Ein fataler Wunsch von Gmork (Das Mary Sue-Projekt) ================================================================================ Prolog: Sehnsucht ----------------- Fire where are you to shape and reshape all anew tongues from overseas guide me when I’m on my knees OH HIROSHIMA – ELLIPSE   Düstere, aber klare Riffs einer schwedischen Post-Rock-Band begleiten meine schnellen Schritte auf dem Weg zur U-Bahn. Hände, ganz klamm, suchen Schutz in den Tiefen meiner Jackentaschen. Es ist klirrend kalt – und es regnet mal wieder. Ein typischer Oktober in Berlin. Keine zwei Minuten nachdem ich die Alarmanlage aktiviert, die Praxis abgeschlossen und mich auf dem Heimweg gemacht habe, bin ich schon komplett durchgefroren. Die Feierabendglocke hat heut eindeutig viel zu spät geläutet. Daran ist der Patient schuld, der sich fünf Minuten vor Sprechstundenschluss mit Zahnschmerzen vorgestellt hatte. Es dämmert schon und bevor es komplett finster ist wäre ich gern im warmen, trockenen Heim. Gott sei Dank ist der Weg nicht allzu weit. Trotzdem beeile ich mich, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Kein Schirm. Immer wieder vergesse ich diesen vermaledeiten Schirm. Schweres Schuhwerk zerteilt die vielen Pfützen, die sich im Laufe des Tages angesammelt haben. Endlich kommt das Bahnhofsgebäude in Sicht. Noch während ich im typischen Berliner-Tempo die Halle betrete, wühle ich in meinem Beutel nach meinem Portemonnaie, ziehe ein Ticket hervor und stemple es im Vorbeigehen ab. Dazu muss ich nicht einmal stehen bleiben, so zielsicher bin ich mittlerweile. Das Heranrauschen der nächsten Bahn lässt mich noch schneller werden. Keine Sekunde nachdem ich das Abteil betrete, schließen sich quietschend die Türen hinter mir und die Bahn fährt ruckartig an. Gott sei Dank. Die nächste wäre erst in zehn Minuten gekommen, was sich immer anfühlt wie eine Stunde Warterei. In dieser Stadt hat niemand Zeit. Auch mir geht es so. Mit geschlossenen Augen lehne ich mich an eine Trennscheibe. Sitzen lohnt sich bei nur drei Stationen nicht. Außerdem ist die Gefahr weg zu dösen einfach zu groß. Ein anstrengender Elf-Stunden-Arbeitstag ist vorüber. Jetzt heißt es entspannen, sobald ich zuhause bin. Ein vorfreudiges Schmunzeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich weiß schon ganz genau, wie ich den Feierabend verbringe: Mit meinem geliebten weißen Nintendo 3DS auf der Couch. Eine ganze Zeit lang habe ich ihn links liegen gelassen, doch heute hat mich eine plötzliche Sehnsucht nach Pokémon gepackt. Obwohl ich Hauptstory und Post-Game schon längst durchhabe, wird Pokémon Mond nicht langweilig. Irgendwas kann man immer machen:  Über den Festival-Plaza rennen, tauschen, züchten, kämpfen … oder einfach nur stupide ein neues Outfit anprobieren. Niemals hätte ich gedacht, dass eine Spielereihe mich so sehr prägen würde. Aber es ist so. Mit acht Jahren hatte ich die blaue Edition in den Händen gehalten und seitdem kaum etwas Anderes gespielt. Kleine Lebewesen zu fangen und zu trainieren halten so ziemlich alle in meinem direkten Umfeld für, naja, „nicht sonderlich erwachsen“. Aber ich stehe dazu, denn ich habe schon früh erkannt, dass hinter den Spielen so viel mehr als das steckt. Wunderschöne Welten, fesselnde Charaktere – manchmal wünsche ich mir, dass welche davon wirklich existieren – spannende, packende, mitreißende Geschichten. Viele Leute schmunzeln oder verdrehen die Augen, wenn ich mal wieder anfange zu schwärmen, weswegen ich lieber den Mund halte und heimlich die Protagonistin im Spiel um ihr Leben beneide. Champion, bekannt wie ein bunter Hund, jeder mag einen, Kohle ohne Ende, keine wirklichen Verpflichtungen, immer fröhlich. Im Vergleich zu meinem Leben hier ein richtiges Schlaraffenland, auch wenn ich eigentlich nichts zu klagen habe. Und dennoch – ich würde sofort mit ihr tauschen, selbst wenn es nur für eine Stunde wäre. Der ruckartige Stillstand der Bahn reißt mich aus meinen Gedanken. Die Türen öffnen sich. Ich bin tatsächlich schon da und steige schnell aus. Nur noch zehn Minuten Kälte ertragen, bis ich meine Wohnungstür aufschließen kann. Zwei Stufen auf einmal nehmend, erklimme ich die Treppe zur Straße. Wenigstens lässt der Regen langsam nach. Die Band spielt weiter ihre düsteren Riffs. Ich ziehe mein Handy hervor, um den Ton lauter zu drehen, als ich etwas im Augenwinkel bemerke. Etwas Helles. Ich stoppe ruckartig, mein Blick schnellt in die Richtung, aus der das Leuchten kommt. Nichts. Misstrauisch sehe ich mich um. Niemand ist unterwegs, ich bin die einzige Person auf dieser verregneten Straße. Und trotzdem glaube ich nicht, dass es Einbildung war. Mehrere Sekunden vergehen, in denen ich unschlüssig dastehe, bevor ich mich wieder auf den Weg mache – nicht ohne mich zwischendurch immer mal wieder umzusehen. Paranoid war ich eigentlich noch nie gewesen, trotzdem beschleicht mich das Gefühl unter Beobachtung zu stehen. Kurz darauf schließe ich die Wohnungstür hinter mir und atme tief durch. Ein bisschen Erleichterung ist zu spüren. Passiert ist selbstverständlich nichts, aber was habe ich auch erwartet? Einen Geist, der mich entführen will? Denn genau so hatte diese Gestalt ausgesehen. Ein Geist in einem Kleid, weiß wie Schnee und fluoreszierend wie die Sterne am Himmel. Dieser Gedanke lässt mich abfällig schnauben. Immer muss ich übertreiben, das ist so typisch. Die Wohnung ist dunkel, nur der Schein der Laternen draußen fällt durch das Küchenfenster in den Flur. Hastig knipse ich das Licht an, bevor ich mit routinierten Bewegungen meine Schuhe abstreife und sie an ihren üblichen Platz stelle. Kaum bin ich zuhause, sind all diese komischen Sorgen wie weggeblasen – zumindest bemühe ich mich, sie bestmöglich zu ignorieren. Ein paar selbstgestrickte Kuschelsocken liegen schon bereit. Ich schlüpfe hinein und verziehe mich auf die Couch, nachdem ich noch eine Pizza in den Ofen geschoben habe. Der Bildschirm des Nintendos leuchtet hell auf und ich starte abermals ein Abenteuer in Alola, doch nach kurzer Zeit vergeht mir tatsächlich schon wieder die Lust. Frustriert klappe ich ihn wieder zu. Die immerzu lächelnde Protagonistin geht mir auf die Nerven, Tali mit seinem Dauergrinsen ebenfalls. Oder ist es nur mal wieder der Neid, der aus mir spricht? »Wenn ich bei denen wäre, hätten die alle bestimmt nichts zu lachen.