Kaze no Uta von Lady_Ocean (Das Lied des Windes) ================================================================================ Jimmy (Teil 3) -------------- …Ja, lange hat es gedauert, ich weiß. Und dabei hatte ich versprochen, mir mit diesem Kapitel nicht allzu viel Zeit zu lassen, weil hier der Anschluss an den vorangegangenen Teil (meiner Meinung nach) sehr wichtig ist. Daher sollte sich, wer sich soweit beherrschen kann, das letzte Kapitel am besten noch mal durchgelesen werden, bevor ihr hiermit anfangt, wenn ihr es nicht mehr so genau im Kopf habt, was bisher geschehen ist. Ansonsten wünsche ich euch jetzt viel Spaß und entschuldige mich dafür, dass es so ewig gedauert hat. Ich weiß auch nicht… Dabei lag das Kappi fertig auf meinem Rechner rum die ganze Zeit -_-. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* Jimmy (Teil 3) „Ich fass’ es nicht, diese Schweinehunde!“, fluchte Jimmy lautstark, seine Hände krampfhaft zu Fäusten geballt, um seiner Wut möglichst gesittet Abhilfe zu verschaffen. Auch wenn er jetzt wesentlich lieber irgendetwas zerschlagen hätte. Die Scheiben vom Hauptsitz der Presseagentur zum Beispiel. „Wehr dich dagegen! Das können die nicht machen! Es gibt Gesetze, die es verbieten, auf so schäbige Weise in die Privatsphäre von Leuten einzudringen.“ Der Blonde schüttelte resigniert den Kopf. „Ich stehe allein da und bin noch nicht mal volljährig. Mein Vater würde im Ernstfall garantiert eine Aussage machen, die mich nur belasten würde – du hast ja selbst gelesen, wozu er fähig ist. Und da soll ich gegen etwas so Mächtiges wie die Presse eine Chance haben? Das kann ich vergessen.“ Okay, die Idee war wohl wirklich nicht die beste, räumte Danny ein, aber er weigerte sich zu glauben, dass sein Freund dieser Willkür voll und ganz ausgeliefert war. Irgendeinen Angriffspunkt musste es doch geben! „Es werden ganz sicher nicht alle glauben, was über dich in der Zeitung steht.“ Am liebsten hätte der Halbjapaner sich dafür auf die Zunge gebissen. Das Argument war noch armseliger als sein letztes. Und Jimmy sprach auch gleich aus wieso: „Ha! Danny, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass fremde Leute, die nie mit mir zu tun hatten, erst mal stutzig werden und sich fragen, ob das, was sie da lesen, überhaupt stimmt? Die meisten vertrauen ihrer Zeitung blind. Und wenn selbst die, die ich glaubte zu kennen, sich innerhalb weniger Minuten plötzlich so verändern können, dann sieht es bei Fremden garantiert nicht anders aus.“ Das kurze Gespräch, welches Danny nach Jimmys Verschwinden auf dem Schulhof mit seinen „Freunden“ geführt hatte, kam ihm wieder in den Kopf und ließ seine Laune – was er gar nicht mehr für möglich gehalten hätte – noch um einige Etagen tiefer sinken. Sie war doch schon in der Hölle, wo sollte es denn jetzt noch hingehen? „Na los, komm“, wechselte der Blonde plötzlich das Thema, „Die Pause ist längst vorbei. Wir müssen in unsere Klasse. Widerwillig erhob sich auch Danny von seinem Lieblingsplatz und trottete gelangweilt auf die Terrassentür zu. Bevor er sie jedoch geöffnet hatte, legte sich eine Hand mit sanftem Druck auf seine Schulter. Jimmy blickte ihn traurig lächelnd an. „Danke, Kumpel.“ „Jederzeit.“ Die Atmosphäre im Klassenraum war nicht besser als zuvor auf dem Schulhof; eher noch schlimmer. Selbst der Lehrer machte einen Bogen um Jimmy und ignorierte ihn gänzlich. Auch Danny, der eigentlich zu seinen Lieblingsschülern zählte, erhaschte nur gelegentlich verstohlene Seitenblicke, weiter nichts. So verhielt es sich auch die nächsten Stunden. Keiner redete mit ihnen, man sah sie nicht einmal an. Wenn dieses Verhalten direkt von ihm verursacht worden wäre, würde Danny jetzt wahrscheinlich von Schuldgefühlen geplagt, doch an diese war im Moment gar nicht zu denken. Er versuchte viel mehr, seinen Freund im Auge zu behalten und herauszufinden, was wohl in diesem vorgehen möge, doch das war alles andere als einfach, denn äußerlich blieb dieser die Ruhe in Person. Nur in der letzten Stunde gab es wirkliche Probleme. Ihr Physiklehrer galt schon immer als sehr direkt und streitlustig. Die Schüler hatten ihn hinter seinem Rücken „das Pulverfass“ getauft, weil er so leicht auf die Palme zu bringen war und sich dann immer eine köstliche Abwechslung für den oft so tristen Schüleralltag bot. Diesmal war die Laune des Pulverfasses jedoch alles andere als belustigend. Zumindest für Danny und Jimmy. Ihre Mitschüler sahen das natürlich anders. Sie amüsierten sich ganz ungeniert darüber, wie der blonde Junge ständig an die Tafel geholt wurde und schwerste Aufgaben lösen sollte, obwohl jeder bestens wusste, dass Jimmy hier schon immer Probleme gehabt hatte. Pausenlos durfte er sich spitze Bemerkungen anhören wie „An Ihrer Stelle würde ich ab und an zuhören, wenn ein Lehrer etwas erklärt“ oder „Wie lange soll es noch dauern, bis Sie das endlich verstanden haben? Das ist simples Grundlagenwissen“. Einmal ist ihm sogar eine besonders bissige Bemerkung über die Lippen gekommen: „Vielleicht wären Sie besser, wenn Sie sich weniger mit Ihrer Schwester beschäftigen würden.“ Danny konnte erkennen, wie sich Jimmys Körper kaum merklich verkrampfte. Das Pulverfass hatte einen wunden Punkt getroffen und das wusste er ganz genau. Der Halbjapaner begann langsam, um die Selbstbeherrschung seines Freundes zu bangen. Am Ende der Stunde wurde Jimmy wegen „schlechter Aufmerksamkeit im Unterricht“ zum Klassendienst verurteilt, durfte Stühle hochstellen, die Tafel abwischen und den Raum fegen. Danny, der seinem Freund helfen wollte, wurde vom Lehrer nach draußen verwiesen und musste vor dem Schultor auf den Blonden warten. Die nächste Zeit würde verdammt hart werden, das war ihm in diesen paar Stunden mehr als bewusst geworden. Wie hart es werden würde, zeigte sich bereits zehn Minuten später, als die zwei Freunde schließlich mit saurer Miene und hängenden Köpfen Jimmys neues Zuhause ansteuerten. Aufmerksam wurden beide bereits, als sie eine Gruppe Jugendlicher, der Kleidung nach wohl irgendeine Straßengang, auf der anderen Straßenseite herumlungern sahen. Einer hielt die aktuelle Zeitung in den Händen, alle anderen sahen mit hinein. Plötzlich schrie einer auf: „Hey, das ist der Kerl! Das ist das Schwein, das seine Schwester gefickt hat!“ Wie auf Kommando drehten sich alle zu Jimmy um, dann, ohne Vorwarnung, stürmte die ganze Gang über die Straße auf Danny und Jimmy zu. Nur seinen guten Reflexen hatte Danny es zu verdanken, dass er dem ersten Hieb ausweichen und ihn ablenken konnte, dann war er vorbereitet, hatte die Situation erfasst und wehrte weitere Angriffe mit kurzen, schnellen Bewegungen ab. Von dieser unerwarteten Gegenwehr irritiert, zogen sich die Angreifer ein paar Schritte zurück. Danny nutzte die Gelegenheit, schnappte sich seinen Freund und machte sich mit ihm aus dem Staub, zu schockiert war er über den plötzlichen Zwischenfall. Er hatte noch nie sein Können in einer richtigen Schlägerei einsetzen müssen – und er wollte es auch nicht dazu kommen lassen. „Woher wussten die, dass du derjenige in der Zeitung bist?