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Warte, warte nur ein Weilchen

von

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Der Tag, an dem alles begann / 24.07.1918

Mord! 500 Mk Belohnung!

Wer ist der Mörder?

Am Samstag, den 13.07. ds. Jrs., wurden die Leichen der Kinder Ernst Harald Jost und seiner Schwester Emilie Maria Jost im Winterhafen aufgefunden.

Am gleichen Tag ist der Schüler Heinz Zelmer, wohnhaft am Schillerplatz 29, von zu Hause verschwunden. Zuletzt wurde er beim Spielen zusammen mit den Kindern Jost gesehen.

Der Junge Zelmer ist elf Jahre alt, ungefähr 1,40 m groß, hellblond und von kräftiger Statur. Am Samstag trug er kurze Hosen, ein blaugrau gestreiftes Hemd. Auffällig ist eine große Narbe am Schienbein.

Es wird von einem Verbrechen ausgegangen. Wer Hinweise auf den Verbleib des Jungen hat, ihn nach sieben Uhr abends gesehen oder mit ihm gesprochen hat, ist aufgefordert, sich bei der nächsten Gendarmerie zu melden.
 

Anni fächelte sich mit der Hand Luft zu. Ihre Kehle fühlte sich an, als läge ein schwerer Druck darauf. Alle Kinder stammten aus der Nachbarschaft, wohnten keine fünf Minuten zu Fuß von ihr entfernt. Ernst und Heinz besuchten die Quinta , in der auch Vater unterrichtete. Am vergangenen Freitag noch hatte Anni den kleinen Ernst beim Anstehen für Kartoffeln gesehen. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und las noch einmal die Zeilen. Plötzlich fror sie. Die frühmorgendliche Sommersonne konnte sie nicht mehr wärmen. Ernst und Emilie lebten nicht mehr und Heinz …? Hoffentlich fand die Gendarmerie ihn lebendig. Aber warum hatte sie davon nichts mitbekommen? Hatte der Krieg sie nicht gelehrt, näher zusammenzurücken?

Anni rieb sich über die Oberarme und knirschte mit den Zähnen. Gerade in einer Zeit voll Entbehrung und Angst sollten alle aufeinander achten.

Ihr Blick glitt zu Boden. Mord …

Sie dachte an Frau Jost, deren Mann seit Verdun vermisst wurde, und Frau Zelmer, deren Mann gefallen war. Wer konnte diesen Frauen noch mehr Leid antun? Reichte nicht die Gräuel der Schlachtfelder: Senfgas , britische Tanks , Zeppeline und Doppeldecker , auf deren Tragflächen Maschinengewehre aufgeschraubt wurden – Anni hatte eine sehr bildliche Fantasie. Anhand von Artikeln und Zeitungsfotografien konnte sie sich all die neuen Waffen erschreckend detailliert vorstellen. In den Jahren hatte Anni immer zugehört, wenn die Verwundeten zurückkehrten und von der grausame Wirkung dieser Kriegsmaschinerie sprachen.

Reichte die Gewalt auf dem Feld nicht aus? Musste sie in die Häuser und Herzen getragen werden? Das war doch Irrsinn!

Schritte näherten sich von hinten. Anni durchrann ein Schauder. Das Gefühl, Personen in ihrem Rücken zu wissen, beunruhigte sie. Eilig wandte sie sich um und atmete auf. Mutter kam mit ihrer Untermieterin Frau Engel näher. Sie unterhielten sich leise, aber hitzig. Eigentlich kannte Anni ihre Mutter nur als sehr stille, zurückhaltende Frau ohne eigene Meinung. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und trat beiden Frauen ein Stück entgegen. Sie schienen Anni erst jetzt zu bemerken, denn Mutter verstummte sofort. Sie wirkte ernst, sorgenvoll und viel zu blass, als wolle sie sich dem Hintergrund der tristen, hoch aufragenden Backsteinfassaden anpassen und mit ihnen verschmelzen. Zurück konnte sie nicht mehr. Als sie neben Frau Engel stehen blieb und Anni ansah, wirkte sie wie ein getretener Hund. Heute wirkte sie fahler und unwirklicher. Wenn Anni ihre Hand nach ihr ausstreckte, um sie zu berühren, war sie nicht sicher durch Mutters Gestalt hindurchzugleiten. Diese Distanz brachte ein Verlustgefühl mit sich, dass sich schwach, aber stetig in Annis Brust brannte entfernt. Mutter verlor sich Stück um Stück.

Wann hatte sie angefangen ein Schatten zu werden, der sich bewusst zurückzog?

Begann es nicht im Winter vor zwei Jahren?

Anni hatte nie begriffen warum, keine Antwort erhalten, wenn sie fragte. Es geschah einfach, unaufhaltsam, lautlos und unumkehrbar.

Mit einer schwachen Handbewegung wies Anni auf die Litfaßsäule.

„Heinz Zelmer wird vermisst.“

Die Worte klangen lahm, aber Anni brachte es nicht über sich auszusprechen, dass die Jost-Kinder tot waren.

Mutter wich ihrem Blick aus und presste den leeren Korb gegen den Bauch.

„Schrecklich“, flüsterte sie, ohne das rot eingerahmte Plakat zu betrachten.

Überrascht legte Anni die Stirn in Falten. „Du wusstest davon?“

Knapp nickte Mutter. In ihre Züge gruben sich Bitternis und Angst.

Irritiert legte Anni den Kopf schief. „Gestern Abend war das Plakat noch gar nicht angeschlagen.“

Nervös strich Mutter eine Strähne aus der Stirn. Mit einem kurzen Blick auf ihre Halskettenuhr veränderte sich ihre gesamte Haltung. Aus der geduckten Frau wurde die strenge Mutter. Verwirrt beobachtete Anni die Veränderung. Was ging hier vor sich?

Mutter deutete mit einer Kopfbewegung über die Panorama-Terrasse die steile Treppe hinab. Sie legte die Stirn in Falten und zog streng die Brauen zusammen. „Geh bitte zur Arbeit, Anni, du bist spät. Wir können später immer noch darüber sprechen!“ In ihrer Stimme lag Schärfe, aber auch ein hoher, fast hysterischer Unterton. War das Furcht? Anni wollte im ersten Moment zurückweichen, blieb aber stehen. Sacht strich sie ihrer Mutter über den Arm.

„Geht es dir gut?“, fragte sie leise. Mutter verhielt sich wie damals, vor zwei Jahren, als die Veränderung ihres Wesens einsetzte.

Ein schwaches, aber ehrliches Lächeln glitt über ihre verhärmten Züge.

„Nimm bitte die Straßenbahn“, sagte Mutter leise und fügte mit Nachdruck hinzu: „Bitte.“

Ihr Drängen beängstigte Anni. Unsicher nickte sie. Was in aller Welt ging hier vor sich? Hatte der zweifache Kindsmord sie so sehr verstört?

Mit einem letzten Blick zu dem Plakat drehte Anni sich um und ging. Hinter sich hörte sie die mühsam unterdrückte Lautstärke in der kräftigen Stimme von Frau Engel. Sie schien auf Mutter einzureden. Die Entfernung war zu groß, um den Inhalt der Worte zu verstehen, aber die alte Dame wirkte aufgeregt. Kurz warf Anni einen Blick zurück. Ihre Mutter starrte ins Leere, schwieg offenbar. Beide Arme hingen herab und der Korb pendelte dicht über dem Boden.
 

Weder die Reaktion von Mutter noch das rote Mordplakat gingen ihr aus dem Kopf. Anni bekam gar nicht die Chance dazu, weil jeder in der Waggonfabrik darüber sprach. Einige der Frauen hatten sich Zeitungen besorgt, nur um mitreden zu können. Gegen Abend kannte Anni den Inhalt jedes einzelnen Blattes. Im Wesentlichen unterschieden sich die Berichte nicht von dem Inhalt des Plakates. Dennoch färbte die Grundhaltung der jeweiligen Redaktion das Fazit. Verschiedene Spekulationen über den Entführer und Mörder hatten in der Fabrik die Runde gemacht. Anni enthielt sich vorsichtshalber jedweder Meinung. Der Reiz selbst zu theoretisieren war groß, aber falsch, wenn sie an die beiden leidgeprüften Mütter dachte. Allein das Wissen, dass Frau Jost nun vollkommen allein war und Frau Zelmer sicher um ihr Kind bangte, zerrte an Anni. Mit jeder Stunde fühlte sie sich schlechter. Es fiel ihr schwer, sich noch auf die anderen Arbeiterinnen zu konzentrieren. Selbst auf dem Heimweg redeten die Frauen von nichts anderem. Anni musste ihren Kopf klären. All die Informationen und das eigentlich vollkommen sinnlose Geschnatter bereiteten ihr Kopfschmerzen. Zusammengesponnene Ideen, Hypothesen und unbeantwortete Fragen vermischten sich zu einem undurchdringlichen Dickicht, in das Annis dunkle Fantasie blutige Fußspuren legte.

Sie wusste nichts über die Umstände des Todes, nicht, an welchem Ort im Winterhafen Ernst und Emilie gefunden wurden und in welchem Zustand sie sich befunden hatten, nur dass sie umgebracht wurden und man Heinz suchte.

Sobald sie damit die Angelegenheit von sich schieben wollte, sah sie den so frechen Burschen bleich und leblos vor sich, das helle Haar blutverkrustet, der Körper steif gefroren … im Schnee. Schnee?

Ihre Erinnerung vermischte sich mit einem anderen Verbrechen – einem Mord in ihrem Haus. Anni biss sich auf die Lippe. Im Winter vor eineinhalb Jahren war angeblich ihr Nachbar, der Kunststudent Heinrich Wolff, umgebracht worden. Anni schloss kurz die Lider. Sie hatte die Gendarmen nicht vergessen, hörte noch immer den Hilfskommissar von Stürickow, der jeden im Haus vernahm. Er soll im Schnee gelegen haben, vor der Kellertür. Rote Rinnsale in den weißen Kristallen, blaue Lippen … Sie schüttelte den Gedanken ab und öffnete die Augen. Sie musste wieder zu sich kommen! Rasch eilte sie die Stufen zur Kupferbergterrasse hinauf, geradewegs auf die Litfaßsäule zu. Vor dem Plakat hatten sich viele Menschen versammelt. Sie sah nur die Anzeige der Belohnung. Rasch änderte sie den Weg und umging die Leute. Auf den letzten Metern versuchte sie die Zeit zu nutzen, um Wolff, Ernst und Emilie aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie fühlte sich wie in Watte gepackt, auf seltsame Art entrückt. Jeder Schritt über das Kopfsteinpflaster wurde schleppender. Ihr fiel es schwer, sich zu bewegen. Vor dem Hauseingang blieb sie endgültig stehen. Viel zu lang suchte sie in der Tasche ihres Rockes nach dem Schlüssel. Sie wollte nicht hochgehen, weigerte sich noch darüber reden zu wollen … aber ewig konnte sie nicht trödeln. Schwerfällig schloss sie die Haustür auf und drehte – trotz der angenehmen Abendsonne - den Bakelit-Lichtschalter an. Leitungen summten und knackten, die Sicherung gab ein lautes Geräusch von sich, während die staubige Lampe unter der Decke des Windfangs ihr dürftiges Licht spendete. Ihr kam es vor, als würde es dunkler.

Über sich vernahm sie die Stimme ihres Vaters, ohne dass sie die Worte verstand. Hatte er sie vom Fenster aus gesehen, oder sprach er mit einem Nachbarn? Ein Mann antwortete ihm. Sie legte die Stirn in Falten. Von irgendwoher kannte sie die Tonlage. Auf ihren Armen stellten sich die Härchen auf. Einen Herzschlag später wurde die Wohnungstür geschlossen, sodass sie nur noch dumpfes Gemurmel vernahm.

Die Ruhe tat gut, leerte ihren Kopf. Langsam entspannte sie sich. Erschöpft strich sie sich über die Stirn und machte sich an den Aufstieg in den dritten Stock.

Ihre Knie fühlten sich steif an. Trotz der Fahrt mit der Straßenbahn spürte sie die Belastung des langen Stehens in Gelenken und Muskeln. Als sie im Hungerwinter 1916 in der Wagon-Fabrik angefangen hatte, war ihr die monotone Arbeit der 70-Stunden-Woche nicht schwergefallen. Mit dreizehn Jahren hatte sie es als Abwechslung angesehen Schrauben in Bleche einzudrehen und eine Maschine zu bedienen. Ihre Schulfreundinnen konnten es schließlich auch. In den zwei Jahren hatte sich Hornhaut an ihren Fingern gebildet, die Nägel waren schartig und ihr Rücken tat fast immer weh. Heute fühlte sie sich mehr denn je wie eine alte Frau.

Auf Höhe des Hochparterres blieb sie stehen und lehnte sich einen Moment lang gegen den Handlauf, den Blick hinaufgerichtet. Vor ihren Augen verschwammen die Stufen, abgelenkt von dem abendlichen Licht, das in unzähligen Facetten und Mustern durch das Oberlicht des Podestes fiel. Der Anblick war schön. Sie atmete tief durch und hielt inne. Plötzlich schlug die Tür zum Hinterhof zu. Unwillkürlich zuckte Anni zusammen.

„Guten Abend, Fräulein Beckmann“, sagte eine vage vertraute Stimme. Anni fuhr herum. Hinter ihr stand ein Heeressoldat in zerschlissener und verschmutzter Feld-Uniform, über dem Rücken ein Gewehr mit aufgestecktem Bajonett und am Gürtel eine Pistole. Orden zierten seine Brust. Anni erkannte das Eiserne Kreuz zweiter Klasse und die Wiederholungsspange. Sie versuchte das Gesicht im Schatten von Mütze und Haar zu erkennen. Wer war er?

Als wolle er sich zu erkennen geben, hob er den Kopf. Erschrocken sog Anni die Luft zwischen den Zähnen ein. Der Mann war entsetzlich entstellt und vernarbt. Ein unsauber gestutzter Bart verbarg das Schlimmste. Dennoch konnte sie die hellen, aufgeworfenen Wulste und tiefen, rissartigen Krater auf seinen sonnenverbrannten Wangen nicht ignorieren. Bis in seinen Kragen zogen sich die alten Narben. Vor Annis geistigem Auge entstand ein Bild eines wilden Tieres, das sein Gesicht zerfetzt hatte. Sie schüttelte den Gedanken ab. An einigen Stellen wirkten die Verletzungen, als seien sie mit einem feinen, scharfen Rasiermesser gezogen worden, vollkommen gerade und mal tief, dann wieder sehr flach. Einer der Schnitte endete knapp oberhalb seiner Lippe, eine anderer hatte das Augenlid angerissen. Anni wich um eine Stufe nach oben und umfasste das Geländer, so fest sie konnte. Er senkte den Kopf. Blonde Locken fielen unter der Mütze in die zerfurchte Stirn des Landsers und überschatteten die hellen Augen. Er wirkte zu ernst und traurig. Irritiert schüttelte sie den Kopf. Fremd war er ihr nicht, aber woher kannte sie ihn? Er kam vom Hof, aus der Fleischerei?

Anni zuckte zusammen. Wolff! Aber das konnte nicht sein! Er galt doch als tot!

Auf entsetzlich vertraute Weise wagte der Mann ein unsicheres Lächeln. Anni erschrak. Hatte er ihre Gedanken gelesen?

Er räusperte sich, wurde ernst und sah zur Seite.

Nervös zupfte er an seiner Jacke. Seine großen, schlanken Hände waren kaum weniger staubig als sein Rock. Unter den Nägeln und im Nagelbett hatte sich Dreck festgesetzt. Er blinzelte, strich sich das zu lange, gelockte Haar unter die Mütze und befeuchtete seine trockenen Lippen. Anni hatte nur wenig mit ihm zu tun gehabt, bis auf die wenigen Male, wenn er ihr geholfen hatte Bilder für die Kunsterziehung fertigzustellen. Damals war er beinah blendend schön gewesen, so schön wie ein Mann nur sein konnte. Anni sah noch immer die farbverspritzte Haut und das sanfte, wenngleich immer sehr ernste Gesicht vor sich.

Eingehend betrachtete sie seine Narben, in vollem Bewusstsein, wie unhöflich sie sich ihm gegenüber benahm. Er schluckte hart, sodass sein Adamsapfel über dem Kragenspiegel sprang. Heute wie damals zwang ihn dieses Starren in die Defensive … Der letzte Zweifel wich.

„Heinrich Wolff“, flüsterte sie. Langsam hob er den Kopf und fing ihren Blick ein. Für einen Moment hielt sich seine unbeholfene Art, doch plötzlich richtete er sich auf und straffte sich. Sein Wesen schien sich ins Gegenteil zu verkehren. Selbstbewusst, kalt und unbarmherzig wirkte er. In ihm schien kaum mehr Menschlichkeit zu existieren. Anni umklammerte das Geländer. So hatte sie sich immer einen Soldaten, einen Mörder, vorgestellt! Aber war das nicht die Essenz aller Empfindungen, wenn man den Krieg an der Front erlebt hatte. Vater sprach oft und bitter darüber. Der Mann verströmte den Hauch all dessen, was sie fürchtete: Tod und Gewalt. Erneut wich sie eine Stufe nach oben. Das Sonnenlicht erfasste ihn. Seine Augen weiteten sich. Ein helles, scharfes Phosphor-Glühen erfasste die Iris.

Entsetzt zuckte sie zurück. Anni wollte so viele Etagen wie möglich zwischen sich und dieses Geschöpf bringen! Sie machte einen weiteren Schritt nach oben, strauchelte und konnte sich gerade noch fangen. Rasch griff er zu, um ihr zu helfen. Instinktiv entzog Anni sich der Berührung. Er zog die Brauen zusammen. „Ich tue Ihnen nichts, Fräulein Anni.“

Sicher nicht?, dachte sie, straffte sich dann aber. Angst zu zeigen war unklug. Er hatte etwas Tierhaftes an sich. Vor Hunden durfte man auch keine Angst zeigen. Im gleichen Moment, in dem Anni darüber nachdachte, wusste sie, wie dumm der Gedanke war.

„Sie sind doch Heinrich Wolff?“, fragte sie. Als er wieder nicht reagierte, sondern nur mit zuckenden Kiefermuskeln vor sich hinstarrte, wies sie zum Hof. „Ihr Vater war der Fleischermeister.“

Ein deutliches Zittern hatte sich in ihren Tonfall geschlichen. Unsicher fuhr sie fort: „Ihm haben der Laden und die Schlachterei gehört … oder irre ich mich?“

Tief atmete er ein. Es wirkte, als habe sie ihn von einer Last befreit.

„Sie irren sich nicht.“ Er reichte ihr die Hand. „Sie haben recht, Fräulein Beckmann, ich bin Heinrich.“

Er machte ihr auf beinah körperlich schmerzhafte Weise Angst. Alles in ihr weigerte sich die Situation zu verarbeiten. Wolff, dachte sie. Das ist er!

Konnte es sein, dass sich die Mordbereitschaft damals getäuscht oder er sich einen grausamen Scherz erlaubt hatte? Sie biss sich auf die Lippe. Zögernd griff sie nach seiner ausgestreckten Hand. In seinem Druck lang unverhältnismäßig viel Kraft, sodass scharfer Schmerz durch ihre Glieder fuhr, aber schlimmer als das war die Kälte, die seine Haut verströmte. Er schien in Eiswasser gebadet zu haben. Instinktiv löste sie sich aus dem Griff und massierte Wärme und neues Leben in ihre tauben Finger. Allerdings wagte sie nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Wen hatte die Mordbereitschaft am 23.12.1916 gefunden und als Heinrich Wolff identifiziert? Warum war er verschwunden und hatte das Missverständnis nicht aufgeklärt? Offiziell lag er auf dem Friedhof.

Automatisch dachte sie an den Doppelmord und die Kindesentführung. Wolff, der tot sein sollte und wie eine grausame Monstrosität aussah, gab diesen Ereignissen einen schauerlichen Beigeschmack. Er verursachte ihr körperliche Angst! Es war besser, so viel Abstand wie möglich zwischen ihn und sich zu bringen.

Von irgendwoher drang das Dröhnen eines Lastkraftwagens, der sich näherte. Anni war dankbar um die Unterbrechung. Sie löste den Blick von ihm und lauschte. Der Wagen war unterwegs zu ihnen. Hatte sich ein Fahrer der Mainzer Aktienbrauerei in der Straße vertan, oder bekam die Fleischerei jetzt noch eine Lieferung?

Wolff regte sich und brach in das sonnenbeschienene Stück Normalität ein. Seine Nähe war ihr zuwider. Sie kniff die Augen zusammen. Unsicher wies sie nach oben. „Meine Eltern warten auf mich.“

„Das denke ich.“ Er machte eine auffordernde Handbewegung hinauf. „Konrad Löb ist gerade bei Ihrem Vater und verhandelt mit ihm um eine Möglichkeit zur Untermiete.“

„Sie wollen wieder in den Kästrich ziehen?“, stieß sie hervor. Blankes Entsetzen schwang in ihrer Stimme. Bitte nicht, dachte sie.

„Sie haben Angst vor mir“, stellte er kühl fest.

Automatisch nickte sie. Im gleichen Moment wurde ihr bewusst, wie unhöflich und herabwürdigend sie sich verhielt. Aber dieser Mann unter einem Dach mit ihr, ein Eindringling in ihrer Zuflucht, dem Ort, an dem sie wenigstens versuchen konnte, den Krieg auszusperren? Nein!

Er reagierte emotionslos, kalt. Über seine entstellten Züge huschte nicht der Hauch eines Lächelns. Seine Lippen zuckten. Er setzte zum Sprechen an, als draußen der Lastkraftwagen in die Toreinfahrt fuhr. Der Lärm verschluckte seine Worte. Anni roch selbst durch die Tür den Eisen- und Kohlegestank, hörte den zischenden Wasserkessel und das Klirren des Kettenwerks. Als der Motor erstarb, wurden vor der Haustür Stimmen laut. Eine gehörte einer fremden Frau, die andere erkannte sie sofort: der Hauswart Tranitz. Ein Schlüsselbund klirrte. Tranitz schloss auf und trat ein. Ihm folgte eine junge Frau, deren helle Löckchen unter einem kecken Blumenhut hervorschauten. Anhand des Kopfputzes musste sie Geld besitzen. Die Zierde war in den letzten Jahren überflüssig geworden.

Mit übertriebenem Kratzfuß hielt Tranitz ihr die Tür auf. Sie quittierte die Geste durch ein anzügliches Grinsen, sah dann aber nach oben und blinzelte gegen das Licht. Zuerst wich sie der Helligkeit aus, hob aber schließlich die Hand über die Augen. Wahrscheinlich erkannte sie nur Schattenrisse, dennoch änderte sich in ihrer Mimik etwas. Ihr dirnenhaftes Gebaren fiel ab, als sei sie mit Betreten des Hauses ein anderer Mensch geworden. Sie lächelte auf unglaublich herzliche und offene Weise. Anni richtete sich auf. Etwas in dem Blick dieser Frau berührte sie und gab ihr ein Stück Freude zurück.