« Meine Stimme klingt kratzig und matt. Und dennoch wäre ich jetzt lieber dort. Viel lieber, als allein in dieser Wohnung. Nach minutenlangem Löcher-in-die-Luft-Starren sehe ich zum Schreibtisch in einer Ecke des Zimmers und erhebe mich schließlich ächzend aus der Couch. Vielleicht kann ich ja noch produktiv sein, wenn schon das Fangen, Züchten und Kämpfen nicht funktioniert hat. Außerdem spukt mir noch immer diese komische Gestalt von vorhin im Kopf herum und diesen Gedanken will ich endlich loswerden. Ich setze mich davor und betrachte das Chaos aus Skizzen, Buntstiften und Pinseln darauf. Nur unfertige Sachen liegen hier rum. Sachen, die ich wahrscheinlich niemals beenden werde. Ruhig sehe ich mir ein angefangenes Bild nach dem anderen an, bis mein Blick dann schließlich auf ein Blatt mit einer buntbemalten Ecke fällt, versteckt unter einem ganzen Stapel alter Zeichnungen. Ich greife nach der Ecke und ziehe es hervor. Ein angefangenes Fanart von Samantha und Anego, bestimmt schon sechs Monate alt. Warum habe ich das nicht beendet? Eigentlich mag ich es sehr und man sieht, wie viel Zeit ich bereits investiert habe. Samantha wirkt zerbrechlich, schwebt in der Luft und streckt ihre Hand nach dem Pokémon aus, im Hintergrund die Ultradimension, mühselig abgezeichnet von winzigen Referenzen aus dem Spiel. Die Dynamik des Bildes gefällt mir noch immer. Ich wollte es damals so perfekt wie möglich hinbekommen, einfach weil ich die Story der beiden so mochte. Und während ich das Bild bestimmt noch gute zwei Minuten betrachte, packt mich plötzlich der Ehrgeiz es zu beenden – heute noch! Schnell lege ich mir Buntstifte, Radiergummi und Anspitzer zurecht und beginne mit der Arbeit, nachdem ich noch meine Musik-Playlist fürs Zeichnen angeschaltet habe. Tatsächlich beende ich die Zeichnung innerhalb zwanzig Minuten in einem fast schon fieberhaften Wahn, der alles um mich herum vergessen macht. Zwei meiner Buntstifte sind fast um die Hälfte kürzer gespitzt, ohne dass ich mich erinnere es getan zu haben. Es ist, als würde ich aus einem Rausch erwachen. Verschwitzt und mit pochenden Schmerzen im Rücken lehne ich mich zurück, um mein Werk zu betrachten. »Joah … das geht doch voll klar.« Ich grinse in mich hinein. Stolz bin ich ja schon. Das ist wahrscheinlich mein aufwendigstes Bild, auch wenn ich es jetzt rasend schnell fertigbekommen habe – was wiederrum irgendwie gruselig ist. Aber immerhin ist mein Kopf jetzt frei. Zumindest denke ich das für diesen Moment, bevor ich eines Besseren belehrt werde. Ein kalter Luftzug lässt mich frösteln und sämtliche Härchen meines Körpers stellen sich auf. Was zum Teufel passiert denn jetzt mit mir? Entsetzt beobachte ich meinen Atem, der in Nebenschwaden aufsteigt, als meine Lungen sich plötzlich zusammenquetschen - ein schreckliches Gefühl, als würde mein Körper in ein Vakuum gezogen. Ich bin unfähig mich zu bewegen, geschweige denn wieder Luft zu holen. Lediglich die Kontrolle über meine Augen ist mir nicht verloren gegangen. Fassungslos registriere ich, wie alles Tote um mich herum zum Leben erwacht: Wände verzerren sich und schlagen unheimliche Wellen. Fläschchen und Blumentöpfe ziehen sich unnatürlich in die Länge, als seien sie einer abstrakten Malerei entsprungen. Gesichter auf Fotos ändern ihren Ausdruck. Und die Stille. Diese Stille ist das Schlimmste. So muss es sich anfühlen taub zu sein. Nur den eigenen Herzschlag zu spüren, ein unrhythmischer Trommelwirbel in der Brust. Ich bin nicht allein hier. Irgendwas ist bei mir, unter meinen Füßen, dort wo die Luft am kältesten ist. Und plötzlich ist alles vorbei. Eine Erschütterung erfasst die Umgebung, begleitet von einem Geräusch, wie ich es noch nie zuvor vernommen habe. Es erklingt in meinem Kopf, genau zwischen den Augen. Ein Seufzen, dass nicht von dieser Welt stammt, sondern aus den Tiefen einer anderen Dimension. Plötzlich erfasst mich ein Sog, ausgehend von der eben beendeten Zeichnung. Alles um mich herum wird davon angezogen, Druckwellen schießen an mir vorbei und dringen in das Bild ein. Nur ich bleibe davon verschont. Dann bricht das Seufzen ab und meine Lungen werden von Sauerstoff überschwemmt, als ich die Kontrolle über mich selbst zurückerlange. Mein Überlebensinstinkt lässt mich keuchend einatmen, abgehakt und unnatürlich. Wie ein Ertrinkender, der sich wieder an die Wasseroberfläche rettet. Genauso klang damals ein Patient, der mitten in der Behandlung einen Herzinfarkt erlitten hatte. Ist das nun auch mein Schicksal? Sterbe ich gerade? Nein, das kann nicht sein. Meine Atmung wird ruhiger, ich spüre wie sich mein Puls normalisiert, auch wenn es einige Minuten dauert, während ich völlig erschlagen das Bild anstiere. Dieses verfluchte Bild. Die Euphorie es beendet zu haben ist verschwunden. Nach weiteren endlosen Minuten registriere ich, dass alles so ist, wie vorher. Es ist nicht kalt, nichts bewegt sich, was sich nicht bewegen sollte. Alles steht noch an seinem Platz. Nur mein Körper fühlt sich noch immer schwerelos an, als wäre kein Boden unter meinen Füßen. Ich wage es nicht nach unten zu sehen. Wahrscheinlich würde ich mich sonst übergeben. Geräusche von draußen dringen in die Wohnung. Alltägliche Geräusche. Fahrende, hupende Autos, Hundegebell. Und die Musik, die leise im Hintergrund läuft. Ich klammere mich daran fest, aus Angst sonst verrückt zu werden. »Du warst schon immer ein bisschen meschugge, aber das hier übertrifft echt alles.