsetzte Keuchen der Anderen, die rechtzeitig ausgewichen waren und dann rannten, während er zitternd zurückblieb, weil er nichts anderes tun konnte. Sein Gesicht, sein Hals, sein Oberkörper und seine Arme … alles schien nicht mehr zu ihm zu gehören in diesem Augenblick. Sein ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Er war gelähmt. Nicht einmal schreien konnte er. Nur viel zu schnell atmen, wimmern, zittern, wimmern, zittern, wimmern …     IV     Jetzt kann er sich nicht mehr im Spiegel anschauen. Er will es einfach nicht. Seine Haut ist nie richtig geheilt. Sie spannt bei jeder Bewegung, die er macht, ist taub und fühlt sich unter den Fingerspitzen an wie Leder. Er verbirgt sie unter schwarzen Pullovern, selbst in den Sommermonaten. Ein Teil in ihm glaubt, der derbere Stoff würde sich nicht einbrennen, wenn er mit kochendem Wasser übergossen wird. Es ist ein irrationaler Gedanke. Die Kapuzen sind nur ein Bonus. Unter ihnen kann er sein entstelltes Gesicht verbergen. Er hat Probleme mit dem Trinken oder dem Essen von Suppen, weil er kein Gefühl mehr in seinen Lippen hat. Jetzt wird ihn niemand mehr küssen wollen. Und wenn, dann wird er trotzdem nicht erfahren, wie es sich anfühlt. Niemand wird ihn jemals berühren wollen. Von niemandem will er noch berührt werden. Manchmal nimmt er einen seiner Dolche und ritzt in die Haut, um sie zu fühlen. Nichts passiert. Es blutet nicht einmal wirklich. An seinen Handflächen ist das anders. An seinen Oberschenkeln. Doch nicht einmal der Schmerz ist der Rede wert. Nichts ist mit dem zu vergleichen, was ihn damals zerrissen hat. Nicht einmal die Ohnmacht hat ihn erlöst. Die Uhr an der Wand bringt ihn immer wieder ins Hier und Jetzt zurück, weil sie die Zukunft zeigt. Immer. Nicht das, was hinter ihm liegt. Die Zeiger bewegen sich immer nur vorwärts, nie rückwärts. Dann beginnt er zu laufen. Hin und her, bis der Selbsthass nachlässt. Bis das Bedürfnis verschwindet, sich selbst zu verletzen. Oder die Gedanken daran, was gewesen wäre, hätte er sich damals nur anders verhalten. Hätte er Freunde gehabt? Was hättest du mit ihnen angestellt? Du hast keine Ahnung von solchen Dingen. Und dann verschwindet auch diese Frage im Nichts seines Bewusstseins und nur ein Drang bleibt. Jemand anderen verletzen. Denn das ist alles, was eine Rolle spielt. Alles, was er kann, was ihm irgendetwas gibt, auch wenn er selbst dafür kein Wort hat.   »Du bist perfekt für den Job. Du hast keine Hemmungen, kennst keine Reue. Du hinterfragst nicht, sondern handelst. Es sollte mehr Menschen wie dich geben.«   Juuri hat das nicht nur ein Mal zu ihm gesagt.     V     Adrijano war Derjenige, der ihn damals gefunden hat. Bartolomej hat sich nie nach dem Grund gefragt, warum jemand freiwillig diese versifften Toiletten besuchen sollte, aber vielleicht hat es ihm das Leben gerettet. Er kann sich viel zu gut daran erinnern, wie der Junge ausgesehen hat. Ganz anders als sonst. Entsetzt oder besorgt, auch wenn Letzteres vorausgesetzt hätte, dass sie einander kannten und da dem nicht so war, konnte das keine Sorge in dem fassungslosen Gesicht sein. In den hellen Augen mit dem Schatten über dem sonstigen Funkeln. »Oh Gott … was ist passiert? Warte … ich hole Hilfe … verdammt … oh Gott …« Wie ein Singsang, der sich tief in die frischen Wunden wühlte.   Danach war es lange Zeit dunkel. Aufgewacht ist er im Krankenhaus, eine piepende Maschine neben sich, die verletzte Haut unter zahlreichen Bandagen verborgen. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nach niemandem rufen. Niemand saß an seinem Bett und niemand kam ihn besuchen. Sie sagten ihm, seine Mutter wäre hier gewesen und hätte Sachen vorbei gebracht. Sachen, die er nicht tragen konnte, da sie seine Verbände fast stündlich wechseln mussten. Er wunderte sich nicht darüber, dass seine Eltern kein Interesse an ihm zeigten. Das hatten sie nie. Vermutlich waren sie froh, ihn für eine Weile los zu sein. Bartolomej wusste, dass ihn das wütend machen sollte. Traurig. Dass er enttäuscht sein sollte, dass er ihnen tatsächlich so wenig bedeutete. Doch er fühlte nichts. Nur den Schmerz, gegen den selbst das Morphium, das sie ihm gaben, nicht helfen konnte. Eine Hauttransplantation sei nicht möglich, sagten sie ihm. Es gibt keinen Spender. Immer nur Worte am Rande. Worte aus einer Welt, von der er kein Teil mehr war.   Wochen später kam Adrijano ihn besuchen. Er saß einfach an seinem Bett, als er eines Nachmittags aufwachte. Bartos hielt ihn für eine Erscheinung. Für eine Einbildung, die ihm sein Geist vorgaukelte. Doch diese Einbildung begann zu sprechen. Kein Hallo oder Wie geht es dir? »Bartolomej … ich muss wissen, wer das gewesen ist. Ich werde mich um diese Bastarde kümmern.« Adrijano kannte seinen Namen, aber vermutlich hatte er ihn von einer der Schwestern erfahren. Vielleicht auch von dem Lehrer, den er geholt hatte. Das bedeutete nichts. Die Tatsache, dass er sich um die Jungen kümmern wollte, die ihm das angetan hatten, war da schon verwirrender. Bartolomej wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Dazu war er auch gar nicht imstande. Die Verbände in seinem Gesicht fixierten seinen Mund. Sie hatten ihm nur eine Öffnung gelassen, durch die er Suppe und pürierte Speisen zu sich nehmen konnte, während sein restlicher Wasserhaushalt von einer Infusion aufrecht erhalten wurde, die sie wechselten, sobald sie leer war. Doch seine Augen waren frei und mit denen starrte er den Anderen an. Der Schatten über den hellbraunen Iriden war noch da. Er war auch auf den Lippen, auf dem ganzen Gesicht. Ihm wollte nicht mehr einfallen, was er einst mit diesem Jungen verbunden hatte. Dieses namenlose Gefühl war nicht mehr da. »… warum?« Dieses eine Wort kostete ihn schon alle Kraft, die er aufbringen konnte und langsam ließ die Wirkung des Morphiums nach. Der Schmerz begann sich zurück in sein Bewusstsein zu fressen. Mehr als er ertragen konnte und doch betätigte er nicht die Klingel. Er wollte, dass Adrijano sah, wie sehr er litt und sich schlecht fühlte, weil er sich nie um ihn gekümmert hatte. Aber vermutlich war er auch daran nur selbst Schuld. Er hätte einen Versuch wagen können, mit dem Anderen ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wären sie Freunde gewesen. Doch die Dinge waren anders gelaufen und jetzt … brauchte er das nicht mehr. Überhaupt nichts mehr. Da war nur noch Hass. Das einzige Gefühl, dessen er sich noch bewusst war. Adrijanos Augen wurden größer. Er gestikulierte mit seinen Händen. »Damit können sie doch nicht durchkommen! Dafür müssen sie ins Gefängnis. Du wärst beinahe drauf gegangen!« »… was … interessiert … dich … das …?« »Du verdienst Gerechtigkeit …« Als wäre es die einzig mögliche Aussage. Bartolomej wollte fast lachen, wäre er nicht so gelähmt. Er verdiente nicht mehr als den Tod, aber der hatte ihn angesehen, ihm den Mittelfinger entgegen gestreckt und war wortlos weiter gegangen. Was er mit diesem Leben nun anstellen sollte, blieb noch abzuwarten. Nichts Gutes – das war das einzige, was er wusste. Er würde nicht hier bleiben. Nie wieder würde er auch nur einen Fuß auf das Schulgelände setzen. Er würde niemanden von ihnen jemals wiedersehen. Auch Adrijano nicht. Das verlieh dessen Aussage noch mehr Ironie. Hinzu kam, dass einer der Jungen, die ihn verbrüht hatten, Mateo gewesen war – Adrijanos kleiner Bruder. Wie wollte sich der Andere darum also kümmern? Nichts als leere Worte.     VI     Vielleicht hätte Bartolomej ihm damals den Namen nennen sollen. Mittlerweile spielt das keine Rolle mehr. Er weiß nicht, was die Jungen jetzt machen oder ob sie überhaupt noch leben. Sie haben kein anderes Leben geführt als er selbst, als würde es ihn nicht überraschen, wenn sie auf der Straße gelandet sind oder Drogenprobleme haben. Kroatien ist kein reiches Land und wird es vermutlich nie sein. Ins falsche Milieu abzurutschen, passiert schnell. Er für seinen Teil hofft, dass sie bereits alle in der Hölle schmoren und er ihnen bald Gesellschaft leisten kann, um sie all die Qualen durchleben zu lassen, die er durchgemacht hat.   