Kaze no Uta von Lady_Ocean (Das Lied des Windes) ================================================================================ Jimmy (Teil 1) -------------- Ich schätze, inzwischen hat wohl schon kaum noch jemand damit gerechnet, aber: Ja, es geht tatsächlich weiter! Das Chap kam grad frisch von meiner Beta und da ihr jetzt sowieso schon so ewig warten musstet, hab ich mich echt beeilt, die Korrektur sofort durchzulesen und das Kapitel hochzuladen. Wie ihr sehen könnt, wird das wieder eine längere Sache, die voraussichtlich drei bis vier Teile lang wird. Mal sehen. Und dafür, dass ihr so lange warten musstet, ist dieses Kapitel auch besonders lang! Ich hoffe, das tröstet euch ein wenig. Auch wenn es am Anfang recht schleppend voran geht, da ich wegen der neuen Situation sehr viel drum herum erzählt habe. Aber sonst würde hier einfach keine Atmosphäre entstehen und das ist mir hier sehr wichtig. Ach ja, damit sich keiner wundert: "Jimmy" spielt komplett in der Vergangenheit. Ich weise im Text selbst nich explizit darauf hin, aber ich denke, dass es beim Lesen eigentlich auch klar werden sollte. Viel Spaß jetzt! ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Jimmy (Teil 1) Das Ertönen der Schulglocke läutete das lang ersehnte Ende eines anstrengenden Tages ein. In Scharen drängten sich hunderte Schüler gleichzeitig durch die dafür viel zu engen Schultore, um nun den wesentlich angenehmeren Nachmittagsbeschäftigungen nachgehen zu können. Nur wenige Ausnahmen blieben hinter der großen Masse zurück, unter ihnen zwei Elftklässler, die den abklingenden Trubel nutzten, um sich endlich in Ruhe unterhalten zu können. "Du hast heute schon wieder Training?", fragte der Junge mit den dunkelblonden, schulterlangen Haaren, die er zu einem festen Zopf zusammengebunden hatte. Seine tiefblauen Augen musterten den anderen skeptisch, welcher nur ergeben mit den Schultern zuckte und seine "du-weißt-ja-wie-er-ist"-Grimasse aufsetzte. "So ein Sklaventreiber! Das ist der vierte Tag hintereinander! Der muss echt denken, du langweilst dich sonst", beschwerte der Blonde sich weiter. "Lass gut sein, sonst hört er es vielleicht noch", beschwichtigte ihn sein Freund mit dem kastanienbraunen Haar. Die grünen Augen funkelten belustigt. "Und so schlimm ist es ja nun auch wieder nicht." "Nicht schlimm?! Danny, wir stecken mitten in unseren A-Levels und du verschwendest deine wertvolle Zeit damit, den Alten zu besuchen, anstatt zu lernen." "Die Prüfungen sind doch erst in einem Jahr!" "Trotzdem zählen die Noten dafür jetzt schon." "Ich weiß und über meinen derzeitigen Leistungsstand brauche ich mir auch noch keine Sorgen zu machen - im Gegensatz zu manch anderen Leuten, nicht wahr, Jimmy?" Dabei stieß er dem Blonden neckend den Ellbogen in die Seite und grinste ihn amüsiert an. "Ach, na ja...", versuchte der andere die Anspielung als Lappalie zu verwerfen, "ich will ja nach der Schule auch nicht in Japan studieren." "...Was nicht heißt, dass es einfach ist, an einer englischen Uni angenommen zu werden", ergänzte Danny den Satz, während er gemütlich Seite an Seite mit seinem Freund durch das Schulgebäude schlenderte. "Wer sagt denn, dass ich studieren möchte?", konterte Jimmy. "Du", kam prompt die Antwort, "oder willst du doch keinen guten Job mehr bekommen, um später mit Joan zusammenleben zu können?" "Schon gut, schon gut! Ich gebe ja auf! Vielleicht sollte ich wirklich langsam mehr für die Schule machen. Aber nicht heute." "Heute siehst du sie wieder, nicht wahr?" "Ja... Es ist schon wieder fast einen Monat her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben", antwortete Jimmy mit sanfter Stimme. Sein Blick wurde träumerisch und schien langsam der Realität zu entgleiten. Ein leichtes Lächeln glitt über Dannys Lippen. Er bewunderte den Blonden dafür, wie viel Kraft er aus seiner Liebe schöpfte, welche Lebensfreude sie ihm immer wieder aufs Neue gab, obwohl er ihretwegen doch solche Probleme hatte. "Na dann viel Spaß! Und lass dich nicht erwischen!" "Keine Sorge, wir sind vorsichtig." Da sie das Schultor mittlerweile erreicht hatten, verabschiedeten die beiden Freunde sich und jeder ging seinen eigenen Weg, welcher Jimmy zum Bahnhof und Danny in ein kleines Dorf am Rand Londons führte, wo er bereits von seinem Sensei erwartet wurde. Es war echt zum Verzweifeln. Nie konnte man diesen engstirnigen, rechthaberischen Menschen zufrieden stellen! Ganz gleich, wie sehr Danny sich auch beeilte, nach der Schule zu seinem Schwertmeister zu kommen, immer beschwerte sich dieser, dass der Halbjapaner gebummelt hätte und wie immer zu spät wäre. Dabei gab der Schwertmeister ihm nie eine genaue Uhrzeit, wann er bei ihm erscheinen sollte. Es hieß immer nur: "Sei an diesem Tag bei mir." Auf die Frage, wann genau er denn da sein sollte, hatte Danny noch nie eine Antwort erhalten. Immer nur: "Morgen." Und trotzdem meckerte er jedes Mal rum. Der Halbjapaner schüttelte resigniert den Kopf. ,Warum kann er mir nicht einfach sagen, dass er zu faul ist, in die anderen Dörfer zu gehen, und ich ihm, wenn ich schon vorbeikomme, etwas mitbringen soll? Aber nein! Jedes Mal tut er so, als müsste er mir aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen so dämliche Strafen aufdrücken!' Entnervt ruckte er den schweren Reissack, den er sich über die Schultern geschwungen hatte, zurecht. Das Ding kotzte ihn auch langsam an. Alle paar Minuten drohte es, ihm zur Seite herunter zu fallen. So konnte er einfach nicht richtig laufen! Na wenigstens hatte er im Laufe der Jahre praktische Abkürzungen zwischen den einzelnen Strecken, die er regelmäßig zurücklegen musste, gefunden. So brauchte er wenigstens nicht am Straßenrand entlang rennen und sich dort vor allen Leuten zum Deppen machen. Zumindest ein kleiner Trost... Danny hatte, nachdem Hikawa ihn als seinen Schüler akzeptiert hatte, nicht lange gebraucht, um einen Überblick über die Orte, in die er andauernd geschickt wurde, zu finden. Es waren immer dieselben, sodass er schon bald damit begonnen hatte, sich Abkürzungen und Schleichwege zu suchen, um Zeit und Kraft sparen zu können. Das war, besonders in den ersten Jahren, bitternötig gewesen, denn die Entfernungen lagen zwischen drei und sechs Kilometern. Mittlerweile störten ihn die Läufe an sich nicht mehr. Seine Ausdauer und Kraft hatten sich im Laufe der Jahre so weit verbessert, dass er selbst die längsten Strecken locker noch einmal zurücklegen könnte. Nur diese faulen Ausreden nervten ihn tierisch. Aber wenn er so an das erste Jahr zurückdachte... Ein zufriedenes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Die Erinnerungen daran, wie geschafft er nach einem dieser Märsche immer gewesen war, unfähig, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun, waren