Havoc von Rhynn (Die Rückkehr der Digimon) ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3: Oubliette ------------------------------- Oubliette Englisch, Nomen 1.Ein Kerker, dessen einziger Ein- und Ausgang an der Decke ist 2.Ein Gefängnis, in das man Leute steckt, um sie zu vergessen Es war dunkel im Zimmer. Durch das Fenster schien ein kleiner Schein Licht von außen, doch er war schwach. Die Sonne war gerade erst aufgegangen. Zu hören waren lediglich Tastgeräusche auf einer Tastatur. Gegenüber des Fensters war eine zweite Lichtquelle auszumachen. Eine künstliche. Ein Computer. Eine große Gestalt saß am Schreibtisch, vertieft in ihr Werk. An einer Pinnwand über dem Schreibtisch waren mehrere Zettel aufgehängt. Bilder, Texte, Zeitungsartikel, Fotos… Sie alle zeigten schemenhafte Darstellungen von seltsam geformten Tieren, manche davon selbst gemalt und in mehreren Varianten. In den Texten waren Passagen angestrichen, durchgestrichen oder dazugeschrieben worden. Jeder Zettel wurde von einer blauen Nadel festgehalten, die über einen roten Faden mit den anderen verbunden worden war. Auf dem Bildschirm öffneten sich währenddessen neue Fenster. „Identität bestätigt. Robert Sterling. Sie werden nun zu Ihrer Web-Adresse weitergeleitet.“ Begeistert stemmte Hunter die Hände in die Höhe und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Na endlich! Seit HAVOC etwas mehr Bekanntheitsgrad erreicht hatte, hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was es mit diesem Virus auf sich hatte. Irgendetwas, sei es Intuition oder wie auch immer man es nennen wollte, hatte ihm von Anfang an gesagt, dass Genesis den Menschen die wahren Ausmaße des Virus‘ verschwieg. Zahlreiche Verschwörungstheorien, die er im Internet aufgegabelt hatte, bestätigten außerdem, dass es anderen Leuten ganz ähnlich ging wie ihm. Seit Tagen versuchte er nun sich in das System der Digiwelt hacken, aber SIMON, deren Firewall, war überraschend hartnäckig. So weit wie heute war er noch nie gekommen. Er hatte schon viele Passwörter geknackt, hatte an Sicherheitseinstellungen gerüttelt oder Befehle über die Konsole ausgeführt. Trotzdem überraschte Genesis ihn stets mit weiteren Passwörtern. Alles waren Zahlencodes, keine Namen oder Ähnliches. Er war schon verschiedenste Daten durchgegangen; Geburtstage, Hochzeiten, was immer ihm einfiel. Doch es hatte nichts geholfen. Nun, er hatte damit gerechnet, dass Sterling sein System schützte. Der Mann war klug genug ein sicheres Passwort für seine Firma zu nutzen. Letzten Endes war es aber wohl nicht sicher genug. Auf Hunters Lippen legte sich ein zufriedenes Lächeln, während seine Hand wieder zur Maus fand und sich langsam durch das System klickte. Eigentlich hatte er vorgehabt das Profil von Walter Smoke zu benutzen. Der Mann hatte SIMON programmiert und musste deshalb besser über den Virus Bescheid wissen, als der Rest von ihnen. Doch Sterling war der Chef. Wenn er keine Befugnisse über jede einzelne Datei hatte, dann niemand. Doch dann hatte es Probleme mit dem Virus gegeben. Viel wusste er noch nicht. Die Medien hatten ihnen nur verraten, dass die Profile der User in Mitleidenschaft gezogen wurden. Kontakte wurden getrennt oder Daten nicht länger angezeigt, etwas in der Richtung. Was Hunter jedoch dazu gebracht hatte Sterlings Profil zu hacken, war etwas viel Simpleres. Die erste Person, die von HAVOC attackiert wurde, war Sterlings Sohn. Hunter wusste nicht, ob das einen Grund hatte. Es war nur auffällig verdächtig, also konnte er zumindest versuchen mehr darüber herauszufinden. Die letzte Hürde war endlich überwunden. Er konnte nun sämtliche Informationen aufrufen, die er haben wollte. Also… Was genau war HAVOC denn nun eigentlich? „Dr. Smoke?