Der Schnitt von Suzette_Godault (-- eine Studie in Rot) ================================================================================ Kapitel 3: III -------------- Unser Leben änderte sich noch in jenem Sommer von einer Sekunde zur anderen. Und ich erinnere mich noch genau daran. Wir waren auf der Geburtstagsparty einer seiner Freunde gewesen. Ludo, so hieß er und studierte, ebenso wie François, Astrophysik. Eingeladen hatte dieser Ludo nur Jungs aus seinem Studienjahr. „Wir können den Mädels die Sterne vom Himmel holen“, lachte er immer wieder in die Runde. „Obwohl, François, du brauchst es ja nicht mehr … Du hast ja schon deine Sabine.“ Augenblicklich herrschte Stille im Raum und aller Augen waren auf uns gerichtet – auf uns, die wir gemeinsam auf den einzigen Stuhl im Raum saßen – ich auf François’ Schoß. „Die Jungs wollen wissen, wie das so ist“, sagte Ludo und deutete auf seine Freunde. François und ich sahen einander an. „Wie?“ „Na ja…ihr beide, wie ist das so?“ „Wunderbar“, flüsterte ich, strich François durchs Haar und er hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze. „Denkt ihr ans Heiraten? Vielleicht nach der Uni? Und wollt ihr mal Kinder haben?“ Wieder sahen wir uns an. Wir hatten noch nie über die Zukunft gesprochen, noch nie über gemeinsame Träume, denn das, so spürte ich, brauchten wir nicht. Wir lebten einfach zusammen in unserer kleinen Wohnung im 9. Pariser Arrondissement. Des Tags gingen wir unseren Studien nach und am Abend trafen wir uns wieder in unserem Spatzennest. Das Bett war noch immer das größte Möbel im Raum … „Nun sagt schon!“, drang Ludo in uns. Wir küssten uns und ich spürte François’ Lippen auf den meinen. Sie schmeckten nach diesem Geheimnis, das mich vom Anbeginn unserer Beziehung gefangen nahm. Was genau war es, was mich so sehr an François band, dass ich keinen Moment ohne ihn sein wollte? Manchmal dachte ich darüber nach, fand aber keine Antwort und spürte dann eine Art Melancholie oder Traurigkeit in mir, die ich mir nicht recht erklären konnte. Aber in diesem Moment, da ich die Blicke der Jungs auf uns gerichtet wusste und ihr leises Lachen und Tuscheln vernahm, war ich froh darum, nicht zu wissen, wonach François für mich schmeckte. Ich wusste nur, dass es mir unheimlich gut tat, ihn zu spüren, sodass ich immer mehr und mehr von ihm haben wollte. François war mein Mann, ich, Sabine, seine Frau – was gab es da noch groß zu reden? Hätte einer von uns beiden den anderen gefragt, ob wir in eine größere Wohnung umziehen wollen, hätte der andere zugestimmt. Ja, nach dem Studium, wenn jeder seine Arbeit hat. Wäre die Sprache aufs Heiraten und Kinder gekommen, wären wir uns auch darüber einig gewesen. Wir brauchten diese Gespräche über die Zukunft nicht, nicht den Traum vom eigenen Heim, aus dem wir uns ein Nest der Liebe und Leidenschaft zaubern wollten. Und den sehnsuchtsvoll-romantischen Blick zum Sternenhimmel über Paris brauchten wir ebenso wenig, denn wir lebten, wir träumten nicht. Und wenn wir doch durch François’ Teleskop sahen, dann nur, um unter anderem M31, unsere unmittelbare Nachbargalaxie, besser bekannt als Andromeda-Nebel, zu erspähen. Mit ihren 140.000 Lichtjahren Durchmesser nahm sie sich jedoch wie ein kleiner diffuser Punkt hinter der Linse aus. „2,5 Millionen Lichtjahre Entfernung kann man nicht einfach so überbrücken, jedenfalls nicht mit diesem Teleskop“, flüsterte François und strich mir über den Rücken. Ich sah auf und unsere Blicke