noch immer so lebendig wie in dieser Zeit. Damals hatte er gedacht, er würde dieses unmenschliche Training niemals durchhalten - und nun war er schon über sieben Jahre dabei. Nicht, dass es mittlerweile einfacher geworden wäre; zumindest das Training an sich war noch immer so hart und Kräfte zehrend wie damals. Er hatte sich inzwischen nur einigermaßen daran gewöhnt. Neun Kilometer in nicht ganz einer Stunde - und das teilweise mit einem 20 kg schweren Reissack auf dem Rücken! Nicht schlecht, fand zumindest Danny. Und auch sein Sensei schien recht zufrieden damit zu sein, denn die Beschwerde über seine "Bummelei" fiel diesmal ein wenig schwächer aus als sonst. Der Halbjapaner kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass dies fast schon einem Lob gleich kam. Das, was er selbst darunter verstand, war noch nie über die Lippen seines Meisters gekommen und der Junge bezweifelte auch stark, dies jemals erleben zu dürfen. Insofern waren die paar dummen Bemerkungen, mit denen er begrüßt wurde, schon ein wirklich gutes Zeichen. Ohne einen weiteren Kommentar stellte er den Sack im Vorratsraum ab und zog sich seine Trainingssachen über. Es brauchte schon gar keine Absprache mehr zwischen Schüler und Meister, denn das Training lief immer nach demselben Schema ab: Erst ein paar Schwungübungen zum Aufwärmen, dann durfte er einige bewegliche Holzmodelle mit Hieben und Tritten attackieren, wobei er aufpassen musste, dass er von keinem herausragenden Ende getroffen wurde, und zum Schluss, welcher immer die meiste Zeit in Anspruch nahm, musste er versuchen, sich gegen seinen Meister selbst zu behaupten, was ihm noch nie auch nur annähernd gelungen war. Es war Danny noch immer ein Rätsel, wie es dieser Mann schaffte, alle seine Angriffe mit so fließenden Bewegungen zu parieren und seinen ganzen Körper in solch perfekter Harmonie zu koordinieren, dass der Halbjapaner trotz Aufbietung seines ganzen Könnens nur mit Mühe gegenhalten konnte. Ein Außenstehender würde wahrscheinlich gar nicht vermuten, dass in diesen graziös anmutenden Schwüngen so viel Energie stecken kann, denn eigentlich erinnerte Hikawas Stil mehr an einen zeremoniellen Tanz als an eine Kampfsportart. Dies waren auch die Momente, in denen Danny immer wieder bewusst wurde, dass er seinen Sensei selbst nach sieben Jahren noch immer nicht kannte. Und plötzlich erschien ihm dieser Mann wieder so unergründlich, so geheimnisvoll wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Ob er jemals die wahre Stärke seines Meisters erfahren würde? "Oh, oh, oh..." Kritisch begutachtete Danny am nächsten Morgen den hübschen blauen Fleck, der nun groß und farbenfroh auf seinem Oberarm prangte. So derb hätte sein Sensei nun wirklich nicht zuschlagen müssen! Aber jetzt war es zu spät, sich darüber Gedanken zu machen. Der Fleck war da und würde das wohl noch für den Rest der Woche bleiben. Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte ihm, dass heute wohl wirklich einer der wenigen vom Wetterfrosch angekündigten richtig warmen Tage in England werden würde. Ein langärmliges T-Shirt kam also gar nicht infrage. Auch wenn dadurch jeder den neuen Fleck bewundern konnte. Aber was störte es ihn eigentlich? Jeder wusste, dass er Kendo trainierte und ab und an mit blauen Flecken zur Schule kam. Nun, eigentlich war es genau das, was ihn daran störte: Eben WEIL jeder wusste, dass er sich mit dem Kampfsport beschäftigte, schienen es alle Leute zu lieben, ihn damit zu necken, wenn er mal wieder eine Blessur vorzeigen konnte. "Na, hast du dich wieder verprügeln lassen?" "Stehst wohl auf Schmerzen, was, Danny?" "Also Danny! Jetzt machst du das schon SO lange und schaffst es trotzdem noch nicht, wenigstens dich selbst zu schützen. Was soll das werden, wenn du mal in richtige Schwierigkeiten kommst?" Es war wirklich jedes Mal dasselbe! Warum die sich nur immer wieder aufs Neue so freuten, wenn er mal einen Schlag abbekommen hatte, war ihm ein Rätsel. So langsam müsste das doch langweilig werden... "Na, altes Haus?" Übertrieben schwungvoll knuffte ihn einer seiner Mitschüler auf die dunkle Stelle an seinem Oberarm. "Autsch! Danke auch!" ...Okay, es wurde wohl doch nie langweilig. Vielleicht könnte er ja selbst darüber lachen - wenn er nicht gerade die betroffene Person wäre. "Ach komm schon, Danny! Jetzt hab dich nicht so. War doch nur ´n Scherz. Oder bist du ein Mädel, dass du jedes Mal so zimperlich tust?" "Diese Scherze werden langsam alt." "Schon, aber du ziehst immer wieder einen so herrlichen Flunsch, dass man gar nicht anders kann, als dich zu ärgern", klinkte sich nun noch ein weiterer Mitschüler in das Gespräch ein. Danny wollte gerade etwas darauf erwidern, als seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gelenkt wurde. "Hey, Jimmy! Du hast Danny wohl bei seinem Training unterstützt, was?", kam es aus einer Ecke des Raumes. "Ja, und zwar als Dummy!", brüllte jemand von der anderen Seite her. Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Nur Danny starrte seinen Freund mit vor Schock und Sorge geweiteten Augen an. Jimmy jedoch störten die kleinen Sticheleien keineswegs. Er grinste sogar munter mit. "Sehr witzig, Leute! Ich möchte euch mal erleben, wenn ihr in eine Prügelei geratet und nur mit knapper Not entkommen könnt." "Verprügelt? Von wem denn?", fragte jemand, der sich bereits einigermaßen beruhigt hatte. "Woher soll ich das wissen? Denkst du, die geben mir vorher ihre Namen und Adressen, damit ich sie hinterher wiederfinde?" "Gleich mehrere? Mensch, müssen das Feiglinge gewesen sein! Wo du doch keiner Fliege was zuleide tun kannst", meinte einer der Jungs, der ihm am nächsten stand, mitfühlend und wuschelte ihm durch die Haare. "Hey!", protestierte Jimmy und duckte sich, um der störenden Hand zu entkommen. "Aber mal im Ernst, was wollten die denn von dir?", meinte eines der Mädchen teilnahmsvoll. "Geld. Glücklicherweise hatte ich kaum welches dabei, sonst wäre ich jetzt wohl arm." So ging es noch eine Weile weiter. Die Mädchen waren schockiert und hatten Mitleid mit Jimmy, die Jungs fingen an, Witze und vorlaute Sprüche bezüglich der unbekannten Angreifer zu machen, so wie es pubertierende Sechzehnjährige eben taten. Nur Danny hielt sich aus der ganzen Diskussion heraus. Er glaubte nicht an die Geschichte, die sein Freund ihren Klassenkameraden so farbenprächtig verkaufte. Nein, er hatte seine eigenen Vermutungen. "Was ist wirklich passiert, dass du mit solchen Verletzungen in die Schule kommst?", fragte Danny direkt heraus, kaum dass er und Jimmy allein waren. Vier Stunden lang hatte er darauf gewartet, dass sie endlich zur Essenspause entlassen wurden und sich für einen Moment von der Masse entfernen konnten. Ein einziger Blick Dannys in Richtung seines Freundes