“, eine relativ raue Frauenstimme erklang von der Tür aus, ehe die Dame in das Zimmer eintrat. Sie hielt ein Tablet in ihren Händen und setzte sich unaufgefordert zu dem älteren Herren, der am Schreibtisch saß. „Was gibt es?“, erwiderte er mit einer ruhigen Stimme. Er lehnte sich ein Stückchen zurück, nahm die Brille ab und rieb sich die Augen, „Die Nacht war unruhig. Hat Abbot sich schon um das Mädchen aus der Schweiz gekümmert?“ Die Frau nickte. „Sie sind bereits auf dem Weg hierher.“ „Gut“, Smoke nickte langsam, „Gut…“ „Wir haben ein anderes Problem“, grummelte die Frau dann und legte ihm ihr Tablet auf den Schreibtisch. Sie verschränkte die Arme und seufzte vielsagend: „Jemand ist ein bisschen zu neugierig.“ Müde nahm Smoke das Tablet in die Hand und betrachtete die Warnmeldungen. „Oh, ein Profi, hm?“, murmelte er, leicht belustigt, „Hätte nicht gedacht, dass jemand an SIMON vorbeikommt.“ „Wäre auch besser für dich gewesen“, erwiderte die Dame ihm gegenüber, „Wenigstens hat SIMON ihn überhaupt wahrgenommen. Der Typ hat Sterlings Administratorrechte. Was, wenn er der Hacker ist, der diesen Virus überhaupt erst ins System geschleust hat?“ „Ach, Marian“, Smoke schüttelte den Kopf, „Du musst noch eine Menge lernen, was systeminterne Sicherheit betrifft.“ Die Dame schnaubte. „Bitte. Dann ist er das eben nicht. Wir müssen ihn trotzdem loswerden“, sagte sie, „Wer weiß, was er für Informationen bekommt. Wenn er plaudert, könnte das eine Massenpanik auslösen.“ „Ich habe das im Griff“, beschwichtigte Smoke sie mit einem ruhigen Lächeln und begann seine Arbeit. Noch ehe Marian irgendetwas dazu sagen konnte, ertönte ein Warnsignal von seinem Computer aus. „Sowas“, murmelte Smoke und rückte seine Brille zurecht, „Sieht so aus als hätte HAVOC sich ein neues Ziel gesucht…“ „Nicht schon wieder“, genervt rieb sich Marian die Schläfen, „Wer ist es diesmal?“ Sie beugte sich ein Stück über den Schreibtisch, um in seinen Bildschirm linsen zu können. Es zeigte das Bild eines jungen Mannes mit einem ovalen Gesicht und leicht gebräunter Haut. Mit einem für ein Passfoto gerade noch akzeptierten Grinsen strahlte er in die Kamera. Die schulterlangen, weißen Haare waren zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden, während der obere Teil davon unter einer dicken Wollmütze verschwand. Marian schnaubte belustigt, während sie das eigentümliche Gesicht des Mannes betrachtete. Sie kannte das Gesicht. Die diagonale Narbe über seiner Wange und die verschiedenfarbigen Augen waren schließlich sehr einprägsam. „Na so ein Zufall“, murmelte sie, „Das ist derselbe Kerl…“ „Kommt gut nach Hause!