Aber die schwachen Momente kehren trotzdem immer wieder zurück. Nicht oft, aber auch nicht so selten, wie er es gern hätte. Und dann stellt er sich vor, was passiert wäre, hätte er Adrijano gesagt, dass es sein eigener Bruder gewesen ist, der ihm den Topf mit heißem Wasser über den Körper geschüttet hat. Oder wie sehr er es genießen würde, wenn er die mittlerweile erwachsenen Männer suchen und töten würde – so wie er es schon bei so vielen getan hat. Ihre Namen stehen in dem kleinen Notizbuch, was das Einzige ist, das er aus seinem alten Leben mitgebracht hat. Sie sind rot markiert. Mateo, Milan, Wladimir und Alexander. Nur ein weiterer Name ist mit dieser Farbe unterlegt. Kyrill. Doch das ist eine andere Geschichte. Eine der wenigen unerledigten Sachen, die noch ausstehen. Das hat nichts mit seiner Vergangenheit zu tun. Bullseye ist einfach der Einzige, der gut genug war, seinem Tod zu entgehen. Die Anderen hätten dabei nicht so viel Glück. Und wenn er daran denkt, muss er unwillkürlich lächeln, auch wenn das sein Gesicht zu einer geisterhaften Fratze werden lässt. Vielleicht sollte er das wirklich tun, wenn Juuri ihn lässt. Aber dann wird er auch bei dem Mädchen vorbei schauen, das ihn Adrijano streitig gemacht hat. Und bei den Lehrern, die immer nur zugesehen haben, wie sie ihn fertig gemacht haben, weil er doch so ein großer Junge gewesen ist, der damit schon fertig wird. Er ist damit nicht klargekommen. Nie. Selbst jetzt nicht.   Zum Glück sind diese Augenblicke selten. Er würde durchdrehen, wären sie präsenter.   Er ist nicht wie sie und wird es nie sein. Wie kann er sich überhaupt sicher sein, dass er nicht immer so gewesen ist und ihn diese Sache nicht zu dem gemacht hat, was er jetzt ist? Vielleicht war er schon immer so und sie haben ihn deswegen alle gehasst. Das ergibt mehr Sinn als die Ungewissheit, die ihn damals so gequält hat. Seine Eltern müssen das auch gespürt haben, oder nicht? Er ist sich nicht einmal sicher, ob sie noch leben. Es interessiert ihn schlichtweg nicht. Seine Mutter hat damals nicht einmal vom Fernsehen aufgesehen, als er nach Hause zurückgekommen und an ihr vorbei gelaufen ist, um in seinem Zimmer direkt ein paar Sachen zusammen zu packen. Sein Vater hat ihn erst an der Tür aufgehalten, nach Wodka stinkend und brüllend. Bartos kann sich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern. Es ist ihm damals egal gewesen. Er musste weg. Musste verschwinden. Und dann ist er einfach losgelaufen. Immer Richtung Norden. Immer weiter. Er hat so vielen Menschen den Tod gebracht. Manche hatten es verdient. Andere vielleicht nicht. Es gab keine Unterschiede. Es gibt sie auch jetzt nicht. Nur Juuri selektiert das alles ein wenig. Kontrolliert, was er tut. Es macht ihm nichts aus. Diese Strukturen braucht er. Sein Blick wandert zurück zur Uhr. 22:07 Uhr. Die Tür öffnet sich. Er lässt nicht von ihr ab, bis sich der Mann, der ihm mittlerweile auch nicht mehr ganz so egal ist, in sein Sichtfeld drängt.   »Ich habe Arbeit für dich.«   Der Moment zieht vorbei. Er winkt ihm nicht hinterher. Bartolomej löst den Blick von der Uhr und es interessiert ihn nicht mehr, was gewesen ist. Er darf töten. Das ist seine Gegenwart. Das ist seine Zukunft. Juuri darf nie erfahren, dass er manchmal in die Vergangenheit zurückkehrt und tatsächlich beginnt, Dinge zu hinterfragen. Sein jetziges Leben darf er nicht auch verlieren. Danach würde nichts mehr von ihm übrig bleiben. Nicht einmal der Tod. Das ist fast schon wieder eine Anekdote, die kein Ende hat, sondern sich endlos weiter in die Länge zieht, bis dem Leser das Kotzen kommt und er doch nicht aufhören kann, der Tragödie weiter zu folgen. So geht es ihm. Eine Endlosschleife von monotoner Routine und dazwischen … die Sehnsucht nach Küssen von Adrijano, dem Hinterhertrauern verpasster Möglichkeiten und der Erkenntnis, dass er an diesem Nachmittag in den widerlichen Toiletten hätte sterben sollen, damit aus ihm nicht das wird, was er nun ist.   Ein Mensch, der nichts mehr fühlt. Weder Emotionen, noch Schmerzen. Ein Mensch, von dem nicht mehr übrig ist, als der Hass, von dem er sich ernährt. Kapitel 4: Abgrund ohne Tiefe ----------------------------- Seine kleine, wenn auch nicht sehr heile Welt brach in dem Augenblick zusammen, als er die ihm noch viel zu vertraute Stimme hörte – ganz egal wie viele Jahre es her sein mochte. Das ist unmöglich, redete er sich ein. Er kann nicht hier sein.   Inmitten von Menschen, deren Gesichter mit Masken verhüllt waren so wie sein eigenes auch, fühlte er sich plötzlich so klein und unbedeutend, dass ihm schlecht wurde und all der Schlaf, den er nicht gehabt hatte, über ihn hereinzubrechen drohte. Zumindest konnte er sich das verzehrende Gefühl nicht erklären, das sein Herz ins Bodenlose ziehen wollte. Ich habe mich verhört, dachte er und die Leiber um ihn herum drängten sich ihm mehr auf, als er ertragen konnte. Ich muss hier weg! Juuri zu finden, war nicht schwer. Er saß mit einigen hohen Tieren in der Loge – weit über ihren Köpfen, während er hier unten sein Werk beginnen sollte. Hier und da ein kleiner Stich. Du wirst die Opfer erkennen, ich muss dir zu ihnen nichts sagen, hatte Juuri ihm mitgeteilt, als er ihm einen Anzug und eine Maske ausgehändigt hatte. Alles in ihm hatte sich gegen dieses Outfit gesträubt, doch wenn es bedeutete, dass er töten durfte, war diese besondere Kluft ein geringes, schnell zu ignorierendes Übel. Doch als er sich durch die Tanzenden, Trinkenden und Lachenden schob, kam ihm der Anzug zu eng vor, die Luft zu dünn, um atmen zu können und selbst die Schuhe schienen sich durch seine Sohlen fressen zu wollen.   Eine Panikattacke … Wie lange war das her? Zu lange, um damit klar kommen zu können.   Juuri bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als Bartolomej an seiner Seite auftauchte, obwohl das beabsichtigte Chaos noch nicht ausgebrochen war. »Entschuldigen Sie mich kurz«, teilte er den Menschen mit, die sich mit ihm das großzügige Sofa und den teuren Alkohol teilten, ehe er aufstand und sich mit seinem Begleiter ein paar Meter entfernte – unter dem wachsamen Blick seines Leibwächters, den er jedoch mit einer schlichten Geste beruhigte und auf Abstand hielt. »Was gibt es? Da unten ist noch keiner umgefallen. Du kannst unmöglich schon alle erwischt haben.« »Ich … kann nicht hier bleiben«, murmelte Bartolomej. Diese paar Worte waren schon mehr, als Juuri in den letzten Wochen von ihm gehört hatte. Es sorgte dennoch nicht dafür, dass er sich damit zufrieden gab. Sein Gesicht wurde hart und er kam dem größeren Mann noch ein Stück näher, die Gefahr bewusst ignorierend. »Was soll das heißen? Du gehst, wenn ich es dir sage.« Wegen der Maske konnte der Russe nicht erkennen, was sich auf Bartos' Gesicht abspielte und der Drang, sie ihm vom Gesicht zu reißen, wurde fast übermächtig, doch das wagte er dann doch nicht. Das Eis, auf das er sich begab, war dünn genug. Einbrechen wollte er nicht. »Erkläre es mir!« »… kann ich nicht.« Bartolomejs Haltung war eine andere. Er wirkte nicht erhaben wie sonst. Nicht so riesig und bedrohlich. Juuris Augen verengten sich und er machte einen weiteren Schritt auf seinen Assassinen zu. Er konnte den gepressten Atem hören, trotz der lauten Musik. »Erkläre dich gefälligst! Du stellst mich bloß, ist dir das klar?« »… ja.« »Warum tust du es dann?