hatte genügt, um diesem begreiflich zu machen, dass er ihn unter vier Augen sprechen wollte, also hatten sie sich mit ein wenig Smalltalk unbemerkt aus der Masse entfernt und sich auf das menschenleere Schuldach verzogen - was ja eigentlich verboten war. Doch dafür waren sie dort mit Sicherheit auch allein. "Das weißt du doch eh längst, nicht wahr?" "Dein Vater hat euch erwischt, oder?" "Bingo, hundert Punkte", kam die lässige Antwort, während Jimmy sich nach hinten fallen ließ und den Blick gen Himmel lenkte. Danny schüttelte nur verständnislos den Kopf. "Wie kannst du da nur so ruhig bleiben?" "Wie kannst du dich darüber so aufregen?" "Du machst es ja nicht!" Ein Grinsen schlich sich auf Jimmys Lippen, als er in das empörte Gesicht seines Freundes blickte. "Jawohl, Mama." Dafür erhielt er einen Knuff in die Seite. "Au, nicht so doll!", presste er zwischen den Zähnen hervor und drehte sich gekrümmt auf die Seite. Erschrocken wandte Danny sich dem blonden Jungen zu und versuchte sanft, dessen Hand von der schmerzenden Stelle zu entfernen, um einen Blick darauf werfen zu können. "Das tut mir Leid! Ich hätte nicht gedacht, dass es SO schlimm ist!", entschuldigte er sich dabei erschrocken. "Schon gut..." Langsam richtete Jimmy sich wieder auf; der Schmerz schien allmählich abzuklingen. Nur die Sicht auf die betroffene Stelle wollte er nicht freigeben. Als er dafür jedoch einen strafenden Blick seines Freundes erhielt, ergab er sich schließlich zögernd, nahm die Hand weg und zog sein T-Shirt weit genug hoch, sodass der riesige blaue Fleck, in dessen Mitte sich ein frischer Bluterguss zeigte, zu sehen war. Der Braunhaarige zog scharf die Luft ein. Das blaue Auge und die geschwollene Wange und Lippe sahen ja schon schlimm aus, aber diese Verletzung übertraf das alles noch um Weiten. "Dein Vater ist krank!", brach er fassungslos hervor. "Wem sagst du das?", gab Jimmy sarkastisch zurück. "Der alte Säufer ist unberechenbar!" Er schloss für einige Augenblicke die Augen, atmete tief durch und richtete seinen Blick schließlich sichtlich entspannter wieder hinauf in das endlose Blau. "Aber es ist nur noch für ein Jahr. Wenn die Schule vorbei ist, suche ich mir einen Job und bin weg. Dann kann Joan mich besuchen kommen, wann immer sie Zeit hat, und wenn sie aus der Schule raus ist, kann Mutter sie auch nicht mehr festhalten und ihr verbieten, sich mit mir zu treffen. Bis dahin hab ich bestimmt schon ein wenig Geld angespart, sodass ich für uns beide sorgen kann. Dafür lohnt es sich, all das durchzustehen." Danny betrachtete seinen Freund mit gemischten Gefühlen. Jimmy war sehr stark, das wusste er so gut wie wohl niemand sonst. Vor zwei Jahren hatte er plötzlich angefangen, diese Gefühle für seine Schwester zu entwickeln und obwohl er anfangs versucht hatte, sie zu unterdrücken, zu ignorieren, hatte es nichts gebracht. Er hatte sich in sie verliebt, und das nicht zu wenig. Und sie sich in ihn. Es war nicht lange gut gegangen, was aber von vornherein klar gewesen war. Irgendwann hatten ihre Eltern sie erwischt und die sowieso schon angespannte Situation in der Familie explodierte förmlich. Ihre Eltern lagen schon seit einer ganzen Weile im Streit, weil ihr Vater immer mehr dem Alkohol verfallen war und die Mutter dies immer unglücklicher gemacht hatte. Es war regelmäßig zu heftigsten Streitereien zwischen den beiden gekommen, wodurch Jimmy und Joan nur noch stärker ihre gegenseitige Nähe gesucht hatten. Ihre heimliche Liebe war der endgültige Auslöser gewesen, der die Familie hatte zerbrechen lassen. Ihre Mutter war innerhalb einer Woche ausgezogen und hatte Joan mitgenommen. Jimmy hatte sie fortan nicht mehr als ihren Sohn angesehen. Sie war der Meinung, er wäre schon immer verdorben gewesen und wollte nun versuchen, auch seine Schwester in seinen Abgrund zu reißen. Den Vater hatte dies nicht weiter gekümmert, denn er hatte daraufhin seine Tochter verstoßen. Jimmy hielt er jedoch für keinen Deut besser und es hatte ihm gar nicht gefallen, dass der Junge bei ihm bleiben sollte. Ein Heim war für die Eltern gar nicht infrage gekommen; zu groß war die Angst gewesen, dass dieser schreckliche Zwischenfall an die Öffentlichkeit geraten könnte und sie dadurch in ein schlechtes Licht gerückt würden. Außerdem wäre Jimmy mit Sicherheit abgehauen - das hatte er selbst gesagt - und hätte jede Möglichkeit genutzt, um seine Schwester wiederzufinden. Da waren dem Vater die persönliche Kontrolle und eine strenge Hand lieber gewesen. Seit der Trennung hatte es zwischen Jimmy und seinem Vater nie wieder so etwas wie eine familiäre Beziehung gegeben. Nach außen hin schien alles ruhig, denn die Gefahr, dass die Liebe zu seiner Schwester öffentlich wurde, wollte der Blonde ebenfalls nicht eingehen. Ansonsten gab es nichts mehr, was beide gemeinsam hatten. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, war Jimmys Vater dem Alkohol vollends verfallen und ließ seine schlechte Laune regelmäßig an seinem Jungen aus. Um dem zu entgehen, blieb Jimmy meist bis zum späten Abend bei Danny oder streifte durch die Straßen Londons. Oft stand er auch schon in aller Frühe auf, erledigte die nötigsten Sachen und verschwand dann so schnell es ging. Danny hatte das ganze Drama von Anfang an mitverfolgt. Er war der Einzige, dem Jimmy sich jemals anvertraut hatte - auch wenn dies mehr oder weniger zufällig geschehen war. Die Jungen kannten sich schon, seit sie denken konnten, und so verstanden sie auch ihre Gefühle und Gedanken meist wortlos. Der Halbjapaner hatte nicht lange gebraucht um herauszufinden, dass mit seinem Freund etwas nicht in Ordnung war. Und ein wenig kritische Beobachtung hatte ihm auch bald den Grund dafür gezeigt, welchen Jimmy bis dahin selbst vor ihm verschwiegen hatte. Natürlich war diese Erkenntnis auch für Danny erst einmal ein kleiner Schreck gewesen, doch nachdem er mitbekommen hatte, wie ernst es seinem Freund gewesen war und mit welchen Problemen er bereits zu kämpfen hatte, hatte er den Entschluss gefasst, ihm mit allen Möglichkeiten zu helfen und zu unterstützen. Rückblickend betrachtet reichten die letzten zwei Jahre aus Jimmys Leben wohl locker aus, um einen tausendseitigen Roman zu füllen. Die unzähligen verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen mit seinem Vater, die heimlichen Treffen mit seiner Schwester, welche immer schwieriger zu meistern waren, Wutausbrüche, Schimpftiraden, Heulanfälle. Doch egal, wie schlimm es Jimmy getroffen hatte, wie sehr er von seinem Vater verletzt worden war, er hatte weiter gemacht, war immer wieder aufgestanden und mit jedem neuen Streit stärker und geschickter geworden. Schon bald hatte er aufgehört, vor seinem Vater Gefühle zu zeigen, und irgendwann waren selbst vor Dannys Augen keine