trafen sich. Seine Augen funkelten. Unvorstellbar, 2,5Millionen Lichtjahre von uns entfernt, das bedeutet, dass das Licht 2,5 Millionen Jahre von Andromeda zu uns brauchte. Wir sahen sie also an jenem 25.07. abends um halb 11 Uhr so, wie sie ausschaute, als sich hier, auf der Erde, gerade der Homo habilis aus dem Australopithecus africanus entwickelte. An uns, den Homo sapiens, war da noch lange, lange nicht zu denken … Wir tauchten erst vor rund 200.000 Jahren auf der Bildfläche der Evolution auf. Mir wurde bei diesem Gedanken schwindlig und ich musste vom Teleskop zurücktreten. „Wenn Andromeda schon so weit von uns entfernt ist, wie groß ist dann das Weltall an sich?“ François nahm mich bei den Händen und küsste mich. „Wie groß?“ „Allein der Radius des sichtbaren Universums beträgt mindestens 46,6 Milliarden Lichtjahre.“ Ich blies die Wangen auf und François grinste dieses verschmitzte Grinsen, das ich so sehr an ihm mochte. Im März, kurz nachdem wir zusammengezogen waren, hatten wir uns immer wieder den rotschimmernden Beteigeuze angesehen – den an die 600 Lichtjahre entfernten Schulterstern des Orion. Mit 20 Sonnenmassen ein riesiger Bruder unseres heimatlichen Gestirns. Ich mochte diesen Stern und freute mich jeden Abend darauf, ihn auf meiner Reise durch die Wintersternbilder betrachten zu können. Eine winzige rote Scheibe, manchmal nur leicht, manchmal stärker flackend. „Sieh ihn dir genau an, denn er irgendwann stirbt“, sagte François eines Abends ganz unverhofft und ich fuhr herum. „Was? Was heißt das?“ „Dass er gerade dabei ist, seine Energieressourcen aufzubrauchen“, erwiderte er schulterzuckend, „und wenn er das getan hat, dann …“ „Was dann? … Ist er dann weg? Fehlt dem Orion dann sein Schulterstern?“ „Kein Stern verschwindet“, flüsterte er und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. „Und Beteigeuze wird aufgrund seiner Größe zuerst zur Supernova und dann wohl zum Neutronenstern.“ „Supernova?“ Ich sah ihm noch immer in die Augen und er nickte, trat dann hinter mich und legte seine Arme um mich. „Eine gewaltige Explosion, die für Bruchteile von Sekunden heller leuchten kann als eine ganze Galaxie. Und soll ich dir noch etwas verraten?“ „Ja …“ Ich lehnte mich an ihn und er hauchte mir einen Kuss auf die Wange. „Er kann jeden Moment explodieren.“ „Wirklich?“ „Vielleicht ist er auch schon explodiert …“ Ich wandte mich um. „… und das Licht der Supernova hat uns nur noch nicht erreicht? Das heißt, für uns existiert der Stern noch, obwohl er sein Leben in Wahrheit schon ausgehaucht hat?“ Er nickte und zuckte zugleich mit den Schultern. „Niemand weiß es genau.“ Und dann erklärte er mir, dass es im selben Sternbild einen Nebel unter den drei markanten Gürtelsternen gebe. Ich sah durchs Teleskop und erkannte nur einen blassen Schimmer. „Hier entstehen neue Sterne …“ Stéphane sagte mir einmal, dass jedes Paar seine eigenen Gewohnheiten und Rituale entwickeln würde, um sich der Illusion hingeben zu können, dass etwas ganz Besonderes zwischen ihnen existiere. Ich sehe es anders: jedes Paar entwickelt ganz unweigerlich seine eigenen Rituale, ob es will oder nicht, weil es von einer besonderen Kraft, die zwischen ihnen herrscht, getrieben wird. François und ich –wir beide – stellten regelmäßig das Teleskop auf unserem kleinen Balkon auf und sahen hindurch. Ebenso gingen wir in manch lauer Sommernacht am Ufer der Seine spazieren, dort, wo Touristen nicht hinfanden. Und eben das würden wir auch nach