« Zitternd fahre ich mir durch die Schweißnassen Haare, während ich wie in Trance mit mir selbst spreche. Meine Bewegungen sind unkontrolliert. Was auch immer das gewesen war, es hat mir eine schreckliche Angst eingejagt, die mir auch jetzt noch in den Knochen sitzt. Das Gefühl heulen zu müssen, lässt sich kaum noch unterdrücken, doch ich ringe es erbittert nieder. Ich kenne mich. Wenn mich dem Gefühl jetzt hingebe, dann wird alles nur noch schlimmer. Da hilft nur Kompensieren … und zwar mit Zigaretten. Mein Blick fällt auf die Schachtel Lucky Strike, die verlockend keine Armlänge entfernt auf der Tischplatte liegt. Gerade als ich zur danach greifen will, passiert es: Etwas Eiskaltes schlingt sich um mein Handgelenk, als hätte es nur auf diesen Moment gewartet. Entsetzt starre ich auf … »Wtf?« Ein Tentakel? Augenblicklich ist die Übelkeit wieder da. Doch mir bleibt keine Zeit zu reagieren, denn dieses Ding reißt mich mit monströser Kraft in die Tiefe. All die Panik von vorhin kehrt zurück und entlädt sich in einem gellenden Schrei. Ich falle, nachdem ich mich nirgendwo festhalten konnte. Mit zusammengekniffenen Augen bereite ich mich auf einen harten Aufprall vor, doch der kommt nicht. Der Boden ist tatsächlich verschwunden und ich stürze in eine unbekannte Schwärze. Völlig verwirrt reiße ich die Augen auf und sehe gerade noch, wie der Schreibtisch und alles andere im Zimmer immer kleiner und von der Dunkelheit aufgesaugt werden, wie in ein schwarzes Loch hinein. Nur mein Stuhl ist mir gefolgt, worüber ich einen utopischen Moment lache – bis mir der Ernst meiner Lage wieder bewusst wird. Belustigung verwandelt sich in Panik, die alles in mir niederwalzt. Irgendein scheiß Monster hat mich gepackt und entführt mich, lässt mich immer schneller fallen und wirbelt mich in der Luft herum, bis mein Magen sich nach außen drücken will. Ich liebe Rummelplätze und Achterbahnen, aber das hier ist eindeutig zu viel des Guten! Doch auch mit größter Kraft kann ich dem Wesen nicht entkommen. Mittlerweile ist unser Tempo so rasant, dass ich das Gefühl habe jeden Moment Feuer zu fangen und in der Dunkelheit zu erlöschen, wie ein Glühwürmchen kurz vor seinem Tod. Genauso fühlt es sich an. »Ich werde sterben … Scheiße, ich sterbe gleich!« Meine Stimme ist schrill und kaum wieder zu erkennen. Schlägt mein Herz überhaupt noch? Ich spüre gar nichts mehr, nicht einmal den festen, eiskalten Griff der Bestie. Jetzt sehe ich wirklich Funken. Funken in meinem Kopf, die immer größer werden, bis alles um mich herum schneeweiß leuchtet. Mittlerweile wehre ich mich nicht mehr – ich spüre, dass es gleich vorbei sein wird und gebe mich diesem Gefühl hin. Hätte ich doch wenigstens vorher noch etwas gegessen … Ein letztes Mal reiße ich meine Augen weit auf, starre blind ins Nichts. »Scheiße, man! Pizza! Die scheiß Pizza ist noch im Ofen …!« Diesen einen Satz bekomme ich noch heraus. Dann verschlingt mich eine angenehme Ruhe. 1. Erwachen ----------- I am falling, I am fading I am drowning help me to breathe I am hurting, I have lost it all I am losing, help me to BOA – DUVET    »Breathe!« Ich schrecke hoch, als ich meine eigene Stimme höre. In meinem Kopf dröhnt es und zwischen meinen Augen wummert ein dumpfer Schmerz. Da am vorherigen Tag mit absoluter Sicherheit keine Party stattgefunden hat, kann es nur eine Migräne sein. Wieder einmal. Leise stöhnend kneife ich die Augen zusammen, doch selbst durch die geschlossenen Lider erkenne ich, dass ich mal wieder vergessen habe das Flurlicht auszuschalten. Trübes Rot treibt Messerstiche durch meine Stirn. Doch das alles ist unwichtig. Das alles macht mir weit weniger zu schaffen, als der Traum, der mir bis in die Realität gefolgt ist. Obwohl ich mich kaum erinnere, weiß ich, dass es schrecklich war. Letzte verschwommene Bilder laufen noch vor meinem inneren Auge, seltsame Szenarien, die sich kaum logisch zusammensetzen lassen. Fotos, die sich bewegen, ein eiskalter Griff, ein freier Fall in bodenlose Schwärze … und zum Schluss hohe Wellen, die tosend über meinen Kopf zusammenschlagen. Und dieses Wort. Breathe. Atmen. Überrascht stelle ich fest, dass ich in der halben Minute seit meines Erwachens noch kein einziges Mal Luft geholt habe. Als meine Reflexe ruckartig zum Leben erwachen, klingt mein Atem rasselnd und meine Zähne schlagen klappernd aufeinander. Kälte lässt mich zittern, ohne dass ich es unter Kontrolle bekomme. Das alles bemerke ich erst jetzt. Oh Gott, lass mich schnell wieder einschlafen, denke ich mir, während ich mich schutzsuchend tiefer in der Decke verkrieche. Die Nase im dünnen Stoff vergraben sauge ich begierig ihren Duft ein: Seltsam würzig, gleichzeitig frisch wie Bergluft und mit der sommerlichen Note eines prasselnden Feuers … Einen Moment versinke ich darin, nur um dann alarmiert die Augen aufzureißen. So riecht meine Decke nicht! Das ist nicht meine Decke! Vom plötzlichen Adrenalin getrieben krieche ich unter ihr hervor, strample dabei wild mit den Beinen und ignoriere die Kälte, die mich packt und die rasenden Schmerzen in meinem Kopf. Ich liege nicht, wie gedacht, in meinem Bett – und ganz nebenbei hat irgendjemand mich bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Der Boden unter mir ist feucht und ungemütlich. Das Licht, dass ich für meine Flurlampe gehalten habe, entpuppt sich als offenes Feuer an der frischen Luft. Um mich herum sind keine schützenden Mauern, sondern nur der flatternde Kunststoff eines Zeltes, in dessen Eingang ich gelegen habe. Ich bin nicht zuhause. Ich bin… »Wo bin ich?