Tränen mehr geflossen. "Wozu meine Kraft dafür verschwenden? Der Kerl ist es nicht wert, dass ich seinetwegen weine. Rückschläge werde ich immer wieder erleben, also muss ich stark sein - für Joan und mich." Diese Worte hatten ihn unheimlich beeindruckt und taten dies noch heute, denn oft genug hatte Jimmy bewiesen, dass sie nicht nur irgendeine schlaue Phrase, sondern eine wirklich ernst gemeinte Einsicht gewesen waren. Ein leichtes Lächeln zierte Dannys Lippen, als er es seinem Freund gleichtat und hinauf in den makellos blauen Himmel sah. "Ich hoffe, ihr werdet irgendwann glücklich miteinander." "Danke, Kumpel! Das wünsche ich dir auch." "Ach komm schon, Jimmy! Jetzt sag doch endlich, dass ich nur ein Träumer bin." "Nein, sag ich nicht! Ich habe deine Yuki zwar noch nie gesehen, aber ich glaube, sie muss ein ganz besonderes Mädchen sein, wenn sie dich so sehr in ihren Bann gezogen hat. Auch wenn es vielleicht so klingt, als wäre es einem Dreigroschenroman entnommen, aber ich finde, du solltest sie nicht einfach so aufgeben, besonders nachdem du nun schon dein halbes Leben nach ihr ausgerichtet hast. Oder willst du das alles umsonst getan haben?" "Das nicht, aber betrachten wir es doch einfach mal realistisch: Ich habe sie vor acht Jahren das letzte Mal gesehen - und das nur für wenige Wochen! Wir hatten uns zwar versprochen, uns regelmäßig zu schreiben, aber ich habe nie einen Brief von ihr bekommen..." "Vielleicht konnte sie dir nicht schreiben?", fiel ihm Jimmy ins Wort. Danny musterte ihn mit einem skeptischen Blick. "Selbst wenn es so wäre... Angenommen, ich gehe nach der Schule wirklich nach Japan: Was, wenn ich sie in diesem riesigen Land gar nicht finde? Oder ich finde sie wieder und sie kann sich gar nicht mehr an mich erinnern? Oder ich erkenne sie überhaupt nicht mehr? Immerhin sind neun Jahre kein kurzer Zeitraum, da kann viel passieren. Oder sie hat schon längst einen Freund? Ich meine, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie sich in dieser langen Zeit nicht mal nach einem anderen Jungen umgesehen hat?" "Hattest du denn schon eine Freundin?" "...Nein. Aber das ist was anderes." "Warum? Biste schwul?", hakte Jimmy mit einem breiten Grinsen im Gesicht nach. Danny verdrehte genervt die Augen. "Würde ich dann jahrelang einem imaginären Mädchen hinterher rennen?" "Sie ist nicht imaginär." "Aber sie ist mit Sicherheit nicht mehr die, als die ich sie kennen gelernt habe." "Schlimm wär's, wenn sie sich in den zehn Jahren nicht wenigstens ein bisschen verändert hätte." "Du nimmst mich überhaupt nicht ernst, Jimmy!", empörte sich Danny schließlich. Dauernd erhielt er solch einen frechen Konter als Antwort. Langsam bekam er das Gefühl, sein Freund wollte sich nur über ihn lustig machen. "Nein, du siehst das Ganze viel zu ernst, Danny! Oder warum hättest du die hier sonst?" Jimmy wurde klar, dass er mit einem aufgelockerten Gespräch bei diesem Thema nicht weiter kam, also wurde auch er wieder etwas ernster und angelte vorsichtig die Kette mit dem silbernen Drachen unter dem T-Shirt des Braunhaarigen hervor. Dieser nahm es behutsam in die Hand, betrachtete es eingehend, so als hätte er das wertvolle Andenken gerade erst erhalten. "Ich weiß nicht... Nach dem, was Yuki mir bei unserem kurzen Abschied erzählt hat, muss das etwas wirklich Wertvolles sein, und vielleicht habe ich ihr damals wirklich sehr viel bedeutet, denn sonst hätte sie mir den Anhänger nicht geschenkt. Aber wer sagt denn, dass das bis jetzt so geblieben ist? Leute verändern sich. Gefühle verändern sich." "Aber nicht immer. Du bist das beste Beispiel dafür." "Ich war damals neun und habe das erste Mal so was wie Verliebtheit gespürt. Ich wusste damals noch gar nicht richtig, was Liebe ist." "Und trotzdem denkst du noch immer an sie, wartest jeden Tag auf einen Brief von ihr und gehst fast täglich zum Kendounterricht. Und warum? Weil du dich doch irgendwie in sie verliebt hast. Vielleicht nicht damals. Vielleicht hat es sich erst im Laufe der Zeit entwickelt, nachdem du wieder hier warst und bemerkt hast, wie sehr du sie vermisst. Aber irgendwie hast du dich doch verliebt. Und weißt du was? Solange du die Hoffnung nicht aufgibst, besteht immer die Chance, dass du sie wiederfindest und am Ende alles gut wird. Erst wenn du sie aufgibst, verwirfst du auch die letzte Möglichkeit - und mag sie noch so gering sein - irgendwann mit ihr zusammenzukommen. Und nicht nur irgendwann! Wir haben unser vorletztes Schuljahr so gut wie hinter uns, das heißt, dass du nur noch gut ein Jahr durchhalten und weiterhin hoffen musst. Und angenommen es geht für euch beide wirklich nicht gut aus: Was hast du denn dann großartig verloren? Einen Schatten, dem du jahrelang, wenn auch leider vergebens, nachgerannt bist. Aber du hast immer noch deine guten Noten und den Kampfsport und nach dem zu urteilen, was ich bis jetzt gesehen habe, würden dir selbst in Japan alle Türen offen stehen, es irgendwann mal richtig weit zu bringen. Aber wenn du jetzt aufgibst, verlierst du mehr, als du gewinnen würdest. Also sei gefälligst ein wenig zuversichtlicher und steck nicht dauernd den Kopf in den Sand!" Jimmys kleine Rede endete mit einem so drohenden Blick, dass Danny sich einen weiteren Protest lieber gleich sparte. "Ist gut! Du hast ja Recht!", gab er beschwichtigend zu. Und er meinte es auch so. Er wusste, es bestand noch immer die Möglichkeit, dass er Yuki wieder sehen und mit ihr zusammen sein könnte, auch wenn diese nicht sehr groß war. Das hatte er immer gewusst und trotzdem hatte er sich an diese eine Hoffnung geklammert, bis heute mit ihr gelebt. Warum also so kurz vor dem Ziel doch noch alles aufgeben? Diese eine, winzige Chance freiwillig wegwerfen? Er könnte es ja doch nicht, auch wenn er manchmal das Gefühl hatte, es würde ihm alles entgleiten. Die Schulklingel riss ihn grob aus seinen Gedanken und machte ihm unbarmherzig klar, dass der Unterricht in Kürze weitergehen würde. Jimmy erhob sich bereits mit einem leisen Seufzer. "Na komm! Sonst verspäten wir uns noch." "Jimmy! Danny! Habt ihr heute schon was vor?" Der Schultag war gerade zu Ende gegangen und die beiden Jungen bahnten sich, genau wie alle anderen, einen Weg nach draußen Richtung Ausgang, als sie von einem ihrer Klassenkameraden aufgehalten wurden. Die Freunde sahen sich kurz an, Jimmy zuckte mit den Schultern und wandte sich dann an den anderen. "Nein, wieso?" "Thomas hat heute sturmfrei und so was muss doch genutzt werden, also wollten wir 'ne Party bei ihm schmeißen." "Warum nicht? Wir haben schon lange nicht mehr gefeiert, es wird höchste Zeit!", antwortete Jimmy erfreut. "Und du, Danny?" "Klar! Ich bin auch dabei!" Damit war es beschlossene Sache. Die Partygäste versammelten sich alle unweit des Schulgeländes