« Als er darauf keine Antwort bekam, schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. »Reiß dich zusammen, geh wieder hinunter und erledigte deinen verdammten Job! So kenne ich dich gar nicht. Vielleicht habe ich doch den falschen Mann ausgewählt, um die Drecksarbeit für mich zu machen. Du weißt, dass auf dich das Gefängnis wartet, wenn du nicht tust, was ich dir befehle. Wenn du das willst – gut. Geh und mach dich unglücklich. Ich habe keine Zeit für deine Probleme. Ist mir neu, dass du überhaupt welche hast …«   Die Drohung kam an. Bartolomej war sich schließlich darüber im Klaren, dass er sich gerade nicht rational verhielt und bei allem, was ihm heilig war – er hatte selbst nicht gewusst, dass er auch so sein konnte. Das war ihm neu und verunsicherte ihn, was ebenfalls ein Gefühl war, das er schon sehr, sehr lange nicht mehr empfunden hatte. Er sah Juuri nach, der sich wieder zu seinen Gästen setzte und steuerte die Treppe an, um wieder nach unten zu gehen. Das Gift, das er den Betroffenen injiziert hatte, wirkte in etwa einer Stunde. Es schlich sich nur langsam durch die Blutbahn und wirkte erst im Hirn. Alles deutete auf einen Kreislaufzusammenbruch hin, bis der Körper sich nicht mehr daran erinnerte, wie man atmete. Er beobachtete die Opfer gern, aber nicht einmal die Vorfreude darauf lenkte ihn davon ab, dass er seine Stimme gehört hatte und durch die Masken nicht einmal sicher gehen konnte, dass es sich wirklich um ihn handelte. Das erste Mal seit langem verspürte Bartolomej das Bedürfnis, etwas zu trinken. Er wusste, dass er nur an die Bar gehen und den Drink auf Juuris Rechnung setzen musste, aber der Weg kam ihm endlos vor und noch immer war die Präsenz so vieler unterschiedlicher Menschen erdrückend. Sonst bewegte er sich wie selbstverständlich unter ihnen, genoss die verschiedenen Gerüche und Empfindungen oder verlor sich in Beobachtungen von Dingen, die er selbst niemals haben würde. Ein Schaudern ging durch seinen angespannten Körper, als er die Bar endlich erreichte und sich einen doppelten Whiskey bestellte. Er verzichtete darauf, nach einem Strohhalm zu fragen. Bei dem diffusen Licht würde niemand bemerken, wenn etwas daneben ging. Viel Zeit hatte er nicht. Es gab noch fünf Leute, die er in der Menge aufspüren und vergiften musste. Leider hatte Juuri ihm nicht gestattet, seine Messer mitzunehmen, dann wäre das alles nur eine Sache von Sekunden und die Ergebnisse wären weitaus ansehnlicher. Doch hier war diskretes Vorgehen gefragt und er wollte Juuri nur ungern enttäuschen. Der Knast war im Grunde die einzige Sache, die ihm eine subtile Angst einjagte, die sich nicht einmal körperlich zeigte, doch die ihm den Schlaf raubte, den er so schon kaum hatte. Doch auf der anderen Seite war das Töten das einzig Vertraute. Das, was ihm vertraut war, was er als richtig empfand. Es gab nichts anderes und nichts dazwischen. Handlung – Konsequenz. Er war nicht imstande dazu, da eine Verbindung herzustellen, doch war ihm der Knast als eines der möglichen Enden bewusst. Er betrachtete die klare, goldene Flüssigkeit, als der Barkeeper ihm das Glas unter die Nase schob. Bartolomej tat es nicht gern, doch er schob sich die Maske ein Stück nach oben, nahm das Glas in die Hand und wollte gerade einen Schluck nehmen, als abermals die bekannte Stimme an sein Ohr drang – viel näher als beim ersten Mal.   »Hey, ich brauch noch eine Runde Wodka. Fünf, bitte. Machen sie Zitronen rein! Oh … hey!«   Das Glas zwischen Bartolomejs Fingern zersprang. Der Barkeeper schreckte zusammen und Adrijano wich zurück, ehe er wieder näher trat und nach seiner Hand greifen wollte, um die Blutung mit seinem Pullover abzudrücken. Der Geruch, dieses Gefühl. Es bestand kein Zweifel mehr. Bartos konnte sich nicht mehr rühren. Wie bei einem Film beobachtete er, wie der Barmann ein Geschirrtuch über den Tresen reichte und wie Adrijano es ergriff, um es auf die Wunde zu drücken. Bartolomej sollte seine Hand zurück ziehen und rennen … so schnell es nur ging. Der Boden hielt ihn an Ort und Stelle. Es konnte nur der verdammte Grund sein, auf dem er stand. »Ganz schön fester Griff. Habe ich Sie erschreckt? Das war nicht meine Absicht.« Es war vierzehn Jahre, drei Monate und zwanzig Tage her, dass er diese Stimme zum letzten Mal gehört hatte – eingehüllt in nasse Bandagen, benebelt von den Schmerzen und dem Morphium. Er war sich nicht einmal darüber im Klaren gewesen, dass er die Tage gezählt hatte. Unbewusst. Seine Kehle war trocken, seine Lippen unter der Maske noch spröder und kribbelnder als sonst. Hastig hob er die unverletzte Hand und schob sich die Maske wieder tiefer. Die Narben waren zu prägnant, auch wenn er nicht glaubte, dass Adrijano ihn wiedererkennen würde. Das war unmöglich. Der Andere hatte nie etwas bemerkt. Für ihn war er nur ein Junge gewesen, den er schwerverletzt in den Toiletten gefunden hatte und dem er geholfen hatte – so wie jetzt aus. Das schien in dem Kroaten so drin zu stecken. »Warte kurz …« Die Worte ließen ihn zusammen zucken und der Film endete. Er zog seine Hand mit einem Ruck zurück und schüttelte den Kopf, was den Anderen irritiert die Schultern heben ließ – sein Smartphone in der Hand. »Ich wollte nur nach Splittern suchen. Nicht, dass ich die noch tiefer hinein drücke …«   Bartolomej zog sich zurück und brummte etwas Unverständliches, ehe er sich umdrehte und in Richtung der Toiletten verschwand. Da waren noch immer fünf zu tötende Menschen und er war sich sicher, dass Juuri ihn seit dem Gespräch im Auge behalten hatte. Das hier durfte er nicht sehen! Deswegen brauchte er kaltes Wasser. Er musste sich zusammen reißen. Was machte sein alter Bekannter überhaupt hier? Was fiel dem Mistkerl ein – nach all den Jahren? Er schien mit Freunden hier zu sein, schließlich hatte er eine Runde Wodka bestellt. Machte er hier Urlaub? War er so wie er nach Russland ausgewandert? So viele Fragen, die er den Schemen im Spiegel stellte, als er sich vor einem Waschbecken positioniert hatte und seine Reflexion nur aus dem Augenwinkel heraus wahrnahm, weil er auf sein eigenes Blut starrte, das in das weiße Becken floss. Seine Hände waren von der oberen Hälfte seines Körpers als einzige Stellen nicht mit dem kochenden Wasser in Berührung gekommen. Er spürte das leichte Ziehen, als er die Wunde unter den laufenden Wasserhahn hielt. Und dann hörte er die Tür.   »Hey, Mann … hau doch nicht einfach ab! Das muss sich doch jemand ansehen.«   Im Licht war es schlimmer. Doch das war noch nicht das Ende. Es kam, als sich Adrijano die Maske vom Gesicht zog. Dunkle, kurze Haare, dieselben hellbraunen Augen wie damals, ein leichter Bartschatten. Größer, etwas breiter. Ein Ring am Finger – verheiratet. Bartolomej wurde in der Zeit zurück katapultiert. Er erinnerte sich an das Mädchen, das Adrijano hinter der Schule geküsst hatte und unwillkürlich fragte er sich, ob sie nun die Frau des Anderen war. Vielleicht war die Verlobung noch frisch und Adrijano verbrachte hier die letzte Zeit als freier Mann. Wie nannte man das? Warum dachte er überhaupt darüber nach? Bartolomej ertappte sich dabei, dass er den Anderen mit seinem Blick regelrecht auffraß und Adrijano sah aus, als hätte er gerade eine Frage gestellt. Bartolomej hatte sie nicht gehört. Als Bewegung in den viel zu vertrauten Körper kam, wich er direkt zurück, was Adrijano innehalten ließ. »Was ist denn los? Ich will nur helfen, wirklich. Sie müssen sich vor mir nicht fürchten.« Furcht … Nein – das war es nicht, was Bartolomejs Körper erfüllte. Es waren alte, schmerzhafte Erinnerungen, Gefühle. Sie waren ihm fremd geworden. Wie sollte er sich verhalten? Was sollte er sagen? Was konnte er sagen, ohne sich mit seiner verwaschenen Stimme lächerlich zu machen? »Warum … bist du hier?« Adrijano hob verwirrt die Augenbrauen, dann neigte er den Kopf ein wenig. »Kennen wir uns?« Bartolomej wollte sich die Maske vom Gesicht reißen. Er wollte es wirklich, aber die sich öffnende Tür offenbarte seinen Vorgesetzten und der sah alles andere als erfreut aus. »Schon gut, ich kümmere mich um ihn. Er ist mit mir hier.« Der Dunkelhaarige drehte sich verwirrt zu dem Mittfünfziger um. Juuri – elegant wie eh und je – trat an ihm vorbei, betrachtete Bartolomej eingehend und nickte ihm dann zu. »Komm mit.« Bartolomej schüttelte die verletzte Hand aus und folgte dem Älteren ohne noch ein weiteres Wort zu Adrijano zu sagen. Er sah ihn nicht einmal an, als er an ihm vorbei ging. Juuri war wütend. Bartos spürte das mit jeder Faser seines Körpers. Sekunden später inmitten der Menge schrie jemand. Die Musik wurde leiser, der Raum heller. Juuri steuerte den Ausgang an und Bartolomej folgte ihm, während sich Unruhe unter den Feiernden ausbreitete. Auch als sie in den schwarzen Wagen stiegen und sich Juuris heutiger Leibwächter hinter das Lenkrad schwang, wurde kein Wort gesprochen. Bartos saß auf der Rückbank und starrte auf seine Hände hinunter. Er hatte versagt. Und das fühlte sich noch viel schlimmer an als all das, was die Begegnung mit Adrijano wieder hervorgeholt hatte. Fünf Menschen. Er hatte es nicht zu Ende gebracht.   Die Stadt zog an ihnen vorbei, bis sie Juuris Anwesen erreichten und ausstiegen. Bartolomej folgte, schlich hinter den anderen beiden Männern her wie ein Gespenst, bis sie im Keller waren und er an seinem Boss vorbei ging, um seinen gläsernen Käfig zu betreten. Die Tür knallte lauter hinter ihm zu als sonst und auch, dass der Grauhaarige nicht ging, war neu. Juuri umkreiste die Vorrichtung, die Bartolomej unter Verschluss hielt, bis sie einander gegenüberstanden – nur auf verschiedenen Ebenen. »Wer war das?