“, verabschiedete sich Hunter gut gelaunt von den letzten Kunden, einer Gruppe Jugendlicher, und begann damit die Geräte auszuschalten. Die Spielhalle hatte in den letzten Tagen an Beliebtheit verloren, weil die Leute fürchteten, der Virus könnte sich über das Netzwerk verbreiten. Er hätte sich für gewöhnlich ein wenig darüber geärgert, doch nun, da er wusste, was HAVOC eigentlich genau war, hatten die Leute seiner Meinung nach allen Grund zur Vorsicht. Er selbst hatte auch einige seiner Daten im Internet abgespeichert. Eher weniger persönliche Daten, durchschnittlich viel, wie andere Gleichaltrige auch. Aber wenn HAVOC wirklich die Intelligenz besaß die kompletten Informationen eines Users zurückzuverfolgen, würde der Virus vielleicht auch aufdecken können, dass Hunter klammheimlich viel über die alte Digiwelt nachgeforscht hatte. Die richtige Digiwelt. Nicht Genesis‘ Netzwerk, das den Namen zu Unrecht erhalten hatte Hunter gehörte zu den wenigen Leuten, die wussten, was 2002 wirklich geschehen war. Er war damals noch nicht auf der Welt, doch sein Großvater war an jenem schicksalshaften Tag anwesend gewesen. Er hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Die Digimon. Seit Hunter klein war hatte er Geschichten über sie gehört, hatte Bilder gesehen, die sein Großvater damals geknipst hatte. Sie waren alle verschwommen oder nur schemenhafte Schatten, aber sie waren real. Die Digimon waren keine Erfindung irgendeiner Firma. Und aus irgendeinem Grund versuchte die Regierung das zu vertuschen… Damals schon hatten sich mehrere Leute dagegen aufgelehnt, die Existenz der Digimon zu untergraben. Seinem Großvater zufolge hatten all die Kinder, die Seite an Seite mit den Digimon gekämpft hatten, den Kampf um die Wahrheit noch jahrelang fortgeführt. Irgendwann jedoch waren ihre Stimmen verstummt. Hunter hatte gegoogelt, hatte Leute angeschrieben, die etwas zu wissen schienen, hatte alte Bücher gelesen und sich sogar in das System des japanischen Bürgeramts gehackt, um diese Leute zu finden. Doch ohne Erfolg. Er konnte sich nicht ausmalen, was die Regierung getan hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch eins war klar. Die Regierung hatte Angst vor ihnen. Wenn also herauskam, wie viel Hunter über die Digiwelt wusste, würde er vielleicht in ernsthafte Schwierigkeiten geraten. Er würde sich heute Abend dringend noch einmal näher mit HAVOC beschäftigen müssen. Er verließ die Spielhalle und schloss die Tür hinter sich ab. Die Schlösser waren eigentlich automatisch verriegelt, aber da in den letzten Tagen nicht sonderlich viel Verlass auf Elektronik war, verließ er sich auf die gute alte Methode. Viele Menschen äußerten mittlerweile Bedenken wegen der fortschreitenden technischen Entwicklung. Vor HAVOC hatte es keinerlei Beschwerden gegeben, doch nun meldeten sich immer mehr Bürger zu Wort. Sie machten sich Sorgen um ihre Daten. Wie sollten sie zur Arbeit kommen, wenn die Züge nicht mehr fuhren? Woher sollten sie überhaupt wissen, ob die Straßenbahn nicht mitten auf der Strecke die Verbindung zur Digiwelt verlor und mitten in ein anderes Auto krachen würde? Viele Menschen meldeten sich wieder als Fahrer für ihr eigenes Auto an und deaktivierten die Sicherheitseinstellungen. Man verlor das Vertrauen in die Digiwelt. Halb laufend halb joggend lief Hunter die Straßen New Yorks entlang. Die Straßen waren herbstlich bunt und viele Menschen liefen herum, um noch die letzten Einkäufe vor dem Wochenende zu erledigen. Hunter warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Für gewöhnlich ging er um die Zeit schwimmen, aber solange er noch nicht alles über HAVOC wusste, wollte er nicht riskieren, dass der Virus sich an seinen Daten bediente. In Fällen wie diesen wünschte er sich, er würde näher an seinem Arbeitsplatz wohnen. Jetzt musste er erst mal vierzig Minuten Straßenbahn fahren… In der Bahn angekommen, spürte er sein Handy in der Hosentasche vibrieren. Es war eine Nachricht von seinem Großvater. „Wo bist du? Ruf mich an.