der Party bei Ludo wieder tun. Die Nacht war einfach zu schön. Sie war wie eine große Halle mit unzählig vielen Türen, hinter denen sich wiederum unzählig viele Geheimnisse verbargen und nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Wir würden erst in den frühen Morgenstunden den Weg zurück in unser Zimmer finden. Manchmal blieben wir nach solchen Nächten einfach den ganzen Tag über im Bett. Wir konnten stundenlang nur so daliegen, uns streicheln, uns Worte zuflüstern oder uns einfach nur in die Augen sehen, während wir uns bei den Händen hielten. Noch konnten wir so leben, aber bald würde ich eine Zeit lang nach Freiburg gehen, um im Edmund-Husserl-Archiv zu arbeiten. Und er, er würde für einige Wochen nach Chile fliegen, um dort in den Anden bei geringer Lichtverschmutzung die Sterne noch besser beobachten zu können. Aber unser Leben, das, was wir uns aufgebaut hatten, das würde darunter nicht leiden. Das wussten wir beide – auch ohne Worte. „François, kommst du mit in die Küche? Es wird Zeit, um den Salat anzurichten und die Baguettes in den Ofen zu werfen“, unterbrach uns Ludo. Sofort erhoben wir uns. „Das heißt, wenn ihr euch voneinander trennen könnt.“ François grinste, fuhr sich mit beiden Händen über den Hintern, dann gab er mir einen Kuss und folgte Ludo. Ich sah den beiden nach und blieb einige Augenblicke unschlüssig im Raum stehen. Die übrigen Jungen betrachteten mich und schwiegen. Sie erinnerten mich an Autisten, wie sie so dasaßen und nicht recht wussten. Heute würde man sie wohl Nerds nennen. „Unvorstellbar, wie weit die Andromeda-Galaxie von uns entfernt ist … 2,5 Millionen Lichtjahre … Ich kann mir noch nicht einmal vorstellen, wie groß ein Lichtjahr ist, geschweige denn …“, versuchte ich das Gespräch in Gang zu bringen. Keiner sagte ein Wort. „… vielleicht könnt ihr mir das erklären … Ein Lichtjahr definiert sich doch als die Strecke, die das Licht innerhalb eines Jahres zurücklegt. Und wenn das Licht 300.000 Kilometer pro Sekunde zurückgelegt … warum eigentlich ausgerechnet 300.000 Kilometer pro Sekunde? Warum nicht 450.800? Wer sagt, dass es 300.000 Kilometer pro Sekunde sind?“ Sie schwiegen weiterhin und sahen mich nur an. „Also gut … 300.000 Kilometer pro Sekunde. Ich habe mich zu Hause mal hingesetzt und es für mich ausgerechnet … ein Lichtjahr entspricht demnach 9,4 Billionen Kilometer ….“ Sie gaben keinen Laut von sich. „9,4 Billionen Kilometer … das, das will mir nicht ein … das ist so unvorstellbar … wenn ich mir sage, dass Beteigeuze dann 5.640 Billionen Kilometer von uns entfernt ist … Wie kann man das begreifen?“, begann ich wieder, in der Hoffnung, sie bei ihren Interessen zu packen. Aber nichts. Weder rührten sie sich, noch sagten sie ein Wort. Sie schienen in Wachs gegossen, ein Haufen Jungs, denen es ganz offensichtlich die Sprache verschlagen hatte. Und ich strich Schulter zuckend die Segel, machte kehrt und verließ das Zimmer. Als ich François noch nicht kannte, war ich auch schon auf Partys gewesen – zuerst in der Schule, später an der Uni. Man sagte den Philosophen ja viel nach, aber feiern konnten sie – im Gegensatz zu den Astrophysikern … Vielleicht sollte man diesen Typen mal ein wenig Alkohol einflößen? So dachte ich und folgte François und Ludo in die Küche. Und vielleicht war das ja der Fehler, den ich an jenem Abend gemacht hatte. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn ich bei den Jungs im Zimmer ausgehalten hätte und mich mit ihnen zusammen dem Schweigen ergeben hätte – und ihren Blicken … Vorerst lachte Ludo jedoch, als ich die Küche betrat. „Na, du scheinst die Jungs total verunsichert zu haben.“ Ich zuckte mit den Schultern und trat neben François, der sich – ein Küchenmesser in der Hand – an einer Tomate zu schaffen machte. Ich sah kurz hin und wollte ihm schon das Messer aus der Hand nehmen, da er sich nicht sonderlich geschickt anstellte. Immer wieder rutschte er ab, fluchte leise und setzte neu an. Kochen war eine Sache, die er nicht konnte und von der ich wusste, dass er sie auch niemals lernen würde. „Die haben doch noch nie eine Frau gesehen, jedenfalls nicht länger als 10 Sekunden“, fuhr Ludo grinsend fort. „Bitte?“ „Die sind ansonsten nur mit ihrer Forschung verheiratet und da kommst du, redest mit ihnen so frank und frei … man, Sabine, denen sind die Sicherungen rausgeknallt!“ „Das tut mir leid!“ „Muss es nicht. Irgendwann müssen die Jungs mal raus ins richtige Leben“, erwiderte Ludo achselzuckend und schob mir die Salatschüssel hin. Wieder fluchte François, nur diesmal lauter. Ich wandte mich zu ihm hinüber und sah gerade noch, wie er mit dem Messer abrutschte und wie die Klinge in seinen Daumen fuhr, sah sogar, wie sie einen Teil der Fingerkuppe abtrennte, sah auch, wie sie abfiel – ein totes Stück Fleisch – und wie sich um sie sofort eine Blutlache bildete. „Aua …Shit!“, rief er, schüttelte seine Hand und verzog das Gesicht. Im nächsten Moment sah ich wieder all das Blut, das aus einer Wunde an seinem Daumen hervorquoll und auf den Boden tropfte. Unwillkürlich tat ich einen Schritt zurück und sah mich um. Schon hatte sich Ludo ein Handtuch geschnappt und es François zugeworfen. „Hier!“ Der fing es und wickelte es sich sogleich um die Hand. Dann sah er mich an, so als erwarte er etwas von mir. Ich aber konnte in diesem Moment nichts sagen, nichts tun. Ich sah nur, wie das Blut durch den weißen Stoff drang und ihm am Handgelenk hinab zu laufen begann. Und ich dachte nur: „Oh mein Gott, all das Blut, all das Blut …“ François kam mir näher, wie ich fand etwas grün im Gesicht. Ich zuckte zurück. „Wir müssen die Wunde ausspülen“, rief Ludo und ich hörte, wie er den Wasserhahn betätigte. „Komm, komm her …“ François wandte sich an ihn. Ich sah, dass er leicht zu zittern begonnen hatte. Und am liebsten wäre ich zu ihm gegangen, hätte meine Hand in seinen Rücken gelegt und ihm beim Entfernen des Handtuchs geholfen. Aber ich konnte es nicht und so blieb ich an der Tür stehen und starrte auf das aus dem Wasserhahn spritzende Wasser und sah sogleich, wie es sich rot färbte, hörte François’ leises Stöhnen, bemerkte auch, dass er leicht zu taumeln begann. „Schnell, Sabine, den Stuhl!“, rief Ludo, der damit beschäftigt war, seinen Freund zu stützen. Ich nahm all das wahr, konnte mich aber nicht rühren. „Sabine“, wiederholte Ludo und machte jetzt selbst Anstalten, den Stuhl heranzuholen, während er François laut befahl, sich ja am Wasserhahn festzuhalten. Ich sah, wie er es tat, aber jeden Augenblick in die Knie zu gehen drohte. Wieder vernahm ich ein leises Stöhnen. Dann bemerkte ich, dass mich François über die Schulterhinweg ansah. Und es schien mir abermals so, als erwarte er etwas von mir. Unwillkürlich tat ich noch einen Schritt zurück und spürte das Holz der Tür in meinem Rücken. Weiter zurück konnte ich nicht. Und dann, dann glitt sein Blick ab, hin zu dieser Blutlache, in der noch immer seine abgeschnittene Fingerkuppe lag. Leicht