Durch alle Zeiten von Platan (Zu deinem Herzen) ================================================================================ Hiroto ist auch nur ein Mensch ------------------------------ Hanamoto schnaubte verächtlich, wodurch eine kleine Dunstwolke in der kalten Luft entstand. Der Winter blieb auch im Februar immer noch deutlich spürbar, aber Tsukasa störte das eher weniger, zumal er wusste, dass Miyako diese Jahreszeit durchaus mochte. Dann konnte sie sich nämlich in mehrere Schichten aus Kleidung einpacken und musste nicht mehr viel Haut zeigen. Dabei musst du dich überhaupt nicht schämen, dachte er für sich. Ein rötlicher Schimmer war auf seinen Wangen zu sehen. Du bist süß. Schnell riss er sich selbst aus diesen Gedanken heraus, sonst könnte Hanamoto etwas davon bemerken. Es war sowieso schlimm genug, dass sie von seinen Gefühlen für Miyako wusste. Wie konnte so jemand ihre beste Freundin sein? Sie war vorlaut und direkt, scheinbar ohne jegliches Mitgefühl für diejenigen, die sie nicht leiden konnte. Genau das bewies sie auch heute wieder, indem sie über Hiroto herzog: „Er nimmt es einfach so in Kauf, dass Miyako leidet. Egal, ob es der Hiroto Tokihara aus der Gegenwart oder Zukunft ist, er bleibt ein Mistkerl. Kommt zur Schule, als sei nichts gewesen.“ „Soll er etwa ab jetzt aus Reue ewig den Unterricht schwänzen oder gleich die Schule wechseln?“, fragte Tsukasa monoton. Natürlich blieb Hanamoto stur und murrte als Antwort: „Das wäre mal ausnahmsweise eine gute Aktion von ihm.“ „Du machst es dir wirklich viel zu leicht, was Hiroto betrifft.“ „Mehr ist er eben nicht wert“, sagte sie kühl. „Und ich hasse dreidimensionale Jungs.“ Tsukasa verdrehte genervt über diese Aussage die Augen, schwieg sich aus dem Gespräch heraus und hielt lieber weiter nach Miyako Ausschau. Immerhin verbrachte er nur wegen ihr gerade widerwillig Zeit mit dieser Hanamoto, sonst gäbe es keinen Grund dafür. Jeder von ihnen hätte sonst etwas Besseres zu tun. Überpünktlich waren sie beide beinahe zeitgleich am Treffpunkt gewesen und warteten seitdem auf Miyako, mit der sie an diesem Wochenende ihre Freizeit verbringen wollten, um sie von ihren Sorgen abzulenken. Das Mädchen, das ihnen mehr als alles andere auf der Welt bedeutete. Noch war Miyako nicht zu sehen. Ob sie verschlafen hatte? Durch die zahlreichen Zeitsprünge wusste Tsukasa, dass sie eigentlich gerne lange ausschlief, statt auch an freien Tagen früh aufzustehen, doch ihre Mutter weckte sie meistens zum gemeinsamen Frühstück. Seinetwegen hätten sie sich ruhig etwas später treffen können. Gestern war Miyako aber selbst diejenige gewesen, die sich zu solch früher Stunde treffen wollte, vermutlich um sich irgendwie bei Hanamoto und ihm zu revanchieren. Aufmerksam beobachtete Tsukasa das Treiben der Menschen, Hanamoto blätterte derweil in dem neuen Manga herum, den sie sich vorhin im Buchladen gekauft hatte. Genau davor standen sie nun schon seit einer Weile und warteten auf Miyako, wie Statuen, deren Zeit stehengeblieben war. Auf gewisse Art und Weise stimmte das sogar. Er bereute es nach wie vor nicht, den Schlüssel benutzt zu haben. Vielmehr fragte er sich, wo er sein könnte. „Wieso verbringst du deine Zeit überhaupt damit?