Seltsam, aber mit ihr schien die Sonne aufzugehen. Die junge Frau löste die Hand von der Stirn, zog ihr besticktes Schultertuch zusammen und hob den vergleichsweise einfachen, braunen Rock, um vor dem Hauswart die Treppe hinaufzugehen. Irritiert beobachtete Anni sie. Einer Dame wäre solch ein Verhalten nicht unterlaufen. Auch Tranitz‘ Augenbrauen zuckten überrascht hoch. Mit einem Taschentuch wischte er sich über das flächige, verschwitzte Gesicht. Anni glaubte zu sehen, dass er seinen Blick kaum von ihrer runden Figur nehmen wollte. Die Frau störte sich nicht daran.

Als er die Tür schloss, fing sich das zuckrig Aroma ihres Parfums im Treppenhaus und überlagerte den Geruch nach Blut aus der Schlachterei und dem Wasserdampf des Wagens. Anni schluckte mühsam und fächelte sich Luft zu. Auf dem Podest unter ihr stand Wolff, reglos wie ein Zinnsoldat. Er schien zu lauern oder zu lauschen. Von einem Moment zum andern regte er sich, sah sich um und räusperte sich. „Fräulein Beckmann, wollen wir?“, fragte er und schickte sich an, an ihr vorbeizugehen.

Ihn nur nicht berühren …!, schoss ihr durch den Kopf. Anni drängte sich gegen das Geländer, als er sich auf gleicher Höhe mit ihr befand. Aber er passierte sie, ohne dass er sie streifte. Anni folgte ihm.

„Fräulein Anni, warten Sie!“, rief Tranitz hinter ihr. Sie blieb auf dem Podest stehen, wagte nicht Wolff den Rücken zuzudrehen. Sollte er nur weitergehen. Leider erfüllte sich ihre Hoffnung nicht. Er hielt inne. Halb drehte er sich um, sodass Anni sein Profil im Gegenlicht sah. Seine Nasenflügel bewegten sich, als würde er einen Geruch aus der Luft filtern wollen. Das starke Parfum überlagerte allerdings alles.

„Fräulein Anni!“, wiederholte Tranitz deutlich verärgert. Was nahm sich dieser lüsterne Krüppel eigentlich heraus?! Anni fuhr zu ihm herum und warf ihm einen angeekelten Blick zu. Der Hauswart ignorierte sie. Mühsam schnaufte er hinter der jungen Frau die hohen Stufen des Windfangs hinauf, wobei er sein steifes Bein nachzog. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Unter den Armen und über dem Bauch hatte sich sein grau gestreiftes Hemd dunkel verfärbt. Im Gegensatz zu ihm schien sie fast leichtfüßig das Hochparterre zu erklimmen.

„Wer ist sie?“, fragte Wolff leise. Seine Stimme klang kalt und viel zu nah. Anni schauderte. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht.“

Vermutlich hatte die junge Frau ihn gehört, denn sie setzte ein breites, warmherziges Lächeln auf. „Ick bin de Lotti“, sagte sie in breitem Berliner Dialekt. Mit dem Vornamen hatte sich Anni noch keine Frau vorgestellt, aber das plumpe Verhalten passte zu ihr. Offenbar bemerkte Lotti, dass ihre Worte nicht den gewünschten Effekt erzielten. Sie wurde ernst: „Lieselotte Runge. Ick wohn ab jetzt im vierten Stock.“

Zögernd nickte Anni. Wie sollte sie die Frau einschätzen? Durfte sie sich überhaupt mit solch einfachen Personen abgeben? Wahrscheinlich machte es keinen Unterschied zu den anderen Bewohnern des Kästrichs. Sie entschied sich dazu etwas Offenheit walten zu lassen. Was brachte es, sich im Krieg mit Kleinigkeiten wie dem Benehmen abzumühen?

„Angenehm“, sagte sie und schenkte Lotti ein – wie sie hoffte – genauso offenes, freundliches Lächeln, reichte ihr die Hand und deutete einen Knicks an. „Anna Julie Beckmann. Meine Familie wohnt in der dritten Etage.“

Über Lottis Lippen huschte ein Grinsen, bevor sie zu Wolff hinaufschaute. Mühsam schluckte sie und sah fort. Er erschreckte sie offensichtlich. Mit seiner großen Hand berührte er Annis Arm. Nadeln schienen sich in ihre Haut zu bohren. Das Gefühl seiner Finger hinterließ taube Stellen unter dem Stoff. Unwillkürlich zuckte sie zurück. „Herr Wolff …“ Sie verstummte, als sie sich ihm zuwandte und sein ernstes, verschlossenes Gesicht bemerkte. Wolffs Blick glitt an ihr vorbei zu Lotti. „Fräulein Runge?“, sagte er steif. Es klang nicht wie ein Gruß. Lotti griff nach ihrem Rock und zupfte an dem Stoff. Ihm gegenüber verhielt sie sich scheu. Ungeduldig drehte Wolff sich um: „Kommen Sie, Fräulein Beckmann? Ihre Familie wartet.“

Anni zögerte. Ihr Blick fand keinen Fokus. Vorsichtig zählte sie die Untermieter durch, die seit Kriegsbeginn mit ihr und ihren Eltern zusammenlebten: Frau Engel, Frau Janzig, Frau Gabriel und ihre Tochter Marie. Wohin wollten Mutter und Vater Wolff und seinen Freund Löb einquartieren? Vielleicht untervermietete Lotti einzelne Räume, denn in der Beckmann-Wohnung gab es kaum noch Platz – außerdem war Wolff unheimlich! Aber Vater ließ sich sicher überzeugen. Sie brauchten das Geld. Anni presste die Lippen aufeinander. Gästezimmer, Ankleideraum und Büro waren bereits vergeben. Anni fielen nur die Stube und ihr kleines Reich ein. Über ihr knarrten Stufen. Erschrocken hob sie den Blick. Wolff war bereits vorgegangen. Rasch sah sie zu Lotti und lächelte knapp. „Verzeihung und willkommen“, rief sie und eilte sich, so schnell sie konnte und ohne zu rennen, ihn einzuholen.
 

Das Beklemmungsgefühl, das Heinrich Wolff in ihr ausgelöst hatte, ließ nicht nach, sondern wurde zu einem erstickenden Knoten in ihrem Hals. Als Anni die Wohnungstür aufschloss, wurde der Wunsch, ihn gar nicht eintreten zu lassen, übermächtig. Aber sie konnte solch eine Entscheidung kaum treffen, schließlich gab sie Vater nur einen Teil der Miete hinzu. Nervös sah Anni über die Schulter zu Wolff. Sein Gesicht lag im Schatten, worum sie dankbar war. Er machte ihr Angst – ganz reale, greifbare Angst wie die vor einem unberechenbaren Tier. Ihr Magen zog sich zu einem Steinklumpen zusammen, als sie sich abwandte und in den warmen Flur trat. Aus der offenen Küchentür flutete Sonnenlicht herein, sodass sie die Lider zukniff. Mit der Hand überschattete sie ihre Augen. In der trockenen Luft tanzte Staub. Hinter ihr schloss Wolff die Tür. Anni hörte, wie er sich seiner Waffe und des Tornisters entledigte. Das satte, schwere Geräusch des Gewehres, das an der Wand entlangrutschte, um mit dem aufgepflanzten Bajonett irgendwo hängen zu bleiben, jagten ihr einen Schauder über den Rücken.

„Können Sie sich bitte die Stiefel ausziehen?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

Er antwortete nicht, gehorchte aber sofort. Anni legte den leinenen Sommermantel ab und hängte ihn auf, bevor sie ihre Schuhe auszog. Mit einer Hand wies sie zur Küche. Er trat an ihr vorbei. Aus dem Augenwinkel fiel ihr auf, dass er dreckige und löchrige Socken trug. Aber Soldaten waren nicht weniger arm dran als sie alle.

Barfuß folgte sie ihm. Es war angenehm über die sommerwarmen, polierten Dielen zu laufen. Der Boden atmete das Aroma des Bohnerwachses aus und mischte sich mit Wolffs Schweiß, seiner muffigen Uniform und dem Waffenfett. In der Luft hingen unterschiedliche Stimmen, das Geräusch von Mutters Nähmaschine, die Schritte Lottis, die den alten Tranitz offenbar auf den Stufen geschont hatte, das Klopfen seines Stockes und das Knarren der alten Dielen. Als Anni hinter Wolff in die Wohnküche trat, lehnten ein weiteres Gewehr und der staubige Tornister eines Soldaten an den Rohren neben der Spüle. Aber bis auf Mutter war niemand im Raum. Neben ihr stand ein mit Wäsche überquellender Korb, wovon das wenigste aus ihrem Haushalt stammte. Neben ihr lagen Stofflappen.

„Guten Abend, Frau Beckmann“, sagte Wolff mit belegter Stimme. Sie hob den Blick von ihren Näharbeiten. In ihren Augen leuchtete plötzlich ein Funke auf, der alle Last von ihr abgleiten ließ. Irritiert trat Anni näher. Das Lächeln ihrer Mutter sprengte die spröde Maske, hinter der sie sich verbarg.

„Heinrich“, rief sie. Tränen traten in ihre Augen. „Konrad sagte schon, dass Sie beide gesund zurückgekehrt sind. Mein Gott!“ Sie presste ihre Näharbeiten gegen die Brust, ließ dann aber die Hände sinken und erhob sich. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich mich freue, mein Junge!“

Was ging hier vor sich? Anni erkannte ihre Mutter nicht wieder. War das noch dieselbe Frau? Warum freute sie sich dieses Monster zu sehen? Anni ballte die Fäuste und presste die Lippen aufeinander. Fehlte nur noch, dass Mutter sich voller Freude Wolff an den Hals warf.

Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Anni sie. Die Erleichterung in der Mimik, die wahrhaftige Freude, die Hoffnung … Aber Wolff war doch kaum mehr menschlich? Was sah sie in ihm?

Vor dem Krieg, wie auch kurz vor seinem angeblichen Ableben, hatten Mutter und Vater viel mit ihm zu tun gehabt. Anni kannte ihn kaum. Vielleicht war er gar nicht so schlecht. Nachdenklich senkte Anni den Kopf.

Die Wohnzimmertür wurde geöffnet.

„… dann können Sie beide diesen Raum bewohnen, Konrad.“

Anni schrak zusammen und fuhr herum. Was sagte Vater da? Welchen Raum meinte er, doch nicht etwa ihr Zimmer?! Kochende Wut brannte in Annis Magen. Warum vergötterten ihre Eltern diese Männer so? Sie waren Soldaten, all das, was Vater hasste!

Schritte schwerer Stiefel kamen über den Teppich zur Küche. Sie zog die Brauen zusammen. Unter der Küchentür erschien Vater mit Konrad Löb an der Seite. Vertraut lag seine Hand auf der Schulter des Soldaten. Anni stockte der Atem. Sie hatte Löb vage als gutaussehenden jungen Mann in Erinnerung: vor allem sein dichtes, dunkles Haar und die fast schwarzen Augen. Er hatte sich verändert. Sein Gesicht hatte alles Jungenhafte verloren. Er wirkte markant, maskulin und stark. Im Gegensatz zu Wolffs entstelltem Gesicht,hätten ein paar Narnben seiner ebenmäßigen Schönheit keinen Abbruch getan.

„Guten Abend, Fräulein Anni.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Sein Griff war fest und warm. „Wir haben uns seit eineinhalb Jahren nicht mehr gesehen.“ Als er lächelte, strahlten seine Augen. „Sie sind eine junge Dame geworden.“ Anni spürte, wie ihre Knie weich wurden und im gleichen Maß jedes Gefühl von Unverständnis, Wut und Angst in ihr dunkles Versteck verschwanden.

Junge Dame … Anni rang nach Atem. Sie wollte sich Luft zufächeln, unterließ es aber. Etwas änderte sich in der Atmosphäre der Wohnung. Sein Blick, dieses schöne Gesicht … In sich fühlte sie eine Erschütterung. Etwas brach auf und flutete ihren Körper mit prickelnder Wärme, die sich in Brust und Magen sammelte. Anni konnte diese Empfindung kaum in Worte fassen. Sie wusste nur, dass es gut und richtig war, wenn dieser Mann hierblieb.

Die Verhaftung / 08.11.1918

Anni wollte nicht aufschauen. Vor den Untermietern waren ihr die immer wiederkehrenden Verhaftungen Vaters wegen seiner kommunistischen Umtriebe peinlich. Die Blicke der Frauen brannten auf ihrer Haut. Innerlich stöhnte Anni und verfluchte seine mangelnde Vorsicht. Unter dem Tisch trat Marie ihr gegen das Schienbein. Der Schmerz war nicht schlimm, aber sie zwang Anni aufzusehen. Überdeutlich wies sie mit dem Kopf zu Vater, zog die Brauen zusammen und bildete stumm Worte mit den Lippen, die Anni nicht begriff. Für einen Moment hasste sie ihre Freundin. Wie konnte Marie es wagen, sie auch noch darauf hinzuweisen?

Vater lachte leise auf und tupfte sich mit der Serviette über die Oberlippe, um die letzten Tropfen Suppe aufzunehmen. Sein Stuhl kratzte über den Steinboden, als er sich zurücklehnte. Herr von Stürickow, der Hilfskommissar der Mordbereitschaft, räusperte sich, um die Aufmerksamkeit Vaters auf sich zu lenken, erreichte aber nur, dass Wolff, der sich bislang ausschließlich auf seinen Suppenteller konzentriert hatte, in seinem Stuhl aufrichtete. Er hatte den Löffel sinken lassen und sich dem Hilfskommissar zugewandt. Still beobachtete er den Beamten. Von Stürickow begegnete seinem Blick, wandte sich aber rasch ab. Auch er ertrug das entstellte Gesicht nicht lang.

„Finden Sie nicht, dass Ort und Zeitpunkt alles andere als ideal gewählt sind?“, fragte Wolff scharf. Schatten bildeten sich in den Furchen um Nase und Mund. Drohend zog er die Brauen zusammen. Sein vernarbtes Gesicht gewann etwas Dämonisches. Löb räusperte sich neben ihm. Ob es Zustimmung oder Warnung sein sollte, verstand Anni nicht, aber innerlich stimmte sie ihrem unheimlichen Mitbewohner zu.

Der alternde Beamte ignorierte beide Männer, obwohl die stille Wut und kühle Präsenz Wolffs sicher auch für ihn überdeutlich spürbar waren.

„Nehmen Sie die Verhaftung nicht zu leicht, Herr Beckmann“, sagte von Stürickow mit für Anni ungewohnter Strenge in der Stimme. Ihr Vater hob eine Braue und richtete sich am Esstisch etwas gerader auf. Langsam wandte er sich zu dem Hilfskommissar, während Mutter immer weiter in sich zusammensank. Sie fürchtete die skeptischen, lauernden Blicke der Untermieter. Konrad Löb, der Anni gegenübersaß, räusperte sich erneut. Über seine Züge huschte Sorge. Anni versuchte anhand der Mimik ihres Vaters zu erraten, was er dachte. Nahm er ernst, was von Stürickow sagte? Um seine Lippen zuckte ein Muskel. Er legte den Löffel ebenfalls zur Seite und drehte sich im Stuhl zu dem Hilfskommissar um. „Warum?“, fragte er nicht ohne Spott. „Sie sind uns ein lieber Bekannter geworden, Herr von Stürickow. Ich rechne eigentlich täglich mit Ihrem Besuch, lasse sogar meine Frau immer noch ein Tässchen Wasser mehr in die Suppe beifügen, damit das Essen auch für Sie reicht.“

Schlug er nicht etwas über die Stränge?, überlegte Anni.

Die Bekanntschaft der beiden war von politischen Diskrepanzen, aber auch einem gewissen Grad der Vertrautheit im Umgang miteinander geprägt. Irgendwann würde sich von Stürickow die kleinen Gemeinheiten verbitten.

Der Hilfskommissar ließ den Kommentar an sich abperlen. Trotz allem wirkte er angespannt. Das war nicht dieselbe Art von Besuch. Stumm nickte er zur Wohnungstür, beide Hände fest in den Manteltaschen vergraben. Anni folgte der Bewegung. Im schwachen Flurlicht bemerkte sie Bewegung im Eingang. Dielen knarrten, als zwei Soldaten des Hilfskorps eintraten. Sie bauten sich demonstrativ auf. Ihr Anblick hatte etwas Unverhältnismäßiges angesichts des Besuches von Herrn von Stürickow. Mutter schnappte hörbar nach Luft. Irritiert drehte Anni sich im Stuhl um, nur um zu sehen, wie Frau Engel Marie etwas ins Ohr flüsterte und auch Frau Gabriel sich zu ihrer Tochter neigte. Ihnen war anzusehen, was sie dachten. Blanke Missgunst sprach aus ihren Gesichtern – oder schlicht die Angst um ihren Ruf. In den letzten Jahren war von Stürickow ein häufiger Gast gewesen, was daran lag, dass Annis Vater seine politische Nähe zu den Kommunisten seit einigen Monaten vertieft hatte. Deswegen ließ ihn von Stürickow von Zeit zu Zeit abholen und auf der Gendarmerie vernehmen. Innerhalb des letzten Jahrs hatte sich daraus eine gewisse Routine entwickelt, die Anni seitdem begleitete. Von Stürickows Besuche waren nie angenehm, aber dieses Mal wirkte der Hilfskommissar verändert – und er kam mit Soldaten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ihr lief ein Schauder über den Rücken. Von Stürickow reagierte auffallend nervös, was nur den Schluss zuließ, dass er etwas tun musste, was ihm widerstrebte. Ihm war es bereits beim Eintreten nicht möglich gewesen, Vater in die Augen zu sehen, und auch jetzt stand er mit gesenktem Blick neben dem Tisch und knetete seine Finger. Annis Vater ließ sich durch seine Gegenwart nicht beeindrucken, sondern stopfte seine Pfeife und streckte die Beine unter den Küchentisch.

„Anni, biete dem Herrn Hilfskommissar doch bitte auch eine Tasse Tee an“, Vater unterbrach sich und wies auf die unterdessen fünf Soldaten aus dem Hilfskorps. „Ich weiß nur nicht, ob die Teeblätter für Ihre Herren Kollegen ausreichen, mein Lieber.“

Von Stürickows Blick flackerte. Mit einer behandschuhten Hand strich er sich über die feuchte Stirn. Trotz der Wärme, die durch die hohe Anzahl der Personen in der Küche gesteigert wurde, war er nicht bereit, Hut und Mantel abzulegen. Seine Mundwinkel zuckten. „Lassen Sie das Beckmann!“, schnappte von Stürickow. Zum ersten Mal suchte er Vaters Blick, presste zugleich aber die Kiefer aufeinander. Er fürchtete sich vor etwas … Anni zupfte an ihren Knöpfen. Der Kragen ihrer Bluse fühlte sich zu eng an. Auch Mutter konnte den Blick nur schwer von dem Hilfskommissar nehmen. In ihren Augen standen Tränen. Sie empfand tiefe Scham und fürchtete die Meinung ihres Umfeldes. Wahrscheinlich würde sie in den kommenden Tagen nur unter Zwang die Wohnung verlassen, immer mit gesenktem Blick. Möglicherweise hatte sie recht. Auch wenn der Krieg die Leute veranlasste nach einer Republik zu verlangen, hatte sich die Situation in den letzten Jahren unmerklich, aber unaufhaltsam zugespitzt. Die Kampfhandlungen mochten auf den Feldern erlahmen, nicht aber im Land. Nationalisten und Royalisten trafen auf Kommunisten. Anni spürte ihre eigenen Gedanken wie ein bleiernes Gewicht. Vater wurde zu wagemutig, dessen war sie sicher. Trotzdem hielt sich sein positiver Ruf im Kästrich. Unter dem Tisch streckte Anni den Fuß aus, bis sie Widerstand fühlte. Mutter hob den Blick. Mit einem Lächeln und Zwinkern versuchte Anni sie aufzumuntern. Leider verlor sie rasch die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Langsam wandte sich Anni wieder zu dem Hilfskommissar. Von Stürickow schien an etwas zu ersticken. Das Selbstbewusstsein ihres Vaters raubte ihm die Sicherheit.

„Mich hat die Mordbereitschaft beauftragt, Herr Beckmann“, sagte von Stürickow. In Annis Kehle bildete sich ein Kloß. Worauf spielte er an? Ihr Vater betrachtete den Hilfskommissar offen verwirrt. „Und was wollen Sie hier?“

„Sie sind verdächtigt, seit Juli dieses Jahres die Kinder Zelmer, Urban, Meier, Seiler und das Geschwisterpaar Jost entführt und umgebracht zu haben, Beckmann.“

Die Pfeife schlug auf der Tischplatte auf. Krümel des Tabaks verteilten sich auf dem zerkratzten Lack.

„Was?“ Alle Kraft wich aus ihrem Vater. „Das kann nicht ihr Ernst sein, Herr von Stürickow. Wer …?“

Mit einer knappen Handbewegung brachte ihn der Hilfskommissar zum Schweigen, sagte aber nichts. Sein Blick glitt zu Wolff. Nervös feuchtete er die Lippen an. Anni starrte ihren unheimlichen Untermieter an. Seine Mimik hatte sich verfinstert. Er erwiderte den Blick des Hilfskommissars. Um seinen Mund zuckte ein Muskel. Was erwartete von Stürickow von Wolff? Anni verlor den Gedanken sehr schnell wieder, als ihr Vater auflachte. Der Laut klang falsch, eindeutig nervös, fand Anni. Mutter schluchzte erstickt auf. Es waren die einzigen Geräusche in der Küche. Wütend schlug von Stürickow auf die Tischplatte. „Das ist kein Spaß, Beckmann.“

Das aufgesetzte Lachen verschwand sofort. Mutter zuckte zusammen und duckte sich instinktiv. Ihr blasses Gesicht hatte sich rot verfärbt. Tränen quollen unter ihren Lidern hervor und liefen über ihre eingefallenen Wangen. Mit zitternden Lippen versuchte sie etwas zu sagen, aber ihre Stimmbänder verweigerten den Dienst. Die Hilflosigkeit, mit der sie sich umsah, traf Anni. Ängstlich griff Mutter nach Wolffs Hand, der sie unbewusst drückte, ohne sie anzusehen. „Heinrich“, wisperte sie, „wie konnte es so weit kommen?“

Frau Engel regte sich. In ihrem Blick lag Fassungslosigkeit, aber auch Unverständnis. Sie starrte auf die beiden Hände, die nicht ineinander liegen sollten. Das blinde Vertrauen von Mutter in ihn hatte eine vielleicht gefährliche Offenheit angenommen … Andererseits brauchte sie Halt und niemand schien ihr Leid wahrzunehmen, lediglich Wolff und Anni. Vorsichtig streckte Anni beide Hände über den Tisch. Mutter bemerkte es. Haltsuchend griff sie danach. Als sie Vater betrachtete, gruben sich tiefe Linien in ihre Züge. Plötzlich löste Mutter ihre Finger. Annis Herz zog sich zusammen. Trotz der Distanz zu ihr wollte sie nicht sehen müssen, wie Mutter unter Schock und Schmerz in die Knie gezwungen wurde.