« Meine Stimme klingt, als hätte ich drei Schachteln Zigaretten geraucht. Wie am Anfang einer schweren Erkältung. Ich stehe auf und drehe mich einmal um mich selbst, erkenne eine große Wiese, in dessen Mitte irgendjemand dieses Lager aufgeschlagen und mich dann zurückgelassen hat. Panik schwillt in meinem Zwerchfell an. Ich fasse mir an die fiebrig heiße Stirn, atme tief ein und aus. Einmal, zweimal, zehnmal. Dann, mit einer plötzlichen Erkenntnis, hebe ich meinen Kopf. Natürlich. Es gibt eine Erklärung dafür. Sie ist ganz einfach: Du träumst, Anni. Plötzlich sind meine Gedanken klar. Mein Herzschlag normalisiert sich, sämtliche Muskeln lockern sich. Sogar die Kälte ist mir jetzt egal. Meine Idee lässt mich Hoffnung fassen, als meine Hand zu meinem Gesicht wandert und mir die Nase zuhält. Aufgeregt erinnere ich mich an einen Post, den ich in einem Forum über Klarträume gelesen habe. Realitätschecks. „Wenn man glaubt sich in einem Traum zu befinden, macht man den Realitätscheck, indem man sich Nase und Mund zuhält und versucht zu atmen. Sollte dies gelingen, dann ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass man gerade träumt und trotzdem bei vollem Bewusstsein ist. Man kann den Traum bewusst in eine bestimmte Richtung lenken und alles tun, was sonst nie im Leben möglich wäre.“ Siegessicher klammere ich mich an diese Worte, presse meine Lippen fest zusammen und hole tief Luft. Es klappt nicht. Ich versuche es erneut, doch meine Lungen bleiben leer. Kein Sauerstoff wird aufgenommen. Ich kann nicht atmen. All die Euphorie verpufft augenblicklich, meine Hand fällt schlaff an meiner Seite herunter. Kann das wahr sein? »… Wo bin ich?« Wie in Trance wiederhole ich diese Frage immer wieder, doch nur der Wind, der durch die Grashalme streift antwortet mir. Ein Rauschen, das sich genauso trostlos und verloren anhört, wie ich mich fühle. Und da ist noch ein Geräusch. Etwas, das so unendlich lang her ist, dass ich geglaubt habe, es nie wieder zu hören. Innerhalb von Sekunden werden Erinnerungen aus längst vergangenen Zeiten in mir wach, Erinnerungen an fettige Pommes in essbaren Waffeln, Sonnenbrände, trockene Haut und Eiscreme mit gefrorenen Himbeeren. Schlagende Wellen. Schäumende Gischt. Das Meer. Wie von selbst setzen sich meine Beine in Bewegung. Das Herz scheint mir in der Brust zu verglühen, aber es schlägt tapfer weiter, unglaublich laut in meinen Ohren. Als die Wiese abrupt aufhört und ich weichen Sand unter den Füßen spüre, beginne ich zu rennen. Der Mond steht an seinem höchsten Punkt und vor mir tut sich eine atemberaubende Aussicht auf. Klares Wasser vor meinen Füßen. Tausende Sterne am Himmel. Das hier ist eine Bucht und ich stehe vor meinem persönlichen Paradies. Das Meer. Wann habe ich zuletzt das Meer gesehen, außer auf Fotos? Wie lang war das her? Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre? Es lässt mich die prekäre Situation und die Schwierigkeiten, in denen ich offensichtlich stecke, für einen Moment komplett vergessen. Mein Blick ruht auf den Wellen, die schäumend ans Ufer branden und Tränen laufen mir über die Wangen. Kraftlos falle ich auf die Knie und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Ich weine wie ein kleines Kind, teils aus Verzweiflung, teils aus erschütterter, peinlicher Freude über etwas, das für die meisten Menschen ganz alltäglich ist. Es vergehen einige Minuten und als ich mich schließlich aufrichte und mir eine klebrige Haarsträhne von der Wange wische, erkenne ich, dass nicht nur mein Gesicht nass ist, sondern auch meine Haare. Winzige Salzpartikel hängen an meinen Fingern und funkeln wie Diamanten im Mondlicht. Auch mein restlicher Körper fühlt sich klamm an, wie damals, als ich ein kleines Kind war und trotz des rauen Wetters im Meer gebadet und mich danach nicht richtig abgetrocknet habe. Was hat das zu bedeuten? Wieder tauchen die Bilder meiner letzten Erinnerung auf. Musik lief. I’am loosing, help me to breathe. Ich habe gezeichnet. Dann der Fall. Die Wellen über meinem Kopf. Noch immer klappern meine Zähne vor Kälte, obwohl hier ein angenehmes Klima herrscht. Es war kein Traum. Und auch jetzt träumst du nicht. Dieser Gedanke ist auf einmal ganz klar in meinem Kopf und ich beginne zu glauben, dass es stimmen könnte. In meinen anderen Träumen hatte ich noch nie derart gefroren. Der Realitätscheck war auch erfolglos. Und das plötzliche gewaltige Knurren meines Magens, macht auch den letzten Zweifel zunichte. Ich schlinge meine Arme um den Körper und blicke unsicher zurück zur Feuerstelle. Den zerbeulten Topf, der über den Flammen hängt, bemerke ich erst jetzt und auch den satten, sämigen Geruch, der von ihm ausgeht. Ich denke an die Pizza in meinem Ofen, die mittlerweile schon zu schwarzem Staub zerfallen sein musste und der Hunger ist auf einmal so stark, dass meine Instinkte Oberhand gewinnen. Ich brauche nur ein paar Sekunden, bis ich das Lager erreiche. Doch bevor ich mir die Mahlzeit, die irgendjemand – vielleicht für mich? – gekocht hat, genauer ansehe, krieche ich in den Zelteingang zurück und ziehe die Decke hervor. Auch wenn sie einer fremden Person gehört, kann nur