“, lenkte Hanamoto seine Aufmerksamkeit auf sich. Irritiert wandte er den Blick zu ihr. Obwohl sie ihm eine Frage gestellt hatte, blieb sie in den Manga vertieft. Das Glas ihrer Brille war unnatürlich klar und rein, was ihre Augen noch stechender wirken ließ. Sacht spielte der Wind mit ihren langen, schwarzen Haaren, das sich ebenfalls hervorhob, durch ihr blasses Gesicht. Ratlos neigte Tsukasa den Kopf. „Was genau meinst du?“ „Hiroto Tokihara“, betonte sie nachdrücklich. „Warum tust du nach etlichen Zeitsprüngen, in denen du miterlebt hast, was er unserer Miyako angetan hat, weiterhin so, als wärst du sein Freund? Verfolgst du damit einen Plan?“ Unsere Miyako? Wieder erhitzte sich sein Gesicht, auch wenn er nicht verstand, was genau sie damit ausdrücken wollte. Bedeutete das, für sie war es in Ordnung, Miyako mit ihm zu teilen? Darüber dachte er besser nicht genauer nach, sondern sollte froh darüber sein, dass sie ihn nicht genauso verachtete wie Hiroto. Wirklich interessant oder liebenswert war Tsukasa laut ihrer Aussage nämlich auch nicht. Eben … dreidimensional. „Ich tue nicht so“, korrigierte er sie. „Ich bin sein Freund.“ Ungläubig hob sie den Blick und sah ihn mit einem Ausdruck an, als sei er verrückt geworden. „Wie bitte? Du liebst Miyako, aber willst gleichzeitig der Freund von diesem Mistkerl bleiben?“ „Hiroto ist auch nur ein Mensch, genau wie du und ich.“ „Das entzieht sich dennoch meiner Logik“, zischte sie leise. Tsukasa brach den Augenkontakt ab und starrte in die Ferne, irgendwo in die Menschenmasse hinein. „Du kennst ihn eben nicht. Nicht so, wie ich ihn kenne.“ Energisch klappte sie den Manga zusammen, was er nur als dumpfen Laut wahrnahm. Ein unangenehmer Schauer verriet ihm, dass ihr Blick noch auf ihm ruhte und sich regelrecht in ihn hinein zu brennen versuchte. Äußerst unangenehm. Auch ihre Stimme klang vorwurfsvoll. „Du verteidigst ihn nicht gerade wirklich, oder?“ „Er kann es selbst schlecht machen, wenn er nicht anwesend ist.“ „Ich mache mir einfach nur verdammte Sorgen um Miyako.“ Das leichte Zittern in ihrer Stimme spiegelte ihre innere Wut wider. „Deshalb passt es mir nicht, dass sie durch dich weiterhin indirekt Kontakt zu Hiroto hat.“ „Ich heiße nicht gut, was Hiroto mit Miyako gemacht hat – oder noch tun wird“, stellte Tsukasa klar. Bei den letzten Worten versagte seine Stimme. Hoffentlich käme es nicht so weit, dass sie alles nochmal von vorne erleben müssten und sich doch wieder nichts änderte. Bislang war es jedes Mal so gewesen, egal, was er versuchte. Genau wie Hanamoto fürchtete Tsukasa sich insgeheim davor. Zeitsprünge führten nur in einen endlosen Teufelskreis. Ernst sprach er weiter: „Aber ich finde es ziemlich unfair, Hiroto deswegen nur noch fertig zu machen. Im Gegensatz zu mir oder Miyako hat er schon immer ein schweres Leben gehabt.“ Was Tsukasa schon so oft von ihm zu hören bekommen hatte, dass es ihm längst zum Hals heraus hing. Manchmal schien Hiroto sich mit seiner Rolle als Opfer abgefunden zu haben. Schlimmer war aber, wie er in anderen ein schlechtes Gewissen einpflanzte, nur weil sie ein glückliches Leben führten. Eines, das er nicht hatte und auch nicht im Ansatz kannte. Ob gewollt oder unbewusst, für Tsukasa war das ziemlich belastend. Er tat schon was er konnte, um Hiroto zu helfen. Seine ganze Familie tat das. Jederzeit durfte sein Freund bei ihnen essen, duschen und schlafen, falls es bei ihm zu Hause wieder mal Ärger gab. Ein bisschen musste Hiroto allerdings auch selbst