und machten sich gemeinsam auf den Weg. Zuerst mussten natürlich noch ein paar Einkäufe erledigt werden - ohne diesen konnte die Party ja schlecht steigen. Anschließend ging es mit der U-Bahn weiter zu Thomas, welcher zur Freude aller ein sehr geräumiges Haus mit Hinterhof am Rande Londons bewohnte. Der Abend wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis. Schon lange hatten sie nicht mehr so ausgelassen gefeiert. Die Stimmen verschiedener Rockbands schallten unaufhörlich durch das Haus, wenn man Richtung Wohnzimmer kam, vermischten sie sich langsam mit den Schuss- und Reifengeräuschen Thomas' neuester DVD-Filme, welche nebenbei mit Digitalsound abgespielt wurden. Und natürlich gab es ausreichend Alkohol für jeden - und mehr. Thomas selbst hatte zeitweise alle Hände voll zu tun, die immer grüner werdenden Alkoholleichen in den Garten zu schleppen, bevor sie ihren Mageninhalt auf den teuren Teppichen seiner Eltern präsentieren konnten. Das Bad war eh dauerbesetzt, sodass er sich den Versuch, seine kranken Freunde dort abzusetzen, gleich sparte. Jene, die nicht zu den unglücklichen Verlierern der Trinkspielchen, auch genannt Schnapsleichen, gehörten, hatten dafür umso mehr Grund zum Lachen. Betrunkene konnte man schließlich immer am besten hinters Licht führen. Auch Danny und Jimmy hatten ihren Spaß. Der braunhaarige Junge hatte noch nicht sehr viel Alkohol intus, was vor allem daran lag, dass er beim Klimpern ein sehr zielsicherer Schütze war und die Münze selbst in ein noch so kleines Glas springen lassen konnte. Sein Freund war zwar nicht so geschickt, konnte dafür aber saufen wie ein Loch. Er war in der Gruppe das Paradebeispiel für das sprichwörtliche Fass ohne Boden, denn obwohl er zu denen gehörte, die bereits am meisten getrunken hatten, konnte er noch immer klar denken und mit den anderen herumalbern und lachen. Vergessen waren an diesem Abend die Probleme, mit denen sich Jimmy schon bald wieder konfrontiert sehen würde. Hier war er unter Freunden, hier war er selbst noch ein vollwertiger Mensch, den man achtete, mit dem man lachte, raufte oder einfach nur auf der Straße abhing. Niemand wusste von seinem wohl behüteten Geheimnis. Niemand, außer Danny. Und der würde niemals auch nur ein Wort davon jemand anderem gegenüber verlieren. Jimmy war sein bester Freund und zumindest dieses Stück heile Welt wollte er ihm so lange es ging erhalten. Doch es kam, wie es kommen musste: Der Abend, pardon: Die Nacht war irgendwann zu Ende und schließlich wurden auch die letzten Partytiere vom Schlaf übermannt. Wobei es bei der Schlafordnung nicht weniger chaotisch zuging als auf der Party selbst. Die ersten hatten sich die besten Plätze - nämlich Betten und Sofas - gesichert, die nächsten versuchten es mit ein paar zusammengeschobenen Sesseln und der Rest musste schließlich mit ein paar Decken oder Schlafsäcken auf dem Fußboden vorlieb nehmen. Und so erwachten die meisten um die Mittagszeit gerädert, mit Kater und einer gehörigen Portion Restalkohol. Danny spürte deutlich, wie gut diese Party seinem Freund getan hatte. Zwar war Jimmy mittlerweile sehr geübt darin, seine wahren Gefühle zu verstecken, sodass selbst der Halbjapaner oftmals sehr genau darauf achten musste, um den wahren Gemütszustand seines Freundes zu erkennen, doch nach jenem Freitag spürte er ganz deutlich, dass sich der Blonde besser fühlte und ihn alles Schlechte überhaupt nicht berührte. Doch wie jede gute Zeit musste auch diese irgendwann zu Ende gehen. Dass dies allmählich geschah, machte sich einige Wochen später bemerkbar. Und je mehr er Jimmy beobachtete, desto deutlicher sah Danny dies. Das freudige Grinsen seines Freundes blieb immer häufiger aus und in manchen Momenten, wenn er sich unbeobachtet fühlte, nahmen seine Augen einen erst verträumten, später immer traurigeren Ausdruck an. Eigentlich hatte Danny warten wollen, bis der Blondschopf selbst zu ihm kam und ihm von seinen Problemen erzählte, doch dies geschah nicht. Der Halbjapaner wusste nicht, wie viele unzählige Male er seinem Freund schon angeboten hatte, zu ihm zu kommen, wenn er über etwas reden wollte, doch in den seltensten Fällen war Jimmy darauf eingegangen. Er versuchte immer, seine Angelegenheiten nach Möglichkeit selbst zu regeln, denn gerade weil Danny sein bester Freund war, wollte er ihm nicht alle seine Sorgen aufbürden, ihn noch weiter in seine Probleme hineinziehen. Er befürchtete, dass es dem Halbjapaner irgendwann schaden könnte, und das war das Letzte, was er wollte. So war es schließlich wieder Danny, der auf Jimmy zuging und sich nach dessen Befinden erkundete. "...Ich vermisse Joan", gab der Blonde schließlich ergeben zu. "Das glaube ich dir gern. Ihr habt euch jetzt schon seit 'nem ganzen Monat nicht mehr gesehen. Aber ihr ruft euch doch regelmäßig an?" Deprimiert schüttelte Jimmy den Kopf. "Wir haben es versucht. Immer wieder. Aber Mutter lässt Joan nicht mehr ans Telefon und das Handy hat sie ihr auch weggenommen. Ich kann es nicht riskieren, sie zu Hause anzurufen. Außerdem hat mein Alter mir auch striktes Telefonverbot verpasst. Ich habe es erst einmal geschafft, sie zu erwischen. Da habe ich kurz nach der Schule von einer Telefonzelle aus angerufen. Mutter war noch arbeiten. Aber ansonsten hat's nie geklappt." Beruhigend legte Danny eine Hand auf die Schulter seines Freundes. "Halte durch! Wenn ihr euch noch eine Weile unauffällig verhaltet, bekommt ihr bestimmt bald wieder eure Chancen. Aber versuche nicht, irgendwas zu überstürzen! Solange ihr unter solcher Beobachtung steht, schafft ihr das nicht." "Ich weiß, aber es ist so schwer!" "Versprich mir, dass du nichts Unüberlegtes tust, Jimmy!" "..." "Versprich es! Bitte! Ich mache mir Sorgen um dich." "...Na gut. Ich verspreche es." "Danke." Erleichtert, dass dieses Gespräch doch noch einigermaßen geendet hatte, machte der Halbjapaner sich schließlich auf den Weg zu seinem Sensei, der wohl ziemlich sauer sein würde, wenn Danny bei ihm ankam. Das war er immer, wenn der Braunhaarige sich auf dem Weg zu ihm Zeit ließ. Nur wenige Tage nach ihrem Gespräch zog Jimmy seinen Freund zu einem Gespräch unter vier Augen beiseite. Es gab Neuigkeiten, die nur für seine Ohren bestimmt waren. "Du hast WAS?!", hakte Danny entrüstet nach. Genervt rollte der blonde Teenager mit den Augen. Diese Reaktion war mal wieder typisch für den Braunhaarigen. "Ich habe mich mit Joan verabredet. Wie oft denn noch?" "Bist du wahnsinnig?! Das geht niemals gut!" "Jetzt bleib mal locker! Klar geht es gut. Ich bräuchte nur mal deine Hilfe. Dann kann eigentlich nichts passieren." "Und was soll ich machen?", fragte Danny skeptisch nach. Er hatte ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. "Du musst doch am Samstag nicht zum