“ Sein Großvater, Jason, war eigentlich ein recht lockerer Kerl. Sie unternahmen regelmäßig etwas zusammen, daher sollte er eigentlich wissen, dass es Hunter gut ging. Trotzdem klang die Nachricht ein wenig besorgt. Kurz sah er sich nach rechts und links um, doch die Bahn war heute relativ leer – die Menschen mieden öffentliche Verkehrsmittel, wenn sie konnten. Hier würde ihn niemand irgendwie stören, also konnte er seinen Großvater getrost zurückrufen. Kaum hatte er die Nummer von Jason gewählt, war dieser auch schon rangegangen. „Hunter?“, sagte er hastig, als ob er fürchtete, es wäre jemand anderes. „Klar, ich bins“, antwortete Hunter beunruhigt, „Ist alles in Ordnung bei dir?“ „Mir geht’s gut, mach dir um mich keine Sorgen, Junge“, erwiderte sein Großvater eilig. Er klang zumindest schon ein wenig ruhiger als zuvor, doch er war immer noch angespannt. Hunter zog die Stirn in Falten. „Was ist los?“, fragte er, „Wieso bist du so aufgeregt?“ Die Stimme seines Großvaters wurde leiser. Sie war nur mehr ein raues Flüstern. „Du hast doch von diesem Virus gehört, nicht wahr?“ „Ja, ich hab mich schlau gemacht“, Hunter nickte, „Ist eine üble Geschichte.“ „Ja, das hab ich auch – so gut ich konnte, natürlich“, antwortete Jason. Hunter ließ sich auf einen freien Sitzplatz sinken. „Und?“ „Ich glaube, dass sie etwas damit zu tun haben…“ Er betonte das „sie“ auf eine Art, die Hunter bereits kannte. Sein Großvater benutzte diese Tonlage immer, wenn er über die Digimon sprach, aber fürchtete, dass er von jemandem gehört werden konnte, der es nicht hören sollte. Von ihm hatte Hunter seine Begeisterung für die Digimon, doch sie beide wussten, dass es gefährlich war in der Öffentlichkeit über sie zu sprechen. Natürlich durfte man an der Regierung zweifeln – oder man konnte auch nicht an die Digimon glauben und sie trotzdem toll finden, aber bei manchen Themen waren neugierige Ohren und plappernde Mäuler plötzlich überall. HAVOC war eins davon… „Wie kommst du darauf?“, erwiderte Hunter verwirrt, „Was hast du gefunden?“ „Ich habe mit einem alten …kan.. ge… nd…“, die Stimme seines Großvaters verschwand in einem merkwürdigen Rauschen. „Opa?“, fragte Hunter und sah aus dem Fenster, um zu prüfen, ob er vielleicht gerade durch einen Tunnel fuhr, „Ich versteh dich grad ganz schlecht. Kannst du das nochmal sagen?“ „rnd…di…elt…“ Das Rauschen wurde schlimmer. Hunter musste den Hörer ein Stück von seinem Ohr entfernen, weil es immer lauter wurde. Woher kam der Fehler plötzlich? War das HAVOC? Er hatte in Sterlings Unterlagen einen Fall gefunden, bei dem die Nummer des Mädchens einfach spurlos verschwunden war. Stattdessen empfing ihr Handy eine seltsame Frequenz, die Genesis immer noch zuzuordnen versuchte. Vielleicht war das diesmal auch der Fall? Hunter versuchte sich zu konzentrieren. Er hielt das Handy so weit an sein Ohr, wie sein Trommelfell es zuließ. Vielleicht hatte das Störgeräusch ja etwas zu bedeuten? Die Stimme seines Großvaters war mittlerweile komplett verschwunden. Stattdessen meinte er etwas anderes heraushören zu können. Nur ganz leise, wie ein Flüstern. Ein dunkler Ton, der etwas Mechanisches an sich hatte. Hunter schloss die Augen und versuchte sich einzig und