“, fragte Danny nach einer Weile, als sie wieder in Sicherheit waren. „Ich kenne den einen Kerl flüchtig über unsere Väter, aber verstanden haben wir uns noch nie. Die Sache ist ein gefundenes Fressen für ihn.“ „Dass es SO gefährlich wird, hätte ich nicht gedacht.“ „Ich auch nicht“, stimmte Jimmy säuerlich zu, „Aber es nützt nichts. Jetzt muss ich da durch.“ „Und ich bleibe dabei, auf mich kannst du dich verlassen. Ich hol’ dich morgens ab und bring dich nachmittags nach Hause, dann greift dich zumindest keiner an.“ „Falls deine Eltern das jetzt noch erlauben“, ergänzte Jimmy. „Ach, das geht schon. Aufhalten können sie mich letztendlich eh nicht.“ Als Danny schließlich vor seiner eigenen Wohnungstür ankam, war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher wie noch eine Stunde zuvor. Das würde eine ziemlich lange Diskussion geben. Und ob er seine Eltern von seinem Standpunkt überzeugen konnte, bezweifelte er sogar ein wenig. Besonders sein Vater war in moralischen Fragen sehr rigoros. Aber seiner Mutter war Jimmy sehr ans Herz gewachsen und vielleicht ließ zumindest sie sich mit ein wenig Überredungskunst überzeugen. Er atmete noch einmal tief durch und drückte schließlich die Klinke der Wohnungstür herunter, betrat vorsichtig den Flur. Ein leichter Lichtschein auf dem Teppich verriet ihm, dass sich seine Eltern im Wohnzimmer befinden mussten. Vorsichtig betrat er den Raum. Seine Mutter starrte mit einer Tasse Tee in der Hand aus dem Fenster, das Gesicht seines Vaters war hinter der Zeitung verborgen. „Danny, wir müssen reden“, erklang eine ernsthafte Stimme hinter der Zeitung. Kein „Hallo“, kein „Wie war’s?“ Das konnte heiter werden. „Wusstest du, dass Jimmy… Na ja, du weißt schon“, meldete sich Frau Willis vom anderen Sessel. Auch kein „Hallo“ also… Das Schweigen, das über dem Raum hing, war erdrückend. Danny wusste nicht, was er nun am besten sagen sollte, entschied sich nach scheinbar endlos langem Überlegen für die Wahrheit. „Ja. Er hat es mir erzählt.“ „Und du bist immer noch sein Freund? Bist dauernd mit ihm zusammen?“ Die Stimme seiner Mutter nahm langsam einen verzweifelten Tonfall an. Sein Vater war weniger beherrscht. Mit einer wütenden Handbewegung knallte er die Zeitung auf den Tisch und wandte sich seinem Sohn zu: „Weißt du, wer heute hier war? Ein Zeitungsreporter, begleitet von der halben Nachbarschaft! Der Kerl wollte uns wegen dieser Sache ausfragen und alle haben uns schief angesehen! Allein schon der Zeitungsartikel von heute macht uns zum Gespött der ganzen Gegend und jetzt erzählst du uns auch noch, dass das stimmt, was die da geschrieben haben! „Das ist nicht wahr! Das meiste davon ist gelogen!“, protestierte Danny. „Aber dass du darin verwickelt bist, ist wahr und das ist das Schlimmste!“, polterte sein Vater zurück, „Du wirst den Kontakt zu Jim sofort abbrechen und nie wieder in seiner Nähe rumlungern, hast du verstanden?“ „Das werde ich ganz bestimmt nicht! Es ist unfair, dass ihn alle verurteilen, und du machst auch noch mit! Du hast keine Ahnung davon, was er durchmachen musste und wie schwer ihm das alles fällt. Du kannst mich nicht zwingen!“ „Aber du kannst mit deinen dämlichen Spielereien unseren guten Ruf vernichten, was?! Ich sag dir was, Danny, es ist mir egal, ob der Junge Probleme hat oder nicht! Die hat er sich selbst zuzuschreiben! Und sollte ich dich noch einmal bei ihm erwischen, bist du nicht mehr mein Sohn!“ „Aber Arthur!“, entfuhr es seiner Mutter entsetzt. Auch für Danny waren diese letzten Worte wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Wie betäubt stand er da. Langsam, stückweise kehrten Gefühle und Emotionen in ihn zurück – und mit ihnen eine unbändige Wut. „Schön“, zischte er verachtend, „dann bin ich eben nicht mehr dein Sohn!“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und stürmte in sein Zimmer. Hinter sich konnte er noch hören, wie sein Vater aufsprang und ihm nachjagte, doch er schaffte es nicht, den Halbjapaner einzuholen, bevor dieser seine Zimmertür von innen zugeschlagen und verschlossen hatte. Eine Faust trommelte ungehalten gegen das dünne Holz. „MACH SOFORT DIE TÜR AUF, DANNY! DU BIST WOHL NICHT MEHR GANZ BEI TROST?! DAS HAT NOCH EIN NACHSPIEL, SO VIEL-“ Mehr bekam Danny nicht mehr mit. Er hatte sich seinen CD-Player geschnappt, die Kopfhörer aufgesetzt, die Musik auf volle Lautstärke gedreht und sich auf sein Bett fallen lassen, die Augen geschlossen. Seine Ohren dröhnten, die Musik war wirklich verdammt laut. Doch es kümmerte ihn nicht. Leise schlichen sich vereinzelte Tränen aus seinen Augenwinkeln. Vorsichtig öffnete Danny seine Tür einen Spaltbreit und schielte hindurch. Er fühlte sich matt und unausgeschlafen, doch wenn er Jimmy noch abholen wollte, musste er sich jetzt langsam beeilen. Schnell Zähne putzen, Frühstück schnappen, abhauen. Und hoffen, dass er seinem Vater währenddessen nicht begegnete. Auf dem Weg ins Bad fiel ihm auf, dass seine Jacke und die Autoschlüssel bereits verschwunden waren. Normalerweise wäre es noch viel zu früh zum Losfahren gewesen, aber sein Vater ging ihm wohl auch lieber aus dem Weg. Vielleicht hatte seine Mutter ein wenig auf ihn einreden können. Danny sollte es nur recht sein. In der Küche traf er auf seine Mutter. Sie sah genauso schlecht aus wie er sich fühlte. Der Halbjapaner spürte, wie sich leichte Schuldgefühle in ihm breit machten. Doch er bevorzugte es, seiner Mutter lieber auch aus dem Weg zu gehen. Ihr Schweigen machte ihm sehr genau deutlich, dass sie nicht auf seiner Seite stand. Sie war nur zurückhaltender und subtiler als ihr Mann. Danny schätzte das in dem Moment sehr und ließ sie in Ruhe, um sie nicht noch mehr zu belasten. So schnell wie an diesem Morgen hatte er das Haus noch nie verlassen. Als er vor Jimmys Wohnung ankam, entdeckte er einen unsauber an die Tür geklebten Zettel. „Achtung, hier wohnt ein Perverser!“, war in großen, roten Buchstaben darauf gekritzelt worden. Empört riss Danny das Schriftstück ab und zerknüllte es, als sich nur wenige Augenblicke später die Tür von innen öffnete. „Hi, ich hab dich kommen sehen. Warum hast du nicht geklingelt?“, begrüßte ihn der Blonde, doch als sein Blick auf das zerknüllte Papier in der Hand des Halbjapaners fiel, verzog sich seine Miene zu einer verstehenden Grimasse. „Schon wieder so einer. Gesternabend hat es ein paar Mal geklopft und jedes Mal, wenn ich rausgegangen bin, hing so ein komischer Zettel an der Tür. Schätze, da versucht jemand, mich zu ärgern.“ Danny war schockiert von dieser Nachricht, doch Jimmy verdrehte nur genervt die Augen, nahm seine Schultasche und klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. „Na los! Sonst drehen sie uns in der Schule einen Strick daraus, weil wir zu spät sind.