«, kam direkt die Frage, auf die sich Bartolomej mental schon vorbereitet hatte. Es war ihm nur zuwider, so viel sprechen zu müssen. Juuri wusste das ganz genau, doch egal, wohin sich der Eingesperrte auch wendete – er folgte ihm. »Nimm die Maske ab und sag mir, wer das gewesen ist!« Bartolomej verzog das Gesicht, hob die Hand, zerrte sich die Maske vom Gesicht und warf sie gegen die durchsichtige Wand. Wie gern hätte er den Mafiosi damit getroffen. »Das geht dich nichts an!« Lauter als sonst. Seine Stimmbänder vibrierten bei der plötzlichen Überlastung. Sofort bereute Bartos diese Worte. Ein Grinsen schlich sich auf Juuris harte Gesichtszüge und mit wenigen Schritten stand der Russe direkt vor dem Glas. »Er ist dir wichtig. Dass so jemand überhaupt existiert …« Handflächen pressten sich weiß gegen das Glas, als Bartolomej spürte, dass ihm die Situation entglitt. Er trat auf die Maske zu seinen Füßen. Nichts, wovon sich Juuri beeindrucken ließ. Allzu schnell sollte er Bartolomej nicht mehr aus seiner Zelle lassen. Das wäre sein sicherer Tod. Doch die Umstände hatten sich geändert und dieses Übel würde sich nicht vermeiden lassen. »Es geht mich sehr wohl etwas an, denn du wirst morgen nach diesem Kerl suchen und ihn töten. Ich kann es mir nicht leisten, dass du dich ablenken lässt. Ich hätte nicht gedacht, dass das einmal zu einem Problem werden würde.« »Verlange das nicht von mir …« »Du wirst ja richtig gesprächig. Erzähl mir von ihm. Kennst du ihn von früher?« Bartolomej zog sich von der Wand zurück und schüttelte den Kopf. Er würde dazu kein Sterbenswörtchen sagen. Sollte Juuri sein Schweigen interpretieren wie er wollte. Seine Gedanken entglitten ihm langsam. Adrijano töten – das konnte er nicht. Dieser Mensch hatte ihn damals gerettet. Er war der Einzige gewesen, dem er nicht egal gewesen war. Der für ihn einstehen wollte. Daran hatte sich nach all den Jahren nichts geändert – das wusste er nun. Und doch hatte er den Fehler gemacht und sich vor Juuri bloß gestellt. Damit hatte der andere mehr als das Gefängnis gegen ihn in der Hand. »Wie auch immer. Du wirst ihn erledigen, damit du wieder klar siehst. Ich werde dir nur einmal diese zweite Chance geben.« Juuri wandte sich ab, marschierte aus dem Raum, wie er es immer tat. Und plötzlich fügte sich Bartolomejs kleine, nicht sonderlich heile Welt wieder zusammen. Anders als zuvor. Das war der Augenblick, in welchem er sich vorstellte, wie Juuri zucken und schließlich ersticken würde, wenn er eine Ladung seines VR abbekam. Kapitel 5: Sehnsucht nach mehr ------------------------------ Der schwarze Wagen kommt vor einem Hotel zum Stillstand. Die Fensterscheiben der Rückbank sind genauso dunkel wie das restliche Fahrzeug und doch weiß Bartolomej, dass sie ihr Ziel erreicht haben. Er hebt leicht den Blick, schielt durch die Panzerglasscheibe, die ihm vom vorderen Teil des Wagens trennt, dann flüchtig zu der Person neben sich, die ihm während der gesamten Fahrt eine Pistole an den Kopf gehalten hat. »Wir sind da. Zimmer 24. Setze die anderen außer Gefecht und töte Adrijano Tomić. Hast du die Anweisung verstanden?« Durch den Lautsprecher klingt Juuris Stimme verzerrt, was nicht die Kälte mildert, die in ihr mitschwingt. Bartolomej nickt kaum merklich, legt die Finger unter den Griff und öffnet die Tür. »In einer Stunde holen wir dich wieder ab.«   Das ist das Letzte, was er hört, bevor er die Tür zuwirft und dem Mercedes hinterhersieht, als er wieder anfährt. In seinem Inneren zieht sich etwas zusammen. Dieses Etwas, für das er keinen Namen hat, weil es ein Gefühl ist, das er so schon sehr lange nicht mehr gehabt hat. Überhaupt so zu … empfinden. Er würgt es ab und dreht den Kopf in Richtung des Gebäudes. Der langweilige Schriftzug über dem Eingang ist in der Finsternis kaum zu erkennen. Ihn interessiert auch nicht, wie das Hotel heißt. Er richtet seine Kutte, ehe er sich der Flügeltür nähert und sie aufdrückt. Um diese Zeit ist der Schalter für die Anmeldung nicht mehr besetzt. Eine sehr vertrauensvolle Unterkunft. Wenigstens einen Sicherheitsdienst müsste es doch geben, aber vermutlich ist der gerade im Haus unterwegs. In der Ferne kann er die Schritte hören. Sie sind zu weit weg, um sich im ersten Stock zu bewegen. Bartolomej steuert die Treppe an, die zu der besagten Etage führt. Er muss schnell sein, wenn er das Zimmer betritt. Eine Flucht durch das Fenster liegt im Bereich des Möglichen und sollte einer fliehen können, dann wäre sein Auftrag gescheitert. Das ist keine Option. Er wird sich voll und ganz darauf konzentrieren müssen, seinen ehemaligen Schulkameraden zu töten. Die Anderen sind nur nebensächlich und doch ein Risikofaktor. Um die wird er sich demnach zuerst kümmern müssen. Schnell und lautlos. Er ist geübt darin.   Die Zimmernummern führen ihn nach rechts in den Gang hinein. 20. 21. 22. 23. Er denkt an die große Uhr zurück und an seinen Käfig. Wenn er das hier nicht zu Ende bringt, wird Juuri ihn nie wieder aus seinem gläsernen Gefängnis lassen. Oder viel schlimmer noch – er wird ihn der russischen Justiz übergeben und die wird ihn nach Sibirien schicken. Er ist ein Mörder und nach Meinung der Gesellschaft muss er dafür bestraft werden, auch wenn er es nicht als falsch empfindet. Der Gedanke verblasst, als die 24 in seinem Sichtfeld auftaucht und er vor der Tür stehen bleibt. Hinter ihr sind Gespräche zu hören. Adrijano und seine Freunde sind noch wach. Als Juuri ihn aus seiner Zelle geholt hat, hat die große Uhr kurz nach 23 Uhr angezeigt. Vermutlich geht es mittlerweile auf Mitternacht zu. Da er selbst keine Armbanduhr trägt und auch kein Telefon bei sich hat, kann er nicht nachsehen. Es spielt keine Rolle. Sekunden verstreichen, in denen er das Holz vor sich einfach nur anstarrt. Fünf Menschen. Einer von ihnen Adrijano. Er erinnert sich an das älter gewordene Gesicht, das er im Club trotzdem sofort wieder erkannt hat. Doch noch viel eher war er sich der vertrauten Stimme gewahr geworden und die hatte ihn vollkommen aus dem Konzept gebracht. Das darf nicht noch einmal passieren. Drei Tage sind seit dem vergangen. Drei Tage, die er in seinem Käfig zugebracht hat, weil Juuri wütend auf ihn gewesen ist. Sehr sogar. Das hat die Mordgedanken verdrängt, denn drei Tage ohne etwas zu essen lassen selbst jemanden wie ihn ins Grübeln kommen.   Verflucht – warum denkt er überhaupt daran zurück?   Sein Fokus kehrt zurück. Er hebt die Hand und klopft hörbar an die Tür. Die Gespräche verstummen. Seine Dolche gleiten durch die Ärmel der Kutte in seine Handflächen. Das Metall ist warm und vertraut. Er hört etwas von Pizza und viel besser hätte ihm der Zufall gar nicht in die Hände spielen können. Arglos wird ihm die Tür geöffnet und er knallt dem Typen vor sich direkt den Griff eines Dolches gegen die Nase. Als er an dem kleineren Mann vorbei geht, schlägt er mit dem Handgelenk aus, trifft den empfindlichen Nacken und der Kerl sinkt bewusstlos zu Boden, ohne überhaupt bemerkt zu haben, wie ihm eigentlich geschieht. Die Anderen, die sich auf zwei Sofas verteilt haben, springen auf, schreien und kramen nach ihren Handys. Bartolomej gibt sich eine Sekunde, um die Tür hinter sich mit einem Tritt zu schließen, ehe er wie ein Schatten nach vorn springt. Drei Körper, die ohne viel Widerstand zu Boden gehen. Blut verteilt sich auf dem Teppich, aber sie sind nicht lebensgefährlich verletzt.   Sie werden nur eine Weile schlafen.   Lange genug, um sich dem letzten Mann zu widmen, der sein Smartphone ebenfalls in der Hand hat, aber zu sehr zittert, um die Nummer der hiesigen Polizei einzutippen. Bartolomej braucht nur drei Schritte, um Adrijano zu erreichen und ihm das Handy aus der Hand zu schlagen. Seine schweren Stiefel bringen das Display sofort zum Bersten, als er die Ferse auf das Gerät hinuntersausen lässt. Er müsste nur ausholen und dem Kroaten mit dem Dolch die Kehle aufschlitzen, doch … stattdessen weicht er wieder zwei Schritte zurück und bringt Abstand zwischen sie, ganz so als wäre der Dunkelhaarige von einer undurchdringbaren Barriere umgeben. Doch diese Blockade ist nur in seinem Kopf – darüber ist sich Bartolomej sogar im Klaren. Es hilft ihm nur nicht weiter. Wie ein gehetztes Tier blickt er auf die Leblosen hinunter, ehe er Adrijano anstarrt, als sei er eine böse Erscheinung aus einem seiner zahlreichen Albträume. Panik erfüllt den jungen Mann. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn und Bartos kann das Pulsieren in den Hauptschlagadern beobachten. Ein beruhigender Anblick. Er ist fast fasziniert davon. Genug, um nicht zu bemerken, wie sich der Ausdruck in Adrijanos Gesicht verändert. Erst die zitternde Stimme reißt den Riesen aus seiner Trance. »Ich … ich kenne dich. Du bist der Mann aus dem Club. Der, dem … dem das Glas … kaputt gegangen ist. Wer … wer bist du? Was willst du von mir? Woher kennst du mich?« Der Andere hat offensichtlich schnell begriffen, dass es bei dieser Sache um ihn geht. Bartos' Stimmbänder vibrieren. Es ist Tage her, dass er überhaupt ein Wort gesagt hat. Alles in ihm sträubt sich dagegen, es jetzt zu tun, aber während Juuri seine Körpersprache perfekt zu verstehen gelernt hat, wird er damit bei Adrijano nicht weit kommen. »Ich bin der, der dich töten muss. Du hättest niemals herkommen dürfen.« Adrijanos Gesicht verliert alle Farbe und er presst sich noch fester in die Ecke, in die er geflüchtet ist. Wie ein verängstigtes Tier. Es fehlt nicht mehr viel und er wird sich nass machen. Ein Gedanke, der nichts in Bartos auslöst und ihn trotzdem noch mehr zögern lässt. Ich kann das nicht, stellt er viel zu nüchtern für sich selbst fest und seine Finger beginnen zu zittern. Als er es bemerkt, fasst er die Griffe der Dolche fester und schluckt die Erkenntnis seiner eigenen Schwäche hinunter. Solch einen Moment kann er sich jetzt nicht leisten und doch fluten Erinnerungen seine Gedanken. Adrijano über ihm, als er schwer verletzt in dem dreckigen Toilettenraum lag. Adrijano, der neben seinem Krankenbett saß, als niemand sonst da war. Ich kann es nicht. »Aber … warum? Ich … ich habe doch gar nichts getan! Ich … das hier ist mein Junggesellenabschied. Ich …« Das Schlucken ist so hart, dass Bartos es deutlich hören kann und doch lässt das Zittern des Mannes, der nur ein Jahr älter ist als er, nur einen Augenblick später etwas nach. Für ein paar Sekunden presst Adrijano die Lippen fest aufeinander, dann öffnen sie sich wieder. »Sag mir, wer du bist! Ich will es wissen, bevor du mich grundlos töten willst!« Das Zittern in Bartos' Fingern verstärkt sich. »Ich … will dich nicht töten. Ich muss.«   Das Chaos in seinem Kopf ergibt keinen Sinn und wo kommt es überhaupt her? Sonst ist es nur da, wenn er schlafen will. All diese vergessenen Gedanken sind so tief vergraben, dass nur sein Unterbewusstsein Zugriff auf sie hat. Im Moment ertränken sie ihn und er kann rein gar nichts dagegen tun. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass er nach den Kapuzen seiner Kutte und des Pullovers, den er unter ihr trägt, greift und sie nach hinten zerrt, um sein Gesicht zu offenbaren. Die braunen, kurz geschorenen Haare, die hellen Augen, die verunstaltete Fratze darunter. Er kann an der sich verändernden Mimik sehen, dass Adrijano ihn sofort wiedererkennt. Selbst nach so vielen Jahren …   »Bartolomej …« Der Klang seines Namens hat sich nicht verändert. Es ist wie damals. Bartolomej … ich muss wissen, wer das gewesen ist. Bartos' Kopf zuckt. Die Erinnerung verschwindet nicht. »Nach all den Jahren … warum willst du mich plötzlich umbringen?«, fährt Adrijano fort und seine Stimme vibriert, weil Angst und Verwirrung sie kontrollieren. »Was machst du überhaupt hier? Ich … ich dachte … ich … du bist damals auf einmal weg gewesen. Niemand wusste, wohin du gegangen bist. Ich dachte, sie … sie hätten es zu Ende gebracht. Ich hätte konsequenter suchen müssen. Ich … ich wollte von dir die Namen, aber du warst nicht mehr da …« Zu viele Informationen. Bartolomej kann sie nicht selektieren, nicht ordnen. Sie überfordern ihn. »Bartolomej … sag mir, warum?« »Weil du der einzige Mensch bist, der mir nicht egal ist und das macht dich gefährlich.« Kyrill kommt ihm in den Sinn und mit ihm der Umstand, dass er nie mit jemandem so viel gesprochen hat wie mit dem Russen. Und jetzt mit Adrijano. Durch das Chaos schleicht sich der Hass auf die eigene verwaschene Sprache, die alles andere als bedrohlich klingt. Adrijano würde nicht so viel reden, wenn er mehr Angst hätte. Allerdings ist der Kerl immer schon mutig gewesen. Entschlossen. Deswegen wollte er sich damals um die Angreifer kümmern. Und das Arschloch hört einfach nicht auf mit reden. »Ich … weiß doch von nichts. Ein paar Tage noch und ich bin weg von hier, dann wirst du mich nie wiedersehen. Bartolomej … bitte. Ich heirate bald …« Der Assassine denkt an das Mädchen von damals zurück und spinnt das Ganze weiter, ohne zu merken, dass er es laut tut. »Nichts habe ich mir damals mehr gewünscht, als mit ihr den Platz zu tauschen und du … du hast nie etwas bemerkt. Und dann warst du in den Toiletten und im Krankenhaus – sonst niemand. Du warst der Einzige, der …«   Bartolomej unterbricht sich selbst, wendet sich ab und geht ein paar Schritte, während er sich mit dem Handballen gegen die Stirn schlägt. Immer wieder. Keine Ordnung. Da kommt einfach keine Ruhe in das Chaos. Erst als Adrijano gegen eines der Sofas stößt, fährt Bartolomej herum, doch anstatt die Chance zu nutzen und wegzulaufen, ist der Dunkelhaarige näher gekommen. Auf dem Gesicht spiegelt sich nun mehr Verwirrung als Angst wieder und … mehr Beweis dafür, dass Bartos die Kontrolle verloren hat, braucht es nicht.   Er hat versagt.   Er weiß es in den Moment, als sein Bekannter auf einen Meter herangekommen ist und ihn teils bestürzt, teils besorgt ansieht. »Du … du hättest es mir damals doch sagen können.« Der Abstand wird immer kleiner. Bartolomejs Füße fühlen sich an, als wären sie eins mit dem Boden. Er kann sie nicht heben, um zurückzuweichen. Wieder folgt eine Reaktion erst nach einem direkten Kontakt. Als Adrijanos Fingerspitzen seinen Unterarm berühren, fallen die Dolche zu Boden und Bartos' Hände stoßen nach vorn. Der Schwung reicht aus, um den Anderen hart auf den Boden zu befördern. Wie viel Zeit hat er noch? Der Gedanke kommt ihm so plötzlich, dass er sich fahrig nach einer Uhr umsieht und keine findet. Ich kann das nicht! Das weiß er nun. Aber Juuri wird es können. »Verschwinde …«, haucht der Riese deshalb und schüttelt den Kopf. Nicht, weil er die Aussage sofort wieder zurücknehmen will, sondern weil er sich selbst so sehr enttäuscht und weil er ganz genau weiß, was das bedeutet, aber in diesem Augenblick … ist es fast okay, denn Adrijano wird weiterleben. Er wird von hier verschwinden, seine Frau heiraten, Kinder bekommen und … irgendwann als alter Mann sterben. Es ist wie ein Film, der vor seinem inneren Auge abläuft und irgendwie … Frieden schafft. Das Chaos zieht sich zurück. Es ist zufrieden mit seiner Entscheidung. »Flieh durch das Fenster! Er … er wird es nicht sofort merken. Lauf so schnell du kannst und dann verlasse Russland! Komm nie wieder zurück …« »Aber was ist mit dir?«, flüstert sein Gegenüber, dann lauter: »Wer ist er? Ich verstehe das alles nicht! Was ist aus dir geworden? Wie … wie bist du …« »Du musst es auch nicht verstehen«, unterbricht Bartolomej den sich anbahnenden Redefluss. »Aber …« »Später … ich erkläre es dir irgendwie später …« »Findest du mich?« »Ja.