Verhaftet wegen Mordes … Der Hilfskommissar beobachtete ihren Vater mit sorgengefurchter Stirn, ohne sich Annis Aufmerksamkeit bewusst zu werden.

„Herr von Stürickow, wer behauptet so etwas?“, fragte sie. Überrascht über die Kraft in ihrer Stimme und die Lautstärke, die sie in der Küche entwickelte, schrak sie zusammen.

„Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Fräulein Beckmann.“

Seine Worte klangen bedauernd, ehrlich, zugleich konnte sie von Stürikow nicht begreifen. Die Hilflosigkeit in ihr wandelte sich zu blankem Zorn, die Kälte zu einem Brennen in ihrer Brust.

„Warum schützen Sie einen Lügner?“, schnappte sie, sich darüber bewusst, dass sie jede Höflichkeit fahren ließ. Aber weshalb durfte jemand einen unschuldigen Mann anklagen und im Schatten bleiben? In der schlichten Handlung lag elende Feigheit. Von Stürickow sah ihr die Wut an. Er räusperte sich. Für einen Moment wirkte er verärgert, doch er beließ es bei einer hochgezogenen Braue.

„Fräulein Anni!“, mahnte Frau Engel scharf. Anni ignorierte die alte Frau und stand auf. So fiel es ihr leichter, von Stürickow auf Augenhöhe zu begegnen. „Sie kennen meinen Vater. Er kann kein Kind töten, schließlich ist er Lehrer.“

Nach einem tiefen Atemzug senkte der Hilfskommissar den Kopf. „Es gibt schwere Anschuldigungen, Indizien. Immerhin waren es Geschwister der Jungen aus seiner Schulklasse.“ Ärgerlich schüttelte er den Kopf. „Aber ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig!“

Anni knirschte mit den Zähnen. Sollte sie sagen, was sie von dieser Antwort hielt?

„Anni!“, wisperte ihre Mutter atemlos. Flehen klang in ihrer Stimme mit. Die Sorgenfalten in dem Gesicht vertieften sich. Unsicher fuhr sie sich mit einer Hand durch die Locken und knetete den Saum ihrer Schürze, als brächte ihr der Stoff Halt … Was immer Anni sagte oder tat, es würde sich nachteilig auf die Situation auswirken. Diese Sicherheit nahm ihr die Kraft. Erschöpft sank sie auf den Stuhl und rang mühsam nach Luft. Ihre Gefühle rückten ab und hinterließen einen eigenartigen Schwebezustand. Erst als ein Beben durch den Dielenboden ging, fing sie sich wieder.

Zwei Soldaten waren eingetreten und flankierten Vater. Einer von ihnen packte seinen Arm und zerrte ihn grob aus dem Stuhl. Er wehrte sich nicht. Noch immer lähmte ihn das Entsetzen. Unbeholfen stolperte er und knickte ein. Einer der beiden Soldaten griff nach seinem Ellbogen, um ihn zu stützen.

„Danke“, stammelte Vater. Sein Blick geisterte durch den Raum, fand nirgends Halt. Schließlich ließ er den Kopf hängen. Immer wieder schüttelte es ihn.

„Geht es?“, fragte der groß gewachsene Soldat. Seine Stimme klang kaum über das Flammenpochen im Herd hinweg. Sorgenvoll betrachtete er Annis Vater. Jede Reaktion blieb aus. Diese Niedergeschlagenheit brachte in Anni etwas zum Klingen. Unruhe erwachte in ihr. Sie biss sich auf die Unterlippe. Was konnte sie tun?

„Herr von Stürickow“, begann sie erneut, doch dieses Mal wusste sie nicht, was sie ihm sagen wollte. Der Hilfskommissar schnaufte ärgerlich. In seinem Gesicht zuckten Muskeln. Er wies auf ihren Vater: „Fesseln sind nicht notwendig“, murmelte von Stürickow. Anni starrte auf die schmalen, verkniffenen Lippen des Hilfskommissars. Er litt. Von Stürickow wusste, dass Vater unschuldig war. Unbeholfen wandte er sich an Mutter. „Frau Beckmann, ich …“ Seine Stimme versagte. Rasch verließ er die Küche. Anni sprang auf und wirbelte herum. Sie klammerte sich an die Stuhllehne.

Das musste ein Albtraum sein. Ihr Vater liebte das Leben, allein deswegen hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Jungen in seiner Schule vor den Kriegswerbern zu bewahren. Schließlich glaubte er trotz der vier furchtbaren Kriegsjahre mit jeder Faser seines Herzens an die Menschlichkeit. Töten konnte er nicht. Langsam hob Anni den Blick. Das künstliche Licht unter der Decke brannte in ihren Augen und reflektierte auf den weiß lackierten Möbeln. Energisch blinzelte sie und kniff die Lider zusammen. Hinter ihr schluchzte Mutter auf und pochte mit der Faust zum wiederholten Mal auf den Tisch. Anni hörte, dass sie kaum Luft bekam.

„Warum …?“, fragte ihr Vater dumpf, als er in den Flur gebracht wurde. Der kleinere der beiden Soldaten half ihm in die abgetragene Jacke und legte ihm den Schal um den Nacken. Er blieb ihm eine Antwort schuldig.

„Er kann nicht töten“, sagte Anni mit Nachdruck. „Jeder, der das behauptet, ist ein Lügner.“ Die Soldaten sahen zu ihr. In dem Blicken beider zeichnete sich Mitgefühl ab. Dennoch schwiegen sie. Offenbar hielten sie es auch nicht für möglich.

Warum sagten sie es nicht? Wieso ließen sie zu, dass er mitgenommen wurde?

Anni warf Wolff einen Blick zu, in den Mutter ihr Vertrauen setzte. Er hatte sich ebenfalls erhoben, die Fäuste geballt und den Kopf geneigt. Unter seinem zu lang gewachsenen Haar bemerkte Anni wieder die phosphoreszierenden Augen.

„Von Stürickow!“, rief er scharf. „Beckmann war es nicht!“

Der Hilfskommissar begegnete seinem Blick sehr ruhig. Ihm entging offenbar das grauenhafte Aussehen, das Lauern …

Anni atmete scharf ein. War Wolff als Soldat nicht zu solchen Taten fähig? Das Raubtier in ihm schien aber niemand zu bemerken – warum nicht?! Anni wurde schwindelig.

Von Stürickow räusperte sich. „Uns fehlen Beweise, die der Aussage widersprechen, Wolff.“

„Dann strengen Sie sich an und gehen nicht den bequemsten Weg, Mann!“

Der Hilfskommissar straffte sich.

„Heinrich“, wisperte Löb. Er griff nach dem Arm seines Freundes und zerrte an ihm, bis Wolff nachgab und sich wieder in den Stuhl fallen ließ. Seine Anspannung wich nicht.

Würde er sich für Vater einsetzen, wenn er mehr wüsste, vielleicht selbst etwas damit zu tun hätte? Sicher nicht. Aber warum reagierte er so? Wegen Mutter, oder weil er Vater mochte?

Anni schloss die Augen. Aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern drang Rumpeln, als würden Waschtisch oder Kleiderschrank verschoben. Sie riss die Augen auf. Glas klirrte und knirschte unter einem Stiefel. Wie konnten diese Männer nur so brutal und herabwürdigend vorgehen? Am liebsten hätte sie geschrien und sie alle aus der Wohnung vertrieben. Der Wunsch steigerte sich zu einem rasenden Feuer in ihrer Brust. Dennoch kam nur ein hilfloses Krächzen über ihre Lippen. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was die Untermieter dachten. Sicher wurden auch ihre Zimmer durchsucht. Das hier war kein Zufluchtsort mehr. Wie zur Bestätigung stöhnte Vater gequält. Anni fing seinen brennenden Blick ein. Er wirkte zutiefst gedemütigt. Auf einem Anschlagplakat hatte sie vor zwei Jahren die Zeichnung eines Mannes mit der gleichen Mimik gesehen. Da war es der Feind gewesen, der von den Kaiserlichen Truppen niedergerungen wurde. Anni presste die Lippen aufeinander. Sie konnte sich nicht von ihm abwenden. Vater wirkte winzig und grau zwischen den beiden Männern in ihren militärisch gegürteten, schwarzen Mänteln und den Pickelhauben.

Ihre Brust tat weh, zugleich begannen ihre Augen zu brennen. Einen Moment später verschwamm ihre Sicht. Warum begann sie jetzt zu weinen? Wütend wischte sie sich mit dem Handrücken über die Wangen. Allein für Mutter musste sie dieselbe Stärke und Strenge haben wie ihr Vater, sonst würde sie verzweifeln. Mühsam straffte sie sich und blinzelte die Tränen weg. Ihr Vater bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Anni bemerkte den bedauernden Blick des großen, rotgesichtigen Soldaten. So viel Wärme und Verständnis lagen darin. Er wollte nicht hier sein, keinen Unschuldigen verhaften. Er wusste … Etwas sehr Schweres kippte im Schlafzimmer um, sodass ein Stoß durch die Dielen ging. Anni zuckte zusammen und versteifte sich.

„Herr von Stürickow, ich habe was gefunden!“, brüllte ein Soldat. „Das könnte das beschriebene Kinderkleid von dem Mädel sein!“

Mutter keuchte und vergrub den Kopf an Wolffs Schulter. Im gleichen Moment sprang Marie auf, sodass ihr Hocker nach hinten kippte und gegen die Ofenklappe schlug.

Der Hilfskommissar regte sich nicht. Auch seine Augen hatten sich geweitet. Er hielt die Hände zu Fäusten geballt.

Mühsam räusperte er sich. Sein Adamsapfel sprang über dem Hemdkragen. Auch er suchte Wolffs Blick. Was wollten alle von ihm? Anni krampfte beide Hände um die Lehne und grub die Finger in den Lack. Splitter platzten ab und bohrten sich unter ihre Nägel. Der Druck in ihrem Kiefer nahm zu und schoss scharf in ihre Schläfen. Schließlich ging es um Vater, nicht Heinrich Wolff! Am liebsten hätte sie ihr Unverständnis laut hinausgeschrien, aber was half es jetzt, hier und in dieser Situation?

Sie ließ ihren Halt los. Auf unsicheren Füßen trat sie auf den Flur. Hinter sich hörte sie von Stürickow, der sie überholte. Rasch schob er sich an ihr vorbei ins Schlafzimmer. Wieder brach Glas. Langsam ging sie weiter. In der Küche wurden Stühle zurückgeschoben und die Untermieter drängten auf den Flur. Vorsichtig spähte Anni um die Ecke in das elterliche Schlafzimmer. Die Kommode mit der eingelassenen Marmorwaschschüssel stand von der Wand abgerückt, die Schubladen lagen auf dem Boden. All die saubere Wäsche lag über Bett und Boden verteilt. Der Spiegel des Frisiertischs lehnte ausgehakt an der Wand und – soweit Anni sehen konnte, hatten die Soldaten den Boden des Kleiderschranks aufgestemmt. Von Stürickow vertrat Anni den Weg und nahm ihr die Sicht.

Aus der Stube klang ein vielstimmiges Aufdonnern der Klavierseiten. Anni fuhr zusammen und wirbelte herum. Wer wagte es ihr Klavier zu entweihen?! In der doppelflügligen Tür lehnte ein Soldat des Hilfskorps. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und knirschte angestrengt mit den Zähnen. Schweiß lief unter seiner Pickelhaube über sein Gesicht und versickerte in seinem dichten, rotblonden Bart. Von ihm stieg feuchte Hitze auf. Anni schob sich an ihm vorbei und spähte in den Raum. Fast hätte sie erwartet, wieder aufgehalten zu werden, doch er ließ sie gewähren. Ein anderer Soldat hatte den Korpus des Klaviers geöffnet und sich mit einer Hand auf die Tasten gelehnt. Immer wieder drangen Töne aus dem polierten Holzkasten. Annis Wut loderte auf. „Was tun Sie da mit meinem Klavier?!“

„Suchen!“, entgegnete der Soldat, ohne sich umzudrehen. Ihm war die Anstrengung in der Stimme anzuhören, während er weiter zwischen den empfindlichen Seiten herumfingerte.

Sie wagte einen Schritt in den Raum, nur um mit einem weiteren Soldaten zusammenzustoßen, der neben der Tür gekauert hatte und sich gerade aus der Hocke erhob. „Verzeihung“, sagte der Mann unsicher. Anni warf ihm – wie sie hoffte – einen vernichtenden Blick zu, den er mit schüchternem Lächeln hinnahm. Sie bemerkte, wie umständlich er die riesige Zeichenmappe von Wolff oder Löb verschnürte, nur um sie an ihren Platz hinter der Nähmaschine abzustellen. Er fühlte sich unwohl. Sie kniff die Augen zu Schlitzen. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor. Leider entglitt ihr der Gedanke sofort wieder, als er sich umdrehte und der gegeneinander gelehnten Gemälde von Löb und Wolff widmete. Behutsam hob er die auf Holzrahmen aufgezogenen Leinwände an.

„Was machst du da?“, schnauzte ihn sein Kollege an. „Lässt du dich etwa von so einem Backfisch verschrecken?“

„Was erlauben Sie sich, Sie Flegel!“ Annis Stimme überschlug sich. „Sie trampeln durch unsere Wohnung und benehmen sich, als wären Sie im Feld. Lassen Sie das, verstanden?!“

„Goemann, Lohmann!“ Von Stürickow betrat die Stube und stemmte die Hände in die Hüften. Obwohl er ein kleiner Mann war, standen beide Soldaten von ihm stramm. „Benehmen Sie sich gegenüber Fräulein Beckmann anständig oder ich lasse Sie beide verwarnen.“

Anni wirbelte wieder zu ihm herum, sodass ihr langer Rock schwer mitschwang. Er nickte ihr knapp zu und ging. Obwohl der Hilfskommissar ihr geholfen hatte, richteten sich ihre Gefühle auch oder im Besonderen gegen ihn. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie die Kisten mit den Tubenfarben und die Spachtel zu Boden polterten. Wolff würde sicher zornig werden. Er achtete sehr genau auf sein Handwerkszeug. Seitdem die beiden Männer wieder Zivilisten waren, arbeiteten sie als Zeichner und Karikaturisten bei einer Zeitung. Anni seufzte.

„Entschuldigung“, murmelte der schüchterne Mann. Lohmann hatte von Stürickow gesagt. Anni musterte den jungen Mann über die Schulter. Max Lohmann, sie erinnerte sich wieder an ihn. Er war einer der schlechten Schüler ihres Vaters, der oft hier war, um seine Strafarbeiten abzuholen. Ihn hatte Vater vor drei Jahren auch nicht vor dem Feld bewahren können.

Lohmann senkte den Kopf. Seine Lippen zuckten. Er schien zu wissen, dass sie ihn erkannt hatte. Natürlich war es ihm nicht recht hier zu sein. Er wollte unter diesen Umständen sicher keinem Beckmann unter die Augen treten. Unsicher begegnete er Annis Blick, während er die Farbtuben aufsammelte.

„Es tut mir wirklich leid“, flüsterte er mit fast mädchenhaft heller, schwacher Stimme. Sein Kamerad – Goemann – zog die Brauen zusammen. Alle Verachtung, zu der er fähig zu sein schien, fing sich in seiner Haltung. „Weibischer Drecksack.“

Annis Wut reichte leider nicht mehr, etwas gegen ihn zu sagen. Während das brennend starke Gefühl aus ihr floss, blieb Unsicherheit übrig. Sie wusste nicht, was sie gegen die Solddaten unternehmen konnte.

Dielen knarrten. Anni roch Konrad Löbs Rasierseife und spürte die tierhafte Nähe von Heinrich Wolff. Hilfesuchend sah sie zu ihnen. Die beiden Männer standen dicht nebeneinander und spähten hinein.

Anni erinnerte sich an das Gefühl, als ihr Vater die Stube an Wolff und Löb vermietet hatte. Sie wollte es damals einfach nicht glauben. Der schiere Gedanke, weitere Stücke ihres Heims an andere abzutreten und selbst zu Gästen in der Wohnung zu werden, hatte sie damals entsetzt. Heute war es anders. Allein wegen der angenehmen Gesellschaft des charmanten Konrad Lob wünschte Anni sich die Wohnsituation nicht anders. Und nun verwüsteten Soldaten diesen Raum …

Anni bemerkte, dass Konrad Löb seinen Gehstock fast wie einen Knüppel umklammert hielt und anhob. Seine Kiefer malten und in seinen Augen stand blanke Wut. Heinrich Wolff beobachtete jeden Handgriff. In seinem Gesicht zuckten Muskeln, doch er wirkte teilnahmslos gegenüber seinem Freund.

„Sind Sie beide bald mit Ihrem Zerstörungswerk fertig?“, fragte Löb gepresst. „Oder wollen Sie weitermachen? Sie haben noch ein paar feuchte Bilder nicht ruiniert.“

Entschuldigend zuckte Lohmann mit den Schultern.

„Wir müssen nach Beweisen suchen. Es tut mir wirklich leid.“

Löb verkrampfte sich, machte einen Schritt auf den jungen Mann zu … Wie zufällig legte Wolff seine große Hand über die seines Freundes und drückte sie sacht herab.

„Das bringt nichts, Konrad“, murmelte er. „Goemann macht das mit Absicht. Er ist ein Schwein. Du kennst ihn.“

„Das Narbengesicht hat recht, Löb“, bestätigte Goemann spöttisch, der sich vom Klavier ab- und den für die Nacht vorbereitet Betten zuwandte. Ohne Zögern riss er die Laken aus den Sofaritzen, wobei er beiden Männern einen angewiderten Blick zuwarf.

Was wollte er damit andeuten? Anni verstand nur, dass er seine beiden ehemaligen Kameraden beleidigte.

Sie ballte die Fäuste. Dem konnte sie nicht länger zuschauen. Rasch huschte sie auf den Flur und blieb an der Schlafzimmertür stehen. Von Stürickow hatte die Tür angelehnt. Mit der flachen Hand wollte Anni sie aufstoßen, aber etwas blockierte von innen, sodass sie nur einen Streifen Licht und die Schulterpartie des Hilfskommissars sah.

„Herr v…“ Jemand legte sanft seine Hand auf ihre Schulter und drückte sie. Sie konnte nicht verhindern, dass sie zusammenzuckte.

„Machen Sie sich nichts aus Goemanns Art, Fräulein Anni“, sagte Löb leise. So beruhigend die Worte klangen, so deutlich hörte sie seine unterdrückte Wut – oder war es Hass? Ein warmes Gefühl erwachte und erkaltete sofort wieder. Unter anderen Umständen hätte diese kurze Nähe etwas Wunderschönes und Bezauberndes an sich gehabt. Jetzt empfand sie nichts, nur Widerwillen. Anni wollte gerade unter seinem Griff wegtauchen, als von Stürickow mit einer schwarz verkrusteten Kinderschürze in der Hand aus dem Schlafzimmer kam. Er hielt den Blick gesenkt, wandte sich in den Raum und sagte: „Durchsucht alles gründlich. Ich brauche mehr als das Stück Stoff. Ich will richtige Beweise haben!“

„Hah!“, stieß Goemann aus. „Jetzt geht der Pauker ins Loch!“

„Halten Sie den Mund!“, schnappte von Stürickow. Seine Stimme erinnerte an das Grollen in einer Hundekehle. Trotz der Rüge verschwand das gehässige Grinsen nicht aus Goemanns Zügen. Von Stürickow wandte sich an Anni. Sein Zögern war Unsicherheit und Angst. Der Hilfskommissar sah zu Boden. Warum besaß er nicht den Anstand, ihr in die Augen zu schauen? Nach einem Moment hob er den Kopf, sah aber zu den beiden Männern hinter ihr. Etwas wie Erkenntnis und tiefe Sorge lag darin, versickerte aber hinter einer Maske. Welche Gefühle sich in seiner Mimik widergespiegelt hatten, konnte sie nicht sagen, aber er hatte jede noch so kleine Empfindung verbannt. Unmerklich nickte er. Unsicher sah Anni über die Schulter, obwohl sie zu wissen glaubte, wem die Geste galt. Aus Wolffs Zügen sprach tiefe Wut. Er knirschte mit den Zähnen. Erst als er Annis Starren bemerkte, begann er sich zu beruhigen. Ein aufmunterndes Lächeln quälte sich auf seine Lippen. „Alles wird gut“, wisperte seine Stimme in ihrem Kopf. Anni war sicher, dass niemand ihn hörte, nur sie. Er sprach ausschließlich zu ihr. Aus irgendeinem Grund erschreckte es sie nicht mehr. Alles war bei diesem Mann möglich. Langsam trat von Stürickow an die Wohnungstür und befahl: „Führt Beckmann ab!“

Angriff / 09.11.1918

Im geringen Restlicht der Gaslaterne zeichneten sich die Schatten der dünnen Gardine und des Fensterkreuzes auf den Dielen ab. Der beständig kühle Luftzug bewegte den leichten Stoff. Während des strengen Winters vor zwei Jahren hatte sich das Holz verzogen. Anni zog die Decke höher und schmiegte sich enger an ihre Mutter. Die Körperwärme tat gut. Unruhiger, schwerer Atem verriet ihr, dass Mutter eingeschlafen war, aber schlecht träumte. Durch die Wand hörte Anni, wie der Regulator zur vollen Stunde schlug. Sie zählte mit. Beim fünften Schlag hatte sie das Gefühl zu verzagen. Der Morgen kam, unbarmherzig und damit die Arbeit in der Waggonfabrik. Alles in ihr wehrte sich dagegen. Wenigstens heute Früh wollte sie bei Mutter bleiben. Gaben ihr die äußeren Umstände nicht das Recht dazu?

Klug war es nicht, mit der Verhaftung hausieren zu gehen. Es konnte Anni die Stelle kosten.

Sie schloss die Augen und lehnte sich an. Mit sanften, kleinen Bewegungen streichelte sie die Schulter ihrer Mutter. Wie lang ließ sich verheimlichen, dass Vater festgenommen worden war? Nicht lang, schließlich redeten die Leute. Aber vielleicht reichte die Zeit, um Vaters Unschuld zu beweisen … Aber wie? Innerhalb einer Stunde hatte sich ihr gesamtes Leben verändert.