Training, oder?" "Eigentlich nicht..." "Sehr gut! Dann sage ich meinem Alten einfach, dass wir zusammen unterwegs sind, während ich mich mit Joan treffe. Du darfst dich dann natürlich nicht allein bei ihm blicken lassen, aber das bekommst du ja sicher hin, oder?" "Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist..." "Jetzt komm schon, Danny! Du kannst mich doch nicht einfach hängen lassen! Wenn wir nur ein bisschen aufpassen, kann doch gar nichts schief gehen!" "Und was ist mit Joan?" "Hat mit einer Freundin gesprochen. In ihrem Freundeskreis weiß keiner von unserem Geheimnis, aber alle glauben, dass uns einfach das Schicksal übel mitgespielt hat, weil unsere Eltern so zerstritten sind. Deshalb helfen sie ihr gern, wenn sie die Gelegenheit bekommt, sich mit mir zu treffen. Du siehst, es ist wirklich alles abgesprochen." Nun begann Danny doch, ernsthaft über diese Möglichkeit nachzudenken. Im Stich lassen wollte er seinen besten Freund definitiv nicht und so wie es klang, gab es wohl eh schon keine andere Möglichkeit mehr. "Dann sollten wir besser sicher gehen, dass dein Vater uns auch zusammen sieht", dachte der Braunhaarige laut. "Das habe ich mir auch schon gedacht. Am besten wäre es wohl, wenn du mich abholen könntest und wir dann zusammen zum Bahnhof gehen. Und abholen solltest du mich vielleicht auch. Nur für alle Fälle. Nicht, dass mich zum Schluss noch irgendein Bekannter allein sieht und mein Alter Wind davon bekommt. Geht das?" "Klar, müsste gehen. Ich habe am Samstag eh noch nichts Besonderes vor." "Deal! Dann ist ja alles geregelt!", freute sich Jimmy. Ihm stand die Erleichterung buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Endlich würde er seine Schwester wieder sehen, endlich, nach über einem Monat scheinbar endlosen Wartens. Auf dem Weg in die City tauschten sich die Jungen über die Details aus; wann würden sie sich treffen, wann war Jimmy wieder da, was könnte er in der Zeit alles mit Joan unternehmen. Den ganzen Tag über blieben die beiden Freunde in der Stadt, aßen Eis, beobachteten eine Gruppe Jugendlicher beim Fußballspielen im Park und unterhielten sich über Gott und die Welt. Erst, als es auf 21:00 Uhr zuging und sich Londons überfüllte Straßen allmählich leerten, machten sich auch Danny und Jimmy mit der U-Bahn auf den Heimweg. Danny hatte noch immer ein mulmiges Gefühl im Bauch, was den kommenden Samstag betraf, und wie immer, wenn er irgendetwas befürchtete, verging die Zeit viel schneller, als ihm lieb war. Für Jimmy konnte die Zeit gar nicht schnell genug vergehen und so dauerte ihm das Warten viel zu lange. Doch schließlich war der ereignisreiche Tag angebrochen und es wurde in die Tat umgesetzt, was die Tage zuvor so ausgiebig besprochen worden war. Pünktlich acht Uhr hatte Danny das große Opfer erbracht, sich an seinem erholsamen Samstag vier Stunden eher als gewohnt aus dem Bett zu quälen, um seinen Freund von zu Hause abholen und gemeinsam mit ihm zum Bahnhof gehen zu können. Wenn Jimmy weg war, das stand für den Braunhaarigen von vornherein fest, würde er sich vorsichtig wieder auf den Heimweg machen und dort seinen verpassten Schlaf und das Frühstück nachholen. Gesagt, getan. Nachdem Danny endlich richtig munter und satt war, überprüfte er sein Handy auf eventuelle Nachrichten von Jimmy. Sie hatten sich ausgemacht, sich regelmäßig per SMS auf dem Laufenden zu halten, damit sie möglichst schnell Bescheid bekämen, wenn irgendetwas nicht stimmen sollte und sie dementsprechend handeln konnten. Nur eine Bestätigung, dass er seine Schwester gefunden hatte und alles glatt lief. Ähnliches schrieb der Halbjapaner nun zurück. Zwei Stunden später kam eine weitere SMS von Jimmy. Immer noch alles in Ordnung. Und es blieb - sehr zu Dannys Erleichterung - auch dabei. Gegen halb sechs machte sich der Braunhaarige wieder auf den Weg zum Bahnhof, um seinen Freund dort abzuholen. Der Zug würde zwar erst in einer vollen Stunde kommen, aber er war besser zu früh da und verschaffte sich einen Blick über die Lage, als dass er in allerletzter Sekunde oder gar zu spät ankam und irgendetwas passieren würde, wovor er seinen Freund dann nicht mehr warnen konnte. Das schlechte Gewissen würde wohl wirklich erst verstummen, wenn alle wieder sicher und unentdeckt zu Hause angekommen waren. Am Bahnhof angekommen schlenderte Danny eine Weile ziellos durch die Hallen und Gänge. Er hatte noch über eine halbe Stunde und damit genügend Zeit, sich auf dem ganzen Gelände umzusehen. Als er wenig später auf den Bahnsteig kam, an dem Jimmys Zug halten sollte, blieb er vor Schock so plötzlich stehen, dass ein hinter ihm laufender Passant in ihn hineinlief, sich meckernd über das abrupte Stehenbleiben beschwerte, Danny etwas unsanft zur Seite schob und übellaunig seinen Weg fortsetzte. Doch der Halbjapaner achtete kaum darauf. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt einer einzigen Person, die nur wenige Meter von ihm entfernt in sich zusammengesackt auf einer Bank saß. Rings um den vom Alter gezeichneten Mann standen eine Reihe von Bier- und sogar eine geleerte Whiskeyflasche. Ein noch halbvolles Bier befand sich in der Hand des Mannes. Dem Abstand nach zu urteilen, den die Umstehenden zu ihm hielten, musste er wohl ziemlich nach Alkohol stinken. Danny kannte den Mann. Es war Jimmys Vater. Vom Alkohol benebelt saß er da und erweckte nicht den Eindruck, als wäre er hier, um schnell mal mit dem Zug irgendwo hin zu wollen. Vielmehr sah es so aus, als würde er warten. Endlich konnte sich der Halbjapaner aus seinem tranceähnlichen Zustand befreien und tauchte schnell zwischen den Menschen unter, um sich von dort aus in eine Ecke zu stellen, die ihm eine halbwegs gute Sicht auf Jimmys Vater ermöglichte, ohne dass dieser ihn erblickte - auch wenn Danny das bei diesem Rausch eh für unwahrscheinlich hielt. Seine Gedanken überschlugen sich: Was wollte er hier? Hatte er doch irgendwie herausgefunden, dass Jimmy sich heimlich mit seiner Schwester traf? Warum musste er ausgerechnet an diesem Gleis warten? Er wusste keine Antworten darauf, doch eins war ihm klar: Sein Freund wusste nichts davon. Mit zittrigen Fingern holte er sein Handy aus der Hosentasche hervor und aktivierte Jimmys Nummer in der Wahlwiederholung. Die Verbindung wurde aufgebaut, doch es ertönte danach kein Freizeichen. ,Scheiße!', fluchte Danny innerlich und versuchte es erneut - mit demselben Ergebnis. Wieso funktionierte das ausgerechnet jetzt nicht? Was war plötzlich mit diesem verfluchten Handy los?! Den ganzen Tag über hatten sie sich geschrieben und jetzt ging es auf einmal nicht mehr? Dass Jimmys Akku abgestürzt war, daran glaubte der Halbjapaner nicht. Sein Freund hatte extra gesagt, dass er es am Abend zuvor noch hatte aufladen wollen. Und es freiwillig