«   Sie beide verstehen diesen Dialog nicht. Verstehen nicht, wie sich diese ganze Situation auf diese Art und Weise entwickeln konnte. Aber die Worte sorgen dafür, dass Adrijano das Fenster aufreißt und die drei Meter nach unten springt, ohne sich zu fragen, was mit seinen Freunden passieren wird. Sein Fluchen beim Aufprall ist laut, doch sich entfernende Schritte zeigen, dass er sich nicht ernsthaft verletzt hat. Bartolomej spürt, dass ihm ein Stein von Herzen fällt. Er besitzt also doch eins. Eine merkwürdige Erkenntnis. Nur eine Sekunde später, wird sie von einer weiteren, sehr viel fataleren abgelöst. Das Quietschen von Autoreifen und das Aufheulen eines Motors. Er hat einen riesigen Fehler gemacht. Juuri ist niemals weggefahren. Kapitel 6: Lachen ohne Glück ---------------------------- Sekunden werden zu Stunden und die Stunden zu einer Ewigkeit. Bartolomej kann keinen klaren Gedanken fassen. Kalte Luft lässt seine Augen brennen und seine Ohrenspitzen fühlen sich taub an. Erst da wird ihm bewusst, dass er seine Kapuze nicht trägt, während er längst rennt. Dem Wagen hinterher. Er ist es nicht gewöhnt, so schnell und lange zu laufen. Es ist nie nötig. Er ist effizient in dem, was er tut und das ohne viel körperlichen Aufwand. Doch das Adrenalin lässt ihn weiter, immer weiter vorwärts preschen. Wo es herkommt, weiß er nicht. Es unterstützt den kläglichen Versuch, das Schlimmste zu verhindern – den einen Schuss, der zu hören ist. Mehr nicht. Kein Schrei. Kein weiteres Knallen. Er weiß nicht, was das bedeutet. Nur, dass er schneller laufen muss. Zu spät, rast ihm durch die Gedanken. Du kommst zu spät. So wie er damals nicht rechtzeitig da gewesen ist, um dir zu helfen. Vielleicht sorgt das dafür, dass sie quitt sind. Dass er keinen Gedanken mehr an Adrijano verschwenden muss, weil er ihm nichts mehr schuldig ist. Und doch läuft er weiter, bis er den Wagen mit noch laufendem Motor vor der Mündung einer Seitengasse stehen sieht, genauso wie zwei Männer, deren Waffen in eben jene gerichtet sind. Und Juuri. Den erhabenen, verachtenswerten Juuri. Im Moment übersteigt der Hass auf diesen Mann alles, was er bisher mit diesem negativen Gefühl assoziiert hat. Im Grunde also sein ganzes Leben. Trotzdem ist es nicht der Ältere, den er direkt angreift, sondern die anderen beiden Anwesenden. Weitere Schüsse lösen sich, doch sie gehen ins Leere. Ohne Adrijano direkt zu sehen, gleitet er wie ein Schatten zwischen den Wagen, Juuri und das Opfer, das sich der Untergrundboss auserkoren hat. Erst das Ächzen versichert Bartolomej, dass sich sein alter Bekannter verborgen hält und wohl tatsächlich eine Kugel abbekommen hat. Von diesem einen Schuss, der noch immer wie ein Echo in Bartos' Gedanken nachhallt. Zu spät. Du bist zu spät. Er wird verbluten. Er wird ...   »Bitte … alle, nur nicht ihn. Ich bringe jeden für dich um, aber …«   Juuri lacht freudlos, ehe er den Kopf schüttelt. »Bartos, Bartos … meine Enttäuschung lässt sich nicht in Worte fassen. Das ist genau das, was ich gemeint habe. Was interessiert es dich, ob er lebt oder tot ist? Es sollte dir egal sein, aber das ist es nicht. Er macht dich verletzlich und ich kann schwache Menschen in meinen Reihen nicht dulden. Du weißt, dass du zu Größerem bestimmt bist und nicht dazu, wegen solch einer unbedeutenden Lappalie dein Leben zu riskieren. Mein Freund – lass uns das beenden, ehe es unschön wird.« Dass seine beiden Begleiter, die gerade wieder so auf die Beine kommen und krumm stehenbleiben, ebenfalls keinen sonderlich robusten Eindruck machen, erwähnt Bartos nicht, aber sein Blick verrät es. »Sie sind ersetzbar«, erklärt sich Juuri und zieht seine eigene Waffe von hinten aus seinem Hosenbund. »Du nicht.« Er schießt, als er den Schatten hinter Bartolomej über den Rand des kleinen Müllberges spähen sieht. Nur ein Idiot hätte seine Deckung verlassen und das bestätigt Juuri nur darin, dass Adrijano nicht weiterleben darf. Doch der Schuss trifft nicht das beabsichtigte Ziel. Bartolomej zuckt nicht einmal zusammen, als sich die Kugel seitlich in seinen Bauch bohrt und trotz des geringen Abstands nicht direkt hinten wieder austritt. »Was soll das denn?« Es klingt fast theatralisch. Juuris Augen verengen sich, versuchen die Verletzung durch die schwarze Kleidung hindurch abschätzen zu können, während er sich eingestehen muss, dass er keine Sekunde lang erwartet hat, dass sich Bartolomej tatsächlich in den Schuss werfen könnte. Eine unangenehme Fehleinschätzung. Es ist eine Schande. »Wer ist er und was gibt ihm das Recht, dass du solch Dummheiten wegen ihm machst?«   Er bekommt keine Antwort.   Bartolomej steht weiter in voller Größe vor ihm, aber die Farbe weicht langsam aus seinem Gesicht. Es ist der Stolz, der ihn aufrecht hält. Der Trotz gegenüber allem, was ihm schaden könnte. Juuri bewundert diesen Außenseiter immer mehr, auch wenn er ihn in diesem Moment gerade sehr für das hasst, was er abzieht. Es geht ihm gegen den Strich und er will Erklärungen. »Ich werde meine Frage nicht noch einmal wiederholen.« »Dann lass es … einfach«, brummt Bartos, ehe er sich die Kapuze wieder über den Kopf zieht, die Messer noch in den Händen. Zu gern hätte er sie in die Köpfe der beiden Leibwächter gerammt, aber das hätte die Gesamtsituation wohl noch verschlimmert. Sie hing so schon an einem seidenen Faden. »Ich … werde mich um ihn kümmern. Nimm deine Hunde und verschwinde. Ich … komme nach.« »Du hattest schon einen Versuch, Bartos. Einen Zweiten gibt es nicht.« »Ich werde dich nie wieder um irgendetwas bitten.« Die Stimme hört sich gehetzt an, wird undeutlicher. Juuri runzelte die Stirn. Der Andere redet nie so viel. Dass er das überhaupt kann: Dieses sinnvolle Aneinanderreihen von Worten. Einen eigenen Willen zeigen. Diese Sache hier muss ihm wirklich sehr wichtig sein.   Minuten vergehen. Juuri spielt noch immer mit der Waffe zwischen seinen Fingern, auch wenn er sie nicht mehr erhoben hat. Wird Bartolomej wiederkommen, wenn er ihn jetzt gehen lässt? Wird er es wirklich zu Ende bringen? Kann er dem Riesen vertrauen? »Das wird ein Nachspiel haben«, erklärt er schließlich, schiebt die Pistole in seinen Hosenbund zurück und nickt seinen Begleitern zu. »Ich hoffe, das ist dir bewusst.« Er geht. Bartolomej kann es kaum glauben und doch breitet sich in seinem Magen ein ungutes Gefühl aus. Es ist keine Angst. Nicht einmal die Ehrfurcht, die er sonst gegenüber diesem unausstehlichen Menschen empfindet. Es ist namenlos und das ist nicht gut. Erst als der Wagen anfährt und in der Nacht verschwindet, erlaubt sich Bartolomej ein Zittern. Er atmet gepresst aus, bebend wieder ein und hinter ihm raschelt es leise. »Shit! Was … was sollte das denn? Bartos – wer war das? Wer … warte! Die Kugel. Du hast die Kugel abgefangen …« Adrijano tritt an ihn heran, vor ihn, streckt die Hand nach ihm aus. Bartolomej weicht zurück. »Bartos …« »Verschwinde von hier und komme nie wieder, hast du das verstanden?« »Ja. Ja, doch! Du hast es ja nun schon oft genug gesagt. Lass mich die Verletzung sehen!« Bartolomej presst die Zähne aufeinander und schüttelt den Kopf. »Jetzt … verschwinde jetzt.« Adrijano weiß, dass er das tun sollte. Nach allem, was an diesem Abend passiert ist, wäre es die einzig logische Konsequenz. Die Erkenntnis lässt ihn zögern. Der Mann vor ihm hat nichts mehr mit dem Jungen gemeinsam, den er damals kannte. Nichts ist von dieser Vergangenheit und all ihren Qualen übrig. Was nicht heißt, dass sie dem Anderen nicht in die Gegenwart gefolgt ist. Er denkt an seine Verlobte. Denkt an das Kind, das sie erwartet. Dann betrachtet er die Pfütze von Blut, die sich langsam unter Bartolomej zu bilden beginnt. Und er weiß, dass er nicht gehen kann. Das erinnert ihn viel zu sehr an damals. Zeiten, die er längst vergessen glaubte und die nun präsenter denn je sind. Bartolomej nach all den Jahren wiederzusehen: Er hat nicht erwartet, dass ihn das so aufwühlen würde. »Ja, ich werde verschwinden. Und jetzt verhalte dich nicht wie eine Zicke, sondern lass mich die Verletzung ansehen!« »Eine … Zicke?« Es ist traurig, dass Bartolomej nicht einmal mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen weiß – weltfremd wie er ist. Darüber nachzudenken, was nach dem Krankenhaus passiert ist und was Bartolomej alles erlebt haben muss, macht Adrijano traurig. Kein Mensch verdient ein solches Schicksal und wenn er nur wüsste wie: Er würde Bartos aus diesem Teufelskreis nur zu gern rausholen. Eine leise Stimme in seinem Kopf weiß jedoch längst, dass der Größere schon viel zu tief in ihm drin steckt. Niemand kann ihn noch retten. Nicht einmal er, so bitter das auch ist. Wenigstens jetzt will er irgendwie nützlich sein, auch wenn das bedeutet, dass er gegen den Willen des Anderen handeln muss. »Wir müssen dich in ein Krankenhaus bringen. Ich muss auch nach meinem Arm sehen lassen.