Cruel Fairytale von May_Be (- Hänsel & Gretel -) ================================================================================ Kapitel 14: Traum oder Wirklichkeit? ------------------------------------ Ich träumte von Ayumi. Sie lief lachend über die Wiese und schaute sich ab und zu nach mir um. Ihr weißes Sommerkleid wurde vom Wind aufgebauscht, doch sie störte sich nicht daran. Ihre langen, hellbraunen Haare waren offen und wippten von einer Seite zur anderen. Wir spielten Fangen, genauso wie damals, als wir noch Kinder waren. In der Realität konnte ich sie immer einfangen, aber im Traum kam ich einfach nicht voran, egal, wie schnell ich lief. Plötzlich zogen Wolken auf, der Himmel verdunkelte sich, wirkte bedrohlich. Ich wollte nach Ayumi rufen, ihr sagen, dass wir besser reingehen sollten. Doch kein einziges Wort kam aus meinem Mund – und Ayumi lief immer weiter und lachend vor mir davon. Selbst als es anfing zu regnen, trübte es nicht ihre Stimmung. Als es dann so aussah, als würde ich sie endlich einholen, war sie nicht mehr allein. Ayako war aufgetaucht und hielt meine Schwester im Arm. „Meine lieben Kinder“, murmelte sie und strich Ayumi sanft über den Kopf. Dann blickte sie zu mir und lächelte. Die Art, wie sie lächelte, wie sie mich ansah, verschlug mir die Sprache. Es sah genauso aus wie... Plötzlich blitzte und donnerte es, sodass ich erschrocken zum unheilvollen Himmel hinaufsah. Als ich meinen Blick wieder auf Ayumi und Ayako richten wollte, waren die beiden bereits verschwunden. Stattdessen packte mich jemand von hinten an der Schulter und riss mich herum. Das vertraute Gesicht und das süffisante Grinsen vor mir waren so lebensecht, dass ich es nicht fassen konnte. „Murai!“ „Wer denn sonst, du Arschgesicht!“ Ich lachte und weinte zugleich. Mein Gefühlsausbruch war selbst in einem Traum verstörend. Seit ich klein war, hatte ich nicht mehr geheult. Aber meine Freude über das Wiedersehen mit meinem Freund war so groß, dass mein Körper anscheinend nicht wusste, wie er es verarbeiten sollte. Yuji lachte nur und klopfte mir auf die Schulter. „Nun heul nicht wie ein Baby! Ich habe euch überall gesucht. Endlich habe ich dich gefunden.“ „Aber wie hast du…“ Ich konnte meinen Satz nicht beendet, da spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner Bauchgegend. Ich fasste mir automatisch an die Stelle und betrachtete dann meine blutverschmierten Hände. In Yujis Hand entdeckte ich ein blutiges Messer und sah ihn fassungslos an. „Wieso…“, brachte ich nur hervor und sackte kraftlos auf die Knie. Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum hatte er das getan? Yuji Murai – der mich immer beschützte, der mich stets maßregelte, wenn ich mal wieder eine sinnlose Prügelei anzettelte. Das ergab einfach keinen Sinn. Er trat mit seinem Fuß gegen meinen Oberkörper, sodass ich nach hinten ins Gras kippte, und setzte sich rittlings auf mich. Ohne etwas zu sagen, hielt er mir das Messer an die Kehle und betrachtete mich ruhig aus seinen unergründlichen kalten Augen. „Wir sehen uns in der Hölle, Hyde.“ Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Bedauern über seine steinharte Miene, doch bevor ich mir dessen ganz sicher sein konnte, schlitzte er meine Kehle auf und ich wachte mit pochendem Herzen auf. „Hyde… Hyde!