auszumachen, dazu bestand für den Blonden kein Grund; im Gegenteil, er hatte allen Grund, sein Handy am Laufen zu halten, solange er noch unterwegs war. Aber warum funktionierte es dann nicht?! ,Hoffentlich nur ein kleines Funkloch', dachte Danny inständig und wählte noch einmal dieselbe Nummer, doch es funktionierte noch immer nicht. Kein Freizeichen. Langsam bekam es der Halbjapaner mit der Angst zu tun. Er sah auf die Uhr. Zwanzig Minuten noch. Wenn er in dieser Zeit nicht eine Möglichkeit gefunden hatte, seinen Freund zu warnen oder dessen Vater von hier fortzuschaffen, dann... Das wollte er sich lieber gar nicht erst ausmalen. Dass die Polizei so einen Penner überhaupt hier sitzen ließ! ...Moment. Die Polizei! Das war vielleicht seine Chance. Mit einem leisen Hoffnungsschimmer im Herzen machte Danny sich auf die Suche nach einem Polizisten, von denen normalerweise so viele den Bahnhof durchkämmten. Es dauerte auch nicht lange, bis er einen gefunden hatte. Mit einem möglichst verstört wirkenden Gesichtsausdruck, um seinem Anliegen noch etwas mehr Überzeugungskraft zu geben, sprach er den Beamten an. "Sir, am Bahnsteig 10 sitzt ein Betrunkener herum. Der macht einen ziemlich seltsamen Eindruck." "Inwiefern ,seltsam'?", fragte der Polizist nach. "...Angst einflößend", meinte Danny, nachdem er eine Weile nach den richtigen Worten gesucht hatte. "Ich werde mir den Mann einmal ansehen." Mit diesen Worten machten sich beide auf den Weg zu besagtem Gleis. Kurz bevor sie es jedoch erreichten, hielt Danny den Wachtmann noch einmal an. "Wäre es in Ordnung, wenn ich hier bleibe? Nicht, dass er mich bei ihnen sieht und dann gleich auf die Idee kommt, dass ich ihn angezeigt haben könnte. Sonst merkt er sich vielleicht mein Gesicht und möchte sich später dafür rächen", bat der Halbjapaner mit besorgter Mine. Der Polizist, welcher mittlerweile einen Blick auf den Betrunkenen erhaschen konnte, betrachtete Danny verständnisvoll und stimmte seiner Bitte schließlich zu. Mit einem erleichterten "Danke" zog sich der Teenager wieder an seinen "Aussichtsplatz" zurück und beobachtete den Polizisten, der langsam auf den Mann auf der Bank zuging. Kurz bevor der Beamte sein Ziel erreicht hatte, wurde er von Jimmys Vater bemerkt, welcher sich nun ein wenig streckte und gerade hinsetzte, den anderen nicht mehr aus den Augen lassend. Von seinem Platz aus konnte Danny nur noch erkennen, wie der uniformierte Mann sein Abzeichen herausholte und sich dann ein Weilchen mit dem Betrunkenen unterhielt. Gespannt wartete der Braunhaarige darauf, dass Jimmys Vater endlich aufstehen und vom Polizisten abgeführt würde, doch nichts dergleichen geschah. Am Ende des Gespräches reichten sich beide Personen zum Abschied die Hand und der Wachmann ging wieder, als wäre nichts gewesen. Fragend erwartete Danny ihn in der Nähe seines Aussichtsplatzes. Kaum, dass beide wieder eine ausreichende Gesprächsdistanz zueinander hatten, beantwortete der Polizist die unausgesprochene Frage des Jungen. "Sie brauchen sich keine Sorgen wegen dieses Mannes zu machen. Auch wenn es vielleicht nicht danach aussieht, er ist noch bei klarem Verstand und wartet hier nur auf jemanden. Sobald diese Person kommt, wird er wieder gehen, das hat er mir versichert. Und da er nicht durch gewalttätige, vandalische oder andere negative Verhaltensweisen aufgefallen ist, kann ich ihn nicht einfach vom Bahnhofsgelände verweisen. Unter uns gesagt, es wäre mir auch lieber, wenn ich ihn von hier entfernen könnte. Solche Leute schaden dem Ruf dieses Bahnhofs, aber da er noch nicht einmal so betrunken ist, dass seine mentale Verfassung merkbar beeinträchtigt ist, kann ich leider wirklich nichts dagegen tun. Nur den Alkohol, den er noch bei sich hatte, habe ich konfisziert." Mit diesen Worten brach in Danny eine Welt zusammen, doch er riss sich zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. "Trotzdem danke, dass Sie nach dem Rechten gesehen haben, Sir." "Das ist schließlich meine Aufgabe." "Stimmt. Und von der möchte ich Sie auch nicht noch länger abhalten. Sie haben meinetwegen genug Zeit in Anspruch genommen." "Keine Ursache. Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen." Der Polizist war wieder weg und damit auch die einzige Möglichkeit, die Danny eingefallen war, um seinem Freund zu helfen. Doch vielleicht funktionierte ja dessen Handy endlich wieder. Immerhin waren in der Zwischenzeit weitere zehn Minuten verstrichen. Danny schauderte. Nur noch zehn Minuten. Jetzt wurde es wirklich eng. Schnell nahm er sein Mobiltelefon wieder aus der Hosentasche und wählte, ein Stoßgebet zum Himmel sendend, zum vierten Mal in der letzten halben Stunde Jimmys Nummer. Immer noch nichts. Einen Gott gab es also nicht. Oder zumindest wollte der ihm nicht helfen. Doch das brachte ihn jetzt auch nicht weiter; es schürte eher noch die Verzweiflung, die sich langsam aber beständig einen Weg an die Oberfläche seiner Gefühle bahnte. Er spürte förmlich, wie ihm die Zeit davonlief, wie sie ihm unaufhaltsam durch die Finger glitt wie Wasser, das man versuchte, in den Händen aufzufangen. Egal, wie sehr man die Handballen aneinander presste, wie sehr man sich auch bemühte, es zu behalten, das Wasser fand trotzdem immer einen Weg, nach unten zu entkommen, bis irgendwann nichts mehr übrig war. Und so fühlte Danny sich jetzt auch. Die Minuten verstrichen. Immer wieder versuchte er, Jimmy auf seinem Handy zu erreichen oder er zerbrach sich den Kopf darüber, wie er dessen Vater von hier weg bekam. Dieser hatte in der Zwischenzeit noch eine kleine Alkoholflasche aus seiner Tasche gezaubert, die der Polizist zuvor wohl übersehen haben musste. Zu allem Überfluss kam Jimmys Zug auch noch früher als erwartet. Wie jedes Mal, wenn einer am Bahnsteig gehalten hatte, schaute der betrunkene Mann auch diesmal auf und beobachtete jeden Wagon so intensiv wie ein Adler, der gerade seiner Beute auflauerte. Danny schnürte es bei diesem Anblick regelrecht die Kehle zu. Er hatte Jimmy nicht erreichen können, sodass dieser immer noch von nichts wusste und wahrscheinlich munter aus dem Zug spazieren würde. Wenn er doch nur wüsste, welches Abteil sein Freund gewählt hatte, dann könnte er jetzt zumindest noch versuchen, zwischen den Menschenmassen zu ihm zu gelangen und so zu tun, als würde er mit ihm zusammen aussteigen. Doch als er ihn schließlich sah, wurde auch diese letzte, verzweifelte Hoffnung begraben. Jimmy stieg im hintersten Bereich des Zuges und damit am ganz anderen Ende als dem, an dem er selbst stand, aus. Ein kurzer Blick in Richtung der Bank zeigte Danny, dass auch Jimmys Vater, welchen eine wesentlich kürzere Distanz von seinem Sohn trennte, ihn bereits entdeckt haben musste, denn der Mann bewegte sich bereits leicht schwankend