“ Da hatte der Blonde Recht. Sie mussten jetzt sehr aufpassen, dass ihnen keine Fehler unterliefen, für die man sie zur Rechenschaft ziehen konnte. Doch das war leichter gesagt als getan. Wieder wurden sie von einer Gruppe herumlungernder Jugendlicher angepöbelt. Die Freunde erkannten unter ihnen auch die vom letzten Mal wieder. Anscheinend hatten sie sich für dieses Mal Verstärkung geholt. Und sie ließen auch nicht so schnell locker wie am Tag zuvor. Danny hatte wirklich Mühe, mit ihnen fertig zu werden, denn verletzen wollte er niemanden, was allerdings nach sich zog, dass sie immer wieder auf ihn losgingen. Letztendlich reichte es ihm und er verpasste einem eine blutige Lippe, ein weiterer erhielt einen kräftigen Schlag in die Magengrube. Nachdem der dritte aufgrund eines Trittes in die Seite in die Knie gegangen war, ließ auch der Rest endlich von ihnen ab. Aber pünktlich schafften Danny und Jimmy es nicht mehr in die Schule. Die Bestrafung folgte sofort: Beide wurden zum Direktor geschickt, die Eltern benachrichtigt und sie bekamen Strafarbeiten auf. Noch nie hatte man wegen eines einmaligen Zu-Spät-Kommens solch einen Aufstand gemacht. Selbst ihre Mitschüler weigerten sich, ihnen die Aufzeichnungen zu geben, die sie durch ihre Abwesenheit von der ersten Stunde verpasst hatten. Aber es wunderte keinen von beiden. Seit Jimmys Geheimnis bekannt geworden war, war er ein Ausgestoßener. Danny hatte seine Seite zu diesem Zeitpunkt noch wählen können. Er war sich sicher, dass der Blonde ihn nicht verurteilt hätte, hätte er in diesem entscheidenden Moment einen Rückzieher gemacht und ihn allein gelassen, doch der Halbjapaner hatte sich für seinen Freund entschieden. Sie kannten sich viel zu lange, viel zu gut, wussten alles über einander, als dass er Jimmy hätte im Stich lassen können. Und solange sie zumindest den anderen hatten, würden sie das schon irgendwie überstehen. Egal, was noch auf sie zukommen würde. Der Rest des Tages verlief nicht besser, als er angefangen hatte. Obwohl kurz vor den Prüfungen in der Regel keine Referate mehr vergeben wurden, hatte der Geschichtslehrer noch zwei zusätzliche verteilt. Natürlich an Danny und Jimmy. Der nächste Ärger kam, als der Halbjapaner seinen Freund nach Hause gebracht und mit ihm zusammen die Post durchgesehen hatte. Der Blonde hatte einen Haufen Briefe erhalten. Allesamt von wütenden Zeitungslesern, die auf mysteriöse Weise seine Adresse herausbekommen haben mussten. Die ersten paar lasen sie sich noch gemeinsam durch, doch irgendwann hatten sie die Nase voll davon und beförderten den gesamten Briefkasteninhalt in den Müll. Jimmy schüttelte genervt den Kopf. „Die müssen mich wirklich hassen, wenn sie sich solche Mühe geben.“ „Solange sie dich nicht persönlich besuchen…“, versuchte Danny ihn ein wenig zu trösten. Eigentlich hatte heute überhaupt keine Lust aufs Training und wenn Jimmy nicht vorhin mitbekommen hätte, wie er die SMS seines Sensei erhalten hatte, dann wäre er jetzt wahrscheinlich einfach hier geblieben. So jedoch drängte ihn der Blonde, dem Termin nachzukommen und sich endlich auf den Weg zu machen. „Vielleicht kommst du da auch auf andere Gedanken. Eine kurze Auszeit würde dir ganz gut tun“, hatte er hinzugefügt, als er ihn praktisch herausgeschmissen hatte. Von Jimmys erhoffter Ablenkung zeigte sich während Dannys Training jedoch keine Spur. Jedenfalls nicht so, wie der Blonde es sich erhofft hatte. Abgelenkt war Danny, jedoch nur von seinen Übungen. Ständig war er mit seinen Gedanken woanders, schätzte die Schläge seines Meisters falsch ein und schaffte es nicht einmal, einigermaßen zu parieren. Dauernd ließ er sich in die Enge drängen. Schließlich wurde es Hikawa zu viel und er brach das Training ab, nahm seinen Schüler zu einem Gespräch zur Seite. „So geht das nicht! Ich habe dir doch beigebracht, dass Gefühle in einem Kampf nichts verloren haben, oder nicht?“ „Doch, Sensei.“ „Also was ist es, das dich so aus der Fassung bringt? Gefühle entscheiden maßgeblich über Sieg oder Niederlage. Je stärker sie sind, desto mehr nehmen sie dich in Anspruch, desto unkonzentrierter wirst du. Und so schlimm wie heute war es schon seit Jahren nicht mehr.“ Danny schwieg eine Weile. Er hatte keine Lust, das Thema schon wieder aufzurollen und seinen Meister womöglich auch noch gegen sich zu bringen. Doch dieser schien bereits zu wissen, wo die Ursachen lagen. „Du machst dir Sorgen um deinen Freund.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, denn Hikawa war sich ziemlich sicher mit seiner Vermutung. Er kannte den Jungen nun schon über zehn Jahre, vor acht Jahren hatte er eingewilligt, ihn in die Kunst des Kendos einzuweisen. „Woher wissen Sie davon?“, fragte Danny erstaunt. Sein Meister schüttelte belustigt den Kopf. „Ich halte zwar nicht viel davon, mich allzu oft unter Menschen zu zeigen, doch die Zeitung lese ich trotzdem regelmäßig. Und selbst wenn ich das nicht täte, so war der Tumult in der Nachbarschaft nur schwer zu überhören.“ Der Halbjapaner senkte den Kopf. Darauf hätte er auch selbst kommen können. Aber davon einmal abgesehen… Was sollte er darauf entgegnen? Wie sollte er seinem Meister gegenübertreten? „Hör zu, Danny. Alles hat seinen Grund. Dass das Leben deines Freundes nun im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht…und dass es so geworden ist. Die Wege der Götter sind oft unergründlich, doch sie haben einen Sinn, selbst wenn wir ihn nicht gleich begreifen. Manchmal werden wir wohl nie verstehen, warum das ein oder andere Schicksal für uns auserkoren wurde, doch ich zweifle nicht daran, dass jeder seine Bestimmung hat und all diese Ereignisse, die wir durchleben müssen, wichtig für unseren Weg sind, dieser Bestimmung gerecht zu werden. Deshalb verurteile ich weder deinen Freund, dass er so ist, wie er ist, noch dich, weil du zu ihm hältst, obwohl du sein Schicksal kennst. Ich glaube sogar, die Götter haben eine ganz besondere Bestimmung für dich ausgewählt, denn du hast ein gutes Herz. Es gibt leider nicht viele Menschen, von denen ich das behaupten kann. Deshalb wollte ich eigentlich auch niemanden den Weg des Schwertes beschreiten lassen. Zu oft wurde er schon missbraucht und der Ehrenkodex der Samurai entehrt. Und nach allem, was ich bisher gesehen, welche Menschen ich auch kennen gelernt habe, hatte ich geglaubt, der Geist des Samurai sei endgültig ausgestorben…bis ich dich kennen gelernt habe. Die Götter haben dich nicht ohne Grund zu mir geschickt, dessen bin ich mir sicher. Vielleicht ist es sogar mein Schicksal, dir alles über die Kunst des Schwertkampfes beizubringen, was ich weiß. Ich glaube an dich, Danny. Was immer es auch ist, ich weiß, du wirst in deinem Leben noch Großes vollbringen. Daran solltest du auch glauben. Glaube an dich, Danny. Auch wenn es manchmal schwer ist.