“ Ayumis Stimme schien so weit weg zu sein und ich starrte sie eine Weile benommen an. Einen kurzen Augenblick wusste ich nicht einmal mehr, wo ich mich befand. „Du hattest einen Alptraum“, redete meine Schwester sanft auf mich ein und streckte ihre Hand nach mir aus. Reflexartig stieß ich sie weg, da ich immer noch den mörderischen Yuji vor meinem inneren Auge hatte. In der Dunkelheit des Zimmers konnte ich ihren fassungslosen Gesichtsausdruck erahnen. „Entschuldige“, murmelte ich und raufte mir das Haar. „Es ist nur…“ Ich seufzte, da ich nicht auf Anhieb die richtigen Worte fand. „Ich hatte von Murai geträumt.“ „Von Yuji?“ „Ja.“ „Und was hast du geträumt?“, hakte sie interessiert nach, da ich nichts mehr sagte. Ich rang innerlich mit mir, ob ich ihr nicht die Wahrheit sagen sollte. Nur hatte ich Angst, dass es sie verstören könnte. Und wenn ich mir jetzt auf die Schnelle irgendeine harmlose Version ausdachte, würde sie es mir eh nicht abkaufen. „Er hat mich umgebracht. Im Traum, meine ich. Er hat mich erstochen.“ Es schien so lächerlich, kaum hatte ich die Worte ausgesprochen. „Aber wie ich schon meinte“, sprach ich schnell weiter, wie um mich selbst zu überzeugen, „es war nur ein dummer Traum. Nichts weiter.“ Ayumis Schweigen überraschte mich nicht. Sie war sicher geschockt von meinem grotesken Innenleben. Ich wollte sofort das Thema wechseln und sie fragen, was sie überhaupt mitten in der Nacht hier zu suchen hatte, da sagte sie etwas, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich hatte das auch geträumt.“ Ihre Stimme zitterte leicht, doch es hörte sich nicht nach einem Scherz an. „Was?“, gab ich etwas dümmlich von mir. „Dass du stirbst“, sagte sie leise, als könnten ihre Worte Wirklichkeit werden, wenn sie es laut aussprach. „Das habe ich heute Nacht auch geträumt.“ Am Ende brach ihre Stimme ganz ab und sie fing an zu weinen. Ich wusste nicht, was mich in diesem Moment mehr erschütterte – ihre Worte oder ihr Schluchzen. Ich nahm sie in den Arm und ließ mich zusammen mit ihr zurück aufs Sofa fallen. Es war zwar klein für zwei Personen, aber da Ayumi so zierlich war, passte es grade noch. „Das war nur ein Zufall“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Außerdem war das nur ein Traum. Ich lebe ja noch!“ Ich versuchte das ganze ins Lächerliche zu ziehen, doch Ayumis Zustand machte das ganze nicht gerade einfach. „Aber warum haben wir das gleiche geträumt? Das kann kein Zufall sein!“ Ich dachte einen Augenblick darüber nach und erwiderte: „Hast du denn auch wirklich dasselbe geträumt?“ „Wie meinst du das?“ „Na, hast du denn zum Beispiel auch geträumt, dass Yuji mich umgebracht hat?“ „I-ich weiß es nicht.“ „Hast du geträumt, dass er mich erstochen hat?“ „Also ich… bin mir nicht sicher.“ „Na siehst du! Alles halb so schlimm!“, sagte ich nach außen hin überzeugend, doch innerlich war mir immer noch mulmig zumute. Ayumi schwieg, doch ich spürte, dass es damit noch nicht gegessen war. „Aber du warst tot, Hyde. Du lagst im Gras, dein Hemd war voller Blut. Deine Hand lag auf deinem Bauch und deine Augen waren weit aufgerissen, als hätten sie den Tod höchstpersönlich gesehen.“ Ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich ihr zuhörte. Konnte es etwa doch sein, dass unsere Träume identisch waren? „Erinnerst du dich noch daran, was du anhattest?