rosafarben hob sie sich vom tiefroten Blut ab. Sie wirkte wie ein Stückchen Vorhaut, schoss es mir durch den Kopf und im selben Augenblick wandte ich mich um, riss die Tür auf und verließ die Küche. Ich trennte mich von François eine Woche nach dieser Party und bis heute weiß ich nicht genau, warum. Und nach all den Jahren, in denen ich immer und immer wieder darüber nachgedacht habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es keine rationale Erklärung für mein Handeln gegeben hatte. Keine einzige. Selbst als ich begann, meine Erinnerungen aufzuschreiben, kam ich der Antwort auf die Frage, die mir zuerst François und die ich mir später selbst stellte, niemals näher. Es war einfach so – in mir hatte sich just in dem Augenblick, als ich seine abgeschnittene Fingerkuppe in der Blutlache hatte schwimmen sehen, ein Schalter umgelegt. Von jetzt auf gleich war es geschehen. Gerade eben hatten wir noch beieinander auf Ludo’s Schreibtischstuhl gesessen: Er hielt mich und ich hatte meine Arme um seinen Hals gelegt und im nächsten Moment … Es war ja nicht so, dass ich nichts mehr für ihn empfunden hätte – ganz und gar nicht – aber ich konnte mich ihm plötzlich nicht mehr nähern, gerade so als trennte mich eine unsichtbare Wand von ihm. Noch am selben Abend – wenige Minuten nach dem Unfall – hockte er mir auf dem Fußboden in Ludo’s Wohnung gegenüber, sah mich wieder so seltsam an, als erwarte er etwas von mir und streckte dabei den dick verbundenen Daumen in die Höhe. Kein Zweifel, er hatte Schmerzen, aber er hielt sich tapfer. Als wir später nach Hause gingen – wir gingen geradewegs, ohne Umweg über das Ufer der Seine –, hielten wir uns zum ersten Mal nicht an den Händen, sondern liefen einfach nur nebeneinander her, geradeso als hätten wir eine stille Übereinkunft getroffen. Ich versuchte mir einzureden, dass ich zögerte, ihn zu berühren, weil ich ihn schonen wollte. Aber das stimmte nicht. Nein, ich konnte mich François einfach nicht mehr nähern, ihn nicht berühren. Zuerst hoffte ich noch, dass dieser Zustand wieder verfliegen würde, dass es nur der Schock über das Erlebte war, der mich hinderte. Mein Gott, all das Blut! „Es tut mir leid, dass ich dir nicht geholfen habe“, murmelte ich, als wir später nebeneinander im Bett lagen, „aber ich …“ „Schon gut“, erwiderte er rasch und strich mir über die Wange. „Du kannst eben kein Blut sehen. Ich kann’s ja auch nicht. Da passen wir beide gut zusammen.“ Er hatte es so seltsam gesagt, dass ich nicht an die Aufrichtigkeit seiner Worte glauben konnte. Ich würgte ein „Na ja“ hervor und zog mir das Laken bis zur Nase, denn trotz der Hitze, die im Zimmer herrschte, fröstelte ich. Schlimmer wurde es noch, als er versuchte, mit mir zu schlafen und ich nicht anders konnte, als mich wegzudrehen und ein „Gute Nacht, ich bin müde“ zu murmeln. François schwieg, doch dann spürte ich, wie er mir einen Kuss auf den Rücken hauchte. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und sah wieder all das Blut, das Blut und mittendrin die abgeschnittene Fingerkuppe, die wie das Stückchen einer Vorhaut aussah, blass rosa, totes Gewebe. Ich biss mir auf die Unterlippe, schniefte leise, so leise, damit er es nicht hörte und kämpfte mit den aufkommen Tränen. Ich wusste in diesem Moment, da er mich neuerlich an der Schulter berührte, mich auf den Rücken drehte und wir uns im Mondlicht, das durch das geöffnete Fenster eindrang, in die Augen sahen, dass es zwischen uns nie wieder so sein