Die Uhr in der Stube tickte lauter, wenigstens kam es Anni so vor. Sie schluckte verkrampft. Anni stemmte sich ein Stück weit hoch und betrachtete die zusammengekauerte Silhouette ihre Mutter. Zärtlich streichelte sie ihr über das Haar. Erschöpft wie Mutter gewesen war, hatte sie sich nicht von Rock und Bluse befreit, sondern angekleidet zu Anni gelegt. Bis vor einer Weile hatte sie geweint; selbst bei der stupiden Arbeit des Aufräumens, nachdem die Soldaten von Stürickow gefolgt waren. Jetzt hatte sie keine Tränen mehr. Dennoch waren ihr Gesicht gerötet und die Augen verquollen gewesen.

Was ging in ihr vor sich, abgesehen von der Scham, die sie empfand? Sie sprach nie viel, behielt ihre Gedanken immer für sich. Hatte sie Angst, dass Vater nicht mehr nach Hause kam? Fürchtete sie sich vor der Einsamkeit? War sie schwach oder stark?

Anni wurde schmerzhaft bewusst, dass sie den Menschen, der sie geboren hatte, nicht einmal einzuschätzen vermochte, obwohl sie die vier Kriegsjahre alle Facetten von Angst, Erniedrigung und Entbehrung gemeinsam durchgestanden hatten. Warum gewann ihre Mutter erst jetzt einen greifbaren, realen Stellenwert? Anni schluckte trocken und streichelte ihr über die Wange. Wie hatte sie diese Frau all die Jahre nur unterschwellig wahrnehmen können? Sie war kein prägender, starker Mensch wie Vater, aber sie war da, lebte, liebte und litt. Anni sah plötzlich wieder ihre Mutter vor sich, die Wolffs Hand umklammerte, sich an ihn lehnte … ihre Freude über seine Heimkehr …

Liebte sie ihn?

Um Annis Herz schloss sich eine Stahlklammer. Aber warum beweinte sie Vaters Festnahme? Welche Art von Hilfe und Nähe erhoffte sie sich von Wolff? Und warum hatte er gesagt, dass alles gut werden würde? Anni verstand das Bündnis zwischen ihren Eltern und Wolff nicht. Welches Geheimnis hüteten sie? Anni schüttelte den Gedanken ab.

Mutter fest in die Arme zu schließen, schien ihr in dem Moment das einzig Richtige. Sie musste ihr zeigen, dass sie auch in der Familie nicht allein war. Gemeinsam fanden sie sicher einen Weg Vater nach Hause zu holen. Trotzdem würde sich vieles ändern. Dafür musste Anni kaum Fantasie aufbringen. Die meisten Untermieterinnen sahen sie seit dem Abend mit anderen Augen, das stand außer Frage. Nachdem Frau Gabriel angekündigt hatte mit Marie bei einer Bekannten zu nächtigen und unter den gegebenen Umständen auszuziehen, folgten die beiden anderen Damen ihrem Beispiel.

Allein bei dem Gedanken regte sich das innere Beben in Anni. Heiße Wut flammte in ihr. Diese Frauen waren sich sicher mit einem Mörder unter einem Dach gelebt zu haben. Wahrscheinlich waren sie froh, nicht auch umgebracht worden zu sein. Innerlich sträubte Anni sich gegen die Verlogenheit und Angst der vier Frauen. Bislang hatte sie den Eindruck gehabt mit wunderbaren Menschen zusammengelebt zu haben. Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit gaben zumeist den Ton an. Die Frauen waren glücklich gewesen ein Zimmer in einem Lehrerhaushalt zu bekommen, in dem ein Mann auf sie aufpasste. Sie hatten vier Kriegsjahre gemeinsam durchlebt und waren ein fester Bestandteil von Annis Alltag geworden, und nun das? Es kam ihr wie Verrat vor, Feigheit und … Wuttränen schossen Anni in die Augen.

Marie hatte die Möglichkeit erhalten, unter Vaters Aufsicht zu lernen, und durfte Klavierstunden nehmen, die ihr nie in Rechnung gestellt worden waren. Ebenso genoss die alte Frau Janzig Vorteile, denn sie konnte zusammen mit Anni und Marie Hausmusik machen und dazu singen. Mutter teilte mit Frau Engel die Arbeit und ihr Entgelt.

Warum wandten sich diese Menschen jetzt ab? Zogen sie denn nicht einmal in Erwägung, dass sich die Polizei irrte?

Zornig wischte Anni sich über das Gesicht und schloss die Augen. Für einen Moment tat es gut, nur auf die Stille zu lauschen.

Eine Tür knarrte im Hof. Anni schlug die Lider auf. Schwach drang Licht zu ihr hinauf. Neben der Fleischerei wurde der Verschlag geöffnet. Offenbar war es bereits so weit und der alte Scherenschleifer Seibert machte seinen Wagen fertig. Sie hörte die Achse knarren und das Rumpeln der Holzräder auf dem Steinpflaster, als er ihn nach draußen zog. Trockener Husten begleitete ihn bei seiner Arbeit. Einen Moment später winselte sein Hund. Schritte hallten in der Torfahrt nach und die gedämpften Stimmen der Metzgergesellen fingen sich im Hinterhof. Einer rief Seibert einen Gruß zu, während der Schlüssel im Schloss mehrfach knackte. Langsam erwachte der Kästrich zum Leben. Anni kniff die Augen zusammen. Wie würde es ihrem Vater gehen? Von Stürickow hatte ihn in einer der Mainzer Gendarmerien in Untersuchungshaft nehmen lassen, was immer das bedeutete. Anni wusste nur, dass sie und Mutter ihn vorerst nicht besuchen durften. Allein diese Sicherheit hatte in ihr nachhaltige Nervosität ausgelöst.

Allerdings fehlte ihr eine klare Vorstellung von dem Unterschied zwischen Haft und Untersuchungshaft. Und wenn kein Wunder geschah und er entlastet wurde, stand ihm unweigerlich die Todesstrafe bevor. Der Gedanke erschütterte sie. Bis zu einem gewissen Grad wusste sie um diese Konsequenz, aber bislang hatte sie vermieden, so weit zu denken. Vater konnte nicht töten. Das wussten sie alle, aber wahrscheinlich besaß nicht einmal die Zusicherung von Stürickows ausreichendes Gewicht. Ihr Herz wurde schwer. Sie spürte, wie ihr jeder Atemzug schwerfiel. Erneut sammelten sich Tränen in ihren Augen. War es das, was Mutter befürchtet hatte? Sicher half sie keinem, wenn sie weinte. Mühsam würgte Anni den Schmerz hinunter. Leider hörte ihr Körper in keiner Weise auf Vernunft. Ihre Fantasie formte Bilder von engen Kadern, harten Bänken und Pritschen, von Ketten und bewaffneten Soldaten. Alle Farbe wich aus ihrer erdachten Szene und hinterließ triste, graue Mauern, einen Richtblock und tauenden, schmutzigen Schnee, der sich … rot verfärbte! Anni fuhr keuchend hoch.

Wie hoch war die Gewissheit, dass dieses Szenario eintrat? Was taten die Soldaten und der Hilfskommissar mit Vater? Würde von Stürickow seine eigene Meinung ignorieren? Was geschah, wenn er Vater zu einem Geständnis zwang? Wahrscheinlich übernahm von Stürickow die schmutzige Arbeit nicht selbst, sondern überließ es den Soldaten des Hilfskorps, solchen wie Goemann. Sie hatte nicht vergessen, wie dieser Kerl mit seinem Kameraden Lohmann umgegangen war. Das Bild des vollkommen durcheinandergebrachten Schlafzimmers schob sich in ihre Vorstellung. Die aus den Schränken gezogenen Laden und die zerwühlte, zertrampelte Wäsche. Selbst die Unterkleidung ihrer Mutter war vor diesen Männern nicht sicher gewesen. Ihr widerstrebte der Gedanke. Ekel zog ihr den Magen zusammen. Das widersprach allem, was gut und richtig war. Wenn man mit einem Mörder so verfuhr, mochten solche Methoden recht und billig sein, aber ihr Vater konnte bestenfalls den Rohrstock schwingen. In Annis Glieder kribbelte es. Sie konnte nicht abwarten und auf Besserung seines Schicksals hoffen, sondern musste handeln.

Aber was konnte sie tun?

Sie war vielleicht mit fünfzehn Jahren eine junge Frau, aber niemand nahm sie ernst. Die Vorstellung raubte ihr alle Kraft. Warum konnte sie nicht so stark und frech sein wie Lotti? Ihr hörten die Männer zu. Niemand ging an ihr vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Sie verschaffte sich mit ihrem schnoddrigen Berliner Dialekt Gehör. Anni straffte sich. Vielleicht half Lotti ihr. Ganz sicher würde sie sich gegen diese Ungerechtigkeit einsetzen wollen.

Die Idee begann Anni zu gefallen. Vor allem würde Lotti ihre Sorgen verstehen. Sie kannte und mochte Vater schließlich auch sehr. Wenn sie sich für ihn aussprach … Annis Tränen versiegten. Sie schmiegte ihre Wange in das Haar ihrer Mutter. Behutsam glitt Anni vom Bett.

So leise wie möglich schlüpfte sie in ihre Stiefel und zog sich den Mantel über. Als sie das Zimmer verließ und auf den Flur hinaustrat, hörte sie Stimmen. Löb und Wolff waren wach. Wahrscheinlich diskutierten sie die Situation oder überlegten, ob sie sich nicht auch ein neues Zimmer suchten. Allein durch die Vorstellung breitete sich Enttäuschung in ihr aus. Sollte sie vorsichtig lauschen? Nein, sie wollte nichts von dem hören, was sie sich vorstellte. Mutter vertraute blind auf Wolff und ein Leben ohne Konrad Löb war eigentlich nicht mehr denkbar. Seine Gegenwart machte Anni glücklich. Doch das war nicht der passende Moment für ihre heimlichen Gefühle zu Löb.

Anni schenkte der Stubentür einen letzten Blick, betrat den Hauptflur und wandte sich zum Eingang. Mit einem Knacken des Bakelit-Schalters ging das Treppenhaus-Licht an. Erschrocken fuhr Anni zusammen. Nirgends hatte sie eine Tür schlagen hören. Mit angehaltenem Atem lauschte sie.

Schritte blieben aus. Wer war das? Draußen begann die Glühbirne zu flackern, sodass das unruhige Muster der Glasfacetten über die ausgetretenen Dielen huschte. Anni kniff die Augen zusammen. Als sie die Lider hob, schien die fahle Helligkeit konstant durch die Scheiben. Und es war unnatürlich still, als wäre die Zeit zwischen dem Ticken des Regulators stehen geblieben.

Niemand ging oder kam … Auch in der Wohnung regte sich nichts. Die Stille besaß etwas Erstickendes. Trocken schluckte sie und legte die Stirn in Falten. Außer Seibert hatte noch kein anderer sich auf den Weg zur Arbeit gemacht. Ihr rann ein Schauder über den Rücken.

Vor der Tür huschte etwas durch das Licht. Erschrocken blinzelte sie. Auf ihren Unterarmen richteten sich die Härchen auf. Hatte sie sich das eingebildet? Ein Schatten legte sich über die Bleinähte des Rautenmusters. Sie glaubte, einen Mann zu sehen. Anni fuhr zusammen. Wer war das?!

In der Luft lag ein Gemisch aus kaltem Rauch, Schweiß, schal-süßem Parfum und etwas Fremdem, Metallenem, das in einen dumpfen, zugleich abstoßenden Geruch überging. Die Präsenz schien Holz und Wand zu durchdringen und sich hier zu manifestieren. Immer dichter zog sich der Gestank zusammen, bis sie nur noch die Luft anhalten konnte. Langsam machte sie einen Schritt zurück.

Etwas strich mit rauen Fingern an ihrer Wange entlang … Anni fuhr keuchend zurück. Sie wollte schreien, konnte es aber nicht. Ihre Stimme versagte. Heiser keuchte sie. Erneut berührte sie die Hand. Instinktiv schlug sie zu, ohne Widerstand zu spüren. Die Berührung war kalt gewesen und hatte eine feuchte Spur auf ihrer Haut hinterlassen. Heißer, fauliger Atem streifte sie. Ekel kroch ihre Kehle hinauf und ihr Magen hob sich. Sie wischte mit dem Ärmel über ihr Gesicht. Zähe Flüssigkeit hatte eine blasse Spur auf der dunklen Wolle zurückgelassen. Die Konsistenz war klebrig. Wieder hatte sie den schalen Geruch in der Nase. Zittrig sah sie sich um. Das alles war unmöglich!

Warum bekam ausgerechnet Wolff die Gefahr nicht mit? Warum?!

Etwas sog ihren Geruch ein, schnüffelte … Sie stieß die Arme vor, nur um noch einmal den Versuch zu machen zu schreien. In der Stube hörte sie, wie jemand aufsprang. Anni sah sich panisch um. Kam Hilfe? Aus dem Raum drang ein tiefes, kehliges Knurren. Kleidung raschelte.

Wo blieb Wolff?

Erneut tasteten Hände über ihr Gesicht und krallten sich in ihren Kragen. Sie schlug um sich und wirbelte herum. Alles in ihr schrie, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam. Zum ersten Mal bemerkte sie Widerstand. Sie fühlte rauen Stoff, Wolle und nasses Leder. Dann, von einem Moment zum anderen, gingen ihre Schläge ins Leere. Wieder flackerte das Treppenhauslicht. Gleich würde es verlöschen und dann – was dann? War sie sein Opfer?

Nein!

Sie spannte sich, bis jeder Muskel brannte, und neigte den Kopf. Die Luft roch nicht mehr nach diesem Mann. War er fort? Nervös befeuchtete Anni die Lippen. Sie tastete um sich, ohne ihren unsichtbaren Angreifer zu spüren. Sichernd sah sie zur Stubentür …

Hatte Wolffs schiere Präsenz ihren Gegner vertrieben?

Annis Herz schlug hart. Ihr wurde schwindelig. Mühsam rang sie nach Atem. Langsam drehte sie sich im Kreis. Nichts. Sie wandte sich zur Eingangstür um und trat näher. Unter ihr knarrte das alte Holz. Anni hielt die Luft an und blieb stehen. Ihre Haut begann zu kribbeln. Überall dort, wo er sie berührt hatte, spürte sie nur noch betäubende Kälte. Starker Schwindel erfasste sie. Annis Knie wurden weich. Mit zittrigen Fingern griff sie nach dem Mantelkragen und zog ihn über dem Hals zusammen und ließ sofort wieder los. Durch die Enge fiel ihr das Luftholen zu schwer. Anni lehnte sich gegen die Wand und atmete mehrfach gezwungen ruhig durch. Erneut fragte sie sich, ob es vorbei war.

Sie streckte die Hand aus und fuhr durch die Luft. Nirgends stieß sie auf Widerstand. Erleichtert sank sie in sich zusammen. Sie musste mit jemandem darüber reden, aber wer glaubte ihr?

Wolff, aber er würde kaum mit ihr darüber sprechen wollen. Dazu war er zu verschlossen und machte um sich und seine Natur ein zu großes Geheimnis. Anni stöhnte auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Lotti fiel ihr wieder ein. Aber so bodenständig wie sie war, würde sie vermutlich nur lachen. In ihrer Welt gab keine unsichtbaren Männer – oder doch? Anni wollte den Gedanken von sich schieben, aber etwas daran war zu sperrig, um sich davon zu lösen. Welche Möglichkeit hatte jemand, den man nicht sah?

Sie fuhr zusammen.

Was, wenn auf dem Weg die blutige Kinderschürze ins Schlafzimmer gekommen war?

Nein, das war Unsinn – oder?

Sie biss sich auf die Unterlippe.

Plötzlich zeichnete sich ein Schatten jenseits der Tür ab und kam rasend schnell auf das Glas zu, nur um mit der flachen Hand gegen den Holm zu donnern. Alle Scheiben klirrten in der Bleifassung. Holz und Schloss gaben ein lautes Knacken von sich. Entsetzt schrie Anni auf und duckte sich in Erwartung eines weiteren Angriffs. Ihr Atem stockte. Der Geruch nach frischem Blut lag in der Luft, sodass sich ihr Magen hob. Draußen polterte etwas Schweres die Treppen hinab. Im gleichen Moment verlosch das Licht. Hilflos würgte Anni. In ihrer Brust verkrampfte sich etwas, lähmte sie, zugleich nahm das Kribbeln zu. Die Stubentür wurde aufgerissen. Anni hob den Kopf.

Wolff eilte zu ihr und zog sie auf die Füße. Beschützend schloss er sie in die Arme. Endlich war er da. Erleichtert schmiegte sie sich an ihn.

Unter seinem Schutz wich die Angst. Anni rieb ihre Wange an seiner Brust und er ließ es geschehen. Zum ersten Mal empfand sie Vertrauen. Wahrscheinlich war es dasselbe Gefühl, was ihre Mutter veranlasst hatte, seine Hand zu ergreifen und sich anzulehnen.

Mit halb geschlossenen Augen sog sie seinen Duft ein. An ihm haftete der Geruch von Seife, Löbs Aroma, aber auch etwas Schalem. Es erinnerte sie schwach an das, was sie bei dem Unsichtbaren wahrgenommen hatte. Ähnlich, aber trotzdem anders.

Wolffs Körper verströmte überraschende Wärme. Unsicher, zögernd, strich er über ihr Haar. Die Berührung tat gut. Anni entspannte sich. Aus seiner Brust kam ein kaum wahrnehmbares Grollen. Es klang beinah wie das Knurren eines großen Hundes. Irritiert hob sie den Blick. Spürte er noch immer Gefahr? Seine Züge waren ein Kraterfeld aus Licht und Schatten, sodass sie nicht einschätzen konnte, was sie ausdrückten. Er starrte zur Tür. Wieder phosphoreszierten seine Augen. Er fletschte die Zähne. Er hatte verlängerte, spitze Fänge – ein richtiges Wolfsgebiss!

All die schrecklichen Narben und sein unheimlicher Blick verblassten angesichts dessen.

War das etwa der wirkliche Heinrich Wolff?

Ein hoher, hysterischer Schrei klang in ihren Ohren nach. Hatte sie ihn ausgestoßen? Anni stieß die Hände vor und brachte einen Schritt zwischen sich und das Geschöpf. Wolff wich zurück und drehte den Lichtschalter an. Der böse Spuk endete.

Vor ihr stand nur Heinrich Wolff, der Mensch.

Seine Brust hob und senkte sich hektisch. Die Helligkeit enthüllte sein ernstes, entstelltes Gesicht und in seinem halboffenen Mund erkannte sie helle, gesunde Zähne, nichts, was ihr Angst machte. Ihm fielen zerzauste Locken in die Augen. Nachlässig strich er sie sich zurück. Seine Lippen zuckten. Er wollte etwas sagen, schwieg aber. Mit einer Hand machte er eine besänftigende Geste.

Anni kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Gefühl, dass er genau wusste, was sie gesehen hatte. Er wollte es nicht so weit kommen lassen. Aber nun hatte sich der Schleier ein weiteres Stück gehoben. Irgendwann würde er ganz zerreißen und sie wissen, was Wolff war.

In seinem Blick lag ein stummes Flehen. Fürchtete er von ihr verraten zu werden?

Anni warf einen Blick zu ihrem Zimmer.

Es war ein Wunder, dass Mutter nach dem Schrei weiterhin schlief.

Ein schwaches Huschen unter dem Türspalt verriet Bewegung. Leise knarrten Dielen. Mutter war wach, lauschte, wagte aber nicht sich zu zeigen.

Verwirrt schüttelte Anni den Kopf. Geriet ihre Welt jetzt endgültig aus den Fugen? Fürchtete Mutter das Monster in Heinrich Wolff?

Unsicher betrachtete Anni ihn. Obwohl er noch immer an der gleichen Stelle stand, wirkte er zutiefst besorgt. Langsam schloss er die letzten Hemdknöpfe und zog seine Hosenträger über die Schultern. Hatte er deshalb so lange gebraucht? Immerhin trug er keine Nachtkleidung mehr. Behutsam wagte Wolff einen Schritt auf sie zu. Unwillkürlich sog Anni die Luft ein. Das zischende Geräusch klang ungewöhnlich laut, genau wie in dem Moment, als die Uhr aufgehört hatte zu ticken. Aber der Eindruck drohender Gefahr fehlte. Wahrscheinlich – nein, ganz sicher - war Wolff ihr Freund, ein Beschützer.

Trotz allem wollte sie nicht, dass er näherkam. Wolff hielt inne und senkte den Kopf. Helle Locken fielen ihm in die Stirn. Als er den Blick hob, sah er aus wie ein geprügelter Hund.

„Etwas hat mich berührt …“, hörte sie sich selbst sagen. Ihre Stimme klang ungewöhnlich hoch und kraftlos. Sie räusperte sich und zwang sich zur Ruhe: „Draußen stand jemand.“

„Ich weiß“, entgegnete er schlicht und sah an ihr vorbei zur Wohnungstür.

Wolff löste sich. Lautlos huschte er über die Dielen, dicht an ihr vorbei, sodass er Anni streifte. Erneut nahm sie wieder den eigentümlichen Geruch von ihm und Löb wahr.

Fast, als wären sie ein Mensch, schoss es ihr durch den Kopf. Wie nah mussten sie sich kurz zuvor gekommen sein?

Ihr rann ein Schauder über den Rücken. Allerding beachtete er sie nicht, sondern blieb an der Tür stehen. Kurz hielt er inne, sog die Luft ein und schloss die Lider. Was nahm er wahr, das ihr entging? Sie legte die Stirn in Falten. Plötzlich presste Wolff die Lippen aufeinander und löste sich. Er hob die Lider. Wieder phosphoreszierten seine Augen.

Langsam gewöhnte sie sich an diesen Anblick. Er würde sie beschützen. Anni fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und lächelte zuversichtlich.

Wolff kniete nieder und zog seine Stiefel an.

„Was haben Sie … wahrgen… gerochen?“, korrigierte sie sich. Wolff schwieg. Als er sich erhob, schenkte er ihr einen offenen, freundlichen Blick. Zwischen ihnen gab es immer weniger Geheimnisse. Er legte ihr seine Natur in die Hände, begann zu vertrauen. Die aufkeimende Gewissheit verlieh ihr Mut. Sie straffte sich und sah ihm in die Augen.