allein auf die Stimme zu konzentrieren. Was sagte sie da? Eine zweite Stimme gesellte sich dazu. Lauter, bedrohlicher. Sie zischte, wie eine Schlange und obwohl er klar hören konnte, dass gesprochen wurde, konnte er kein Wort verstehen. Die Stimmen wurden lauter, mittlerweile überlappten sie sich und wurden noch unverständlicher als sie sowieso schon waren. Die ersten Menschen in der Bahn drehten sich zu ihm um, sagten aber nichts. Und dann, ganz plötzlich, erloschen die Stimmen. Zurückblieb der Leerzeichen-Ton seines Handys. Hunter öffnete die Augen und sah das Mobiltelefon einen Moment lang unschlüssig an. Zwei Worte. Nur zwei hatte er verstehen können… „Hilf uns.“ Diese beiden Wörter ließen ihn auf seinem gesamten Heimweg nicht los. Wen hatte er da reden hören? War die Nachricht überhaupt an ihn gerichtet gewesen oder hatte er wegen HAVOC ein anderes Gespräch mitanhören können? Worüber hatten die beiden gesprochen? Hunter konnte sich einfach keinen Reim daraus machen. Schon wieder ein Rätsel mehr, das gelöst werden wollte. Blieb ihm nur zu hoffen, dass der Staat dieses nicht auch wieder zensieren wollte. Er erreichte seine Mietwohnung, noch immer in Gedanken versunken und kramte den Hausschlüssel aus seiner Jackentasche, als er jemandem bemerkte, der vor der Tür zu warten schien. Es war eine dunkelhäutige Frau mit kinnlangem roten Haar. Sie lehnte sich lässig an die Hauswand und war mit ihrem Handy beschäftigt, doch als sie bemerkte, wie Hunter näher kam, fing sie seinen Blick auf. Ihre Züge waren hart. Sie hatte ein markantes Kinn, eine große Nase und volle Lippen, die sie ernst zusammengepresst hatte. Ihre mandelförmigen Augen verengte sie zu Schlitzen, wie ein Raubtier, das seine Beute in Angriff nahm. „Hunter Craven?“, sagte sie und straffte ihre Schultern. Ein flaues Gefühl machte sich in Hunters Magengegend breit. Die Frau trug keine Uniform, sie konnte also keine Polizisten sein. Aber ein Detektiv vielleicht? Wusste sie von seinen Nachforschungen über die Digiwelt? Hatte sein Großvater ihn deshalb angerufen? „Der bin ich“, antwortete er. Es hatte keinen Zweck zu versuchen sie anzulügen. Die Frau wusste ganz genau, wer er war. Sie fragte aus Höflichkeit. Die Frau nahm ihren Geldbeutel aus der Tasche und zog einen Ausweis hervor, den sie ihm reichte. „Marian Wilks“, stellte sie sich vor, „Deputy Chairman der Genesis Corporation.“ Hunter runzelte überrascht die Stirn. Die Vorstandsvorsitzende? Selbst wenn einer von Genesis hier auftauchte, sollte das nicht jemand von der Security Abteilung sein? Miss Wilks hatte anscheinend auf eine Antwort von ihm gewartet, denn als nichts kam, seufzte sie genervt. „Sie haben doch sicher bereits von dem Virus gehört, der öffentliche Einrichtungen sowie Privatleute angreift und sich deren Daten zu eigen macht?“, sagte sie, „Ich bin hier, weil Ihre Daten seit heute Morgen ebenfalls Opfer von HAVOC geworden sind.“ Also doch. Hunter biss sich auf die Unterlippe. Die Medien sagten, Havoc würde ein paar Funktionen lahmlegen und Gateways schließen, sodass die Informationen nicht mehr abgerufen werden konnten. Tatsächlich fraß sich der Virus so weit in das System hinein, bis nichts mehr von den Daten übrig geblieben war. Sämtliche Kontodaten, Telefonnummern oder Bilder, die er online abgespeichert hatte, würde er neu machen müssen. Er würde seinen Zeichnungen von den Digimon zwar hinterhertrauern, aber viel schlimmer war der Gedanke, seine Kontodaten und Verträge zu verlieren. Würde die Bank ihm sein Geld auf das neue Konto übertragen? Wie sollte sie das machen, wenn dieses Geld theoretisch gar nicht mehr existierte? Und was war mit seinem Mietvertrag? „Verstehe“, brummte er und rieb sich den Nacken, „Was bedeutet das jetzt für mich?