unternehmen, damit er aus diesem Tief herauskam, denn darin zu versinken machte nichts besser. Leider schien Hiroto durch seinen bisherigen Lebensweg emotional derart abgestorben zu sein, dass ihm diese Fehler gar nicht auffielen. „Hiroto fand in Miyakos Schwester das erste Mal in seinem Leben heraus, wie sich Liebe anfühlt“, erklärte Tsukasa weiter. Äußerlich wirkte er ausdruckslos, dafür bebten seine Gefühle innerlich umso mehr, mit jedem einzelnen Wort. „Würdest du dann nicht auch alles tun, um diese Liebe festzuhalten? So wie du für Miyako alles tust, damit sie nicht stirbt?“ Diesmal lag in seinen Augen ein anklagendes Flackern, mit dem er zu Hanamoto schielte. „Ja, Hiroto geht dabei etwas zu weit, das gebe ich zu. Aber kannst du ihm das wirklich verübeln?“ Anscheinend war Hanamoto ein wenig sprachlos, was ein ungewohntes Bild darstellte. Zu gern hätte Tsukasa davon ein Foto gemacht und es für die Ewigkeit festgehalten. Dummerweise gewann sie schnell ihre übliche Fassung zurück und kämpfte gegen seine ausdruckslose Miene an, indem sie selbst keinerlei Regung in ihrem Gesicht zeigte. „Ich nehme es ihm übel, ja“, blieb sie eisern. „Weil mir Miyako mehr bedeutet, als-“ Plötzlich verstummte sie und brach mitten im Satz ab. Erschrocken weiteten sich ihre Augen und in ihrem gesamten Gesichtsausdruck war die Erkenntnis abzulesen, von der sie in diesem Moment heimgesucht wurde. Wenigstens war Hanamoto zur Selbstreflexion fähig, woran sich viele andere ein Beispiel nehmen konnten. „Sieht so aus, als hättest du verstanden, worauf ich hinaus will.“ „Nein, ich-“ „Hiroto ist kein schlechter Kerl“, versicherte Tsukasa ihr, womit er sie unterbrach. „Sonst hätte sich Miyakos Schwester, geschweige denn sie selbst, wohl kaum in ihn verliebt.“ Ein Hauch von Scham zeigte sich in ihrer Mimik, weshalb sie hastig den Blick senkte und den Manga in ihren Händen drehte. „Ich verstehe dich trotzdem nicht.“ „Hm, ich bin wohl einfach ein besserer Mensch als du“, scherzte er, mit dem Ziel, sie zu necken. „Ich meine, ich hänge ja auch mit einer ab, die auf Schwulenpornos steht, obwohl das eigentlich total widerlich ist.“ „Boys Love Manga sind keine Pornos!“, knurrte sie außer sich. Statt noch mehr zu sagen, verstummte Hanamoto erneut und hielt panisch die Luft an. Einige Leute in der Nähe waren durch ihren lauten Ausbruch auf sie aufmerksam geworden und starrten sie verstört an, tuschelten miteinander. Überrascht hob Tsukasa eine Augenbraue und beugte sich etwas vor, um ihr besser ins Gesicht schauen zu können. „Ich dachte, es kümmert dich schon lange nicht mehr, was andere über dein Hobby denken?“ „Tut es auch nicht!“, keifte Hanamoto und drückte den Manga an sich. „Es ist mir aber auch zuwider, mit Typen wie dir dann noch länger herumzuhängen, wenn du das so abwertend siehst.“ „Abwertend?“ Tsukasa lehnte sich zurück und begann heiter zu lachen. „Hanamoto, du kennst mich doch inzwischen. Es ist mir egal, was für ein Hobby du hast, weil das jedem selbst überlassen bleibt. Ich verurteile dich deswegen nicht.“ Ein bedrücktes Lächeln schlich über seine Lippen. „Ich verurteile dich genauso wenig wie Hiroto, weil ihr für das, was ihr tut, eure Gründe habt, aber damit keine negativen Ziele verfolgt. Du wirkst von außen kalt und unnahbar, machst sicher auch mal Fehler, bist deshalb aber nicht schlecht. Außerdem seid ihr beide mit Miyako verbunden und ihr wichtig, weil sie ebenso über Fehler und Macken anderer hinwegsieht und wenn, dann zuerst bei sich danach sucht. Darum ...