« Die Kugel hat Adrijano nicht getroffen, aber sie hat seinen Ärmel zerfetzt … und die Haut darunter. Er kann spüren, wie es warm an seinem Arm hinabrinnt, aber die Blutung scheint bereits zu stocken. Noch tropft nichts auf den Boden. Er will sich gerade orientieren und wundert sich noch, dass nicht noch mehr Protest kommt. Als er ein plumpes Geräusch hört, fährt er herum. Die Klingen gleiten zu Boden, zerreißen die nächtliche Stille mit ihrem Klirren. »Bartos!«   Bartolomej liegt nicht. Er ist auf ein Knie hinunter gesunken, presst seine rechte Hand auf den Boden und klammert sich mit der anderen an das obere Knie, als könne er sich so wieder in eine aufrechte Position stemmen, doch er schafft es nicht mehr. Zu viel Blut. Die Kugel steckt noch. Adrijano flucht und sieht sich um. In dieser Seitengasse gibt es nichts und er kennt sich in Sankt Petersburg bei weitem nicht gut genug aus, um zu wissen, wo sie eben am schnellsten hin können. Doch plötzlich zeugen Glockenschläge in der Nähe von einem neuen Tag. Mitternacht. Es hört sich nahe genug an und so tritt er schnell an die Seite des gefühlt riesigen Mannes, schlingt sich einen seiner Arme um die Schulter und erhebt sich ächzend mit ihm zusammen. Bartolomej mag für seine Größe eher schlank sein, aber er ist unglaublich schwer. Den Dolchen verpasst Adrijano schnaufend ein paar Tritte, um sie unter einen Haufen Müll schlittern zu lassen. Zu der Stelle, die ihm eben noch als Versteck gedient hat. Er weiß nicht, wie er sie transportieren soll. Der fünfte Glockenschlag. Adrijano zerrt Bartolomej mit sich in die Richtung der Klänge, die nichtssagend durch die Gasse hallen. Doch sie werden mit jedem Schritt lauter und als sie die Blöcke, zwischen denen dieser kleine Zwischenfall passiert ist, hinter sich lassen, betreten sie einen kleinen Vorplatz und er sieht die zu den Glocken gehörige Kapelle. »Eine Kirche! Da drinnen sind wir erst einmal sicher, hoffe ich. Komm schon!« Und er hofft darauf, dass keiner der hiesigen Priester dumme Fragen stellt.   Die Tür ist verschlossen. Um diese Zeit ist das nicht verwunderlich. Doch Adrijano betet inständig dafür, dass trotzdem noch jemand im Inneren der Kirche ist, deswegen klopft er harsch gegen die Pforte, während Bartolomej in seinen Armen immer schwerer wird. Er packt ihn wieder mit beiden Händen und nimmt den Fuß, um sich Gehör zu verschaffen. In der Ferne brüllt jemand etwas, das er nicht versteht. Vermutlich etwas von Ruhestörung oder dass er die Polizei rufen wird. Adrijano ist es egal. Er will in diese verdammte Kirche! Gerade als er ein weiteres Mal ausholt, um gegen die Tür zu treten, knirscht es im Schloss und im nächsten Moment schwingt die Tür auf. »Was um alles … oh!« Der Priester hat einen hochroten Kopf und der Protest wäre sicher wenig christlich ausgefallen, doch das Szenario vor seinen Augen lässt ihn innehalten. »Bitte … dies ist ein Haus Gottes und wir brauchen Hilfe. Und das wenn möglich ohne lästige Fragen. Beichtgeheimnis oder wie man das nennt.« Adrijano klingt so gehetzt wie er sich fühlt und drängt sich direkt an dem Pastor vorbei, der mit großen Augen die Blutspur anstarrt, die sie hinter sich herziehen und keines der Worte auch nur im Ansatz verstanden hat. Mit letzter Kraft legt der Kroate den schwer Verletzten auf einer der Kirchenbänke ab, bettet die langen Beine auf die Lehne, damit sich Bartolomejs Kreislauf etwas stabilisiert, im stillen Wissen, dass sich da sicher nichts mehr retten lässt. Der Pastor, der hinter ihm her gestolpert ist, stammelt etwas, das Adrijano schon wieder nicht versteht. Das bisschen Russisch, dessen er mächtig ist, scheint sich in der Hektik auf und davon gemacht zu haben, aber Wasser bitte bekommt er dann doch noch zustande und der Mann, der offenbar schon sein Schlafgewand trägt, eilt davon. Adrijano sieht wieder auf Bartolomej hinunter. Die Augen sind geschlossen, der vernarbte Mund steht ein wenig offen. Röchelnder Atem. Der Pullover ist an der Seite vollkommen durchnässt und als er nach dem Stoff greift, sind seine Finger sofort schmierig vom Blut. Adrijano würgt kurz. Gott … er arbeitet in einem Büro. Mit Blut hat er nichts am Hut, außer wenn er sich schneidet oder mal Nasenbluten hat. So eine Menge ist ihm eindeutig zu viel, aber er beißt die Zähne zusammen und macht sich daran, den Stoff des Hoodies und das Shirt darunter nach oben zu schieben, um sich die Verletzung genauer anzusehen, auch wenn das Licht der zahlreichen hier brennenden Kerzen kaum ausreicht. Sie stehen nicht nahe genug.   Ein fester Griff hält ihn davon ab, die Haut zu offenbaren. Begleitet von einem Stöhnen kommt Bewegung in den liegenden Körper und Bartolomej versucht, sich in eine sitzende Position zu bringen, was ihm misslingt. Adrijano liegt ein Fluch auf der Zunge, aber als er in das Gesicht seines alten Bekannten blickt, würgt er es hinunter. Das blanke Entsetzen. Zitternde Lippen. »Nicht … auf dem Rücken …«, meint Adrijano zu hören. Die Versuche werden verzweifelter. Beinahe rutscht ihm der Körper von der Bank und so stützt er Bartos und hilft ihm, sich hinzusetzen, auch wenn das die Blässe in dem vernarbten Gesicht noch verstärkt. Schritte werden hinter ihnen lauter und eine Schale mit leicht dampfendem Wasser wird neben ihnen auf die Bank gestellt. »Ich habe noch ein paar Tücher … was ist denn geschehen?« Adrijano schüttelt den Kopf und versucht abermals, den Stoff nach oben zu schieben, doch der Griff an seinem Handgelenk bleibt und verstärkt sich sogar noch. »Nein …« »Bartos, ich muss mir die Wunde anschauen. Die blutet immer noch. Die Kugel muss noch stecken. Bitte … ich will nicht, dass du verblutest …« »Warum nicht?«, haucht es schwach und ein freudloses Lachen folgt auf diese törichte Frage, die Adrijano nur schnauben lässt. »Es ist nicht so, dass ich … es nicht irgendwie verdient hätte, schätze ich.« »Ich will das nicht hören«, brummt der noch Junggeselle, der sich harsch aus dem Griff losmachen will. Es gelingt ihm nicht. Wie eine Schraubzwinge presst sich die riesige Pranke um sein nahezu zerbrechlich wirkendes Handgelenk. »Scheiße! Du könntest ja auch mal mitmachen, anstatt dich so gegen Hilfe zu wehren! Damals schon hast du alles mit dir selbst ausgemacht und hast mich zurückgelassen. Jahrelang habe ich mir Vorwürfe gemacht, warum ich es nicht eher bemerkt habe. Das Mobbing, wie sie über dich geredet haben und … und deine Gefühle für mich. Vielleicht hätten wir Freunde werden können, aber nein … du musstest verschwinden und jetzt … jetzt ist da nichts mehr von früher und ich kenne dich eigentlich gar nicht mehr, aber ich kann nicht weg. Ich lasse dich jetzt nicht allein. Du hast mir das Leben gerettet, obwohl ich ja eigentlich erst durch dich in diese Lage gekommen bin, aber egal … du hast mich gerettet und jetzt rette ich dich, also lass mich verdammt nochmal los!« Ein emotionaler Ausbruch, den Adrijano nicht geplant hat, ganz abgesehen davon, dass jetzt nicht der richtige Ort und die richtige Zeit für derlei Dinge ist. Wenigstens scheint er erreicht zu haben, dass Bartolomej die Klappe hält. Der Griff an seinem Handgelenk wird schwächer, auch wenn die Finger nicht gänzlich von ihm ablassen. Er kann das Beben in ihnen spüren, schiebt es auf die Schwäche, den Blutverlust und doch wird es stärker, als er die feuchten Sachen nach oben schiebt und den muskulösen Bauch betrachtet und wie etwa ab der Hälfte das Narbengeflecht einsetzt, dass sich bis hinauf zum Kinn und dem Mund zieht. Adrijano versucht, nicht bewusst drauf zu starren und doch bemerkt Bartolomej diesen Blick und fühlt sich um einiges unwohler. Niemand soll diese Narben sehen. Er erträgt sie ja kaum selbst. Er liegt nicht. Er schläft nicht. Albträume suchen ihn heim und er ist nie stark genug geworden, um sie zu verdrängen und sich von ihnen beeinflussen zu lassen. Das Zittern wird stärker. Er will es gar nicht. Es passiert einfach. »Kerze!«, fordert Adrijano den Pastor auf, nutzt aber das falsche Wort, denn der Angesprochene hebt nur hilflos die Schultern. Fahrig deutet Adrijano zu den Lichtern und tastet bis dahin blind nach dem Einschussloch. Bartolomej zuckt zusammen, als er es findet und ein weiteren Schwall dickflüssigen Blutes drängt aus der Wunde. Ob das ein schlechtes Zeichen ist, darüber will Adrijano nicht nachdenken. Als es heller wird, weil der Pastor verstanden hat, was der Ausländer von ihm will, sieht sich Adrijano dem ganzen Ausmaß gegenüber. Die Kugel muss beim Aufprall gesplittert sein. Das ist kein kleines Loch, sondern eine Öffnung, an der einige Fetzen Fleisch hängen, die ihn abermals schlucken lassen. Auch der Pastor ächzt und weicht zurück. Adrijano flucht und deutete neben die Schale. »Tu sie da hin!