„Sie haben seine Witterung aufgenommen?“

Er öffnete den Mund, ohne etwas zu sagen. Anni sah ihm an, dass er nachdachte. Langsam nickte er. Trotzdem blieb er ihr die Antwort schuldig. Rechnete er damit, dass sie die Wahrheit nicht verkraftete? Anni streckte die Hand aus, um ihn festzuhalten, bevor er sich wieder abwandte. Geschmeidig wich er ihr aus.

„Sie sind kein einfacher Mensch mehr“, sagte sie leise, aber scharf. Sie wollte, dass er ihren Ärger wahrnahm. Ihre Worte prallten an ihm ab. Aus dem Flurschrank zog er Jacke und Mütze. Ärgerlich ballte sie die Fäuste.

„Ich weiß, dass Sie seit dem Winter 1916 anders sind. Der Angriff hat Sie nicht nur entstellt, sondern zu etwas Unmenschlichem gemacht.“ Noch immer schwieg er, beobachtete sie aber. Anni hätte damit gerechnet, dass sie durch ihre klaren Worte die Kluft zwischen ihnen verstärkte, aber er lächelte beinah erleichtert.

„Wenn Sie den letzten Rest Angst vor mir verlieren und Äußerlichkeiten ignorieren lernen, Anni, werde ich Ihnen alles erzählen, mein Ehrenwort darauf.“

In Annis Gliedern begann es zu kribbeln. Alles in ihr schrie nach der Wahrheit. Sie wollte beteuern, dass sie ihm vertraute, aber ein kleiner Rest Furcht stach immer noch in ihr. Hilflos hob sie die Schultern und ließ schließlich den Kopf hängen. Dabei war sie sicher, dass Wolff nur die besten Absichten hegte.

Dicht vor ihr blieb er stehen und strich ihr über den Arm. Gequält lächelte sie. „Ich vertraue Ihnen.“

„Sie verlieren Ihre Scheu und den Ekel. Und den Rest des Weges zu wirklichem Vertrauen schaffen wir beide auch noch.“

Was er sagte, nein vielmehr der Ernst in seiner Stimme verlieh den Worten Gewicht. Anni versuchte den harten Kloß im Hals zu schlucken. Als er sich erneut spannte und an ihr vorbeisah, kehrte die Nervosität zurück. Hinter sich hörte Anni den unregelmäßigen Schritt nackter Füße, der von Löbs Hinken stammte.

„Konrad, kümmerst du dich bitte um Fräulein Anni?“ In Wolffs Stimme lag neue Anspannung. Ein scharfer Stich durchdrang ihre Brust. Auf ihren Unterarmen bildete sich Gänsehaut, die sich rasend schnell ausbreitete.

„Sicher.“ Er klang gefasst, verantwortungsvoll …

Anni zweifelte daran, dass er selbst bewaffnet ein ausreichender Schutz für Mutter und sie war. Wer immer sie angegriffen und diese Wohnung markiert hatte, würde sich weder von Türen noch Waffen aufhalten lassen. Unruhig trat sie vor und griff nach Wolffs Hand.

„Das eben war vielleicht der Kindermörder!“

Warum fasste sie ihre diffuse Angst in solche Worte? Anni suchte nach seinem Blick. Still musterte er sie. Wolff schien über ihre Worte nachzudenken. Nach einem Moment nickte er.

Die Sicherheit der Reaktion erschreckte Anni.

„Darauf gibt es keinen Hinweis“, warnte Löb. „Seid bitte vorsichtig mit solchen Hypothesen.“

Um Wolffs Mundwinkel zuckte ein Muskel.

„Ich muss die Spur aufnehmen, solange er sie nicht verwischt hat, Konrad. Danach habe ich hoffentlich ausreichend Sicherheit.“

Wolff lächelte herzlich und warm. Anni spürte, dass es nicht ihr galt. So vertrauensvoll und liebevoll verhielt er sich ausschließlich Löb gegenüber.

Wolff wurde wieder ernst. Er ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. Sacht strich er mit dem Daumen über Annis Haut. Die Berührung brachte den Boden unter ihr zum Wanken und ließ ihre Haut kribbeln. Dieser Mann war eine einzige Kontroverse.

Erst jetzt bemerkte sie ihre hektische Atmung. Hatte der unheimliche und trotzdem so nette Wolff sie in diesen Zustand versetzt? Sie kniff die Augen zu Schlitzen, um dem Druck hinter ihren Schläfen standzuhalten. Trocken schluckte sie.

„Fräulein Anni“, sagte Löb hinter ihr. Schärfe lag in seiner Stimme, die sie nicht bei ihm kannte. Für eine Weile hatte sie ihn vollkommen vergessen. Langsam drehte sie sich um. Er stand im Hausmantel hinter ihr. Soweit sie es beurteilen konnte, trug er keine Schlafanzughosen. Als der Stoff auseinanderklaffte, fiel ihr die lange, blasse und hässliche Narbe an seinem Schienbein auf. Der Knochen sah seltsam deformiert aus, als wäre er vielfach gebrochen und falsch zusammengewachsen. Ihre Wangen wurden heiß und die Hände feucht. Nervös sah sie zur Seite.

Löb legte ihr eine Hand unter das Kinn und drückte sacht ihr Gesicht hoch, sodass sie ihm in die Augen schauen musste. Weshalb brachte er sie in solch eine peinliche Situation?

„Was treiben Sie in Nachthemd, Mantel und Schuhen auf dem Flur?“, fragte er streng. „Das kann nicht im Sinne Ihrer Mutter sein.“

„Ich …“, begann sie, verstummte aber. Was sollte sie sagen? Das Wissen, das sie mit Wolff teilte, wollte sie nicht an Löb weitertragen. Er brachte vielleicht kein Verständnis auf oder wusste nicht mit der Situation umzugehen. Was, wenn er nichts von Wolffs Natur ahnte …

Das milde Lächeln auf seinen Lippen erschreckte Anni. Offenbar hatte sie ihren Gedanken laut ausgesprochen. Sie fuhr sich mit den Fingern über den Mund.

„Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Was Heinrich weiß, ist auch mir bekannt.“ Seine Betonung lag definitiv auf keine Geheimnisse.

„Es …“ Sie leckte sich über die Lippen und verfluchte sich zugleich. Wieder wusste sie nichts Kluges zu sagen. Gegenüber den beiden Männern fühlte sie sich so hilflos wie ein Kind.

Wolff regte sich hinter ihr. Anni spürte ihn nah an ihrer Seite. Ein seltsames Ziehen und Kitzeln durchzog ihren Körper. Das Gefühl machte sie nervös. Sie versteifte sich. Als er die Tür öffnete, um in das Treppenhaus zu treten, hinterließ sein Verschwinden eine Leere, ganz ähnlich wie in dem Moment, als von Stürickow ihren Vater verhaften ließ. Im gleichen Moment durchzuckte sie reale und greifbare Angst. Hilflos begegnete sie Löbs Blick, der mit einer Kopfbewegung auf die Stube wies.

„Würden Sie mich begleiten, Fräulein?“, fragte er.

Anni zögerte. Sie warf einen Blick zu ihrem Zimmer am Ende des Blindflurs und lauschte, in der Hoffnung ihre Mutter zu hören. Tatsächlich vernahm sie die leisen, angestrengten Atemzüge von ihr. Sie lauschte, hielt sich aber aus allem heraus. Weshalb sie das tat, verstand Anni nicht. Es war vollkommen unlogisch und entsprach in keiner Weise dem typischen Verhalten ihrer Mutter.

Aber was war noch normal?

Zum Abendessen hatte sich Annis Welt verändert und ihr Zuhause würde nie wieder das werden, was es bis zu diesem Zeitpunkt gewesen war. Sie straffte sich.

„Es wäre ratsam, wenn Sie sich ankleiden“, sagte sie und hielt seinen Blick fest. „Ich empfinde es nicht als schicklich mit Ihnen in Ihrem Schlafzimmer die Situation zu besprechen.“

Löb nickte. In seinem Blick lag Samt. Ihre Knie wurden weich. Mit klopfendem Herzen murmelte sie: „Können wir danach in die Küche gehen - bitte?“

Ein kleiner Wahrheitssplitter / 09.11.1918

Löb saß in dem einzigen Küchenstuhl, der Armlehnen besaß, sodass er sich daran hochstemmen konnte. Anni musterte ihn vom Herd aus. Die Küche war das Herz des Haushalts und neutraler Boden für alle Untermieter. Hier fühlte sie sich sicher. Löb räusperte sich, bevor er umständlich seine Strickjacke abstreifte und sich über die Knie legte. Erneut suchte er ihren Blick. Eine stumme Aufforderung lag darin. Anni begann sich unwohl zu fühlen.

Rasch ging sie in die Knie und öffnete die Ofenklappe. Vermutlich erkannte er die Geste als das, was es war; eine Flucht vor dem offenen Gespräch.

Tatsächlich begann das Feuer in sich zusammenzufallen, sodass sie ein Brikett nachlegen musste. Als sie den Riegel verschloss, begann die Stille zu dröhnen. Das unangenehme Schweigen verdeutlichte Löbs Erwartungshaltung. Wie sollte Anni ihm all das erklären, was sie erlebt hatte? Etwas daran war widerlich, unnatürlich und obszön. Langsam stemmte sie sich hoch und lehnte sich wieder gegen den Herd. Wenn Löb wenigstens in einer anderen, engeren Beziehung zu ihr stünde, wäre vielleicht vieles anders, aber im Grunde waren sie Fremde, die höflich zueinander waren, unter einem Dach lebten, aber wenig Berührungspunkte aufwiesen. Gegenüber Lotte oder Wolff wäre sie eher bereit gewesen davon zu erzählen … oh wäre ihre Freundin doch wenigstens hier!

Hinter ihr brutzelte der Rest Wasser im Topf. Einen Augenblick später klapperte das leere Gefäß über dem Ofenring. Mit einem Handtuch nahm sie ihn von der Feuerstelle und hängte ihn vorsichtig an dem Wandhaken auf. Eine der hellblauen Fliesen knackte und bekam einen weiteren Riss.

„Anni, bitte reden Sie mit mir.“

In seiner Stimme lag ein leises Flehen, sodass sie sich umwandte. Vorsichtig sah sie unter ihren Wimpern zu ihm hinüber. Er hatte gesagt, dass es zwischen Wolff und ihm keine Geheimnisse gab. War Löb überhaupt bewusst, wie sein Freund vorhin reagiert hatte? Konnte es sein, dass …

„Heinrich hat Gefahr gewittert“, sagte Löb, während er beide Hände auf seiner Jacke niederlegte.

„Gewittert“, wiederholte sie betont. Löb verzog keine Miene. Anni behielt ihn im Blick.

„Was ist er?“, fragte sie leise.

„Es ist nicht an mir über ihn und das zu sprechen, was passiert ist“, entgegnete er tonlos. „Das muss Heinrich Ihnen selbst erklären.“

„Am 23.12.1916 hieß es, er sei auf die gleiche Weise umgebracht worden wie ein Fräulein …“ Anni fiel er Name nicht mehr ein.

„Driesen hieß sie“, half Löb aus. Er atmete stockend ein, wirkte sehr blass und auf eigenartige Weise schuldbewusst. Sein Blick perlte zu Boden. Anni spürte, dass sie das Gespräch an sich gerissen hatte.

„Gab es einen Zusammenhang zwischen ihrem Tod und Wolffs?“

Über Löbs Züge huschte ein trauriges Lächeln. „Ja“, sagte er leise. „Das alte Fräulein war unsere Professorin. Wir haben bei ihr Kunst studiert.“ Seine Stimme war leiser geworden. Er schien in die Vergangenheit zu blicken. Mit unverhohlenem Schmerz in der Stimme fügte er mehr zu sich selbst hinzu: „Das arme, alte Fräulein in ihrer menschunwürdigen Dachkammer …“ Er hob den Kopf. „Sie hat Jahrzehnte Kinder und Jugendliche unterrichtet; genaugenommen hat sie uns Studenten nur betreut, während unsere Professoren im Feldeinsatz waren. Niemand hat ihr dafür gedankt. Und schließlich ist sie auf unwürdige Weise umgekommen.“

Die Leidenschaft in seiner Stimme berührte Anni. Trotzdem wollte sie dem Gefühl nicht nachgeben. Sie legte die Stirn in Falten. „Ist Fräulein Driesen auch zurückgekommen wie Heinrich Wolff, tierhaft?“ Die Frage fiel ihr leichter als erwartet. Wolff, dachte sie, seltsam wie genau der Name bei ihm zutrifft.

Verblüfft schüttelte Löb den Kopf. „Aber nein! Von diesem zierlichen alten Vögelchen war nichts mehr übrig!“

Anni biss sich bei der Wortwahl auf die Lippe. Ihre Vorstellung erschuf ein Monster, was einen Kanarienvogel aufs Grausamste zerfetzte, sodass die Federn aufstoben und die Knochen knackten. Rasch sperrte sie den Gedanken in eine dunkle Schublade zurück.

„Wie …“, begann sie mit schwankender Stimme. Ann räusperte sich. „Wie konnte Wolff zurückkommen? Überall, in allen Zeitungen stand, dass beide zerrissen wurden.“

Löbs Kiefermuskeln arbeiteten.

„Das … nein, das kann ich Ihnen nicht sagen!“, entgegnete er bestimmt.

„Aber warum? Ich weiß doch schon so viel.“

Er schwieg einen Moment. Sein Blick richtete sich nach innen. Über seine Mimik huschten Gefühle, die Anni kaum verstand. Schmerz, Leid, Wut, Angst … Plötzlich straffte er sich.

„Ich kann es Ihnen vielleicht mit Heinrichs Worten erklären, aber die ergeben auch für mich keinen Sinn.“

Irritiert schüttelte Anni den Kopf. „Wieso?“

„Weil er selbst nie begriffen hat, was mit seinem toten Körper vor sich gegangen ist. Verstehen Sie?“

Anni sah zu ihm. Seine Augen waren groß und rund.

„Niemand war da, um ihm zu erklären, was ihn zurückgeholt und verändert hat. Keiner war da, um ihm zu sagen, wo seine Grenzen lagen und was er anrichten konnte. Er war allein mit dieser Last.“

Anni sank ein Stück in sich zusammen. Diese Antwort wog schwer und half nicht weiter. Still nickte sie. Vielleicht war es besser das Thema fallen zu lassen. Aber ihre Gedanken kreisten um die Geschehnisse.

Es gab menschliche Hunde wie Wolff und unsichtbare Männer. Wenn solche Geschöpfe tatsächlich Bestandteil einer grauen, trostlosen Welt voll Hunger und Kriegstoten waren, warum änderten sie nicht das Schicksal aller? Es lag schließlich in ihrer Macht. Der Gedanke verblasste.

„Glauben Sie an einen Mann, der durch feste Materie gehen und mich berühren kann, ohne dass ich ihn sehe?“

Löb senkte den Blick. Er schien zu überlegen. „Ich glaube, es verhält sich anders. Er kann nicht durch Wände gehen, aber der Effekt stellt sich uns so dar.“

„Wirklich?“, entfuhr es ihr. Hitze durchströmte sie. „Dann wissen Sie, was das war. Wie kann ich mir das Phänomen sonst vorstellen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Das kann ich Ihnen nicht erklären, weil ich es mir selbst nicht richtig vorstellen kann.“

Enttäuscht sank sie zurück. Irgendetwas störte sie an der Aussage. Es klang wie eine Ausrede. Wahrscheinlich wusste er ganz genau, wie dieses Geschöpf durch die Tür gekommen war, aber er wollte oder konnte es aus irgendeinem Grund nicht in Worte fassen. War sie der Wahrheit zu nah gekommen? Anni verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn sie mehr verriet, brachte sie ihn vielleicht dazu genauer zu werden. „Ich habe den Mann gefühlt und gerochen, einmal konnte ich ihn sogar schlagen, er war also körperlich vorhanden.“

Sie beobachtete ihn. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Anscheinend ging ihre Taktik nicht auf. Er hielt sich bedeckt.

„War er hier in der Wohnung, oder habe ich mir das alles nur eingebildet?“, fügte sie hinzu.

„Er war hier“, entgegnete Löb schlicht. Plötzlich fühlte sie ein Flattern in ihrem Bauch. Kribbelnd durchströmte sie das Gefühl. Diese Aussage öffnete eine ganze Welt neuer Hypothesen. Annis Blickwinkel schien sich unendlich zu erweitern. Welche Möglichkeiten hatte ein solches Geschöpf im Zusammenhang mit den Morden und den Anschuldigungen gegen ihren Vater? Sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. Neue Anspannung durchfloss sie. Rasch zog sie sich ihren Stuhl heran und setzte sich.

„Kann es also sein, dass jemand hier war, ohne dass wir ihn bemerkt haben … jemand, der diese blutverkrustete Schürze hiergelassen und danach auf der Gendarmerie Anzeige gegen meinen Vater gestellt hat?“

Ein Beben folgte ihren Worten.

Löb musterte sie einen Moment, sah dann aber an ihr vorbei ins Leere. Er schien nachzudenken.

„Es ist doch möglich, oder?“, rief sie.

„Das kann ich nicht sicher sagen.“

Das klang wieder nach einer Ausrede. Warum wich er ihren Fragen aus? Wollte er sich schützen?

„Herr Löb, bitte. Sie sagen, es gibt zwischen Ihnen und Herrn Wolff keine Geheimnisse, aber Sie weichen meinen Fragen aus und all Ihre Antworten klingen wie eine Schutzbehauptung.“

Anni rückte an den Tisch heran und legte die geballten Fäuste auf der Tischplatte ab.

„Ich muss meinem Vater helfen, ihn entlasten und wenn mir niemand hilft, werde ich versuchen allein Beweise für seine Unschuld zu finden!“

Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit wieder zurückgewonnen. Er hob beide Hände und schüttelte abwehrend den Kopf.

„Tun Sie das nicht, Anni. Diese Art von Neugier endet tödlich!“

In seiner Stimme schwang ein hoher, fast hysterischer Unterton ehrlicher Angst mit. Sie schauderte. Vermutlich war Heinrich Wolff genau deshalb gestorben und als fremdartiges Geschöpf wiedergekehrt. Plötzlich wurde ihr klar, dass Löb zwar alles wusste, aber seinen Freund tatsächlich nicht verstand. Er hatte sich in einer Weise verändert, die ein Mensch nicht erfassen konnte. Aber vielleicht verstand sie Wolff. Anni empfand keine Angst mehr vor ihm, nur Sicherheit, wenn er in der Nähe war, das Vertrauen, was man in … sie scheute den Gedanken in ein Wort zu fassen, aber er drängte sich auf: Es war dasselbe Gefühl, wie wenn sie nachts allein mit einem großen, starken Hund durch einen Wald ging. Sie konnte sich blind auf seinen Schutz verlassen.

Löb musste ihr mehr sagen, vielleicht begriff sie Wolff auf ihre ganz eigene Art: intuitiver, weniger von alten Gefühlen getrübt, die ihn beeinflussten. Nervös sah sie zur Seite. „Ich möchte nur wissen, ob ein Mensch …“

Das war kein Mensch!, mahnte ihr Verstand.

„Kann ein solches Wesen“, korrigierte sie sich, „diese Fähigkeiten haben und gefälschte Beweise hinterlegen?“

Löb wand sich. Er wirkte gequält. Nach einem Moment entgegnete er: „Diese Frage müssten Sie Heinrich stellen.“ Er machte eine Pause, schüttelte dabei den Kopf: „Aber ich glaube eher, dass jemand hier war, den Sie, Ihre Mutter oder einer von uns Untermietern eingelassen hat.“

Zweifelnd hob Anni eine Braue. „Sie versuchen meinen Verdacht zu zerstreuen.“

Er wiegte den Kopf. „Ich meine es ernst. Man muss keine besonderen Fähigkeiten haben, um Beweise unterzuschieben.“

„Trotzdem wäre es sehr einfach schon, weil die Schürze im Schlafzimmer meiner Eltern gefunden wurde und dort niemand Zutritt hat.“

„Erschlagende Logik“, gestand er. Löb schluckte und strich sich das Haar zurecht. Anni kam es vor, als nutze er die Zeit, um sich seine Worte harmonisch und beruhigend zurechtzulegen. Im Moment mochte sie seine Gegenwart gar nicht, weil er ganz anders reagierte als Wolff. Löb umging den Kern der Sache.

„Dennoch sollten Sie sich nicht darauf versteifen, Anni.“

Er befeuchtete sich die Lippen. Ohne es zu wollen, suchte sie bei ihm nach verlängerten Eckzähnen, fand aber keine. Dieser Mann war beinah enttäuschend menschlich.

„Überlegen Sie selbst, wer außer uns Mietern Zutritt zu dieser Wohnung hat.“

Alles in ihr wehrte sich gegen die Vorstellung einen menschlichen Gegner zu haben.

„Daran glaube ich einfach nicht.“

„Trotzdem, überlegen Sie“, beschwor er Anni.

Seufzend schloss sie die Augen und ließ den Kopf nach hinten fallen. Also bitte, wenn er unbedingt danach verlangte …

„Lotte ist oft bei uns. Sie macht allen Frauen die Haare.“ Vermutlich hörte er ihren Unwillen heraus; gut so!

„Und wer noch?“, fragte Löb geduldig. „Vergessen Sie nicht, dass Heinrich und ich viel unterwegs sind und kaum etwas von den Vorgängen hier mitbekommen.“

Langsam richtete sie sich auf und hob die Lider.

„Auch ich komme erst abends nach Hause“, erinnerte sie ihn.

Auffordernd nickte er ihr zu. „Trotzdem haben Sie einen besseren Überblick. Sie müssen sich doch nur vor Augen rufen, wer in den letzten Monaten hier ein- und ausgegangen ist …“

„Sie und Herr Wolff.“

Er zuckte kurz, blinzelte. Seine Lippen klafften auf. Offenbar hatten ihre Worte etwas zu hart getroffen.

„Entschuldigen Sie, ich wollte damit nicht sagen, dass ich einen Verdacht gegen Sie hege.“

Er nickte. „Aber es drängt sich auf, weil wir eingezogen sind, als die Kindermorde begannen und Heinrich Ihnen unheimlich war.“

Die Schärfe in seinen Worten spiegelte wider, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Versehentlich schuf sie mit dem Satz eine Kluft zwischen Löb und sich. Das hatte sie nicht gewollt. In ihrer Brust zog sich alles zusammen.

„Unheimlich schon“, beeilte sie sich zu sagen, „aber ich habe nie einen Gedanken daran verschwendet ihn zu verdächtigen.“ Sie wich seinem Blick aus. „Ich weiß auch nicht warum. Eigentlich ist er Soldat und wird viele Menschen getötet haben, aber Kinder?“ Anni schüttelte den Kopf. „Dazu ist er viel zu …“

„Treu“, fiel Löb ihr ins Wort. Sie hob den Blick, um zu sehen, wie er die Lippen verzog. Es stimmte. Mit einem Wort hatte er ausgedrückt, wie sein Freund war.