“ … liebte Tsukasa sie so sehr. Egal, was er tun musste, er wollte Miyako retten, aber auch nicht vergessen, was er an ihr so liebenswert fand. Sie würde Hanamoto bestimmt niemals aufgeben und das gleiche galt für Tsukasa in Bezug auf Hiroto. Zu einer Person zu stehen, auch in schweren Zeiten, war hart, doch es lohnte sich am Ende. Miyako sprang sogar einst in ihren Tod, weil sie geglaubt hatte, so nicht mehr im Weg zu stehen und das Glück anderer zu zerstören. „Unglaublich“, murmelte Hanamoto leise. „So ein Verhalten ist viel zu großzügig.“ Fragend sah Tsukasa sie an, doch mehr als diese Aussage erhielt er nicht. Es genügte ihm trotzdem, etwas hinter Hanamotos Verhalten zu vermuten. Offensichtlich machte sie sich viele Gedanken um ihn, weil er ständig mit Hiroto zusammen war und noch dazu sein Schlüssel verschollen blieb. Sie wollte sicher nicht, dass ihm auch etwas geschah, nachdem er schon so lange um Miyakos Leben kämpfte. Auf ihre Art mochte sie Tsukasa vielleicht sogar, sonst würde jemand wie Hanamoto garantiert nicht eine Sekunde mit ihm alleine aushalten. Anders als Miyako und er war sie nicht dazu in der Lage, anderen mehr als eine Chance zu geben. Für sie musste das eine beeindruckende Gabe sein, wie ihm bewusst wurde. Zu gern hätte er sie damit aufgezogen, aber er verzichtete in dieser Sekunde darauf. „Vielleicht bin ich durch die ganzen Zeitsprünge inzwischen nur erwachsen geworden, geistig.“ Kurzzeitig deutete Hanamoto ein Schmunzeln an. „In deinen Träumen vielleicht.“ „Musst du jedes Gespräch eigentlich mit einem bissigen Kommentar runterziehen?“ „Das ist eben meine Art: Ich bin ehrlich.“ „Wie auch immer, wir kriegen das schon hin“, machte er ihnen Mut, womit er das Thema abschloss. „Hana-chan!“, drang Miyakos Stimme auf einmal aus der Menschenmasse hervor. „Shirota-kun!“ Sofort wurden sie beide hellhörig und setzten sich in Bewegung, kamen ihr entgegen. Erschöpft kämpfte Miyako sich an den Personen vorbei und atmete erleichtert auf, als sie endlich zu ihnen stieß. Entschuldigend erklärte sie, den Wecker nicht gehört zu haben, wie Tsukasa es sich gedacht hatte. Weder er noch Hanamoto tadelten sie deswegen, letztere gab ihr nur den Rat, sich demnächst mehr als einen Wecker zu stellen und nicht bis spät in die Nacht Videospiele zu zocken. Über das Gespräch von vorhin verloren sie in Miyakos Gegenwart kein Wort mehr, sondern konzentrierten sich voll und ganz auf sie. Wie es Hiroto gehen mochte? Auf Textnachrichten antwortete er nicht, Tsukasa hatte es mehrmals versucht. Sicher saß er zu Hause und verachtete sich selbst, so wie immer. Momentan war Tsukasa ihm wahrlich kein guter Freund, aber er vergaß ihn nicht. Miyako, Hiroto und Hotaru … irgendwie mussten sie zu retten sein. Nur dann könnten alle glücklich werden. Bis jetzt hatte Tsukasa aber nicht mal einem von ihnen helfen können, aber er gab nicht auf. Niemals. Zu diesem Zeitpunkt konnte Tsukasa noch nicht ahnen, dass der Hiroto aus einer ferner Zukunft tatsächlich endlich beschlossen hatte, seinem Elend ein Ende zu setzen und selbst etwas dagegen zu tun. Dieses Handeln sollte aber nicht so verlaufen, wie Tsukasa es sich gewünscht hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)