“ Diese kleine Rede hatte Hikawa mit so viel Ernsthaftigkeit und Würde gehalten, dass Danny gar nicht anders konnte als ehrfurchtsvoll zu ihm aufblicken und stumm nicken. Hikawa sprach normalerweise nicht viel, zeigte kaum eine Gesichtsregung, sodass der Halbjapaner selbst nach zehn Jahren nicht viel über seine Persönlichkeit wusste. In diesem Augenblick hatte er ihm wahrscheinlich mehr von sich gezeigt als in all den vergangenen Jahren zusammen. Das war es wohl auch, was Danny am meisten beeindruckte. Das und die Tatsache, dass Hikawa von gesellschaftlichen Zwängen und Regeln anscheinend vollkommen unberührt blieb, sondern einzig auf seinen Glauben vertraute. Auch wenn der Braunhaarige nicht an die shintoistischen und buddhistischen Götter glaubte – er glaubte ja nicht einmal an den Gott des Christentums – das Vertrauen, das sein Meister ihm entgegenbrachte, rührte ihn zutiefst. ‚Glaube an dich.’ Diese einfachen drei Worte gaben ihm so viel Kraft, so viel Zuversicht, dass er zum ersten Mal seit Beginn dieses Alptraums das Gefühl hatte, es würde irgendwo ein Licht am Ende dieses langen Tunnels auf ihn warten. „Danke, Sensei.“ „Merk es dir. Und vor allem: Lerne daraus.“ Fest entschlossen straffte Danny seinen Körper und sah seinem Meister bestimmt in die Augen. „Das werde ich.“ „Dann zeige es mir.“ Mit diesen Worten nahmen beide ihre Shinai wieder auf und setzten das Training fort. Es ging jetzt wesentlich besser als zuvor. Die Situation bei Danny zu Hause hatte sich nicht verbessert. Ganz im Gegenteil, es war sogar noch schlimmer geworden. Kaum dass der Halbjapaner die Tür geöffnet hatte, schmiss ihm sein Vater die Zeitung entgegen. Einen Artikel hatte er rot eingerahmt. Der Junge überflog den gekennzeichneten Bereich kurz und fand auch sofort die Ursache für seine herzliche Begrüßung. Laut Reporter hatten seine Eltern wohl gesagt, sie würden nichts mehr mit ihrem Sohn zu tun haben wollen. Hier und da las er noch einige missbilligende Kommentare, wie „zu wenig Zuwendung“, „Ignoranz der Taten ihres Sohnes“. Kochend vor Wut knüllte Danny die Zeitung zusammen. Jetzt zogen diese Mistkerle nicht nur über Jimmy und ihn her, nein, sie zogen auch noch seine Eltern hinein, stellten sie als Rabeneltern dar. Dabei hatten sie genauso wenig davon gewusst wie der Rest der Welt. „Siehst du jetzt, was du angerichtet hast?“, vernahm er die gefährlich zischende Stimme seines Vaters. Doch diesmal blieb Danny ruhiger. „Du meinst also immer noch, es ist alles meine Schuld? Du hast doch jetzt selbst gesehen, was die für Lügen verbreiten! Die nutzen ihre Pressefreiheit schamlos aus, um Menschen zugrunde zu richten!“ „Wenn du das abnorme Verhalten von diesem Jungen nicht so unverschämt tolerieren würdest, wären wir da nie hineingeraten, also höre auf, alles von dir abzuwälzen!“ „Ich lass doch nicht meinen besten Freund im Stich, bloß weil alle anderen nur auf Oberflächlichkeiten achten und ihn verurteilen!“ „‚Oberflächlichkeiten’ nennst du das?! Am Ende bist du wohl selbst so ein kranker Psychopath!“ „ER ist kein Psychopath! IHR seid es! Allesamt! Weil ihr keine Ahnung habt!“ KLATSCH! Einen Moment war alles still. Vorsichtig fühlte Danny nach der brennenden Stelle an seiner Wange. Sein Vater hatte ihn geschlagen. Tatsächlich geschlagen. Das hatte er noch nie getan… „Wage es nicht noch einmal, in diesem Ton mit mir zu sprechen!“, setzte sein Vater nach einer Weile mit noch immer vor Wut bebender Stimme an. …Er hatte ihn geschlagen… „Überleg dir gut, was du sagst und tust. Und sehe ich dich noch einmal bei deinem komischen Freund, betrittst du dieses Haus nie wieder. Ich begreife nicht, wie mein eigener Sohn… Am Ende bist du vielleicht schwul oder so was. Sollte das rauskommen, kenne ich dich nicht mehr.“ …Geschlagen. Mitten ins Gesicht… Plötzlich war es alles zu viel. Danny fühlte, wie ein unbändiges Verlangen in ihm Aufstieg. Eine Zerstörungswut, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Nur mit Mühe konnte er den aufkommenden Reflex, seinem Vater den Schlag heimzuzahlen, unterdrücken, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in sein Zimmer, schloss sich wieder dort ein. Sein plötzlicher Wutausbruch hatte ihn selbst zutiefst erschrocken. Er hatte sich doch sonst immer unter Kontrolle. Wie hatte das nur passieren können? Wie konnte er nur eine solch ungezügelte Wut entwickeln? Um ein Haar hätte er seinen eigenen Vater geschlagen. Mithilfe des Wissens, das ihm sein Sensei vermittelt hatte. Dabei hatte er geschworen, dieses Wissen niemals zum Schaden eines anderen, sondern höchstens zur Verteidigung einzusetzen. Beinahe hätte er diesen Schwur gebrochen… Um wieder klarer denken zu können, setzte er sich auf sein Bett und begann zu meditieren. Danach fühlte er sich meistens besser. Er begann, sich das Gespräch, das er am Nachmittag mit seinem Sensei geführt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Nein…er würde sich nicht unterkriegen lassen. Egal, wie hart es noch werden würde. „Jimmy? Was ist denn mit dir los?“ Danny traute seinen Augen kaum, als ihn sein Freund an der Tür begrüßte. Er hatte total rote, eingefallene Augen, war ansonsten jedoch leichenblass. Lustlos trottete er zum Briefkasten, nahm eine Zeitung und einen Stapel Briefe heraus. „Ach…komm erst mal rein“, antwortete er schließlich monoton. Damit betraten beide das kleine Zimmer. Die Zeitung warf der Blonde achtlos aufs Bett, die Briefe wurden ungelesen in den Müll befördert. Es war ja eh klar, was drinstand… „Also, was ist los? Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugedrückt“, hakte Danny nach, als beide saßen. „…Joan hat mich gestern angerufen.“ Dieser Satz allein reichte aus, um dem Braunhaarigen das Herz um einige Kilo schwerer werden zu lassen. Der Artikel über ihre heimliche Beziehung war zwar nur in einer lokalen Zeitung erschienen, doch er hatte solch riesige Resonanz erhalten, dass die Sache auch weit über die Grenzen des Austragungsgebietes hinaus bekannt war. Und so weit wohnten Joan und ihre Mutter nun auch wieder nicht weg… „Wie geht es ihr? Was hat sie gesagt?“, fragte Danny vorsichtig nach. „Mutter hat gestern von dem Zeitungsartikel erfahren. Du kannst dir sicher vorstellen, was Joan für einen Ärger bekommen hat. Sie hat die ganze Zeit geweint am Telefon.“ Der Halbjapaner vergrub sein Gesicht in den Händen. Schlimmer hätte es echt nicht mehr kommen können. Wenn es eines gab, was seinem Freund wirklich wehtat, dann war es, wenn seiner Schwester etwas zustieß. „…Mutter will sie ins Kloster stecken“, fügte er mit heiserer Stimme, nicht mehr als ein Flüstern, hinzu. Als Danny wieder aufsah, bemerkte er, dass Jimmy den Tränen nahe war. Trost spendend nahm er seinen Freund in die Arme, sagte nichts, als dieser sich an sein T-Shirt klammerte und anfing zu schluchzen. „Ich hätte auf dich hören sollen, D-Danny. Du hattest R-Recht, als du…sagtest, dass e-es noch zu gefährlich war, s-sie wieder zu…sehen“, brachte er stotternd zwischen den Schluchzern hervor. „Gib dir nicht alle Schuld! Dein Vater hat ganz bewusst versucht, dich ins Verderben zu stürzen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er es geschafft hätte“, versuchte der Halbjapaner den Blonden zu beruhigen. „Nein… Ich hätte mich zusammenreißen müssen. Ein einziges Jahr wäre es nur noch gewesen, dann hätten wir es überstanden gehabt. Dann hätten wir endlich zusammen sein können“, widersprach Jimmy. Langsam bekam Danny es mit der Angst zu tun. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt! Der sonst so gelassene, heitere Junge, den normalerweise nichts beeindruckte, geschweige denn aus der Fassung brachte, klammerte sich Halt suchend an ihm fest und weinte vor Verzweiflung. Das konnte einfach nicht sein… Das durfte nicht sein! Mit bestimmtem, fast schon grobem Griff befreite sich der Halbjapaner aus der Umklammerung seines Freundes und zwang ihn, ihm ins Gesicht zu sehen. „Verdammt, Jimmy, was ist bloß los mit dir?! Ich erkenne dich nicht wieder! Wo ist mein Freund hin, der in jeder Situation einen kühlen Kopf behält und immer einen Ausweg weiß, wenn ich längst den Kopf in den Sand gesteckt habe? Wir finden einen Ausweg, das verspreche ich dir! Aber das schaffen wir nur, wenn du durchhältst! Du darfst nicht aufgeben, Jimmy, selbst wenn das jetzt schwer ist. Wenn irgendwer mitbekommt, dass deine Verteidigung anfängt zu bröckeln, haben wir verloren. Und dann gibt es auch keine Rettung mehr für Joan und dich. Aber wenn du durchhältst, dann wird es schon irgendwie gehen. Und wenn wir Joan aus diesem Kloster rausholen und ins Ausland flüchten müssen, damit sie uns endlich in Ruhe lassen.“ „Das mit dem Ausland hast du ja eh vor.“ „Und du könntest es auch. Es geht schon irgendwie.“ „Danke, Danny.“ „Hey, wozu sind Freunde sonst da?“ Der Halbjapaner war unendlich erleichtert, als er sah, dass der alte Geist seines Freundes langsam in dessen Augen zurückkehrte. „Du musst übrigens los, sonst kommst du zu spät“, fügte Jimmy fast beiläufig an, um das Thema zu wechseln. „Und was ist mit dir?“ Der Blonde setzte ein schiefes Grinsen auf. „Ich bleibe heute besser hier. Die sind doch eh froh, wenn sie mich mal einen Tag nicht sehen müssen. Und die Strafarbeit ist mir egal.“ „Okay, dann komme ich nach der Schule wieder vorbei“, willigte Danny ein. „Gut, bis dann!“ Damit sprintete der Halbjapaner davon. Wenn er sich beeilte, könnte er sogar noch pünktlich sein. Genauso pünktlich, wie er in der Schule gewesen war, stand Danny am Nachmittag auch wieder vor der Tür seines Freundes. Dieser schien unheimlich erleichtert zu sein, als er den Halbjapaner erblickte. Der Tag wäre sterbenslangweilig gewesen, weil er sich nicht einmal an den Predigten und künstlichen Aufregungen der Lehrer hatte amüsieren können, meinte er. Danny konnte bei diesem Kommentar nur grinsen. Ja, langweilig war es in der Schule tatsächlich nicht gewesen, denn obwohl das derzeitige Lieblingsopfer der Pädagogen nicht anwesend gewesen war, hatten sie doch genügend Möglichkeiten gefunden, um zumindest Danny das Leben etwas schwerer zu machen. Ihre geliebte Englischlehrerin hatte zum Beispiel einen spontanen Test über genau den Stoff, den sie tags zuvor durch ihren Besuch beim Direktor verpasst hatten, schreiben lassen. Alle nicht anwesenden Schüler waren automatisch durchgefallen. Wobei sich die Anzahl dieser Schüler auf einen beschränkt hatte… So war es etwa den ganzen Tag gelaufen. Danny erzählte es seinem Freund haarklein, der auf wirklich jedes Ereignis eine zynische Erwiderung fand. Als sich der Tag dem Ende neigte, wurde Jimmy allerdings langsam stutzig, dass der Halbjapaner noch nicht mit einer Silbe erwähnt hatte, wann er nach Hause müsste. „Sag mal, machen sich deine Eltern nicht langsam Sorgen um dich?“, fragte er daher schließlich nach. Danny zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung… Aber ich glaub nicht. Wir hatten uns in letzter Zeit ziemlich oft in den Haaren. Sag mal…kann ich heute vielleicht bei dir übernachten?“ „Ist es so schlimm?“ „Schlimmer.“ „Ich mein…grundsätzlich hätte ich nix dagegen. Ich bin echt froh, wenn ich ein wenig nette Gesellschaft habe, aber solltest du nicht wenigstens bei dir zu Hause Bescheid sagen? Und was ist mit deinem Zeug für morgen? Du bist doch total unvorbereitet!“ „Keine Sorge, hab alles dabei“, beruhigte ihn Danny und klopfte zur Unterstützung seiner Worte auf seinen Rucksack, „Und meine Eltern… Die können sich schon denken, wo ich bin. Falls sie sich Sorgen machen, können sie mich auch anrufen.“ „Na gut…wenn du meinst.“ Am Donnerstag ging Jimmy wieder zusammen mit Danny zur Schule – und bekam natürlich prompt seine Strafen für den unentschuldigt gefehlten Tag. Gleich zum Stundenbeginn wurde er ins Zimmer des Direktors geschickt, der, seinem Gesichtsausdruck nach, alles andere als gute Nachrichten zu verkünden hatte. Auf der Hofpause erzählte er dem Halbjapaner, worüber der Direktor mit ihm hatte sprechen wollen. Diesmal waren beide nicht auf das Dach des Schulhauses gegangen. Die Leute mieden sie mittlerweile überall, sodass sie auch auf dem mit Schülern überfüllten Schulhof ihre Privatsphäre hatten. „Und? Was hat er nun gesagt?“, fragte Danny ungeduldig. „Ach, nur, dass ich ja ein schlechtes Vorbild für die Schüler wäre und so. Der Alte hat ’ne ganze Weile-“ Ein Papierkügelchen traf ihn am Hinterkopf. Der Blonde ignorierte es und sprach weiter. „-aufgezählt, was ich so für schlimme Sachen mache und so. Na ja, letztendlich ist er-“ Wieder ein Knöllchen. „-zu dem Schluss gekommen, dass es wohl das Beste ist, wenn er mich von der Schule wirft.“ „Echt jetzt?! Das hat er gesagt?“, fragte Danny ungläubig. „Wenn ich es dir doch sage! Aber sehen wir es so: Dann werde ich…wenigstens nicht mehr mit diesen lästigen Papierkugeln beworfen.“ Genervt verdrehte er die Augen. Ansonsten blieb Jimmy jedoch ruhig. Danny spürte einen leichten Windhauch an seinem Hinterkopf, riss, mehr aus Reflex, seinen Kopf zur Seite und spürte praktisch im selben Moment eines der besagten Knöllchen dicht an seinem Ohr vorbeifliegen. „Da ist was dran“, stimmte er dem Blonden zu. „Das will ich auch können!