sie mir die Kälte vom Leib halten, denn von meinen Klamotten fehlt jede Spur. Darum kümmere ich mich später. Nach dem Essen. Mit vollem Magen kann man eh viel besser denken. Etwas skeptisch werfe ich einen Blick in das Gefäß. Weitere exotische Gerüche strömen mir entgegen, die ich neugierig einatme. Was soll das für ein Gericht sein? Eintopf? Es schaut eigenartig aus, aber nicht unappetitlich. Die Person, wer und wo auch immer sie jetzt sein möge, hat mir vorsorglich eine feingearbeitete Schüssel und einen Löffel bereitgestellt. Beides aus Holz. Ich runzle die Stirn. Seltsam, aber keinen weiteren Gedanken wert. Zögerlich starre ich noch einige Sekunden auf mein Instrumentarium, bevor ich entschlossen danach greife und die Schüssel bis zur Hälfte fülle. Gespannt koste ich und schließe sogleich die Augen. Was immer es ist, es schmeckt großartig. Schwer vergleichbar mit anderen Gerichten, die ich vorher gegessen habe. Die Konsistenz erinnert an Früchte, doch es schmeckt würzig, mit einer unbekannten Süße. Schärfe wärmt mich von innen. Ich will mehr davon und bin kurz davor den Inhalt der Schüssel komplett zu vertilgen – wenn der Heißhunger erst eingesetzt hat, neige ich dazu zu schlingen – doch ein lautes Schnauben unterbricht mich. Augenblicklich stellen sich meine Nackenhaare auf. Alle Geräusche um mich herum scheinen leiser gedreht. Meine Alarmglocken schrillen. Etwas ist hinter mir, etwas, das durch und durch nicht menschlich klingt. Trotz der Panik drehe ich mich langsam in die Richtung des Geräuschs, mache mich gefasst auf – was auch immer. Doch auf das was ich nun sehe, hätte ich mich niemals auch nur irgendwie vorbereiten können. Keine zehn Meter von mir entfernt, am Rande der Wiese, steht ein … Nein! Blankes Entsetzen schleicht sich in meine Venen. Süßer, würziger Eintopf landet im Gras, als ich die Schüssel fallen lasse. Obwohl ich schreien will, kommt mir nur ein klägliches Keuchen über die Lippen. Ich starre in dreieckige pechschwarze Augen, ein wildes Funkeln im Mondlicht. Dichtes schwarzes Fell umringt den vorderen Teil des Körpers und einen länglichen Schädel, aus dem bedrohlich zwei runde Hörner ragen. Drei lange Schweife mit buschigen Enden peitschen in der Luft. Hufe scharren, bereit sich auf ihr Ziel zu stürzen. Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Als die Kreatur ein lautes Brüllen ausstößt, setzt sich mein Körper instinktiv in Bewegung. Ich krieche rückwärts, versuche Abstand zu gewinnen. Mein Blick klebt an dem Wesen, das mir so schrecklich bekannt vorkommt. Um nichts auf der Welt wünsche ich mir, doch in einem Traum gefangen zu sein. Jetzt zumindest wäre der ideale Zeitpunkt zu erwachen. Mit plötzlichem Galopp rast der Stier auf mich zu. Flucht gescheitert. Keine drei Meter bin ich vorangekommen. In einer verzweifelten Geste reiße ich die Arme nach oben, um wenigstens mein Gesicht zu schützen, spüre wie der Boden unter dem anrollenden Gewicht bebt und – »Hey, ganz ruhig! Was soll denn das?« Das Beben klingt ruckartig ab, aber noch immer ist dort diese mächtige Präsenz – jetzt unmittelbar vor mir. »Komm sofort wieder zurück! Du erschrickst sie noch zu Tode!« Ein weiteres Schnauben, das mich zusammenzucken lässt, doch dann entfernt sich die Kreatur mit schweren Schritten zurück an ihren Platz. Vorsichtig öffne ich ein Auge und luge zwischen meinen Armen hindurch. Inmitten der hohen Grashalme steht ein junger Mann. Seine Hand fährt durch die feste Mähne des Stiers, der genussvoll die Augen schließt und plötzlich gar nicht mehr gefährlich aussieht. Er wirft ihm einen tadelnden Blick zu und schaut dann zu mir. Ich starre ihn an, noch entsetzter als vor ein paar Sekunden. Er kommt mir bekannt vor. »Tut mir leid. Sein Temperament kann einem wirklich Angst machen. Es freut sich nur, dass du wohlauf bist.« Er sich offensichtlich auch, denn er schenkt mir ein erstes breites Lächeln. Als er auf mich zukommt, ziehe ich mir die weggestrampelte Decke zurück über den halb entblößten Körper. Sein fröhlicher Gesichtsausdruck weicht in einen peinlich berührten. Und auch ich spüre eine verräterische Hitze, die meinen Hals hochkriecht, als ich mich aufrecht hinsetze. Einen Moment bewegt sich niemand. Wir beobachten uns, er mich neugierig, ich ihn noch immer misstrauisch. Ich kenne dieses Gesicht, schaffe aber nicht eine direkte Verbindung herzustellen. Wie bei einem alten Klassenkameraden, den man nach Jahrzehnten zufällig auf der Straße trifft. Seine schwarzen Haare sind lang und zu einem Zopf gebunden. Im schwachen Mondlicht kann ich genauere Details seines Gesichts, bis auf einen dezenten Bart, kaum erkennen. Und doch bin ich mir ziemlich sicher, dass seine Augen dunkelbraun sind. Er steckt in einem seltsamen Mantel mit weiten Ärmeln und schlichten, aber nicht kitschigen Blumenmustern. Darunter ein schwarzes Shirt und eine knielange Hose in Weiß, die sehr gemütlich aussieht. Das Orange seiner Sandalen passt lächerlich perfekt zu seinem Mantel. Auf den ersten Blick erinnert er mich an diesen hawaiianischen Schauspieler in jungen Jahren. Jason Momoa oder so? Oder wie ein Urlauber, der sich in der Wildnis verirrt hat. Allerdings würden Urlauber wahrscheinlich in Panik geraten, wenn sie sich verlaufen. Er jedoch wirkt, als wäre er sein ganzes Leben auf Wanderschaft gewesen. Sein riesiger Rucksack – ebenfalls orange – der in der Nähe der Feuerstelle liegt, rundet das alles noch ab. »Also … Ich weiß nicht wie du das siehst, aber ich will zum Feuer zurück. Langsam wird’s kalt.