würde, wie bisher. Vielleicht wusste er es auch und wollte es nur nicht wahrhaben? Seinem Blick meinte ich es zu entnehmen. Wieder schniefte ich, als er sich zu mir hinab beugte und mich sacht küsste – auf die Stirn, die Nase, den Mund. Er musste es doch spüren, so wie ich. Und als er mich zu streicheln begann und seine Hand zwischen meine Schenkel gleiten ließ, da erinnerte ich mich daran, wie ich mich ihm noch in der Nacht zuvor entgegen gehoben hatte, verzweifelt versucht, ihm so nahe wie möglich zu sein. Es war ein Rausch gewesen, ich, er, er, ich. Und wie ich dann leise gekeucht hatte, als er mit zwei Fingern in mich eindrang und immer wieder zustieß, um mich, wie er flüsterte, auf den Sex mit ihm vorzubereiten. Wir schliefen in jener Nacht das letzte Mal miteinander, ich dabei jede Sekunde auf der Suche nach der Fülle dieser unbeschreiblich tiefen Gefühle, die ich François gegenüber noch vor wenigen Stunden empfunden hatte und darum bemüht, unsere Zweisamkeit nicht in feucht-kalter, glitschiger Gleichgültigkeit zergehen zu lassen. „Warum weinst du, Sabine?“ „Ich … ich weiß nicht, François.“ Während ich am anderen Morgen erwachte, hörte ich wieder tief in mich hinein, doch nichts hatte sich geändert. Das Gefühl, was mich die ganz Zeit, diese 7 Monate hindurch, die wir nun zusammen waren, getragen hatte, war fort. Nein, nicht richtig – ich spürte ja noch etwas, aber das gleichsam so, als spiegelte sich das vordem ganz in Dur gespielte helle, klare Motiv jetzt in seiner parallelen Molltonart. Und in mir tat sich wiederum nur eine Erinnerung dessen auf, was ich erlebt hatte. Das Eigentliche war für mich nicht mehr erlebbar. Da ich Gleiches noch nie zuvor erlebt hatte, versuchte ich es mit der allgegenwärtigen Hitze zu erklären. Sie lag in diesen Tagen schwer über der Stadt und brachte immer wieder feucht geschwängerte Luft heran, die durch jede Mauerritze, ja sogar durch die Wände zu quellen schien. Selbst vom Nichtstun stand mir der Schweiß auf die Stirn. Und ich erinnerte mich daran, dass François und ich vor wenigen Wochen einen Artikel über eine allgemeine hitzebedingte Erschöpfung gelesen hatten, unter der Pariser gleichsam wie Touristen litten. Vielleicht, so dachte ich, gehörte ich zu diesen Erschöpften? „Möglich, aber das ist nicht der Grund für das, was du jetzt fühlst“, hörte ich meine innere Stimme sagen. Ich wusste im tiefsten Inneren, was los war, und Tränen traten mir in die Augen, als ich den schlafenden François neben mir sah. Er wirkte wie ein Kind, so verletzlich. Kein Zweifel, er ahnte nicht, was in mir vorging und welche Entscheidung ich tief in meinem Inneren bereits getroffen hatte. Und das drückte mir schier das Herz zusammen. Ich streckte meine Hand aus, versucht, ihn zu streicheln, doch dann zog ich sie wieder zurück. Was, wenn er dadurch erwachen und mich ebenfalls berühren würde? Wieder schniefte ich. … War das der Abschied? Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und rief Catherine, meine beste Freundin an, die, obwohl ich mich schon so lange nicht mehr bei ihr gemeldet hatte, nicht beleidigt war, sondern mich zu beruhigen versuchte. Das sei vollkommen normal, sagte sie. Gefühlsschwankungen kämen in der besten Beziehung vor und ich sollte nicht denken, dass François sie nicht auch hätte. Ich müsste eben nur abwarten, dann würden die Gefühle wiederkommen. In dem Augenblick glaubte ich ihr, weil ich es so wollte … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)