auf den blonden Teenager zu. In einem letzten Akt der Verzweiflung kämpfte sich auch Danny durch die dichte Menschenmenge am Bahnsteig und versuchte, irgendwie zu seinem Freund durchdringen zu können, um vielleicht wenigstens noch eine Ausrede zustande zu bringen, dass die beiden durch das volle Abteil von einander getrennt worden wären. Doch es war aussichtslos. Noch lange bevor der Halbjapaner sein Ziel erreicht hatte, hatte Jimmy seinen Vater entdeckt und blieb mit versteinerter Mine stehen, achtete gar nicht weiter auf den Passantenstrom, der seinetwegen in andere Richtungen geleitet wurde. Kaum, dass sein Vater sich bis auf Armlänge genähert hatte, holte er aus und verpasste seinen Sohn eine schallende Ohrfeige. "Aua! Bist du bescheuert?! Was soll der Mist?", fauchte Jimmy gereizt. "DAS will ich erst mal von dir wissen, du dreckiger, kleiner Bengel!", brüllte sein Vater zurück, packte ihn an seinem T-Shirt und schüttelte ihn unter heftigstem Wehren von Jimmy erbarmungslos durch. "Lassen Sie ihn in Ruhe!", mischte sich nun auch Danny, der beide endlich erreicht hatte, ein und befreite seinen Freund aus dem Griff seines Vaters. Nur am Rande bemerkte er, wie sich langsam einige Schaulustige um sie herum versammelten und den entstehenden Streit teils besorgt, teils mit unverhohlener Neugierde mitverfolgten. "Ach, du mischst dich also auch in diese kleinen Komplottspielchen meines missratenen Sohnes ein, ja Danny? Ich hab es schon immer geahnt, die Leute, mit denen dieser verdorbene Bengel zu tun hat, können gar keine anständigen Menschen sein!" "Halt Danny gefälligst daraus! Er hat nichts damit zu tun!", verteidigte Jimmy seinen Freund und bemaß ihn kurz mit einem Blick, der dem Halbjapaner eindeutig klar machte, dass er jetzt ruhig zu sein hatte, auch wenn es das Letzte war, was er jetzt wollte. Wäre Jimmys Vater bei klarem Verstand gewesen, hätte er diesen kurzen Blickkontakt mit Sicherheit mitbekommen, aber sein derzeitiger Zustand hatte dies verhindert. "Nichts damit zu tun?", fragte der alte Mann schneidend, "und deshalb kam er heute morgen vorbei und hat dich abgeholt und steht jetzt schon wieder hier? Halt mich nicht zum Narren, dummes Kind!" Wieder flog eine Faust auf Jimmy zu. Diesmal in die Magengrube. Der Blonde taumelte keuchend einige Schritte zurück, bis er von seinem halb paralysierten Freund abgefangen und gestützt wurde, wobei er sich genau zwischen Jimmy und dessen Vater stellte, sodass dieser nicht noch einmal zuschlagen konnte - dafür würde er sorgen. Noch immer achtete keiner der drei auf die immer größer werdende Menge, deren Geflüster fortwährend lauter wurde, je mehr Leute sich zu den Umstehenden gesellten. Als Jimmy sich einigermaßen von dem Schlag erholt hatte, erhob er mutig erneut das Wort: "Danny hat mich abgeholt, weil wir zusammen in die Stadt wollten. Ich war anschließend nur noch mal kurz unterwegs." "Lügner", meinte sein Vater trocken, mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht, "heute morgen, 9:45 Uhr, ist dein Zug gefahren. Du warst mit niemandem in der Stadt. Jedenfalls nicht hier. Und ganz bestimmt nicht mit deinem naseweisen Freund." Jimmys Augen weiteten sich vor Schock. Und nicht nur er, auch Danny konnte kaum glauben, was er da hörte. Das war unmöglich! Woher konnte Jimmys Vater nur so genau wissen, wann seine Züge gefahren waren? Auf die unausgesprochene Frage hin wurde das Grinsen des Alten nur noch breiter und er klärte die beiden von selbst auf. "Du solltest deine Tickets besser weglegen, Jim." "Meine Tickets...?", wiederholte dieser ungläubig. "Wie kommst du an meine Tickets?! Die waren... Was fällt dir ein, einfach mein Zeug, mein Portemonnaie zu durchwühlen, du dreckiger, alter Sack?! Es geht dich 'nen Scheiß an, was ich da drin hab! Geh gefälligst anständig arbeiten, wenn du unbedingt Geld brauchst, um es wieder zu versaufen!!!" In seinem Wutausbruch war Jimmy immer lauter geworden, hatte zum Ende hin richtig geschrieen und immer heftiger versucht, sich aus Dannys Griff zu befreien und auf seinen Vater loszustürmen, doch der Halbjapaner hielt ihn eisern fest. Die harten Worte schienen allerdings auch ihre Wirkung erreicht zu haben, denn das hässliche Grinsen des betrunkenen Mannes war mit einem Mal wie weggewischt. "Du nennst mich einen ,dreckigen, alten Sack'? MICH??? Ausgerechnet so ein schäbiger, gewissenloser Bengel, der keinerlei Vorstellungen von Moral und Sitte hat und seine eigene Schwester fickt?! Ausgerechnet DU nennst mich ,dreckig'?! So etwas wie du gehört eingesperrt, weit weg von allen Menschen, damit gar nicht erst die Möglichkeit besteht, dass solche Ausgeburten sich ausbreiten und unsere Gesellschaft verseuchen können!" Plötzlich war es ganz still zwischen den drei Beteiligten. Nur das aufgeregte Flüstern der Schaulustigen, welche längst einen dicht geschlossenen Kreis gebildet hatten, war jetzt umso lauter wahrnehmbar. Jimmys Vater schaute seinen Sohn nur noch stumm aus halb glasigen, halb verurteilenden Augen an. Danny hatte das Gefühl, für einen Moment zu fallen, unendlich tief, in eine nie enden wollende Schwärze. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und drückte ihm fast die Luft ab, doch als er in Jimmys trotziges Gesicht sah, wusste er, dass das Schlimmste noch kommen würde. "Bitte nicht...", flüsterte er in verzweifelter Ohnmacht seinem Freund zu, doch dieser nahm ihn gar nicht mehr wahr. Der Blonde trat einige Schritte von Danny weg und sah seinen Vater dann völlig ruhig an. "Nun, im Gegensatz zu dir bin ICH wenigstens in der Lage, einen Menschen von ganzem Herzen zu lieben." Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt, kämpfte sich grob einen Weg durch die vollkommen perplexe Menschentraube und verschwand hinter den unzähligen Köpfen, welche nun ein lautstarkes Stimmwirrwarr anstimmten. Betäubt von der Panik, die sich wie ein Lauffeuer in seinem Innern ausbreitete, stürmte Danny wenige Augenblicke später auf dieselbe Art hinterher, nicht wissend, wohin genau sein Freund nun verschwunden war und ob er ihn noch einholen konnte. ~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~ Ja, meine lieben Leser, das war's mal wieder. Ich hoffe, ihr seid nicht zu enttäuscht von diesem Kapitel, immerhin beginnt jetzt die lange angekündigte, teils auch schon angedeutete Vergangenheit von Aki. Aber wie schon gesagt, ich wollte hier nicht einfach trocken Fakten aneinanderreihen, sondern wirklich mal versuchen, eine halbwegs tiefgründige Atmosphäre aufzubauen, besonders was die Freundschaft angeht. Meinungen und Kritik sind, wie immer, sehr erwünscht. Bis zum nächsten Mal (was - versprochen! - nicht so lange auf sich warten lassen wird wie dieser Teil)! Eure Lady_Ocean Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)