“ Eine Angestellte von Genesis stand direkt vor ihm. Vielleicht konnte sie ihm mehr dazu sagen – dafür war sie doch schließlich hier, oder? Vielleicht gab es einen Weg die sensiblen Daten zu retten… Miss Wilks sah sich kurz um, dann deutete sie auf die Haustür. „Nicht hier. Würde es Ihnen etwas ausmachen hineinzugehen?“ Hunter schüttelte den Kopf und schloss die Tür auf. Er fühlte sich noch nicht ganz wohl bei dem Gedanken eine Genesis-Angestellte in seine Wohnung zu lassen, aber wegen HAVOC hatte er im Moment wohl keine andere Wahl. Sie würde eben nur nicht in sein Schlafzimmer dürfen – aber für Gewöhnlich hatten Leute wie sie genügend Anstand persönliche Räume ihrer Gesprächspartner zu meiden. Sie mussten ein paar Treppen hinaufsteigen, um zu seiner Wohnung zu kommen. Oben angekommen ließ er sie ins Wohnzimmer und bot ihr etwas zu trinken an, ehe er sich ihr gegenüber auf die Couch setzte. „Also?“ Die Frau holte ein Tablet aus ihrer Umhängetasche und rief ein paar Daten ab, die sie ihm zeigte. „Sie kennen sich doch mit Computern aus, nicht wahr?“ Hunter musterte sie kurz prüfend, doch wandte sich dann dem Tablet zu. Er sah mehrere Fenster, alle mit einem Quellcode. Es waren die Verbindungen zu mehreren Seiten, auf denen er sich häufiger aufhielt. Selbst seine Profilbilder waren teilweise verpixelt oder gänzlich gelöscht worden. Er konnte erkennen, dass seine Kontodaten noch nicht betroffen waren, allerdings hatte der Virus bereits seine Adresse und Telefonnummer gelöscht. „Wie kommen Sie darauf?“, sagte er beiläufig, „Weil ich in einer Spielhalle arbeite?“ Diese Frau wusste mehr als sie zugab – es war offensichtlich und machte ihn wahnsinnig. War sie nur hergekommen, um ihm das zu sagen? Dafür hätten sie doch irgendeinen kleineren Angestellten schicken können… „Nun, uns ist nicht entgangen, dass sie gestern Nacht in unser System eingedrungen sind“, antwortete Miss Wilks gerade heraus. Als er aufsah, bemerkte Hunter, dass sie ihn mit einem vernichtenden Blick beobachtete. „Normalerweise würden wir Sie für diese Tat anklagen, Mister Craven“, sie spie seinen Namen aus, als hätte er einen widerlichen Beigeschmack, „Eigentlich hätte Dr. Smoke sie sofort rauswerfen können, aber HAVOC hat sie plötzlich ins Visier genommen. Wir sahen unsere Chance nun live beobachten zu können, wie der Virus arbeitet.“ Hunter nickte. Sie hatten ihn also doch bemerkt. Wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn nicht… Er wusste, dass SIMON sich viel zu einfach hatte austricksen lassen. Er hätte vorsichtiger sein sollen. „Also, Mister Craven“, Miss Wilks beugte sich ein Stück zu ihm vor und sah ihn aus ihren dunklen Augen abwartend an, „Warum sagen sie mir nicht genau, was sie bereits über HAVOC wissen? Danach kann ich ihnen erklären, was wir herausgefunden haben.