Schwach nickte sie. „Stimmt.“

Mühsam ruhig holte Löb Luft. Er schien sich wieder zu fangen.

„Vielleicht haben Sie recht, Anni. Aber trotzdem können wir nicht pauschalisieren. Die Person, die ihren Vater angezeigt hat, hegt sicher persönliche, sehr weltliche Gründe.“

„Jemand wie der Soldat gestern Abend, dieser Goemann?“

Über Löbs Mimik huschte ein Schatten. „Es würde zu ihm passen, aber er wohnt nicht im Haus und es ist sehr unsicher, dass er jemand hier kennt, der Ihrem Vater diese Schürze untergeschoben haben könnte.“

Anni kniff die Augen zusammen. Goemann hegte eine persönliche Abneigung, war dazu in der Lage und hatte vorhin Gelegenheit gehabt.

„Bei der Durchsuchung vielleicht?“

Löb zog die Brauen zusammen.

„Das würde bedeuten, dass er den Fetzen bei sich getragen haben muss und unbeobachtet von Lohmann und dem Hilfskommissar gehandelt hätte.“

„Warum nicht?“, fragte Anni. „Vielleicht ist die Schürze nicht von Emilie Jost und das Blut stammt von einem Tier, nicht von einem Menschen.“

„Gut argumentiert, aber schlecht durchdacht.“

Irritiert hob Anni beide Hände. Löb winkte ab.

„Dazu hätte er die Schürze bei sich tragen müssen. Wann war er allein im Schlafraum Ihrer Eltern?“

„Max Lohmann war bei ihm.“ Anni seufzte. Um den Beweis zu verstecken, hätte er allein sein müssen und ein wenig Zeit gebraucht. Damit hatte Löb zweifelsfrei recht. Es war mühselig, sich darüber Gedanken zu machen. Ohne genauer darüber nachzudenken, sagte sie: „Der Hauswart.“ Im gleichen Moment bemerkte sie, dass sie den Verdacht gegen eine Person aussprach, der sie wenig Sympathie entgegenbrachte. Rasch fügte sie hinzu: „Womit ich nicht sagen will, dass Herr Tranitz sich mit seinem Nachschlüssel Zugang zu unserer Wohnung verschafft hat.“

In ihren Ohren klangen die Worte wie eine halbherzige Entschuldigung. Der Mann war widerlicher. Er stieß sie in jeder Weise ab. Tranitz trug die Brillantine der letzten Jahre im Haar und roch nach Schweiß, Tabak, den Medikamenten seiner Frau und billigem Rasierwasser. Löb schwieg. Wieder sah er an ihr vorbei. Hörte er überhaupt noch zu, oder befand er sich in seiner eigenen Gedankenwelt?

„Glauben Sie, dass mein Vater töten kann?“, fragte sie unvermittelt, um ihn aufzuschrecken.

Ohne zu zögern, schüttelte Löb den Kopf.

„Ich glaube, dass er keine Waffe – gleich welche – nutzen könnte, selbst wenn sein Leben davon abhinge.“

Erleichtert lächelte sie. Immerhin hörte er ihr noch zu. „Glauben Sie deshalb an seine Unschuld, oder nur weil Herr Wolff es tut?“

Löb richtete sich etwas bequemer auf seinem Stuhl ein. Warum brauchte er so lang, um darauf zu antworten? Anni behielt ihn genau im Blick.

„Heinrich und ich waren Schüler bei ihm. Wir beide kennen ihn seit langem – eigentlich unser ganzes Leben. Ein Mensch wie er nutzt ausschließlich Worte zum Kämpfen.“

Er betrachtete seine Hände.

„Ihr Vater ist ein Kommunist, jemand, der den Lehren von Karl Liebknecht folgt.“ Mit gesenkter Stimme fügte er hinzu. „Er war es, der Heinrich zu einem überzeugten Anhänger des Sozialismus und Kommunismus gemacht hat.“

„Aber warum ist Wolff dann in den Krieg gezogen?“

Löb wies auf sich. „Weil ich mich freiwillig gemeldet hatte und er nicht von meiner Seite weichen wollte.“

Treu, dachte Anni, so treu wie ein Hund.

Jetzt wusste sie viel über die stillen, nicht ausgesprochenen Verbindungen zwischen Vater und den beiden Männern, aber sie wusste noch immer keine Person zu benennen, der einen Vorteil aus dem Beweisstück ziehen konnte. Sie blinzelte, stützte sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte ab und sah auf die angerostete Blechuhr über der Balkontür zum Hinterhof. Wolff war seit fast einer Stunde fort, um den Unsichtbaren zu verfolgen. Langsam begann sie sich Sorgen zu machen. „Wo bleibt Herr Wolff?“

„Er verfolgt die Person, die Sie gehört und wahrgenommen haben.“ In Löbs Stimme schlich sich leichte Unsicherheit.

„Er ist schon so lange fort“, flüsterte Anni.

Er drehte sich im Stuhl um, zog aber zur Sicherheit seine eigene Taschenuhr. Zwischen seinen Brauen entstand eine tiefe Falte.

„Hat er eine Chance gegen den unsichtbaren Mann?“, fragte sie leise.

„Ich bin mir nicht sicher, Fräulein Anni.“

Die Worte blieben kalt in der Luft hängen. Schaudernd betrachtete sie ihn. „Was meinen Sie?“

Er zögerte. Anscheinend überlegte er, ob er weiterreden solle. Nach einem Moment sagte er: „Wie Sie erraten haben, ist 1916 bereits etwas Ähnliches passiert.“ Mit dem Kopf nickte er in Richtung der Stube. „Heinrichs Verletzungen stammen schließlich nicht aus dem Krieg, sondern von dem Angriff von … etwas.“

„Etwas?“, wiederholte sie misstrauisch. „Hat ihn dasselbe Geschöpf angegriffen und zerrissen?“

Unsicher wiegte Löb den Kopf, als wolle er der Frage erneut ausweichen. Nach einem Moment nickte er.

„Es ist etwas Unmenschliches“, sagte er und fügte hinzu: „Die Art Sie zu bedrängen hat mich entsetzlich stark an Heinrichs Erlebnisse erinnert und die Tötung der Kinder entspricht dem Tod von Fräulein Driesen.“

Die Worte sengten unter Annis Haut bis in ihre Fingerspitzen. Sie federte vom Stuhl hoch.

„Ihnen ist bekannt, was – vielleicht sogar wer – die Morde begeht, und sie speisen mich damit ab, dass ich mir Gedanken machen soll, wer im Haus ein Problem mit meinem Vater haben soll?!“

Ihre Stimme klang viel zu laut in der ruhigen Wohnung.

„Ich nehme es nur an, sicher bin ich nicht“, wehrte er ab.

„Warum sagen Sie nicht, was Sie denken? Weshalb lenken Sie immer wieder ab?“

„Weil ich weder Heinrich noch Ihnen glauben möchte, dass ein solches Geschöpf noch einmal hier“, er rammte seinen Finger auf den Tisch, „an ein und demselben Ort Jagd machen kann, ohne aufgehalten zu werden!“ Er ballte die Faust und schlug auf die Platte. „Ich will es nicht glauben …“

Die Intensität in seiner Stimme ließ nach. Nach einer Weile flüsterte er: „Es ist einfach nur eine Vermutung.“

„Eine Vermutung?“ Anni presste die Lippen aufeinander. „Sie haben Angst vor der Wahrheit, weil Sie wissen.“

Er verdrehte die Augen und setzte zum Sprechen an. Anni stand auf. „Hören Sie, Ihr Freund Heinrich begibt sich in große Gefahr, weil er an dasselbe glaubt wie ich; und Sie tragen dieses Wissen mit sich herum, leugnen es aber. Warum nennen Sie sich einen Freund meines Vaters, wenn Sie nicht die Kraft aufbringen, über Ihren Schatten zu springen? Sie müssen es nur von Stürickow sagen!“

Löb schüttelte den Kopf. „Nein, das ist unmöglich.“

„Herr …“

„Anni, bitte, sei still Kind.“

Mutter?

Anni hatte sie nicht kommen gehört. Sie war lautlos über den Flur in die Küche getreten. Unsicher sah Anni sich nach ihr um. Obwohl ihre Mutter erschöpft wirkte, schien sie zu wachsen. Ihre Präsenz füllte die Küche zur Gänze aus. So stark hatte Anni sie nie zuvor erlebt.

„Herr Löb … Konrad … Ist es wirklich, wie Sie sagen?“, fragte Mutter. Sie trat näher an den Tisch.

„Solang Heinrich nicht wieder hier ist, kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten, Frau Beckmann.“

„Konrad, bitte!“ In ihrer Stimme lag Schärfe.

Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. Seine Kiefer mahlten. Anni bemerkte, dass die Lippen ihrer Mutter zu zittern begannen.

„Wie damals bei Heinrich und Fräulein Driesen?“, fragte Mutter.

„Vielleicht. Es wäre … gut möglich.“ Löb sprach leise. Auch er schien erschüttert, als realisiere er erst jetzt, welche Konsequenzen die Erlebnisse des Abends und der Nacht in sich trugen. Mutter senkte den Kopf. Unsicher griff sie in ihren Rockstoff und vergrub ihre Finger. „Nicht wieder diese grausamen Verbrechen! Sind es wieder die beiden Landser, die Zwillinge?“

Zwillinge, Landser? Anni verstand nicht, wagte aber nicht zu sprechen.

Erneut hob Löb die Schultern. Er flüsterte: „Heinrich glaubt nicht daran. Es sind andere Jäger.“

Jäger … Mutter gegenüber sprach er aus, wie sich diese Geschöpfe nannten. Anni empfand den Namen als passend, aber zu lapidar.

Mutter wandte sich zum Gehen, blieb aber stehen. „Heinrichs Ausbleiben macht mir Angst, Konrad.“

Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, das im Knacken des Herdfeuers unterzugehen drohte.

„Das macht mir auch Sorgen“, murmelte Löb.

In seinem Tonfall lag tiefes Gefühl. Seine Maske begann Risse zu bekommen. In ihm wühlte Angst. Um wen, konnte Anni nicht erfassen. Umständlich stemmte er sich hoch und stützte sich schwer auf den Tisch. Anni bemerkte, dass er unbewusst an seiner Unterlippe nagte. Wie bei von Stürickow stellte sich nervöse Unruhe ein. Sein Adamsapfel sprang über dem Hemdkragen. Anni trat zu ihrer Mutter.

„Was verschweigst du mir?“

„Schlimme Dinge, mit denen du nie in Berührung kommen solltest“, entgegnete ihr Mutter, wobei sie zärtlich über Annis Haar strich. Tränen standen in ihren Augen. Das tiefe Gefühl wirklicher Liebe überflutete Annis Herz. Fest umarmte sie ihre Mutter und vergrub den Kopf an ihrem Hals. Aber der Moment war vorüber. Ihre Mutter entzog sich. Vorsichtig befreite sie sich und wich zurück. Sie sah Anni nicht in die Augen, sondern richtete den Blick zu Boden. „Halt dich aus diesen Dingen heraus!“

„Bitte?!“ Anni fühlte sich, als verlöre sie den Boden unter den Füßen. Ihre Mutter drehte sich um und ging zum Schlafzimmer. „Ich muss aufräumen.“

Fassungslos starrte Anni hinter ihr her.

„Mutter …“, flüsterte sie. Ihrer Stimme fehlte jedwedes Volumen. Sie eilte auf den Flur, nur um zu sehen, wie Mutter die Tür hinter sich schloss. Für Sekunden konnte sie nur die abgegriffene Porzellanklinke anstarren. Auf der anderen Seite klang ersticktes Schluchzen. Ihre Mutter weinte wieder. Woher kam nur diese Verzweiflung? Sah sie nicht, dass Löb und Wolff halfen? Annis Kopf füllte sich mit wattiger Leere. Hilflos ließ sie die Schultern sinken und ging in die Küche zurück. Löb stand im Eingang und beobachtete sie. Als er seine Hand nach ihr ausstreckte, wich sie zurück, hielt dann aber inne.

„Woher weiß sie von allem?“, fragte Anni.

Löb betrachtete sie einen Augenblick, bevor er mit fester Stimme entgegnete: „Weil sie den Monstern als Kind entkommen ist und sie dafür Heinrichs Mutter geholt haben. Jahre später haben ihn die beiden Landser auch noch bekommen. Und es war Ihre Mutter, Anni, diese stille, verängstigte Frau, die ihn nach seinem Tod und seiner Verwandlung als eine der Ersten gesehen hat. Sie hat sich zusammen mit seinem Vater und mir um ihn gekümmert und bemüht ihm Halt zu geben. Das alles hat sie getan, weil sie für Heinrich und mich ein Engel ist, Kind.“

Fassungslos schloss Anni den Mund und versuchte die Worte in eine verständige Reihenfolge zu bringen. Mutter war diesen Jägern schon begegnet, hatte Wolff geholfen und war für ihn dagewesen … Sie blinzelte. Die Schwere ihres Herzschlages erschütterte sie bis in die Fingerspitzen.

Mutter, dachte sie und liebte sie im gleichen Moment mit brennender Intensität.

„Ich will helfen, besonders Herrn Wolff“, sagte sie fest.

„Sie wissen nicht, worauf Sie sich einlassen.“

Löb lächelte matt, ohne dass die Grimasse seine Augen erreichte. Alle Herzlichkeit fehlte. Er sorgte sich. Warum unternahm er nichts? Wolff war ihm wichtig. Die beiden Männer kannten sich seit langen Jahren und sie waren zusammen im Krieg gewesen. Anni schob sich an Löb vorbei und trat zum Küchenbuffet . In der Schublade lag ein langes, scharfes Ausbeinmesser. Das war die einzige Waffe, die sie im Hause hatten.

„Wohin wird Wolff gegangen sein?“, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

„Bleiben Sie hier, Anni“, bat Löb tonlos.

„Wohin?“, drängte sie und wandte sich zu ihm um. Er ballte die Fäuste und presste die Lippen aufeinander. „Wohin ihn sein Instinkt treibt.“

„Sie sind in Sorge um ihn“, sagte Anni.

Mit der Hand schützte sie die lange, glatte Schneide des Messers, während sie wieder auf den Flur trat. Hinter sich hörte sie Löb, der ihr folgte. Er humpelte bis zur Tür.

„Wann bin ich kein Kind mehr und es wert nicht mehr im Dunkeln gelassen zu werden? Ich kann auch helfen!“, sagte sie laut genug, um es ihre Mutter hören zu lassen. Die erhoffte Reaktion blieb aus, nur die Geräusche von Schranktüren und Schubladen wurden lauter.

Löb antwortete nicht, wirkte aber konzentriert, als höre er etwas, das Anni entging. Ein kleines Stück Ärger verschwand. Auch sie begann zu lauschen. Was nahm er wahr? Draußen knarrten Dielen. Die Metallkante einer Stufe knackte. Schlich jemand durch das Treppenhaus?

Alarmiert suchte Anni nach seinem Blick, doch der konzentrierte sich. Löbs Hand lag auf der Klinke. Langsam drückte er sie herab.

„Ist das klug?“, wisperte Anni.

Er zuckte die Schultern, hob zugleich aber seinen Stock, bevor er die Wohnungstür öffnete und in die Dunkelheit spähte. Das Geräusch war fort. Anni stockte der Atem. War der unsichtbare Mann zurück?

Sie schaute an Löb vorbei. Der geringe Lichthof der Beleuchtung reichte kaum aus, um mehr als den ausgetretenen Dielenboden vor der Fußmatte zu erkennen. Von unten wehten Kälte, Feuchtigkeit und der Geruch nach Kohlen durch den Treppenschacht nach oben. Jemand hatte sicher Hoftür oder Keller offen gelassen. Auf diesem Weg konnte jeder ins Haus kommen, wann immer er wollte. Anni fühlte, wie ihr die Angst in den Verstand kroch und sie unsicher machte. Sie krampfte eine Hand um das Messer und hielt es nach vorne gestreckt. Um besser sehen zu können, kniff sie die Augen zu Schlitzen zusammen. Löb nahm ihr die Helligkeit. Selbst wenn sich jemand vor der Toilette in der Zwischenetage versteckt hätte, wäre er wie unsichtbar gewesen. Hörbar schluckte Löb. „Heinrich?“, fragte er gedämpft. Seine Stimme bebte. Er, der Soldat, fürchtete sich, erkannte Anni. Aus seinen Zügen sprach Angst: nicht um sie, um seinen Freund.

Vorsichtig schob Anni sich an ihm vorbei und Fuß um Fuß auf den Podest, näher an den Lichtschalter. Ihr Atem bildete kleine Dampfwölkchen. Sie streckte den Arm aus und tastete über die lackierten Holzbohlen und den kleinen Sims bis zu dem schwarzen Drehschalter. Plötzlich begann ihr ganzer Körper zu kribbeln. Jemand starrte sie von der Zwischenetage aus an, sah auf sie herab. Eine Berührung, sanft wie ein Streicheln und kalt wie totes Fleisch, streifte sie an der Hand, die nach dem Licht tastete. Sie zuckte zurück. Dicht an ihrer Seite fühlte sie einen warmen, menschlichen Körper. Aus der Dunkelheit hauchte ihr jemand feuchtwarmen, fauligen Atem ins Gesicht.

Es passierte wieder! Der Unsichtbare war da!

Dicht vor ihr beschrieb Löbs Stock einen Bogen. Er schubste sie gegen die Wand und stellte sich vor sie. Anni roch seinen sauren Angstschweiß. Er holte erneut aus. Obwohl er mit der Kraft eines Boxers zuhieb, schlug nicht einmal der Stock auf dem Boden auf. Instinktiv machte sie sich klein und tauchte unter Löbs Ellbogen hinweg, als er ausholte. Sie hörte sein angestrengtes Keuchen und Stöhnen.

Was attackierte ihn? Konnte er seinen Gegner sehen? Wusste er, mit was er es zu tun hatte?

Seine Furcht war real gewesen! Allein diese Sicherheit drückte auf ihr klares Denken. Die Welt verengte sich auf seine Verteidigung … Anni umklammerte das Messer, mit dem sie nichts anfangen konnte. Vor ihr rang Löb mit dem unsichtbaren Mann. Wenn sie die Panik zuließ, würden sie hier sterben und der Mörder entginge ungesehen seinen Häschern. Anni wandte sich auf dem engen Raum um, immer gewahr einen Schlag einzustecken. Sicher konnte sie Löb nicht helfen, wenn sie den Lichtschalter erreichte, aber Helligkeit vermittelte Sicherheit. Sie streckte sich. Mit ihren Fingerspitzen erreichte sie die schwarze, gewölbte Dose und versuchte den Widerstand in Bewegung zu setzen. Ein Stoß traf sie zwischen die Schultern. Der Schmerz war nicht stark und drängte sie in die richtige Richtung. Erleichtert drehte sie den Hebel um seine Achse. Dünnes Licht tauchte den Treppenabsatz in blasse Helligkeit. Sie tauchte unter Löbs Armen hinweg und wich zurück. Wieder lag der Hauch von Blut in der Luft. Anni kniff die Augen zusammen. Er fuchtelte nicht mit dem Stock, sondern stemmte sich mit aller Kraft gegen seinen Widersacher.

Plötzlich gab es für ihn keinen Widerstand mehr. Wuchtig traf er das Geländer. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen setzte sich in Vibrationen fort, sodass Anni es bis in die Knochen wahrnahm. Sie hörte das Echo schnell flüchtender Schritte in den unteren Etagen.

Die Hoftür wurde aufgestoßen. Stimmen hallten hinauf.

Aus dem Erdgeschoss brüllte Tranitz: „Was soll das?! Das ist Ruhestörung!“

„Bei Gott, was ist hier los?“, rief eine helle Frauenstimme. Anni sank gegen die Wand und blendete die Menschen um sich aus. Ihr Herz pochte schmerzhaft hart und schwer. Keuchend wischte sie mit dem Handrücken über die Stirn. Ihre Knie zitterten. Sie spürte die Übermüdung und Erschöpfung als schwaches, beständiges Zu-Boden-Ziehen. Aber war es vorüber? Sie wollte es nicht beschwören. Löb wandte sich zu ihr um. Schweiß tropfte aus seinem Haar. Er atmete schwer und zitterte. An seinen Schläfen pochten Adern. Das Flackern seines Blickes verdeutlichte seine Angst. Schwer stützte er sich auf seinen Stock und drehte sich noch einmal im Kreis.

„Gehen Sie nach drinnen, Anni, verschließen Sie die Tür und bleiben Sie bei Ihrer Mutter“, flüsterte er.

Tiefe Schatten unter den Augen und seine eingefallenen Wangen unterstrichen den Ernst ihrer Lage. Anni schluckte trocken.

„Was haben Sie vor?“

„Heinrich …“, begann er, brach aber ab. Er presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf.

War er tot und der Unsichtbare eben zurückgekehrt?

Annis Brust verkrampfte sich. Wolff war doch selbst ein Raubtier, wie konnte ihn also in solches Geschöpf umbringen? „Sie denken, dass er …“

Entsetzt schüttelte Löb den Kopf. „Davor möge Gott sein! Nein, Anni, Heinrich lebt, sicher.“

Lügner, dachte sie. Seine Stimme klang viel zu aufgeregt, viel zu ängstlich. Er versuchte sich einfach nur selbst zu überzeugen. Trotzdem verstand sie ihn.

Über ihnen knarrten Stufen, seidiger Stoff raschelte und Lotte pfiff schief durch die Zähne. Zugleich schwang die Tür der Nachbarwohnung auf.

„Ach, die Dirne“, schnappte Frau Ullmann.

Anni, spürte ihre Blicke. Sprach sie von Lotti oder … Fassungslos wandte sie sich zu der alten Frau um. Was dachte sie nur?!

Bevor Anni etwas sagen konnte, warf die Alte ihre Tür ins Schloss.

„Mach dir nix draus, Kindchen. Det is nur de Neid.“

Anni spähte an Löb vorbei. Auf der Treppe stand Lotti im kunstseidenen Morgenrock, von dessen Kragen roséfarbene Federn aufwehten. Ihr helles, aufgelocktes Haar bildete eine zerzauste Korona um ihren Kopf. Auf ihren geröteten Wangen klebten Reste ihres Puders. Das Lippenrot hatte sie weitestgehend abgeküsst. Trotzdem stand sie da wie die Heldin eines Filmstreifens. Anni kannte reichlich Plakate von Fern Andra oder Henny Porten , in denen sie aus den Glaskästen der Lichtspielhäuser auf die graue Masse herablächelten. Genauso wirkte Lieselotte Runge auf sie: wunderschön, aber auf bizarre Weise unecht.