“, fragte ich unvermittelt und wartete angespannt auf ihre Antwort. Ayumi schien einen Augenblick darüber nachzudenken. „Ich glaube, es war ein weißes Kleid. Wieso?“ Obwohl ich lag, wurde mir ganz schwindlig. Meine Theorie, dass es sich nur um einen Zufall handeln musste, geriet ins Wanken. Ich brachte kein vernünftiges Wort über die Lippen. Ayumi berührte meine Wange und zwang mich, sie anzusehen. Selbst durch die Finsternis spürte ich deutlich ihren direkten Blick auf mir. „Hör bitte auf, mir etwas vorzumachen, Hyde. Ich bin nicht mehr das kleine, hilflose Mädchen, das von dir beschützt werden muss.“ Ich spürte, wie sich mein Herz verkrampfte. Was sollte das denn jetzt heißen? Wo kam auf einmal ihr Mut her? Vermutlich, weil wir uns von Masami befreit hatten. Jetzt hatte sie nichts mehr zu befürchten. Dennoch war es unangenehm, diese Worte aus ihrem Mund zu hören. Meine Aufgabe war es, sie zu beschützen. Das war mein Lebenssinn. Wenn er verschwand, was hatte ich dann noch? „Ich soll dich also nicht mehr beschützen?“ Ich konnte die Bitterkeit in meiner Stimme nicht unterdrücken. „Wie du willst. Wir hatten vielleicht doch denselben Traum. In meinem Traum trugst du nämlich auch ein weißes Kleid.“ „Ich wusste es“, murmelte sie ehrfürchtig. „Ich war noch nicht fertig. – Ich träume solches Zeug schon, seit wir in diesem verfluchten Aokigahara festsitzen. Ich träume jede Nacht grausame Dinge, Ayumi. Du glaubst nicht, in wie vielen Träumen ich schon gestorben bin. Aber der grausamste Traum ist diese verdammte Realität, in der ich dich nicht haben kann.“ Die letzten Worte waren unaufhaltsam über meine Lippen gekommen. Die Grenze, die ich über die Jahre mit eisernem Willen aufrechterhalten hatte, hatte ich in diesem winzigen Moment der Schwäche überschritten. „W-was sagst du da…?“ „Du hast mich schon verstanden.“ Ich drückte sie zurück in die Kissen und sagte mit belegter Stimme: „Du hast gesagt, ich soll dich nicht mehr beschützen. Also muss ich dich auch nicht mehr vor mir beschützen.“ Meine Lippen senkten sich auf ihre, als würde eine dunkle Macht mich dazu drängen. In jedem Augenblick erwartete ich Widerstand, Geschrei, Schläge, alles, nur nicht das, was tatsächlich folgte. Sie lag still da und regte sich nicht. Ich dachte zuerst, sie hätte das Bewusstsein verloren, doch dann legte sie ihre Arme um meinen Hals und drückte sich dem Kuss entgegen. Völlig perplex verharrte ich in der Position, in der ich war. Das Blut rauschte mir in den Ohren. Kurz überlegte ich einen Rückzieher zu machen, doch mein Wille war schwach. Ich verdrängte alle moralischen Grundsätze, alle Versprechen, die ich mir je gegeben hatte und gab mich meiner dunklen Begierde hin. Es war falsch und das wussten wir beide. Doch es spielte keine Rolle mehr. Hier, in diesem verfluchten Wald, waren wir nur zwei Menschen, die einander liebten. Sünde. Ich horchte auf, als ich das Flüstern hörte, und löste mich von ihren Lippen. „Was hast du?“, murmelte Ayumi mit belegter Stimme. „Hast du es nicht gehört?“ „Nein. Was denn?“ Mein Verstand spielte mir scheinbar schon Streiche. Ich schüttelte den Kopf, wie um meine Gedanken zu verdrängen, und wandte meine Aufmerksamkeit meiner Schwester zu. Nein. Sie war nicht meine Schwester. Nicht jetzt. In dem Moment, in dem ich sie erneut küssen wollte, hörte ich es wieder und diesmal war ich mir das ganz sicher. Sünde. „Hörst du es denn wirklich nicht?