« Er kommt zu mir, reicht mir seine Hand und nun sehe ich das warme Braun seiner Augen ganz deutlich. Er hat einen schelmischen Glanz in seinem Blick. Woher kenne ich ihn nur? Unsicher nehme ich seine Hilfe an und lasse mich von ihm auf die Beine ziehen. Bevor ich etwas sagen oder tun kann, hält er eine Hand gegen meine Stirn, die andere gegen seine eigene. Ich erstarre unter seiner Berührung. Seine Augen sind geschlossen, während er sich für wenige Sekunden konzentriert. Dann lässt er beide Hände sinken und sieht mich an. »Dein Fieber ist gesunken, aber noch nicht weg. Du solltest was von meinem speziellen Fieber-Eintopf essen. Und deine Haare sind immer noch nass. Nicht gut. Du musst dich wirklich aufwärmen.« Wieder wirft er mir ein Lächeln entgegen, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich starre ihn weiter an. Sein Blick wird wieder nachdenklich. Er scheint überfordert. »Was ist los? Hast du immer noch Angst vor Tauros?« Meine Pupillen schrumpfen, als ich zu dem Geschöpf sehe, das sich ein gemütliches Plätzchen am Feuer gesucht hat. Tauros. Oh Gott. »Wer … wer bist du?« Ich erschrecke mich vor dem Klang meiner Stimme. Hoch und schrill. Und als er verlegen seinen Arm hebt, um sich den Nacken zu kratzen und sein Lächeln sich in ein verlegenes Grinsen verwandelt, weiß ich wer er ist, noch bevor er es laut ausspricht. »Oh man, tut mir leid. Ich bin ein ganz schöner Trampel, oder?« Er klingt so ehrlich und besonnen, dass ich ihm nicht böse sein kann. »Mein Name ist - « Oh Gott. »Tali.« Er hebt beide Arme und formt mit seinen Händen einen Halbkreis vor der Brust – als würde er einen Regenbogen in die Luft malen. »Alola.« Der Boden unter meinen Füßen scheint sich in Treibsand zu verwandeln. Vor mir steht eine Spielfigur aus meinem wohl absolut liebstem Fandom. Und sie hat ein reales Pokémon dabei, wahrscheinlich mehrere. Pokémon! Lebendig und greifbar! Meine Hände krallen sich in die Decke, als könnte die mich davor schützen komplett durchzudrehen. »Und wie heißt du? Weißt du’s noch?« Erst jetzt bemerke ich anhand seines besorgten Blickes, dass ich rüberkommen muss, wie eine Durchgeknallte. Und irgendwie möchte ich nicht, dass er mich für verrückt hält. Also ist Zusammenreißen angesagt. »Ich … Tut mir leid. Ich bin A - … Gmork.« Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht meinen wirklichen Namen nenne. Der Name meiner Protagonistin in den Spielen rutscht mir einfach so heraus. Es fühlt sich irgendwie richtiger an. »Tut mir leid, dass ich mich so komisch benehme. Ich bin nur ... durcheinander.« »Kann ich verstehen. Man wird ja nicht jeden Tag bewusstlos aus dem Meer gefischt.« Wieder ein Lächeln. Als wäre das alles nicht so wild. Wie schafft er es nur immer so fröhlich zu sein? »Wir sollten zum Feuer. Wirklich. Du musst was essen und dich aufwärmen.« Er hat Recht. Während dieser zweiminütigen Unterhaltung haben meine Zähne wieder zu klappern begonnen. Den ein oder anderen Nieser musste ich auch schon unterdrücken. Ich stimme zögerlich zu und folge ihm mit gesenktem Blick. Im Lager angelangt lassen wir uns vor dem Feuer nieder – Tali achtet darauf, dass zwischen mir und Tauros ein wenig Abstand herrscht. Wäre nicht nötig gewesen, der Schock unserer ersten Begegnung ist verflogen. Aber ich bin dankbar, dass er Rücksicht nimmt. Ein paar Minuten vergehen, ohne dass jemand etwas sagt. Ich sitze mit angezogenen Knien da und blicke ins Feuer, genieße das leise Knistern und die Wärme, die sich langsam in meinem Körper ausbreitet. Talis Nähe ist nicht unangenehm, auch wenn es seltsam ist mit ihm hier am Feuer zu sitzen … In einer Bucht in Alola. In der Welt der Pokémon. Ist das wirklich die Realität? »Was ist passiert?« Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. Er hält mir die Schüssel hin, die er wieder mit Eintopf gefüllt hat. Sein Blick ist wachsam und interessiert. Dankbar lächelnd nehme ich die Schüssel an mich, rühre gedankenverloren mit dem Holzlöffel in dessen Inhalt herum. Und was antworte ich nun darauf? Hey, eigentlich existiert ihr gar nicht wirklich. Ihr seid Figuren aus einem Spiel, dass ich liebe. Ich habe ein Bild zu dem Spiel gezeichnet und plötzlich war ein Pokémon der Meinung, mich einfach mal so in eure Welt zu entführen, auch wenn das ja eigentlich überhaupt nicht geht. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich das für mich behalten muss. »Ich weiß es nicht.« Er kauft mir die Lüge ab. Schuldgefühle kochen hoch, doch ich schlucke sie bitter herunter. »Ist schon gut. Gedächtnisverlust ist, glaube ich, völlig normal in solchen Situationen. Iss.« Etwas irritiert über seine Aufforderung nehme ich den Löffel in die Hand und führe ihn zum Mund. Sofort versinke ich wieder in dem fremden, exotischen Geschmack. Nur mit Mühe kann ich ein genießerisches Seufzen unterdrücken. »Ich hoffe es schmeckt.« Ein zustimmendes Nicken. »Ja. Mir geht’s gleich ein wenig besser.« Seine Augen leuchten. Er freut sich. »So soll es sein. Wenn‘s einem schlecht geht, ist das die beste Medizin. Beeren helfen nicht nur Pokémon, sondern auch uns Menschen. In meinem Eintopf sind Jonago-, Maron-, Wilbir-, Yapa- und Himmihbeeren drin. Jonago- und Maronbeeren bringen dir neue Energie, Wilbirbeeren senken dein Fieber und Himihbeeren sorgen dafür, dass dir trotzdem warm bleibt. Die Yapabeeren sind für den Geschmack. Lecker soll es ja auch sein.