“, gab dieser zurück und bekam, wie zur Bestätigung, ein weiteres Kügelchen an den Hinterkopf. „Na dann übe schon mal fleißig. Gelegenheiten hast du hier ja zu genüge“, gab Danny neckend zurück. Auch wenn es ihnen niemand einfach machen wollte, verlief der restliche Schultag für beide Jungen recht angenehm. Jimmy hatte sein Tief vom Vortag überwunden und Danny konnte gar nicht anders, als sich darüber zu freuen und die Welt gleich ein Stück freundlicher zu betrachten. Wahrscheinlich stimmte es wirklich, dass das Leben nur so war, wie man es selbst sehen wollte. Man musste sich bloß die richtige Seite aussuchen, dann klappte es schon. Dass das Ganze doch nicht so einfach war, mussten beide feststellen, als sie nach der Schule nach Hause kamen und Jimmy zwischen den immer mehr werdenden Briefen wütender Zeitungsleser die aktuelle Zeitung herausfischte. Es gab einen neuen längeren Artikel über ihn und seine Schwester. „Der Schrecken nimmt kein Ende von Peter Bark Liebe Leserinnen und Leser, Tag und Nacht ist unser Team auf den Beinen, um Sie über die neuesten Vorkommnisse im Fall Jim Taylor unterrichten zu können. Damit wir sie möglichst umfangreich informieren können, hat sich gestern sogar die Mutter des Jungen, Elizabeth Taylor, zu diesem Fall geäußert. Wir wissen nun, dass dieses geheime Spiel mit dem Teufel bereits seit über zwei Jahren gespielt wird. Man sah es Frau Taylor deutlich an, wie sehr sie diese Tatsache mitgekommen hat, wie schwer es ihr fällt, mit der immer weiter eskalierenden Situation umgehen zu können. Daher hat sie nun einen endgültigen Entschluss gefasst: Sie wird ihre Tochter in ein Kloster schicken, um den Kontakt zu deren Bruder ein für alle Mal zu unterbinden. „Es fällt mir sehr schwer, meine geliebte Tochter aufzugeben, doch gerade weil ich sie so sehr liebe, ist es meine Pflicht, sie vor diesem Verfall zu beschützen.“ So die mühsam herausgepressten Worte der verzweifelten Mutter. Was haben ihre Kinder ihr nur angetan? Sehen sie denn nicht, wie schwer ihre liebenden Eltern unter ihrem Teufelswerk zu leiden haben? Und nicht nur diese, auch Freunde und Bekannte der Familie, die jetzt von den schrecklichen Ereignissen der vergangenen zwei Jahre erfahren haben, sind herbei gekommen, um ihnen Beistand zu leisten. Dieser Schock hat alle schwer getroffen. „Mein kleiner Junge hat früher oft mit den Geschwistern gespielt. Ich habe solche Angst, dass aus ihm auch irgendwann so etwas wird“, erzählte uns die ehemalige Nachbarin der Taylors. Auch die Lehrer von Joan Taylor sind besorgt. „Seit dieser Artikel in der Zeitung stand, fehlen immer mehr Schüler. Die Eltern haben Angst, ihre Kinder noch in die Nähe des Mädchens zu lassen. Und ich kann sie auch verstehen. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass mit Joan irgendetwas nicht stimmte. Ihr Verhalten wirkte immer so aufgesetzt. Aber dass es so ernst ist, hätte ich nie für möglich gehalten.“ Dies teilte uns die Direktorin der Schule, welche Joan Taylor momentan noch besucht, neulich mit. Die viel beschäftigte Frau fühlt sich am Ausgang der Ereignisse mitschuldig, weil das Mädchen seit dem letzten Jahr unter ihrer Obhut stand und sie trotzdem nicht hatte helfen können, das Unglück zu beenden. Dabei konnte sie genauso wenig dafür wie alle anderen auch. Wer hätte die Kinder noch beeinflussen können, wenn ihre eigenen Eltern dies schon nicht geschafft hatten? Ich möchte niemandem zu nahe treten, doch in meiner langjährigen Tätigkeit als Reporter bin ich noch nie auf einen Fall ähnlich schwer erziehbarer Kinder gestoßen. Hoffen wir, dass mit dem Einzug von Joan Taylor in ein abgelegenes Kloster endlich wieder Frieden einkehren kann. Wir werden Sie weiterhin über den Lauf der Dinge informieren.“ Dannys Atem war flach und abgehackt. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: ‚Das kann nicht sein Ernst sein!’ Erst das immer heftiger werdende Zittern seines Freundes riss ihn aus seinem tranceartigen Zustand. Vorsichtig nahm er ihm die Zeitung aus der Hand und knüllte sie dann so klein wie möglich zusammen. „So ein Scheiß! So ein absoluter Schwachsinn! Die schrecken aber auch vor nichts zurück!“, fluchte der Halbjapaner. „Lass gut sein, Danny“, unterbrach ihn Jimmy gebrochen, „Dagegen können wir eh nichts ausrichten.“ „Jimmy…“ „Ist schon gut. Ich weiß, du meinst es gut, aber mir ist jetzt nicht nach reden oder gar fluchen zumute.“ Danny ließ die zerknüllte Zeitung sinken und betrachtete seinen Freund für einige Augenblicke. Er hatte den Kopf gesenkt, sein Blick schien leer und ziellos. So schwer es ihm auch fiel, sich dies einzugestehen – vielleicht brauchte Jimmy jetzt einfach etwas Zeit für sich. Auch wenn der Halbjapaner sein bester und einzig wahrer Freund war, so schien er im Moment doch fehl am Platz zu sein. „…Wenn du jetzt lieber allein sein möchtest, dann kann ich das verstehen.“ Die Worte kosteten Danny viel Überwindung. Er wollte den Blonden nicht allein lassen. Nicht jetzt. Nicht so. „Du störst mich nicht, keine Sorge.“ Mit der Antwort hatte der Halbjapaner bereits gerechnet. In so einer Situation hätte sein Freund ihn niemals einfach vor die Tür gesetzt. „Trotzdem… Ich schätze, du könntest jetzt einfach ein wenig Ruhe vertragen. Und ich müsste mich eh mal wieder zu Hause melden.“ „Na gut. Ich will dich nicht aufhalten.“ Langsam sammelte Danny seine paar Sachen zusammen und stopfte sie in seinen Rucksack. „Wenn was ist, dann ruf mich einfach an, ja?“ „Okay. Kommst du morgen nach der Schule vorbei?“ Stimmt, er war ja jetzt vom Schuldienst suspendiert… Daran hatte Danny gar nicht mehr gedacht. „Mach ich. Bis dann!“ „Bis dann. Viel Glück zu Hause.“ „Hättest du nicht noch ein wenig länger wegbleiben können?“, war das Erste und Einzige, was Danny an diesem Tag von seinem Vater zu hören bekam. Diesmal schüttelte er nur den Kopf darüber. War ihm die Meinung der Nachbarschaft so viel wichtiger als sein eigener Sohn? Resigniert und ohne einen weiteren Kommentar ging er rauf in sein Zimmer. Er war zu abgeschlafft, zu deprimiert, um sich jetzt noch mit irgendwem zu streiten. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Diesmal hatte Danny nicht einmal daran gedacht abzuschließen. So kam seine Mutter auch ohne Probleme hinein. Der Halbjapaner hatte sie vorhin gar nicht richtig gesehen, doch nun bemerkte er, dass ihr Gesicht in den wenigen Tagen um viele Jahre gealtert zu sein schien. „Danny, wir müssen reden. So kann das nicht weitergehen.“ Ihr Sohn sah sie emotionslos an. Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante. „Warum…warum hältst du zu diesem Jungen?“ „Weil er mein Freund ist.“ „Du weißt doch ganz genau, wie falsch es ist, was er macht. Wie kannst du ihn da noch deinen Freund nennen? Ich erkenne dich kaum wieder. Du warst doch sonst immer so vorbildlich…so lieb.“ „Meinst du, mich hat es nicht auch erst mal erschreckt, als ich das erfahren habe? Ich hielt es erst für einen bösen Scherz, doch es ist ihm wirklich ernst. Er liebt sie. Er liebt sie so sehr, dass er all das für sie in Kauf nimmt.“ „Das kann man doch keine richtige Liebe nennen.“ „Liebst du denn Vater?“ „Danny, das ist kein Vergleich.“ „Doch, es ist einer. Der beste, der mir einfällt.“ Seine Mutter schwieg eine Weile. Dann schüttelte sie resigniert den Kopf. „Du verstehst mich nicht, Danny.“ „Und du verstehst mich nicht.“ „Ich habe langsam das Gefühl, dass da mehr zwischen euch ist als nur Freundschaft“, offenbarte sie ihm nach einer weiteren kurzen Pause vorsichtig. „Willst du damit sagen, dass ich schwul bin? Also auf die Idee bin ich auch noch nicht gekommen. Was für ’ne verkehrte Welt!