“ Wo kam das nur her? Ich setzte mich auf und sah mich um. Und da stand sie. Wieder am Fußende des Sofas. Ich konnte nur ihre Umrisse erkennen und dieses eine Wort, was sie immer wieder wie in Trance sagte. Mich erfasste blankes Entsetzen, doch ich war unfähig mich zu rühren. Dann wurde es still. Sie schien erst jetzt bemerkt zu haben, dass ich sie ansah. Sie hob langsam ihren Kopf und stürzte sich plötzlich auf mich, indem sie immer wieder Sünde schrie. Mit einem Schrei erwachte ich aus diesem entsetzlichen Alptraum, der mich in den Grundfesten erschütterte. Ein Traum? Es war alles nur ein Traum! Beinahe hätte ich laut losgelacht. Natürlich! Ayumi würde sich nie von mir küssen lassen. Das war undenkbar! Ja, sie würde meine Gefühle nie erwidern… „Hyde?“ Ayumis verschlafene Stimme riss mich jäh aus meinen Gedanken. „Ayumi!? Was tust du hier?“, stieß ich hervor. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie neben mir lag und sich nun langsam aufsetzte. Vor dem Fenster brach der Tag langsam an und die ersten Lichtstrahlen stahlen sich ins Zimmer der kleinen Hütte. Ayumi sah mich mit einem müden Lächeln an. „Was ich hier mache? Du Dummerchen, ich habe doch hier geschlafen. Gestern Nacht hatte ich einen Alptraum und bin zu dir gekommen.“ Ich hatte langsam das Gefühl verrückt zu werden. Was war Traum, was Wirklichkeit? Die Grenzen schienen ineinander überzulaufen, sodass ich kein Gefühl mehr für Realität hatte. Wenn das was sie sagte, der Wahrheit entsprach, hatten wir uns dann…? Ich packte meine Schwester an den Schultern und sah ihr ernst in die Augen. „Was… ist danach passiert? Nachdem du zu mir gekommen bist.“ Ich traute mich nicht, es direkt beim Namen zu nennen und sie zu fragen, ob wir uns letzte Nacht geküsst hatten. Schon allein der Gedanke daran, versetzte mich leicht in Panik. „Hyde, du machst mir Angst…“ Ich schüttelte sie leicht, aber entschlossen. „Was ist danach passiert?!“, wiederholte ich und ihre großen grünen Augen sahen mich verständnislos an. „Nichts. Wir sind dann irgendwann eingeschlafen.“ Erleichterung mischte sich mit Enttäuschung, doch ich ließ mir nichts anmerken. „Du hattest wohl wieder schlecht geträumt“, hörte ich sie sagen, nachdem ich sie losgelassen hatte. „Hast du wieder denselben Traum geträumt?“ Sie musste meinen verstörten Blick bemerkt haben, dennoch fuhr sie unbeirrt fort. „Es war kein Zufall, dass wir letzte Nacht dasselbe geträumt haben. Es muss ein böses Omen gewesen sein.“ Ihre Worte ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Was ging hier vor? Seit wir in Aokigahara waren, träumte ich wirres Zeug und jetzt konnte ich die Realität nicht einmal mehr von meinen Träumen unterscheiden. Vielleicht wurde ich ja wirklich verrückt. Aber abgesehen davon… Wie konnte es sein, dass Ayumi denselben Traum hatte wie ich? Langsam aber sicher manifestierte sich eine tiefgehende Unruhe in meinem Inneren. Ich glaubte an keine Omen so wie meine Schwester, aber ich wusste, dass das hier nicht mit rechten Dingen zugehen konnte. Außerdem beschlich mich das komische Gefühl, dass ich noch etwas anderes, äußerst Wichtiges vergessen hatte. Eine Erkenntnis aus meinen Träumen. Doch egal, wie sehr ich mich versuchte daran zu erinnern, ich bekam den Gedanken einfach nicht zu fassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)