« Ich nicke abwesend. Zwar registriere ich, was er sagt, aber ich kann es einfach nicht glauben. All diese Beerensorten sagen mir etwas. Sie tatsächlich zu essen ist wirklich absurd. Und noch komischer ist es, dass sie auch noch so schmecken, wie ich mir es immer vorgestellt habe. Während ich neue Kraft schöpfe, lausche ich seinem Bericht. Anscheinend war Tauros im Sonnenuntergang mein Körper aufgefallen, der leblos im Meer trieb. Es hatte sich laut Talis Erzählung sofort ins Wasser gestürzt und mich herausgezogen. Ich war nicht ansprechbar und musste wiederbelebt werden. Mein Inneres zieht sich bei dem Gedanken zusammen. Als sichergestellt war, dass ich es schaffen würde, hat er begonnen ein Lager aufzuschlagen und einem weiteren Pokémon aus seinem Team - Pikachu - aufgetragen mir die Klamotten auszuziehen und mich in seine Decke zu wickeln, denn nach nur wenigen Minuten hatte starkes Fieber bei mir eingesetzt. Ich hebe skeptisch eine Augenbraue und sehe ihn an. Er durchschaut meine Gedanken offenbar sofort und hebt beschwichtigend die Hände, das Gesicht so rot wie das Feuer neben uns. »Ehrlich, ich hab‘ dich nicht angerührt! Ich hab‘ nicht einmal hingesehen!« Ich pruste los. »Ist schon gut. Ich mach nur meine Späße. Tut mir leid.« Eine schlechte Eigenschaft von mir: Ich bringe Leute oft in Verlegenheit, weil sie meinen Humor nicht verstehen. Aber Tali lächelt und setzt seinen Bericht fort. Er scheint es mir nicht übel zu nehmen. »Wir haben dich warm eingepackt und das Zelt um dich herum aufgebaut. Währenddessen habe ich Folipurba losgeschickt, damit es ein paar Beeren für deinen Eintopf sammelt. Ich hab‘ deine Kleidung zum Trocknen aufgehangen.« Er deutet auf eine Stelle hinter mir und ich drehe mich um. Erleichtert kann ich schwach im Schein des Feuers meine Klamotten erkennen, die an einem gespannten Seil zwischen zwei Palmen hängen. »Als wir sicher waren, dass wir dich allein lassen können, sind wir aufgebrochen, um Holz für das Feuer zu sammeln. Wir waren nicht lang weg und erstaunt, dass du schon wach bist. Bitte verzeih, dass Tauros dich so erschreckt hat.« Ich schüttle meinen Kopf. »Nein, schon gut. Ihr habt mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen soll.« Er zuckt nur mit den Schultern. »Brauchst du nicht. Ist selbstverständlich. Dass es dir gut geht, ist Lohn genug für uns. Stimmt’s, Tauros?« Er sieht zu seinem Pokémon, das fröhlich den Kopf hebt und ein lautes Brüllen ausstößt. Ich sehe es fasziniert an. Wahrscheinlich könnte mich das den ganzen Abend beschäftigen. Ein reales Pokémon, Himmel hilf! »Aber ich frage mich wirklich woher du kommen magst.« Seufzend stelle ich die leere Schüssel ab und verkrieche mich tiefer in der Decke. Mir ist nicht mehr ganz so kalt wie vorhin, aber ich spüre, dass ich noch nicht über den Berg bin. »Deine Kleidung ist … eigenartig. Aber irgendwie cool.« Er beäugt meine Klamotten, die sich leise im Wind bewegen. Ein ausgefranster schwarzer Pulli mit einem riesigen weißen Halbmond vorne drauf. Schwarze Skinnyjeans. Gestricke Kuschelsocken, ebenfalls schwarz. Eigentlich nichts Besonderes. »Wieso eigenartig?« Ich bin ehrlich interessiert. Sein Outfit kommt mir nämlich viel skurriler vor. Mir fällt auf, dass es den Gewändern ähnelt, die sein Großvater, Inselkönig Hala, in den Spielen getragen hat. »Ich weiß nicht. Ist schwer zu erklären. Sowas sieht man hier eher selten. Kommst du aus Alola?« Und da stehe ich vor der nächsten Zwickmühle. Ich stamme nicht einmal aus diesem Universum. »Schon gut. Du kannst dich ja nicht erinnern, oder? Tut mir leid, ich bin unhöflich.« Ich versuche zu lächeln, es gelingt mir nur so halb. »Alles okay, bist du nicht. Ich kann dir nur leider keine vernünftige Antwort geben.« Er wirft routiniert neues Holz in die Flammen. »Musst du auch nicht. Was immer auch geschehen ist, du bist jetzt hier. Und alles hat seine Gründe. Nichts passiert zufällig.« Als er sich zurücklehnt, blickt er entspannt gen Himmel. Der Mond schimmert blutrot im Feuer über uns. Vielleicht hat er Recht. »Wo sind wir gerade?« Es wundert mich, dass mir diese Frage nicht schon früher eingefallen ist. »Auf Mele-Mele. In der Kala‘e-Bucht.« Stimmt. Jetzt wo er es sagt, kommt mir diese Gegend gar nicht mehr so fremd vor. In den Spielen hatte ich diesen Ort oft mit meinem Team besucht. »Es ist wunderschön hier.« Er lächelt sein berühmtes fröhliches Lächeln, wendet den Blick aber nicht vom Himmel ab. »Ich komme oft her, um auszuspannen. Nirgendwo sonst ist es so ruhig. Obwohl die Stadt so nah ist.« Ich weiß nichts darauf zu sagen, also halte ich lieber den Mund. Wir schweigen lange. Tauros ist eingeschlafen. Nur das Feuer knistert leise und schickt winzig kleine Funken in die Luft. Tali scheint seinen ganz eigenen Gedanken nachzuhängen und auch ich nutze die Ruhe, um die Situation für mich zu reflektieren. Ich bin nach getaner Arbeit nach Hause gefahren und habe auf den Weg zu meiner Wohnung eine leuchtende Gestalt gesehen. Zuhause habe ich ein Bild von Samantha und Anego gezeichnet und bin daraufhin entführt worden. Und nun hänge ich in diesem Universum fest, was dem aus den Spielen so ähnlich ist und gleichzeitig auch wieder nicht. Tali ist deutlich älter als in Pokémon Sonne und Mond. Meine Fantasie ist zwar recht weitläufig, aber niemals könnte ich mir Charaktere zehn Jahre älter vorstellen, wenn ich nicht unbedingt ein Fanart dazu gesehen habe. Sprich: Dieser Tali entspringt nicht meiner Fantasie, er existiert und ist real. Und das hier ist scheinbar ein ebenso reales Universum, in das ich irgendwie hineingeraten bin. Witzig. Genau das hatte ich mir doch gewünscht. Offenbar hat irgendjemand – wahrscheinlich Anego – mich erhört. Das steht für mich fest. Wie auch immer das möglich ist. Und warum auch immer. Während mir all das durch den Kopf schießt, sammeln sich Tränen in meinen Augen. Aber ich bin nicht traurig. Im Gegenteil. Auf eine absurde Art und Weise bin ich glücklich hier gelandet zu sein. Glücklich, dass ich, warum auch immer, die Chance bekommen habe, ein Teil der Pokémon-Welt sein zu dürfen. Froh, dass Tali mich gefunden hat. Gleichzeitig spüre ich Angst vor dem, was auch immer kommen mag. Ich schniefe und wische mir übers Gesicht. »Ist alles okay?