“ Hunter wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte. Der Hilferuf dieser seltsamen Stimmen hallte immer noch in seinem Hinterkopf wider und er würde nichts lieber tun als ihm zu folgen, wenn er doch nur wüsste, wobei er genau helfen sollte. Er wurde nur das Gefühl nicht los, dass alles mit dieser Firma zusammenhing. Auf keinen Fall wollte er mit ihnen zusammenarbeiten. Er hatte nie etwas gegen Genesis gehabt, es war eine Firma wie jede andere auch, aber seit HAVOC war er aufmerksam geworden. Irgendetwas stimmte nicht… Und trotzdem… Er wusste nicht, wo er jetzt weitersuchen sollte. Er konnte sich von ihnen ja zumindest in die richtige Richtung schubsen lassen. Im Moment würde er ihnen eh nicht weiterhelfen können – der einzige Vorteil war auf seiner Seite. Er atmete tief durch. „Na gut…“ Für gewöhnlich würden sich Viren in andere Dateien einbauen, meist in bestimmte Programme, durch die der Virus sich unbemerkt am Speicher zu schaffen machen kann. Um sich danach zu vermehren, suchten sie nach nicht infizierten Programmen, um sich auch dort abzuspeichern. Damit er infizierte von nicht infizierten Daten unterscheiden konnte, musste der Virus seine Wirte kennzeichnen. An dieser Stelle setzten die meisten Virenschutz-Programme an. Sie suchten nach diesen Kennzeichnungen und entzogen den betroffenen Programmen sämtliche Rechte. HAVOC unterschied sich in dieser Hinsicht von anderen Viren. Er war immer nur kurzzeitig da und löschte sich anschließend selbst. Die einzige Spur, die er hinterließ, waren fehlende Daten oder beschädigte Programme. Dabei konzentrierte er sich immer auf ein bestimmtes Ziel. Alle beschädigten Dateien hatten auf irgendeine, noch so entfernte und unscheinbare Art und Weise mit einer der Personen zu tun, auf deren Daten HAVOC es abgesehen hatte. Blieb also nur noch die Frage, wie der Virus sich diese Personen aussuchte…. Es war offensichtlich, dass ein Hacker hinter dem ganzen Programm steckte. Es gab viele Gegner von Genesis. Die meisten Menschen waren überfordert mit der Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts – selbst der Präsident hatte bereits darauf hingewiesen, dass die Firmen einen Gang runter schalten sollten. Doch wer würde so viel Schaden in Kauf nehmen, nur um ein Exempel zu statuieren? Und was hatten ein paar Jugendliche damit zu tun? Die einzigen Opfer des Virus waren junge Leute zwischen 13 und 20 Jahren. Bisher waren Personen auf dem ganzen Globus betroffen, bei den meisten arbeitete der Virus jedoch subtil und Genesis hatte sich schwer getan überhaupt zu bemerken, dass manche dieser Leute überhaupt betroffen waren. Hunter mitgezählt waren es nun gerade mal drei Leute, deren gesamte Informationen vernichtet wurden. Denn HAVOC hinterließ keine Datenreste, keine Kennzeichnung, kein gar nichts. Es war, als hätte ein schwarzes Loch die Informationen aufgesaugt. „Wir haben versucht herauszufinden, ob der Virus die Dateien vielleicht woanders abspeichert“, erzählte Miss Wilks, „Wir dachten, vielleicht versucht jemand seine eigene Digiwelt zu erschaffen. Eine Welt ohne Privatsphäre Einstellungen und Anonymität. Bisher haben wir aber noch nichts finden können. Es ist nur unser einziger Anhaltspunkt.“ Eine eigene Digiwelt? Hunter spielte nachdenklich mit ein paar Strähnen seines Pferdeschwanzes, mit der anderen Hand durchstöberte er das Tablet nach weiteren Informationen. Wozu sollte denn jemand eine eigene Digiwelt erschaffen wollen? Und selbst wenn jemand tatsächlich diese Absichten haben sollte, war sein Vorgehen doch total irrational. Warum konzentrierte er sich auf Personen und nicht auf Einrichtungen und Systeme? Für gewöhnlich nisteten sich die Viren zuerst an und kamen erst zum Einsatz, nachdem eine gewisse Wartezeit verstrichen war. HAVOC jedoch erschien, zerstörte und verschwand. Und das alles in weniger als einer Minute. „Vielleicht ist es ein metamorpher Virus?