“, antwortete der Halbjapaner zynisch. Seine Mutter schien der schneidige Tonfall mehr getroffen zu haben, als Danny beabsichtigt hatte. Ihre ohnehin schon rot unterlaufenen Augen füllten sich erneut mit Tränen, sie wandte das Gesicht von ihrem Sohn ab und machte sich auf den Weg Richtung Tür. „Das Gespräch wird wohl nichts bringen. Ich bitte dich nur, Danny, sei vorsichtig, bei dem was du tust, und mach uns und dir nicht noch größere Probleme.“ Damit war sie aus dem Zimmer verschwunden. Mit ihr schienen auch Dannys sämtliche Gedanken und Emotionen den Raum verlassen zu haben. Als Danny tags darauf seinen Freund erblickte, wäre er fast die eine Stufe vor seiner Tür rückwärts runtergestolpert. „Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?!“, brachte er aufgeregt heraus, als er seine Sprache endlich wieder gefunden hatte. Jimmy schnaubte abfällig. „Mein Vater war heute hier. Hätte ich es gewusst, hätte ich ihn natürlich gar nicht erst reingelassen, aber ich dachte, du wärst es vielleicht. Sahst gestern so besorgt aus.“ „Was wollte der denn von dir?“ „Das Übliche. Streit. Er hatte wohl Probleme mit irgendwem wegen der ganzen Sache mit der Zeitung oder so. Keine Ahnung. Hab nicht richtig hingehört. Ich war bloß froh, als er endlich wieder draußen war.“ „Das kann ich mir vorstellen. Du siehst schrecklich aus.“ „Ach, jetzt geht es schon wieder. Vorhin sah es schlimmer aus.“ Jimmy klang, als wäre ihm völlig egal, was mit ihm passiert war. Nicht eine Regung zeigte sich in seinem Gesicht, nicht ein Ton veränderte sich am Klang seiner Stimme, während er dem Halbjapaner das erzählt hatte. Erst der Zeitungsartikel vom Vortag und jetzt das! Warum gönnte niemand Jimmy eine kurze Pause? Wie sollte er das nur überstehen? Danny machte sich Sorgen um seinen Freund. Er war nicht mehr der, den er seit Jahren kannte. Jimmy begann, sich zu verändern. In eine Richtung, die dem Halbjapaner ganz und gar nicht gefiel. Und dann hatte er vor ein paar Stunden auch noch erfahren, dass sein Sensei ihn heute wieder zum Training sehen wollte. Ein unpassenderes Timing gab es wirklich nicht. „Hey, ich muss heute noch einkaufen. Hast du Lust mitzukommen?“, wechselte Jimmy – genauso monoton – das Thema. „Ich würde wirklich gern…aber mein Sensei hat sich schon wieder gemeldet“, gab Danny gedrückt zurück. „Na ja, macht nichts. Aber wir können uns zumindest zusammen auf den Weg machen.“ „Jetzt? So, wie du aussiehst? Soll ich dir nicht lieber was mitbringen?“, fragte der Braunhaarige verwundert. „Ist doch egal. Mich stört es nicht. Also kommst du nun mit?“ „…J-ja, klar…“ Nein. Das gefiel Danny überhaupt nicht… Wie immer, wenn sie gemeinsam diesen Weg entlangliefen, kamen sie an dem alten Wohnhaus vorbei, in dem sie vor vielen Jahren gewohnt, wo sie sich kennen gelernt hatten. Dieses Gebäude barg eine Menge schöner Erinnerungen für beide, doch es war sehr alt und befand sich an einer stark befahrenen Straße, weshalb schon frühzeitig niemand mehr dort hatte wohnen wollen. „Jimmy, erinnerst du dich noch daran, wie wir immer in den Gängen Fange gespielt haben?“ „Ja! Und niemand hat sich beschwert. War ja auch kaum einer da, der sich beschweren konnte“, witzelte er zurück. Ein nostalgischer Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Blonden. Danny atmete auf. Zumindest zeigte sein Gesicht jetzt wieder eine menschliche Regung. „Schade, dass sie es abreißen. Immer, wenn ich hier vorbeikomme und das immer dünner werdende Skelett betrachte, habe ich das Gefühl, meine Vergangenheit liegt noch irgendwo da drinnen und würde zusammen mit diesem Haus verschwinden.“ „Ach komm schon, Jimmy! Deine Vergangenheit sind deine Erinnerungen! Und die liegen tief in deinem Herzen. Oder willst du alles einfach vergessen, wenn das Haus weg ist?“ „Natürlich nicht. Aber irgendwie…fühle ich mich immer noch mit ihm verbunden.“ Jimmys nostalgischer Blick war mittlerweile einer brennenden Sehnsucht gewichen und verlor sich gleichzeitig immer mehr in den geisterhaften, schwarzen Löchern des Hauses, die einst große Fenster mit weitem Blick über die Stadt gewesen waren. Langsam bereute Danny es, dieses Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Er hatte gehofft, Jimmy mit etwas Smalltalk über die alten Zeiten ein wenig aufheitern zu können, doch stattdessen schien dieser den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Mit einem leichten Ruck zog er ihn weiter und wechselte schnell das Thema. „Na komm schon. Du wolltest doch noch einkaufen? Was brauchst du eigentlich?“ Eigentlich interessierte es ihn gar nicht. Hauptsache, Jimmy kam von diesem Haus weg. Nach dem Training rief Danny noch einmal bei seinem Freund an, um sich nach dessen Befinden zu erkunden. Doch anstatt der erhofften guten Nachrichten kam nur eine schlechte: „Den Leuten ist Briefchen schreiben anscheinend nicht mehr genug. Als ich vom Einkaufen gekommen bin, war meine Fensterscheibe eingeschlagen.“ „Oh Gott…“ Jimmys Zimmer war nicht sonderlich groß: Ein Schreibtisch direkt unter dem Fenster, das schmale Bett stand quer an der Wand links davon, daneben ein kleiner Nachttisch, auf der Wand gegenüber ein alter Kleiderschrank – das war’s. Die Scherben waren mit Sicherheit durch den ganzen Raum geflogen. Was alles hätte passieren können, wenn Jimmy dort gewesen wäre… Das wollte Danny sich gar nicht erst ausmalen. „Ich komm kurz rum und-“ „Nein“, schnitt der Blonde ihn ruhig, aber bestimmt ab. „Warum nicht?“ „Du hast schon genug Ärger wegen mir. Alle schauen dich verächtlich an, keiner spricht mit dir und mit deinen Eltern hast du auch nur noch Streit. Und das alles nur, weil du zu mir hältst.“ „Das kümmert mich nicht. Ich will bloß, dass dir nichts passiert. Ich komme schon klar.“ „Das ist nett von dir, wirklich, aber ich bin in Ordnung. Der Hausmeister hat erst mal ein Brett vor das kaputte Fenster genagelt und die Splitter hab ich auch alle aufgesammelt. Es gibt also wirklich keinen Grund, weshalb du noch vorbeikommen müsstest.“ „…Na gut. Wenn du nicht willst…“ „Nein, wirklich nicht. Geh erst mal nach Hause. Wir sehen uns am Montag. Mach’s gut.“ „Okay, mach’s gut.“ ‚Am Montag’? Warum erst am Montag? Diese Frage hatte Danny ihm noch stellen wollen, doch sein Freund hatte sich so schnell verabschiedet, dass er gar nicht mehr dazu gekommen war. Vielleicht sollte er zurückrufen und ihn fragen? …Nein. Wahrscheinlich würde er eh keine Antwort bekommen, sonst hätte Jimmy ihn jetzt nicht so schnell abgewimmelt. Aber seltsam kam es ihm schon vor. Warum nicht schon am Wochenende? Danny dachte den ganzen Heimweg über diese letzten Worte nach. Am liebsten wäre er bei seinem Freund vorbeigegangen, doch dieser hatte ausdrücklich gesagt, dass er ihn nicht sehen wollte, also ließ er es lieber doch bleiben. Dabei traf Jimmy doch keine Schuld an seiner Lage. Er hatte sich diesen Weg selbst ausgewählt. Es tat ihm weh, wenn er bedachte, dass er seinem Freund doch nur helfen wollte und dieser sich jetzt vielleicht auch noch dafür die Schuld gab. Auch zu Hause grübelte er noch eine ganze Weile darüber nach. Es war ihm nicht einmal mehr aufgefallen, dass keiner seiner Elternteile ihn begrüßt hatte. Nicht mal mit einem Blick oder einer dummen Bemerkung. So schlief Danny auch erst spät ein und fiel nur in einen unruhigen Dämmerzustand. Am nächsten Morgen fühlte er sich wie gerädert. Mit schweren Gliedern schleppte er sich zum Waschbecken und versuchte vergeblich, sich die Müdigkeit aus dem Gesicht zu waschen. ‚Wir sehen uns am Montag.’ Wieder kamen ihm die Worte seines Freundes in den Kopf. Er hatte sogar davon geträumt. Viel wusste er nicht mehr, doch er erinnerte sich, dass es Montag war und er Jimmy zur Schule abholen wollte, doch als er bei seiner Wohnung ankam, war diese verschwunden. Genauso wie ihr neuer Besitzer. Natürlich war das nur ein Traum und Träume, das wusste Danny, spiegelten bloß Ereignisse oder Gedanken wider, die tagsüber nicht richtig verarbeitet worden waren. Deshalb waren sie manchmal auch so konfus. Wahrscheinlich hatte Danny ihn deshalb auch zur Schule abholen wollen. Trotzdem. Dieses ungute Gefühl ließ ihn nicht mehr los. Er beschloss, einfach bei seinem Freund vorbeizuschauen, nachdem er sich fertig gemacht hatte. Am besten rief er gar nicht erst vorher an. Als er jedoch an Jimmys Wohnung ankam, war es totenstill. Niemand reagierte auf sein Klopfen oder Rufen. War er etwa nicht da? Aber wo wollte er schon groß hin? So gefährlich, wie es derzeit für ihn war… Er presste sein Ohr dicht an die dünne Tür. Doch statt eines Geräusches nahm er etwas anderes wahr: Ein leichter Alkoholgeruch stieg ihm in die Nase. Jetzt hatte er genug! Ganz egal, ob er später Ärger dafür bekommen würde! Mit zwei kräftigen Tritten hatte er die Tür aufgestoßen und konnte ins Innere des Zimmers sehen. Jetzt wurde der Geruch ganz deutlich. Unter dem Bett fand Danny eine beachtliche Anzahl Bier- und Whiskeyflaschen, die kreuz und quer durcheinander lagen. Alle waren leer. Und Jimmy war nirgends zu sehen. Der Halbjapaner bemerkte, wie sein Herz zu rasen begann. Wo konnte er nur sein? Es gab doch keinen weiteren Ort, an den er sich zurückziehen könnte… „Verdammt, Jimmy, was machst du bloß…?“, hauchte er verzweifelt in den leeren Raum hinein. Plötzlich traf es ihn wie ein Blitz: Das Hochhaus! Es war ihm gestern schon so komisch vorgekommen, wie er es betrachtet hatte. Und seine Worte darüber… Ja, es war der einzige Ort, an den er sich jetzt flüchten würde. Das wütende Gemecker des Hausmeisters über die eingebrochene Tür ignorierend, stürmte er wieder davon und schickte ein Stoßgebet gen Himmel mit der Bitte, dass es noch nicht zu spät sei. Blindlings rannte er durch die Straßen, bekam gar nicht mit, wie er gelegentlich ein paar Passanten anrempelte. Kurz vor seinem Ziel war er sogar über den Besen eines die Straße fegenden Mannes mittleren Alters gestolpert. Sein empörtes „Hey! Pass doch auf!“ ignorierte er einfach. Er war fast da, suchte das tote Skelett nach Lebenszeichen ab. Da…auf dem Dach! Hatte er dort nicht gerade eine Bewegung gesehen? Sofort beschleunigte Danny seinen Lauf. Dass der Mann ihm weiterhin nachrief und nun auch andere Leute aus ihren Fenstern lugten, störte ihn nicht. Sein Ziel war das Dach dieses Hauses. Schwer atmend kam er in der letzten Etage des fünfzehnstöckigen Hauses an und öffnete die Luke zum Dach. Mehrmals hatte er aufpassen müssen, dass er nicht in ein Loch trat oder möglichst nah an der Wand entlang lief, weil das Geländer an vielen Stellen bereits heraus gebrochen war. Schließlich kletterte er die letzten paar Stufen zu den zugigen Höhen hinauf und streckte vorsichtig seinen Kopf hinaus. Er hatte sich nicht geirrt. Es befand sich tatsächlich jemand auf dem Dach. Und sein Verdacht, um wen es sich handelte, bestätigte sich auch sofort. „Verdammt, Jimmy, was soll der Scheiß?! Weißt du, was du mir für einen Schrecken eingejagt hast?“, rief er ihm zu, während er langsam auf seinen Freund zugekrabbelt kam. Hier war es wirklich verdammt zugig. Und das Dach war an einigen Stellen auch schon weggebrochen. „Hi Kumpel, was machst du denn hier?“, fragte Jimmy belustigt zurück. An den paar Worten merkte der Halbjapaner bereits, dass sein Freund wohl noch eine gehörige Portion Alkohol intus haben musste. „Dich wieder runterschaffen! Und jetzt komm!“ Vorsichtig streckte Danny ihm die Hand aus, doch Jimmy sah sie nur aus verschleierten Augen an. Schließlich schüttelte er mit dem Kopf. „Nein… Ich kann nicht.“ „Was heißt hier ‚du kannst nicht’?“ „Ich kann nicht mit dir zurückkommen. Ich schaff das nicht.“ Eine eisige Hand krallte nach Dannys Herz. Das konnte nicht sein Ernst sein! „Natürlich kannst du mit mir zurückkommen! Ich bin doch bei dir. Wir schaffen das schon.“ „Ich weiß… Du warst immer bei mir. Und du wirst es auch immer sein.“ Ein trauriges Lächeln zierte seine Lippen, als er eine kurze Pause machte. „Irgendwie habe ich gewusst, dass du kommst. Auch wenn ich es nicht wollte. Aber… Ich hab’s gewusst, weil du immer da bist, wenn ich dich brauche.“ Eine einzelne Träne stahl sich aus seinem Auge. „Und dafür bin ich dir sehr dankbar. Es tut mir Leid, dass ich dir so zur Last gefallen bin. Du bist mein bester Freund, Danny. Ich möchte nicht, dass du meinetwegen noch länger leidest. Bitte vergiss mich nicht. Ich werde immer bei dir sein.“ „Nein, nein…!“, krächzte der Halbjapaner mit piepsiger Stimme und versuchte, nach seinem Freund zu greifen, doch in diesem Moment stieß er sich ab und ließ sich nach hinten fallen. „Danke für alles“, hörte er seine Worte leise verklingen. Tränen versperrten ihm die Sicht, als er sich weiter vorlehnte, um in einem letzten verzweifelten Versuch nach seinem Freund zu fassen. „Nein! NEIN!!! JIMMYYYYY!!!“ ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~* An dieser Stelle warne ich gleich mal vor: Das nächste Kapitel ist noch NICHT fertig. Und die Uni hört meinetwegen trotzdem nicht auf… Trotz allem möchte ich versuchen, endlich weiter zu kommen, damit ich die Sache mit der Vergangenheit endlich abschließen kann. Lange genug hat es ja gedauert und ich möchte endlich in die Gegenwart zurück ^^v. Ein großes DANKESCHÖN möchte ich an dieser Stelle an LadySaphira aussprechen, die plötzlich nach soooo langer Zeit noch auf meine Geschichte gestoßen ist und so lieb war, mir gleich zwei Kommentare zu hinterlassen *g*. Das hat mich wohl wachgerüttelt, sodass es jetzt endlich weiter gehen kann. Grüße und bis zum nächsten Mal! Lady_Ocean p.S.: Ach ja, zwei Sachen noch: Falls ich irgendwo bei einem Zeitungsartikel die Formatierung vergessen habe, sagt mir das bitte. Ich habe es zwar noch mal überflogen, aber ich werde das Gefühl nicht los, einen übersehen zu haben. Zweitens: Einigen habe ich die Kapitel ja immer per Mail geschickt. Bis zum wievielten habt ihr die? Nach so langer Pause habe ich es leider aus den Augen verloren ^^v. 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