« Hastig bejahe ich. »Ich bin nur … durcheinander.« »Du solltest schlafen gehen. Dein Tag war hart.« Er klingt nicht tadelnd, aber sehr ernst. »Ich würd‘ nur vorher gern meine Sachen holen.« Diesmal nickt er. »Gute Idee. Die sind inzwischen bestimmt trocken.« »Danke …« Mit wackeligen Beinen erhebe ich mich und entferne mich vom Lager. Kaum ist das Feuer nicht mehr in der Nähe, beginne ich wieder zu frieren. Schnell greife ich nach meiner Jeans und ziehe sie von der improvisierten Wäscheleine. Kontrolliert, aber ohne große Hoffnung durchsuche ich die wenigen Taschen. Das Ergebnis ist wie erwartet: Als ich durch dieses … Portal gefallen bin, hatte mein Handy auf dem Schreibtisch gelegen. Ich war meine Reise ohne es angetreten. Obwohl mir das von Anfang an klar gewesen war, hatte ich mich unbewusst an diesen Strohhalm geklammert. Wahrscheinlich wäre es mir eh keine große Hilfe gewesen. Existieren Handys im Pokémon-Universum? Wohl eher nicht. Ich habe zwar immer mal wieder ein stinknormales Telefon gesehen, aber nie ein richtiges Handy. Schon allein deswegen hätte es wahrscheinlich nicht funktioniert. Von meinem Badeausflug im Meer von Mele-Mele mal ganz abgesehen. Seufzend werfe ich einen Blick über die Schulter. Tali sitzt mit dem Rücken zu mir im Gras und beachtet mich nicht weiter. Schnell schlüpfe ich in meine Sachen und bin froh, endlich etwas mehr als nur ein dünnes Stück Stoff am Leibe zu haben. Zurück an der Feuerstelle bleibe ich vor Tali stehen und reiche ihm die Decke. »Danke, dass du mir deine Sachen geliehen hast.« Etwas überrascht blickt er zu mir auf und mustert mich von oben bis unten. Ich versuche zu verbergen, dass ich mich dabei unbehaglich fühle. »Jetzt siehst du noch seltsamer aus. Aber irgendwie bringt das frischen Wind nach Alola. Und du bedankst dich ganz schön oft.« Sein Grinsen ist entschuldigend. Ich grinse zurück und setzte mich im Schneidersitz neben ihn. »Hast du vielleicht was zu rauchen?« »Hm?« Wieder ein irritierter Blick. »Ich meine Zigaretten.« Entschuldigend schüttelt er den Kopf. »Tut mir leid.« Wahrscheinlich hat er überhaupt keine Ahnung wovon ich rede. Ein Versuch war es immerhin wert. »Kein Thema.« Ich gähne und bin ein bisschen frustriert. Nach all den Strapazen heute könnte ich jetzt wirklich was zum Rauchen vertragen. Meine Finger spielen mit den Grashalmen zu meinen Füßen. Wie spät es wohl ist? Wahrscheinlich wird die Sonne bald aufgehen. Meine Glieder sind schwer. Langsam merke ich, wie müde ich bin. »Ich glaub ich muss jetzt wirklich schlafen …« Wie auf Kommando erhebt sich Tali, sammelt nebenbei noch die Decke vom Boden auf und reicht sie mir wieder zurück. »Du kannst ruhig mein Zelt benutzen.« Etwas verlegen nehme ich die Decke wieder an mich. »Und wo schläfst du?« Er breitet seine Arme aus, als wäre das sonnenklar. »Unter den Sternen träumt es sich am schönsten.« »Bauchst du denn keine Decke?« Er winkt ab. »Das Feuer reicht. Außerdem bin ich nicht krank.« Ein Zwinkern in meine Richtung. »Verstehe.« Ich lächle ihn verlegen an. Seine besonnene Art ist längst nicht so aufdringlich, wie ich anfangs geschätzt habe. So sehr er mich in den Spielen genervt hat, so sehr bin ich nun froh, dass er da ist. »Ruh dich gut aus. Wir haben morgen etwas vor.« Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Was denn?« Ich habe ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, ein zweites Mal seine Hilfe annehmen zu müssen. Aber welche Alternative bleibt mir sonst? »Kennst du das Dorf Lili‘i? Es ist hier auf Mele-Mele.« Verwundert bejahe ich. »Ich war nur noch nie dort.« Das stimmt wenigstens so halb. »Es wird dir gefallen. Mein Großvater lebt dort. Er war mal Inselkönig. Es kommt selten vor, dass ich jemanden das Leben rette, der hier offenbar nicht zuhause ist und keine Erinnerung hat, wie er hierhergekommen ist. Mein Großvater ist ein sehr weiser Mann. Er wird wissen, was zu tun ist. Ich wette, er kann dir helfen.« Von dieser Neuigkeit überwältigt klappt mir kurz die Kinnlade herunter. Doch dann bemerke ich wie dämlich ich wahrscheinlich gerade aussehe und reiße mich zusammen. »Gute Idee, glaube ich.« »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut werden.« »Wahrscheinlich.« Einen Moment stehen wir uns unschlüssig gegenüber. Ich weiß nicht, wie man hier in Alola seine Dankbarkeit ausdrückt. Gibt man demjenigen die Hand? Umarmt man die Leute, wie in meinem echten Leben? Ich bin zu schüchtern es herauszufinden. Um wenigstens irgendetwas zu tun, hebe ich beide Arme und Forme einen Halbkreis vor meiner Brust, so wie er es vorhin getan hat. »Gute Nacht, Tali. Und vielen Dank.« Überrascht lacht er auf. Es klingt so fröhlich, dass Optimismus in meiner Brust aufkeimt. »Du bist echt seltsam, aber nett. Schlaf gut, Gmork.« Verlegen nicke ich zum hundertsten Mal, bevor ich mich abwende und schnell das Zelt ansteuere. Meine Ohren glühen. Schon verständlich, dass er mich komisch findet, so creepy wie ich mich die ganze Zeit benommen habe. Schnell krieche ich in meinen Unterschlupf für die Nacht. Ich bin so erschöpft, dass mich der harte Boden schon gar nicht mehr stört. Doch die Aufregung lässt nicht nach. Mein Herz schlägt wie wild in meiner Brust. Ich werde morgen Inselkönig Hala begegnen. Hoffnungsvoll schließe ich die Augen und bete dafür, wenigstens ein bisschen Schlaf zu finden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)