« Das wird auch trotz der schlechten Aussprache verstanden und der ältere Mann eilt davon, als er die Kerze abgestellt hat. Inständig hofft Adrijano darauf, dass er nicht die Polizei rufen wird, aber ihm fehlen Zeit und nötige Sprachkenntnisse, um sicher zu gehen. Fieberhaft denkt er darüber nach, wie er die Kugel rausbekommen soll. Er hat nichts bei sich. Er sieht sich in der Kapelle um, schaut unter den Bänken nach und … entdeckt einen Kugelschreiber. Das ist besser als nichts, denkt er sich, als er ihn auseinanderbaut und die Mine nutzt, um in der Verletzung herum zu stochern. Das Krankenhaus wäre bei weitem die bessere Alternative gewesen. Übelkeit bemächtigt sich seiner und nur seine Konzentration auf die Kugel verhindert, dass er Bartolomej direkt auf den Schoß kotzt. Schweißperlen rinnen an seinen Schläfen hinab und das Stöhnen des Gepeinigten macht nichts besser. Doch plötzlich … bewegt sich der Bauch. Raue Laute dringen zu ihm und als Adrijano aufsieht, entdeckt er ein schiefes Lächeln auf den vernarbten Lippen. »Was …« »Das … macht keinen Sinn«, ächzt Bartos und gluckst ein weiteres Mal. »Dass du das tust. Ich habe so viele Menschen getötet … und ich denke nicht, dass das gut war. Hör einfach auf. Es macht mehr Sinn, wenn ich tot bin.« »So ein Unsinn!«, herrscht Adrijano ihn an und stößt mit der Kugelschreibermine endlich auf Widerstand. Bartos zuckt zusammen, ist aber noch lange nicht fertig. »Mein erstes Opfer … war eine Frau. Sie hat mich bei sich aufgenommen. Sie war schon alt. Sie hat meine Narben angestarrt und Fragen gestellt. Immer wieder. Ich habe sie im Schlaf erstickt.« »Ich will das nicht hören, Bartos.« Das lenkt Adrijano viel zu sehr von dem ab, was er da gerade versucht. Die Kugel bewegt sich nur Millimeter. »Halt still!« »Die Dolche … habe ich bei einem Schmied gemacht. Ich mag Messer und Klingen. Er hat mir angeboten, bei ihm in die Lehre zu gehen. Aber er war nicht zufrieden. Sie haben so schön durch ihn hindurch geschnitten. Wusstest du, dass man … einen Menschen ziemlich lange leben lassen kann, während man an ihm herum schneidet? Man darf nur nicht die falschen Stellen …«   Sekunden ziehen an ihnen vorbei. Gemeinsame Atemzüge. Ein diffuses, nicht deutbares Gefühl auf tauben Lippen. Blicke, die einander zu nahe sind, zu tief gehen. Als der Kontakt endet, lehnt Adrijano seine Stirn an Bartolomejs und würgt die Übelkeit ein weiteres Mal hinunter. Er will das alles nicht hören. Es zerstört so viel. »Da hast du deinen verdammten Kuss! Und jetzt halt endlich die Klappe! Ich bitte dich.« Die Stille bleibt, bis Adrijano den größten Brocken der Kugel endlich aus der Wunde gestemmt hat. Er hält sie gegen das Kerzenlicht. Zwei Splitter sind von ihr abgegangen. Die dürften recht groß und einfach zu finden sein. Er ist dankbar dafür, dass er Bartolomej mit dem Kuss zum Schweigen gebracht hat. Er hätte angenommen, das klappt nur in schlechten Filmen, doch scheinbar … hat Bartos ihn sich wirklich gewünscht. Adrijano ertappt sich bei der Vorstellung, was gewesen wäre, hätte er es damals schon getan. Wenn er sich mit Bartolomej hinter dem Schulhaus getroffen und ihn gegen die Wand gedrückt hätte. Es löst nichts in ihm aus. Da ist einfach nichts. Aber das auszusprechen, liegt ihm fern. »Ich muss noch zwei Splitter finden, dann verbinden wir dich und dann nichts wie weg«, lässt er den Sitzenden wissen, während er weiter in der Wunde stochert. Bartos wird das schon aushalten, denkt er sich. Der hat schon andere Sachen durch. Den ersten Splitter findet er schnell. Den Anderen nicht. Ist er vielleicht schon aus der Wunde ausgetreten? Darauf muss er es ankommen lassen. Hastig greift Adrijano nach einem der Tücher, reißt es ein und macht ein längeres, schmaleres Stück daraus, das zwar nicht schön aussieht, aber seinen Zweck erfüllen wird. Ein zweites Tuch faltet er, ehe er es auf die Wunde presst und das andere um die Taille wickelt, um es dann fest zu verknoten. Er weiß nicht, ob das Bartos retten wird. Genauso wenig wie er weiß, wohin sie überhaupt verschwinden sollen.   Es ist kurz nach halb eins, als es vor der Kirchenpforte plötzlich lauter wird. Schläge hämmern gegen das Holz, dann fliegt die Tür auf und drei Männer stürmen ins Kircheninnere. »Milizija! Heben Sie die Hände und treten Sie vor!« Waffen. Uniformen. Die Polizei. Dieser verdammte Pastor hat sie tatsächlich gerufen. Adrijano hebt die Hände und steht langsam auf, kramt das bisschen Russisch zusammen, dass er hat und blickt in das Licht von Taschenlampen. »Bitte. Bartolomej muss ins Krankenhaus.« »Lassen Sie die Hände da, wo ich sie sehen kann!«, ruft einer der Beamten, ehe er sich Adrijano nähert, während die anderen sich verteilen und der Bank von der anderen Seite näherkommen. Das Blut auf dem Boden und an Adrijanos Händen lässt sie Handschellen von ihren Gürteln nehmen und vor lauter Panik lässt sich der Kroate auf die Knie sinken, um kein noch besseres Ziel abzugeben. Seine Finger sind ganz feucht, während er sie hinter seinem Kopf zusammenpresst. Bartolomej hebt nur träge den Kopf, sieht das ganze Szenario wie durch einen dichten, roten Nebel. »Lasst … ihn. Ich gehöre zu Juuri und er … er hat nichts mit dieser Sache zu tun.« »Juuri?« Der Name lässt die Polizisten aufmerken. Auch der Pastor ist wieder aus irgendeinem Hinterkämmerchen gekommen und versucht den Männern mitzuteilen, was hier vorgefallen ist. Adrijano versteht überhaupt nichts, doch Bartos tut es. Einer geht etwas weiter weg, zieht ein Handy aus seiner Hosentasche und ruft jemanden an. Bartolomej hört Juuris Namen. Plötzlich wird ihm anders zumute. Eine Art Vorahnung. Ihm fehlt die Kraft zu reagieren, als der Beamte mit einem Nicken bestätigt, was der Mann am anderen Ende der Leitung zu ihm sagt. Er scheint erfahrener zu sein, als seine beiden Begleiter, die ihn unsicher ansehen, als er zu ihnen zurückkommt. Ohne ein weiteres Wort zieht er seine Dienstwaffe, entsichert sie und richtet sie direkt auf Adrijanos Stirn, ehe er den Abzug drückt und das Echo des Knalls durch die Kapelle hallt. De rote Nebel lichtet sich, als sich Bartolomejs Augen weiten und er dabei zusieht, wie Adrijano nach hinten fällt und im Todeskampf zuckt, während dickes, dunkles Blut aus dem Kopfschuss sickert. Dann wird alles ganz still. Die harschen Griffe, die ihn auf die Beine bringen, fühlen sich nicht an, als würden sie ihn tatsächlich berühren. Geschriene Worte verpuffen im Nichts. Er sieht nur Adrijano. Sieht nur die schreckgeweiteten Augen, die langsam ermattend an die mit wunderschönen Zeichnungen versehene Kirchendecke starren. Verständnislos. Geplatzte Träume, so vieles, das zurückgelassen werden muss – nur im Bruchteil einer Sekunde. »Widerstand gegen die Staatsgewalt. Es war Notwehr«, erklärt der korrupte Milizbeamte, als er die Waffe wieder wegsteckt und einen Krankenwagen ruft. Auch die Forderung, ihn zu Juuri zu bringen, hört Bartolomej nur aus weiter Ferne. Da ist nichts in ihm. Kein Gefühl. Kein Wille. Nichts. Fremdgesteuert setzt er einen Fuß vor den anderen, steigt in einen Wagen, blickt ins Leere, obwohl die prunkvollen Lichter Sankt Petersburgs allgegenwärtig sind und selbst um diese Zeit noch viel auf den Straßen los ist.   Es gibt nur eine Sache, die er deutlich vernimmt – eine gefühlte Ewigkeit später, auf dem Boden seines Glaskäfigs hockend und seine Hände anstarrend. Die festen Schritte auf dem nackten Beton, ein selbstgefälliges Lachen. Und eiskalte Worte. »Ich wusste, dass ich dir nicht vertrauen kann. Schauen wir mal, wie es dir nach einer Woche ohne Essen und frisches Wasser geht. Du hast mich wirklich sehr enttäuscht, Bartolomej. Aber der Risikofaktor ist nun ausgeschaltet. Blicken wir also einfach mal optimistisch in die Zukunft, nicht wahr?« Die Schritte entfernen sich, das Licht geht komplett aus – selbst das in seinem Käfig. Zurück bleibt nur das Echo des Schusses, der starre Blick ins Leere und das Wissen, dass nichts mehr übrig ist. Denn man weiß nie, was man verliert, bevor es passiert. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)