“, schlug Hunter vor. Die Möglichkeit, dass HAVOC noch immer an den Angriffsstellen war und nur seine Kennzeichnung geändert hatte, um sich zu tarnen, war relativ hoch. Zumindest in den Gebieten, in denen er nicht alles vernichtete, was er vorfand… „Unser leitender IT-Fachmann arbeitet zurzeit an einer ähnlichen Theorie“, antwortete Miss Wilks, „Die Möglichkeit besteht, aber ist schwer zurückzuverfolgen. Besonders, weil wir nicht auf alle betroffenen Systeme Zugriff haben. Der Virus zerstört zu viel…“ „Stealthviren?“, warf Hunter ein. „Nein, das haben wir bereits ausgeschlossen“, erwidere Miss Wilks, „Das Programm meldet uns, dass Dateien beschädigt wurden – oder gar gänzlich gelöscht. Und da SIMON immer noch einwandfrei funktioniert, handelt es sich auch nicht um einen Retrovirus.“ Hunter nickte nachdenklich. HAVOC war ein Fall für sich… Wer hatte einen Virus programmieren können, der so eigenständig arbeiten konnte, ohne auch nur eine geringste Spur zu hinterlassen? Der Klingelton von Miss Wilks‘ Handy ertönte. Sie entschuldigte sich, stand auf und ging ran. „Ja, ich bin bei ihm“, hörte er sie zwischen stetigen „Hmh“s und „Ja“s sagen. „Ich hab ihn aufgeklärt, ja“, fuhr sie fort, „Jetzt gleich? Bist du sicher?“ Schließlich legte sie das Handy wieder weg und wandte sich zu ihm um. „Mein Kollege“, erklärte sie. Hunter nickte. „Es ging um mich?“ „Ja. Mister Sterling glaubt, dass es eine Verbindung zwischen den betroffenen Personen geben muss. Man hat mich gebeten, Sie nach Boston zu bringen, damit wir Ihren Fall besser analysieren können“, antwortete Miss Wilks, „Sind Sie damit einverstanden?“ „Hab ich überhaupt eine Wahl?“, erwiderte Hunter und schmunzelte. „Theoretisch verbietet uns das Gesetz Leute gegen ihren Willen mitzunehmen“, erklärte Miss Wilks strikt, „Nicht zu kooperieren bedeutet für Sie allerdings den Verlust Ihrer Identität. Ich weiß nicht, ob das erstrebenswert klingt…“ Hunter schüttelte mit einem Lächeln den Kopf und erhob sich schließlich. „Schon in Ordnung. Ich packe nur kurz ein paar Sachen. Warten Sie bitte hier.“ Miss Wilks nickte, während er den Raum verließ. Das Firmengebäude versprach viele Möglichkeiten mehr über HAVOC und die Digiwelt herauszufinden. Vielleicht hatten die anderen Betroffenen tatsächlich ein paar nützliche Informationen. Vielleicht wurden sie auch angerufen… Er warf einen letzten Blick auf seine Pinnwand, nachdem er einen Rucksack gepackt hatte und die Tür ansteuerte. Hatte sein Großvater nicht gesagt, dass „sie“ beteiligt waren? Oder war das nur Wunschdenken? Hunter schüttelte den Gedanken ab. Im Moment war es wichtiger sich auf HAVOC zu konzentrieren, danach konnte er sich wieder um die Digimon kümmern. Bei dem Versuch sich abzulenken, machte er es sich während der Autofahrt zum Spaß Miss Wilks mit Fragen zu löchern und sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Die Frau war unglaublich strikt und steif – manchmal hatte er das Gefühl, sie würde ihm den Finger abbeißen, wenn er es wagte, sie anzufassen. Trotz der Albernheiten ließ ein Gedanke ihn nicht mehr los… „Hilf uns.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)