Als habe Lotti den Gedanken mitbekommen, löste sie sich aus ihrer Pose und kam die Treppen herab. Ihre Mimik veränderte sich. Anni glaubte etwas Warnendes aus ihrem Blick zu lesen. Tatsächlich kamen einige der Mitbewohner langsam die Treppen hoch.

„Wollen wer de Wölfe unterhalten? Nee, nich, oder?“

Sie schob Löb an der Schulter in die Wohnung. Anni spürte ihren Griff am Handgelenk. Lottis lange Nägel schnitten in ihre Haut. Der Schmerz drang heiß in ihr Bewusstsein. Noch bevor Anni sich widersetzen konnte, warf Lotti die Tür hinter sich ins Schloss.

„Was soll das?“, fragte Löb scharf. Er fasste in Worte, was Anni dachte. Vollkommen unbeeindruckt stemmte Lotti beide Hände in die Hüften und hielt seinen Blick fest. Mit dieser Haltung drückte sie herausfordernde Entschlossenheit aus. Ihr Morgenrock klaffte auf, sodass Anni ihre wohlgenährten Rundungen unter dem dünnen Nachthemd sah. Von ihr stieg ein eigenartiger Geruch auf, etwas das … sie erinnerte … Der Gedanke verflog. Fest stand nur, dass sie Männerbesuch hatte. Sie war ein sehr leichtlebiger Mensch.

Löb trat an Lotti heran und wollte sie zur Seite schieben. Annis Freundin wich vor ihm zurück und schüttelte den Kopf. „Ihr bleibt ma besser hier.“

Mit einer Kopfbewegung wies sie auf Anni.

„Wegen mir?“, fragte sie und folgte dem Blick ihrer Freundin. Erst jetzt fiel ihr das Messer auf.

„Wenn de anderen de Kriminalen holen, sollte keiner det Ausbeinmesser gesehen haben“, erklärte Lotti. Ihre Stimme klang schrill und zugleich lag in der Aussage so viel Weitsicht, dass Anni beinah ihre improvisierte Waffe fallen gelassen hätte. Das Messer hatte sie vollkommen vergessen – und nein, damit half sie ihrem Vater sicher nicht.

„Gut so.“ Zufrieden nickte Lotti, bevor sie Löb betrachtete. „Se sehn jarnich jut aus.“ Mitleidig schüttelte sie den Kopf. „Denn kommen Se ma mit, junger Mann.“

Ohne zu zögern, schob sie sich an Löb vorbei und ging mit schwingenden Hüften vor ihm her zur Küche.

Lotti / 09.11.1918

Während Lotti den Topf von der Wand nahm und Wasser aufsetzte, überlegte Anni, ob sie Konrad Löb in der Gegenwart ihrer Freundin auf den Kampf ansprechen sollte. Sie musste reden, sonst brach die Angst aus ihr heraus und erstickte sie. Ein Beben durchlief sie und hinterließ Schwäche. Sicher fühlte sie sich nicht – wenigstens nicht, solang Wolff fort war. Dieser Ort, ihre Heimat, bot keinen Schutz. Vor diesem Geschöpf rettete sie keine verschlossene Tür, keine Waffe, nichts. Nervös drehte sie das Messer in den Händen. Wenn es Männer gab, die man mit Waffen nicht verletzen und mit Wänden und Türen nicht aufhalten konnte, solche, die Wesen wie Heinrich Wolff erschufen, musste sie anfangen, die Welt ganz neu zu betrachten. Der Krieg war schon entsetzlich, aber er fand fast nur auf den Schlachtfeldern statt. Gegner der Heimatfront waren Hunger, Kälte und Armut. Jetzt kam dieser Mann hinzu, der ein grausames Spiel trieb.

Sie suchte nach Löbs Blick, doch er beachtete sie gar nicht. Ihm saß der Schrecken in den Knochen. Er starrte Lottis Rücken an, belauerte jede ihrer Bewegungen. Auf Anni machte es nicht den Eindruck, als sei es männliches Interesse an einer Frau; seine Haltung und Mimik sprachen dagegen. Augenblicklich klammerte er sich an seinen Stock, den er über die Armlehnen seines Stuhls gelegt hatte, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Auch er fürchtete sich. Plötzlich schloss er die Lider. Tiefe Bitternis gerann zu Erschöpfung. Er löste eine Hand und fuhr sich über das Gesicht.

Anni empfand tiefes, ehrliches Mitleid mit ihm. Er war auf eine solche Situation nicht vorbereitet gewesen und ihm fehlte die stille Nähe Wolffs …

Was musste in ihm vorgehen?

Die Nähe zu seinem Freund versetzte ihr einen Stich. Geräuschvoll stellte Lotti eine bemalte Porzellantasse vor Löb ab und einen Tonbecher vor Anni.

„Leg‘ det Messer endlich hin!“

Erschrocken schob sie ihre improvisierte Waffe von sich.

„Jut so.“

Zufrieden lächelte Lotti. Mit einem dankbaren Nicken quittierte Anni die Fürsorge. Lotti erwiderte ihr Lächeln knapp, wandte sich dann aber zum Herd um.

„Wat habt ihr zwe beeden da draußen jemacht?“, fragte sie über die Schulter. Ihr aufgelöstes Haar raschelte auf dem kunstseidenen Morgenrock und verfing sich in den Federn.

Anni beobachtete ihre Bewegungen, wie sie die angesengten Topflappen nutzte und mit wenigen Handgriffen den Tee im Topf zubereitete. Vorhin war sie bereit gewesen, alles mit Lotti zu besprechen, doch jetzt? Was sollte sie ihr sagen? Es war einfach zu viel passiert. Würde sie überhaupt Verständnis aufbringen? Anni zupfte unschlüssig an ihrem losen Mantelknopf.

Langsam drehte Lotti sich um und setzte sich an Annis Seite. Der Druck ihrer Hand war angenehm. Von ihr stieg der Geruch nach Seife, Parfum und Mann auf.

„Jeht et um dein‘ Vater?“, fragte sie sanft. Das Gefühl in ihrer Stimme traf Anni und ließ jeden anderen Gedanken verblassen. Tränen schossen in ihre Augen und rannen über ihre Wangen. Sie schnappte nach Luft und fühlte, wie sich ihre Nebenhöhlen verstopften.

„Warum hat Herr von Stürickow ihn nur festgenommen?“

Die nasale Aussprache und der Rauch vom Herd raubten ihr fast die Stimme. Mühsam schluckte sie. Lotti griff in Annis Manteltasche und zog ein schmuddeliges Taschentuch heraus. „Da Kleenes.“

Anni griff danach und putzte sich die Nase. Ihr gegenüber rang Löb nach Luft. Soweit Anni ihn durch die Schleier erkennen konnte, massierte er seine Augenlider. Plötzlich wurde ihr wieder bewusst, dass er auf Wolff wartete. Wolff … Von einem Moment zum nächsten war die Angst wieder präsent. Löb vermisste ihn und klammerte sich an das bisschen schwacher Hoffnung. Sacht streckte sie die Hand nach ihm aus. Sie wollte sagen, dass alles gut werden würde. Doch das konnte sie nicht, weil ihr jeder Glaube daran fehlte. Ihre Hand sank herab.

„Die Kriminalen ham ja laut jenuch jebrüllt, dass se wat jefunden ham.“

Irritiert durch Lottis Worte musterte sie ihre Freundin, die besorgt ihren Blick erwiderte.

„Ne blutje Schürze, wa? Des is nich jut.“

Anni nickte geknickt. Diese Frau lebte im Hier und Jetzt. Ihr konnte sie nichts von den beiden unheimlichen Begegnungen erzählen. Jetzt teilte sie ein Geheimnis mit Löb und bis zu einem gewissen Grad auch mit ihrer Mutter. Der Gedanke an sie löste brennende Wut aus. Erneut vernebelte sich ihr Kopf. Der Druck nahm wieder zu. Behutsam drückte Lotti sie. Die Berührung weckte den Wunsch auf Abstand. Lotti trug tatsächlich nichts unter ihrem Nachthemd. Die ungebändigten Formen hatten etwas Anrüchiges an sich. Vorsichtig versuchte Anni sich aus der Umarmung zu befreien. In Lottis beinah mütterlich aufdringlicher Nähe wurde ihr zu warm. Schweiß rann in ihren Kragen.

„Lassen Sie Fräulein Anni atmen“, sagte Löb leise.

Es war das Erste, was er seit seinem Kampf aussprach. Seine Stimme besaß keinen Klang. Mühsam atmete er durch: „Ich weiß, dass Sie sich sorgen, aber Anni und ihrer Mutter ist damit nicht geholfen, sondern mit praktischer Ermittlungsarbeit.“

Lotti löste sich unwillig. Sie senkte den Kopf, sodass Anni sich genötigt sah, ihrem Blick zu begegnen. Glücklicherweise sagte Lotti nichts, sondern erhob sich, um Tee in die Tassen zu füllen. Dankbar nickte Anni Löb zu, der traurig lächelte. „Wenn Herr Wolff nicht mehr kommt“, sagte sie leise, „müssen wir, so schnell es geht, zur Gendarmerie.“

Lotti warf Löb einen Blick zu.

„Der Herr Wolff is wech?“

Ihre Worte verhallten unbeantwortet, aber sie schien wild entschlossen die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. „Hat er wat mit‘n Morden zu tun? Möchlich wäret ja.“

„Nie!“, stieß Anni hervor. Verständnislos schüttelte sie den Kopf.

Löb sprang wütend auf: „Ach seien Sie still!“

Er deutete auf Lotti. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine steile Falte gebildet. Seine Lippen zitterten.

„Heinrich ist einer der sanftesten und friedfertigsten Menschen, die es überhaupt gibt, und ich lasse nicht zu, dass jemand, der ihn überhaupt nicht kennt, ihm solch böse Nachrede anhängt!“

Anni kannte ihn nicht so aufbrausend. Aber in seinen Worten lag alles Herzblut, zu dem Konrad Löb fähig war. Bei der schieren Intensivität der Gefühle fühlte sie ein schwaches Beben in sich. Lotti zuckte nur mit den Schultern. Nahm sie denn gar nicht wahr, wie Löb um die Ehre seines Freundes kämpfte? War ihre Freundin tatsächlich so unsensibel? Kopfschüttelnd griff sie nach ihrer Tasse und betrachtete ihr verheultes Spiegelbild, bevor sie nippte. Wenn der Tee nach irgendetwas schmeckte, nahm Anni es nicht wahr. Sie hatte sich vor fremden Menschen gehen lassen. Dafür würde ihr Vater kaum Verständnis aufbringen. Anni fuhr sich mit dem Handrücken über die Wangen. Hinter ihr hantierte Lotti mit dem Wassertopf. Wasser zischte. Sie ignorierte ihre Freundin und suchte nach Löbs Blick. Er beachtete sie gar nicht, sondern starrte ins Leere. Geistesabwesend leckte er sich über die Lippen.

„Also anschweijen müss‘mer uns nich.“ Lotti setzte sich hin. „Wat denkste, Anni?“

„Wovon soll ich was denken?“ Anni wollte nicht sprechen.

„Warum dein Vater anjeschwärzt wurde natürlich!“

„Gute Frage.“ Anni knotete den Gürtel auf, legte ihren Mantel ab und presste ihn an sich, in vollem Bewusstsein, nur ein Nachthemd zu tragen. „Vielleicht war es wirklich jemand, der ihn als einen gefährlichen, politischen Querkopf ansieht.“

„Dein‘ Vater?“ Lotte lachte auf. Es klang in keiner Weise belustigt.

Irritiert betrachtete Anni ihre Freundin. „Warum …?“

„Der is doch keener vom Spartakus-Aufstand !“ Energisch schüttelte sie den Kopf. „Isser ner andern hinterher jestiejen?“

„Lotti!“, warnte Anni. Allein die Vermutung auszusprechen war wie ein Verrat an ihm. Anni schüttelte sich. Er betrog Mutter sicher nicht. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Anni rief sich die letzten Tage vor Augen. Jedes Mal, wenn sie von der Waggonfabrik heimgekommen war, hatte sie auf der Kupferbergterrasse an der Anschlagsäule immer wieder ein neues rotes Mordplakat gesehen und die Instruktionen der Mordbereitschaft gelesen. Wahrscheinlich hatten das alle getan, die hier auf dem Kästrich lebten. Was, wenn der Kindermörder von hier stammte, sie dabei beobachtet hatte? Ihr rann ein Schauder über den Rücken.

Anni stellte die Tasse ab und massierte sich die Schläfen. Wer fiel ihr ein, der eine grundlegende Abneigung gegen Vater hegte?

Ging es überhaupt um ihn?

Anni richtete sich auf. Hatte es dieser Mann nicht vielleicht darauf angelegt, dass Mutter und sie ungeschützt zurückblieben und er sein Werk von vor Jahren vollenden konnte?

Immerhin waren die Untermieter ausgezogen und Wolff fortgelockt worden. Nur Löb passte noch auf sie auf … Sie neigte sich zu ihm hinüber. Löb hob den Kopf. Er schien durch sie hindurch zu sehen. Als sie seine Hand zu fassen bekam, lächelte er matt. „Fräulein Anni, wir …“

Lotti hob plötzlich den Kopf und lauschte aufmerksam. Außer dem Feuer im Herd hörte sie nur die ersten Arbeiter und Handwerker. Anni musterte sie befremdet. Als der Schlüssel in der Wohnungstür knackte, zuckte sie zusammen.

Anni erhob sich und trat auf den Flur. Wolff kam ihr entgegen. Er wirkte angespannt. Sie konnte nicht anders, als ihn anzustrahlen. Löb hatte recht gehabt. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.

Sein knappes Lächeln tat gut. Mit seiner kalten Hand strich er über ihre Schulter und schob sie in die Küche zurück. Ihn umwehte noch immer die Winterkälte.

„Heinrich!“

Über Löbs Züge huschten Erleichterung und zugleich tiefe Sorge. Er stemmte sich hoch und humpelte auf seinen Freund zu. Dicht neben dem Herd blieb Wolff stehen und umarmte seinen Freund fest.

„Mein Gott, wo warst du? Ich bin vor Angst um dich fast gestorben“, flüsterte Löb.

Für einen Augenblick sah es fast aus, als wolle er Wolff küssen. Anni hätte es in diesem Moment nicht gewundert. Es passte einfach zu der tiefen Sorge, die mehr als Freundschaft nahelegte. Gerade in diesem Moment ließ Löb seinen Freund los und musterte Anni auf abschätzende Weise, als habe sie den Gedanken ausgesprochen. Erschrocken wandte sie sich ab. Erst als er sich wieder hingesetzt hatte, wagte sie den Blick zu heben.

Lotti beobachtete. Anhand ihrer zusammengezogenen Brauen dachte sie sich offenbar auch ihren Teil. Still wärmte Wolff seine Hände über dem Herd. In dem Augenblick hätte Anni viel dafür gegeben sein Gesicht zu sehen, aber er präsentierte nur seinen Rücken.

„Haben Sie den Mann zu fassen bekommen?“, fragte Anni.

Wolff verspannte sich.

„Können wir gleich darüber reden?“

Auch in seiner Stimme lag mühsam zurückgehaltene Gereiztheit. Er wollte nicht vor Lotti sprechen. Das verstand Anni wiederum zu gut, andererseits bohrte die Neugier in ihr. Widerwillig nickte sie.

„Stör‘ ick?“, fragte Lotti.

Löb schwieg, Wolff schüttelte den Kopf.

„Ich habe eher den Eindruck, als würde ich stören, Fräulein Runge.“

Fragend sah Anni ihn an. Er schien ihren Blick zu spüren, denn er drehte sich um.

„Ne,“, entgegnete Lotti. „Ick hab mir nur erschreckt, Herr Wolff, wie immer.“

Er ignorierte ihre Spitze gegen sein Aussehen. Anni rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Stirn. Sie mochten einander nicht und Wolff traute ihr nicht. Löb schien ihre Nähe auch eher als Bedrohung aufzufassen … Warum? Die beiden kannten Lotti nicht gut, aber sie hatte auch ihm schon die Haare geschnitten und war ein häufiger Gast in der Wohnung. Für einen Moment überlegte Anni, ob sie eine Brücke zwischen den drei unterschiedlichen Menschen schlagen sollte. Aber allein die verhaltene Art Wolffs und das Misstrauen Löbs hielt sie zurück.

„Worüber habt ihr euch unterhalten?“, fragte Wolff beiläufig.

Löb räusperte sich: „Augenblicklich theoretisieren wir, Heinrich.“

„Weit sin‘ wa ja nich jekommen.“

Anni hörte eine Spur Spott aus Lottis Worten. Allein die Tatsache, dass ihre Freundin die Verhaftung nicht ernst zu nehmen schien, zerrte an ihr. „Wir überlegen, warum mein Vater verunglimpft wurde“, murmelte Anni.

Langsam drehte Wolff sich um und lehnte sich gegen den Herd. Bedächtig nickte er, wobei er Lotti beobachtete. Sie schien sich unter seinem Blick nicht wohl zu fühlen. Nervös rutschte sie auf dem Stuhl herum und griff – wie Anni auffiel – zum ersten Mal in den Federkragen ihres Morgenrockes, um ihn zusammenzuhalten.

Wolff räusperte sich und massierte seinen Nasenrücken.

„Dahinter verbirgt sich Vorsatz, würde ich meinen“, sagte er ernst. „Jemand nutzt den maroden Leumund Ihres Vaters, um seine Mordlust zu verschleiern.“

„Det is doch nich möchlich … Wie soll so jemand damit durchkommen?“ Lotti schüttelte sich. „Wo der Herr Beckmann doch ein so juter Kerl is‘.“

Wolf ignorierte ihre Worte.

„Der Kindermörder wird seine Abreise aus der Stadt planen, nehme ich an, sonst hätte er Herrn Beckmann nicht an von Stürickow ausgeliefert.“

Lotti hob die Brauen und murmelte: „Ehrlich? Det wär nich jut.“

„Wenn das wenigstens sicher feststünde …“, sagte Löb und sank nachdenklich in seinen Stuhl. „Hast du …?“

„Nur wird meine Vermutung Ihrem Vater ohne Beweise wenig helfen“, sagte Wolff monoton, ohne auf seinen Freund Rücksicht zu nehmen. Wollte er Löb zum Schweigen bringen? Anni konnte ihn schwer fragen. Ihr Blick glitt zu Löb, der Wolff nicht aus den Augen ließ. Er schien ihn verstanden zu haben. Über seine Lippen glitt ein Lächeln. Verständnis und Zuneigung lagen in seinem Blick. Scharf stach der Gedanke in ihre Brust und breitete sich aus. Am liebsten wollte sie aufspringen und den Blickkontakt der beiden Männer unterbrechen.

Sie durfte sich von solchen Dingen nicht ablenken lassen. Mühsam schluckte Anni den Neid und die Eifersucht hinunter.

„Bevor Sie zurückkamen“, begann sie mit belegter Stimme, „wollte Herr Löb etwas sagen.“

Tatsächlich löste sich Löb aus seiner Betrachtung und nahm den Faden auf. „Ich wollte im Grunde nichts anderes sagen, als das, was Heinrich bereits angesprochen hatte. Nur bin ich mir sicher, dass sich in dem Zusammenhang Vorsatz verbirgt.“

Wolff fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar. Seine Lippen zuckten. Offenbar überlegte er, was er sagen wollte. „Herr Beckmann ist ein bekannter Kommunist, jemand, der seine Ansichten in Worte fasst. Er eignet sich also, weil er bereits sehr oft negativ aufgefallen ist und die Gendarmerie generell nach ihrem persönlichen Empfinden handelt.“

Anni hatte von Stürickows Unwohlsein noch in Erinnerung. Wenn Wolff recht behielt, würde er zugunsten von Vater entscheiden und alles in Bewegung setzen, damit ihm nichts geschah. Wolff und Löb wussten das. Lotti schienen sie nicht in ihre Überlegungen miteinbeziehen zu wollen. Vielleicht war es gut, das Spiel mitzuspielen.

„Nur wegen seiner politischen Meinung?“, fragte Anni und legte demonstrativ die Stirn in Falten. „Damit hat er keinem geschadet.“

„Aber sich auch nicht geholfen“, widersprach Löb ernst. „Ich verstehe und teile die Ansichten Ihres Vaters. Das weiß er auch.“

„Wat meinen Se denn damit?“, fragte Lotti. Sie betrachtete ihn aufmerksam über den Rand ihrer Tasse hinweg. Löb hob eine Braue. „Fräulein Runge, bitte stellen Sie sich nicht dumm. Sie – als gebürtige Berlinerin – wissen bestens über die politischen Umtriebe zwischen Kommunisten, Nationalisten und Royalisten Bescheid.“

Sie lächelte. „Schon, aber ick find et interessant, wie de Politik hier ausjelecht wird. Des sind doch eher Stammtisch-Parolen un‘ Freizeit-Kommunisten.“

Anni schnaubte. „Mein Vater …“

„Reg dir nich auf, Kleenes“, unterbrach Lotti sie. „Ick weß doch, wie viel Herzblut dein Vater fürn Kommunismus hat.“ Die Worte trafen trotz des gutmütigen Tons, den sie anschlug.

Anni presste die Kiefer aufeinander. Sahen die Leute ihn wie Lotti, also als armen Irren, der immer auf verlorenem Posten gegen Militär, Gendarmerie und Nationalisten stand? Ein Don Quichotte, der gegen Windmühlen anritt. Sie senkte den Kopf. „Er ist also das Bauernopfer“, nahm sie Wolffs Gedanken wieder auf.

„Jemand, der sich eine Blöße gegeben hat“, bestätigte er, während er langsam er zu dem Stuhl neben Löb schritt und sich niederließ. „Durch seine Bekanntheit in der Gendarmerie eignet er sich dafür. Ich glaube nicht, dass die Tat als solche gegen ihn persönlich geht, Anni. Vielmehr bin ich sicher, dass jemand seine Möglichkeiten zu nutzen weiß und Beckmanns Leumund radikal ausnutzt.“

Anni fiel auf, dass Wolff beide Hände zu Fäusten geballt hatte. Die Knöchel traten weiß hervor. Trotz der tiefsitzenden Wut wirkte er erschöpft und fahl.

„Wie kann ich das beweisen?“, fragte sie.

Er schloss kurz die Augen und wiegte den Kopf.

„Wir müssen die Person finden, die die Kinderschürze versteckt hat – bevor sie sich absetzt.“

Anni feuchtete ihre Lippen an.

„Aber wer würde das machen, Herr Wolff? Ich meine, es müsste doch jemand sein, der hier lebt und unsere Verhältnisse gut kennt, jemand, der in der Wohnung verkehrt.“ Oder, fügte sie wortlos hinzu, jemand, der unsichtbar ist und sich Zutritt überallhin verschaffen kann. Allein bei der Vorstellung wurde ihr kalt.

Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und warf ihr einen warnenden Blick zu, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. „Ja, jemand, der hier immer ein- und ausgehen kann und die Örtlichkeit gut kennt.“

Automatisch warf Anni Lotti einen Blick zu, den ihre Freundin ignorierte. Gefesselt betrachtete diese Heinrich Wolff.

„Wenn ich keinen Mörder finde, keine Beweise …“ Anni vergrub sich in den Tiefen ihres Mantels. „Sie wissen“, murmelte sie, „was man mit vermeintlichen Mördern macht.“

„Ja“, bestätigte Wolff, wobei er sich nach vorne neigte. „Umso wichtiger ist es, dass wir beweisen, dass Ihr Vater nichts mit diesen Vorgängen zu tun hat.“

Er lächelte. Es tat gut zu sehen, dass er auf ihrer Seite war.

„Und wie sollen wir das angehen?“, platzte es aus ihr heraus. Im gleichen Moment biss sie sich auf die Zunge.

Wolff sah auf den Flur hinaus.

„Sehr bald in jedem Fall. Die Person, die Ihnen und Ihrer Familie gefährlich geworden ist, lauert nur auf eine weitere Chance.“

„Das eben?“, begann Anni stockend und sah aus dem Augenwinkel zu Lotti. Sollte sie die Frage stellen? Ihr wurde kalt. „Das war der wahre Mörder, nicht?“

Wolff schwieg. Geschmeidig erhob er sich und schob eine Hand in die Hosentasche.

„Ich hole die Zeitungen der letzten Tage, Anni, Sie überlegen sich, wer in den letzten Wochen – seit dem Verschwinden der ersten Kinder - in dieser Wohnung war, und Konrad wird uns sicher seine Hilfe nicht verwehren, oder?“

„Und wer jeht für de Anni arbeiten?“, fragte Lotti, während sie das Kinn mit der Hand abstützte und Wolff in die Augen sah. Anni behielt ihn ebenfalls im Blick, in der Hoffnung, dass ihm eine gute Ausrede einfiel, damit sie nicht in die Fabrik gehen musste, aber er schwieg. In seinen Zügen regte sich nichts. Lotti löste sich betont überzeugt aus ihrer Position und stand auf. „Schön dass Se Sprüche reißn wie de Kriminale, aber det hilft de Anni nich. De Kleene muss aufe Arbeit.“

*

Wie Lotti auf ihre ganz eigene, sehr berlinerische Weise betont hatte, musste Anni sich wohl oder übel auf den Weg zur Arbeit machen, ganz gleich, wie wichtig es ihr gewesen wäre Mutter zu schützen und sich noch einmal mit Wolff auszutauschen. Nach all dem, was innerhalb der letzten Stunden geschehen war, würde sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können.

Als Anni sich in ihrem Zimmer umzog, schlief Mutter oder gab wenigstens vor zu schlafen. Sie hatte sich zur Wand gedreht und die Decke hochgezogen. Dennoch sah Anni die Stiefel und den graubraunen Wollrock. Es schien, als warte sie nur darauf, dass Anni ging. Auch wenn ihr nicht ganz klar war, weshalb Mutter sich auf diese eigenartige Weise gab, anstatt ihrer Angst eine Stimme zu geben, glaubte sie doch ein klein wenig zu begreifen.

Es lag an den Kindsmorden, die ihr vor Augen hielten, wie viel Glück sie damals gehabt haben musste, aber auch an Wolffs grausamen Tod und seiner Wiederauferstehung.

Der Schnittpunkt all der Ereignisse musste das Geschöpf sein, was durch verschlossene Türen drang, unsichtbar und unstofflich.

Anstatt darüber sprechen zu wollen, verschloss Mutter ihr Wissen in sich, was der ganzen Situation den Anstrich von tiefem Misstrauen verlieh. Der Gedanke tat weh. Natürlich standen sie sich nicht auf die gleiche Weise nah wie Marie Engel und ihre Mutter, aber Anni hatte sich wenigstens gewünscht … was eigentlich?

Vertrauen, Offenheit, ein paar klärende Worte? Die Wahrheit aus ihrem Mund wollte Anni hören, nicht von Konrad, der sie herausschrie, weil er sie nicht ertrug.

Als sie die Knöpfe ihrer Bluse schloss, wandte sie sich zu Mutter um. Obwohl sie ruhig dalag, konnte Anni ihre ungleichmäßigen Atemzüge hören.

„Warum versteckst du dich?“, fragte sie. Die Stille im Raum wurde nur vom Rascheln des Stoffes und den Luftzügen unterbrochen. Natürlich hatte sie nicht mit einer Antwort gerechnet. Vermutlich traf sie nicht den richtigen Ton. Anni versuchte es mit einer anderen Taktik.

„Ich weiß alles von Konrad.“

Kurz sah sie zu Mutter, die sich nicht bewegte. Verzagt ließ Anni den Kopf hängen.

„Dein Verhalten hilft Vater nicht.“

Das war immer einer der wunden Punkte, Mutters Angst. Immerhin drohte ihm durch die häufigen Festnahmen die Entlassung als Lehrer. Nun würde er ganz sicher die Schule verlassen müssen. Es war eine der vielen Konsequenzen, die sich Anni langsam offenbarten. Trotzdem hielt Mutter an sich. Ihre Angst hing greifbar in der Luft und versetzte Anni erneut in Anspannung.

Konnte Anni sie wirklich allein lassen?

Zögernd schloss sie die Haken an ihrem dicken Rock und legte die Schürze an, bevor sie sich das kinnlange Haar richtete. Über den fleckigen Spiegel behielt sie Mutter im Blick.

Sie lag zusammengekauert, verkrampft in den Laken. Langsam trat Anni an das Bett heran und streichelte Mutter über die Wange. Fiebrige Wärme stieg auf. Etwas in Anni brach. In diesem Augenblick wurde der Wunsch, die Bruchstücke ihres gemeinsamen Lebens zusammenzufügen, zu einem unausweichlichen Zwang.

Rasch löste Anni sich von ihr und trat auf den Flur. Aus der Küche drang der Geruch nach Lottis Parfüm und heißem Tee. Offenbar hatte ihre leicht bekleidete Freundin sich eingenistet. Durch einen Türspalt sah sie die blonden Löckchen auf dem rosafarbenen Kunstseidenstoff. Lotti saß offensichtlich am Tisch und frühstückte. Sie war die Einzige. Löb schien sich nicht gerührt zu haben und Wolff … Er öffnete die Tür und vertrat Anni den Weg. Irritiert hielt sie inne und sah zu ihm auf. Er versuchte aufmunternd zu lächeln. Es misslang.

Wie gerne hätte sie mit ihm gesprochen, gefragt, was er herausfinden konnte, ob er die Unterkunft des Unsichtbaren ausgemacht hatte, aber Lotti wandte sich um.

„Wat kiekste?“, fragte sie mit gutmütigem Lächeln. „Ab uffe Arbeit!“

Wolff rollte die Augen. Wortlos reichte er ihr ein in Tuch eingeschlagenes Päckchen.

„Was ist …?“ Anni unterbrach sich. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie die weiche Brotkrume.

„Danke“, flüsterte sie und nickte ihm zu, zögerte aber. „Hatten Sie Erfolg?“

Er nickte unmerklich. „Können wir uns später darüber unterhalten, Anni? Ich habe viele Informationen für Sie, wichtige, über die ich jetzt nicht sprechen kann.“

Die Worte durchdrangen Anni bis ins Innerste. Informationen, er hatte vielleicht Erfolg gehabt!

„Annchen!“, rief Lotti scharf. Ihrer Stimme fehlte jede Freundlichkeit. „Trödel nich!“

Bevor Anni dem brennenden Bauchgefühl nachgeben konnte, strich Wolff über ihren Arm.

„Passen Sie auf sich auf“, sagte er. Die Eindringlichkeit in seiner Stimme ließ sie schaudern. Knapp nickte sie und huschte an ihm vorbei.

Haltlos / 09.11.1918

Der Lärm in der großen Maschinenhalle betäubte ihren Kopf gerade ausreichend, um nicht ständig an die Ereignisse der letzten Stunden zu denken. Trotz aller Aufregung und der ungeklärten Fragen, ihrer Verwirrung setzte unaufhaltsam bleierne Mattigkeit ein. Dankbar nahm Anni die Situation an. Die ihr vertrauten, mechanischen Handgriffe hatten etwas beruhigend Normales an sich und machten es ihr einfach …

„Fräulein Beckmann!“

Anni schrak zusammen. Sie blinzelte den Staub aus ihren Wimpern und sah von ihrer Arbeit auf. Durch das Kreischen der Maschinen kamen die Worte verzerrt bei ihr an. Im ersten Moment wusste sie nicht, wer sie gerufen hatte und woher die Stimme kam. Zwischen all den Frauen in Arbeitshosen und Schürzen erkannte sie nur ein paar Hilfsarbeiter, Kriegsveteranen, die hier im Rahmen ihrer körperlichen Behinderungen mit anpacken konnten. Hektisches Winken zog ihre Aufmerksamkeit an. Auf der Metalltreppe zu den Verwaltungsräumen stand ein kleiner Mann im Anzug, der auf sie deutete und erneut mit der Hand wedelte.

„Geh schon Anni!“

Sie fuhr herum. Hinter ihr stand Henni Dörsam, beide Hände in die Hüften gestützt. Die Vorarbeiterin wirkte nicht gerade gnädig. Sie stand im Gegenlicht, sodass die fahle Wintersonne Eisenstaub in ihrem dunklen Haar zum Glitzern brachte.

Hinter Annis Stirn begann es dumpf zu pochen. Sie kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Was wollte Henriette von ihr? Ihr Magen ballte sich zu einem Stein zusammen. Hatte etwas in der Zeitung gestanden? War ihr Name etwa in aller Öffentlichkeit breitgetreten worden? Anni feuchtete sich die Lippen an und schmeckte Metall.

„Geh schon, Mädchen!“, forderte Henni sie auf und legte ihr die flache Hand auf den Rücken.

Unsicher nickte Anni. Sie ließ sich zur Treppe schieben und stieg langsam hoch, dicht gefolgt von Henni, deren Blick im Nacken brannte. Vor dem kleinen Mann im Anzug blieb sie stehen. In seinen runden, etwas zu tief liegenden Augen regte sich nichts. Seine Mimik blieb schlaff und vollkommen ausdruckslos. Sie kannte ihn, hatte ihn schon gesehen, aber er war einer jener Menschen, deren Namen und Aussehen man vergaß, sobald sie die Tür hinter sich schlossen. Rasch drehte er sich um und ging weiter hinauf. Eine der schmutzigen, zur Hälfte verglasten Bürotüren stand offen. Künstliches Licht fiel auf die Galerie. Anni kannte den Ort. Es war das Büro des Fabrikvorstehers. Sie hatte hier vor einigen Jahren ihren Arbeitsvertrag unterschrieben.

In ihrem Bauch zog sich alles zusammen. Mühsam schluckte sie. Hoffentlich wurde sie nicht entlassen. Vater brauchte sie und Mutter verdiente mit ihrer Näherei kaum genug, um die Miete zu bezahlen, vor allem, weil von sechs Untermietern vier ausziehen wollten.

Annis Kehle schnürte sich zusammen. Sie zögerte an der Schwelle, starrte auf die staubigen Dielen und die Stiefelabdrücke der Arbeiterinnen.

„Anni“, flüsterte Henni hinter ihr scharf. Die sachte Berührung wurde zu Druck. Widerwillig betrat Anni das Büro. Hinter dem Schreibtisch saß Otto Gastell , einer der Eigentümer des Werkes. Obwohl er wenig Zeit in der Waggonfabrik verbrachte, war er ihr bekannt. Als Mainzer Politiker setzte er sich für die Belange der Stadt ein. Trotz seines fortgeschrittenen Alters verströmte er Vitalität und Kraft, zugleich wirkte er bedrückt und in Hennis Büro fehl am Platz. Warum saß er nicht in seinem prunkvollen Marmor- und Ebenholzbüro in der Verwaltung? Annis Augen begannen zu brennen. Sie wusste, dass sie ihn anstarrte und es unhöflich war. Trotzdem konnte sie einfach nicht anders. Otto Gastell war doch sicher nicht wegen ihr gekommen, oder doch?

Die Stahlklammer um ihren Hals zog sich zusammen. Sie zwang sich, von seinem nachdenklichen Gesicht zu seinen Händen zu blicken. Er hielt die Arme über verschiedene Zeitungen verschränkt. Anni erkannte die Rhein-Zeitung, das Mainzer Tageblatt und vor allem die Mainzer Volkszeitung. Stand etwa etwas über ihren Vater darin? Sie versteifte sich. Wenn sie deshalb entlassen wurde …

Ihre Knie wurden weich. Sie knickte ein. Hennis große, raue Hand presste sich schmerzhaft in ihre Schulter. Das scharfe Gefühl half ihr auf den Beinen zu bleiben. Neben Gastell stand der kleine Mann und betrachtete sie.

Wie zuvor Hennis Blick begann auch der seine zu stechen. Anni fühle sich durch ihn entblößt. Der Wunsch sich zu bedecken – nein zu verstecken sengte durch ihren Körper. Warum geschah das alles?

Trotz der hämmernden, kreischenden Maschinen war die schiere Stille in diesem Raum unerträglich.

Gastell regte sich plötzlich. Mühsam stemmte er sich an der Tischkante hoch, sodass sie die verknitterten Deckblätter der Rheinzeitung und der Volkszeitung erkennen konnte. Darin stand nichts von Mord und Verbrechen.

König Ludwig III. von Bayern gestürzt las sie und Arbeiter- und Soldatenrat .

Vielleicht hing der Besuch Gastells gar nicht mit ihrem Vater zusammen?

Anni klammerte sich an dem beinah aberwitzig starken Gefühl von erleichterter Hoffnung fest. Herr Gastell sah zu Henni, anschließend zu Anni. Ihr Herz wurde schwer. Das alles konnte nichts Gutes bedeuten.

„Sie sind Fräulein Anna Julie Beckmann, richtig?“, fragte er.

Anni wurde das Gefühl nicht los, als läge etwas Schleppendes, Ermüdetes in seinem Tonfall. Sie zwang sich zu nicken.

„Sie sind die Tochter des Lehrers Johann Matthäus Immanuel Beckmann?“, vergewisserte sich Gastell.

In Annis Hals saß ein Kloß. Mühsam schluckte sie.

„Ja, Herr Gastell, der Gymnasiallehrer Beckmann ist mein Vater.“

Sie brachte es nicht über sich zu fragen, warum sie diesem Verhör unterzogen wurde.

Gastell lächelte kurz, beinah hilflos. Anni spürte seinen Blick. Ihm schien die Situation höchst peinlich zu sein. Hinter ihm löste sich der kleine Mann und trat ebenfalls vor. Er straffte sich und strich mit Daumen und Zeigefinger über seine Oberlippe, als wolle er einen nicht mehr vorhandenen Bart glätten.

„Überall in den großen Städten unseres Reiches kommt es zu Unruhen, liebes Fräulein Beckmann“, sagte er leise.

Seine Stimme klang angenehm normal und weich.

Innerlich atmete sie auf. Es hing nicht mit der Verhaftung ihres Vaters zusammen. Aber warum hatte Gastell sie rufen lassen? Der kleine Mann wandte sich zum Schreibtisch und griff nach einer der Zeitungen. Erneut zögerte er, befeuchtete sich die Lippen und setzte an, schwieg schließlich aber. Anni begann sich unwohl zu fühlen. Wenn es etwas mit dem Arbeiter- und Soldatenrat und den Unruhen zu tun haben sollte, von denen er gesprochen hatte, fragte sie sich, warum Gastell nicht im Hof stand und eine Ansprache dazu hielt. Neben ihr wurde Henni nervös und schnaubte ärgerlich.

„Dein Vater ist ein Kommunist, Anni. Wir wollen sichergehen, dass du sein Gedankengut nicht in die Köpfe unserer Arbeiter und Arbeiterinnen pflanzt“, sagte sie.

Die Worte trafen Anni unvorbereitet hart, wie eine Ohrfeige, zugleich wankte der Boden. Aber dieses Mal empfand sie blanke Wut, die ihren Verstand zu überschwemmen drohte.

„Bitte?!“, fragte sie scharf und entzog sich dem Griff der Vorarbeiterin. „Ich bin nicht mein Vater! Politik interessiert mich nicht, Henriette. Das, was du mir hier vorwirfst, ist Unsinn!“

Ihre Stimme schnappte über.

Gastell räusperte sich. Für einen Moment hatte Anni ihn vollkommen vergessen. Plötzlich hatte er kaum noch den Zauber des besorgten Mannes, vielmehr gerann sein Gesicht zu einer Maske, hinter der sich ein Feigling verbarg.

„Wir wollen Sie nicht entlassen. Es geht uns nur darum, diese augenblicklich schwierige Zeit zu überstehen, ohne dass wir in die Verlegenheit anderer Städte und Werke kommen. Die Menschen beginnen sich nach Züricher Vorbild zu formieren und ich will …“

„Sie wollen keine Tochter eines Kriegsdienstverweigerers, der an die Worte von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg glaubt, das habe ich verstanden.“

Anni trat ihm entgegen und sah zu ihm auf. Gastell betrachtete sie. In seinem Gesicht lag keine Wut, nur eine Ruhe, die er zuvor nicht ausgestrahlt hatte. Wahrscheinlich beruhigte es ihn, dass jemand anderer für ihn die verfänglichen Worte ausgesprochen hatte.

„Herr Bender wird Ihnen den Wochenlohn und die Lebensmittelmarken geben, darüber hinaus erhalten Sie ein Zeugnis, wenn Sie es wünschen.“

Anni kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Also bin ich entlassen?“

Gastell trat einen Schritt zurück, bevor er nickte. „Vorerst.“

*

Vorerst!

Anni trug das Wort auf dem ganzen langen Weg zu Fuß mit sich. Sie wollte nicht mit einer Straßenbahn fahren, an der sie vielleicht sogar die letzten Jahre mitgearbeitet hatte. Allein die Vorstellung, nun ohne Stellung zu sein, machte ihr Angst.

Wie sollten sie nun überleben?

Auf dem letzten Stück zum Kästrich hatten dichte, tiefhängende Wolken das letzte Sonnenlicht vertrieben und es begann zu regnen. Eisige, dicke Tropfen fielen rund um sie nieder, rannen in ihren Kragen und zerplatzten auf ihrem Mantel, nur um sich mit kleinen Perlchen auf der langfaserigen Wolle abzusetzen. Sie fühlte sich elend, fiebrig, müde und krank. Vielleicht hätte sie einfach nur den Mund halten sollen und hinnehmen, dass sie kurzzeitig beurlaubt wurde. Ihre Wut hatte alles kaputt gemacht.

Tränen stachen in ihre Augen und das krampfhafte Schluchzen raubte ihr den Atem. Die wenigen Menschen auf der Straße starrten sie an. Eigentlich wollte sie nichts weiter, als sich verkriechen und am besten einfach aufhören zu existieren. Das alles war unerträglich. Sie hatte ihrer Familie den endgültigen Gnadenstoß versetzt. Ihr fiel ein, dass sie vor einigen Stunden alles dafür gegeben hätte, nicht arbeiten gehen zu müssen. Jetzt war es so und sie fühlte sich wesentlich unzufriedener. Als sie die Kupferbergterrasse erreichte, hatte sich der Regen in Nieselregen verändert, zugleich schienen die Temperaturen gefallen zu sein. Sie fror erbärmlich. Das Wetter passte zu ihrer Stimmung. Unter den gegebenen Umständen konnte und wollte sie ihrer Mutter nicht unter die Augen treten. Vielleicht sollte sie mit Lotti reden. Auch wenn sie sich gegenüber den beiden Männern heute Früh alles andere als damenhaft und vertrauenswürdig aufgeführt hatte, war sie vielleicht der einzige Mensch, der sich einen Moment Zeit nahm, um ihr zuzuhören. Ein Patentrezept für Annis Probleme würde sie sicher kaum aus dem Ärmel zaubern können, aber vielleicht eine Idee, ein einfacher Denkanstoß.

*

Als Anni in ihrer Manteltasche nach dem Wohnungsschlüssel suchte, drang aus dem Innenhof das Geräusch eines schweren Motors. Hinten stand ein Lastkraftwagen, der wahrscheinlich die Fleischerei belieferte. Anni hörte die Stimmen der Gesellen, die sich lautstark unterhielten. Wenigstens dieses Quäntchen Normalität war zurückgekehrt. Von einem Moment zum anderen verwehte das warme, angenehme Gefühl und machte Kälte Platz.

Anni sah das vernarbte Gesicht von Heinrich Wolff vor Augen, dem Mann, dessen Vater die Metzgerei bis zu dem entsetzlichen Hungerwinter vor zwei Jahren gehört hatte. Er war ein guter Mann gewesen wie sein Sohn.

Sie hatte mitangesehen, wie sein Vater an der Angst um seinen Sohn und an Vereinsamung starb …

Ihre Finger schlossen sich um ihr Taschentuch und zugleich um den Schlüssel. Rasch zog sie beides hervor und stopfte das Stück Stoff wieder zurück in ihren Mantel. In einer Wolke aus Wasserdampf rollte der Lastkraftwagen aus der Einfahrt und hielt kurz an.

Annis Haut begann zu kribbeln. Von der Ladefläche des Wagens wehte ein unangenehmer Geruch herüber, den auch die brennende Kohle, der Wasserdampf und der Gestank des heißen Metalls nicht überdecken konnten.

Eine Woge des Unwohlseins überfiel sie. Kurz suchte sie in den Schatten des Führerhauses den Fahrer. Er starrte sie an … Seine Augen phosphoreszierten. Hinter der schmutzverkrusteten Scheibe erkannte sie, wie er seine Lippen zurückzog und ein entsetzliches Gebiss entblößte. Er war wie Wolff … oder sein Mörder. Mutters Angst, Wolffs Nervosität, die Hilflosigkeit Löbs …

Mutter! Annis Brustkorb zog sich zusammen. Ein Beben durchlief ihren Körper. Rasch wandte sie sich ab und verruchte mit zittrigen Fingern den Schlüssel im Schloss zu drehen. Metall knackte. Sie fühlte den Widerstand, bevor die Tür endlich aufsprang und sie sich durch einen Spalt hindurchschieben konnte. Draußen heulte der Motor auf. Das Echo und das Klappern des Kettenwerkes fingen sich im Hinterhof. Es klang unnatürlich laut in ihren Ohren. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend eilte sie in das Hochparterre. Rechtsseitig fiel die Treppe wieder ab. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass die Tür zum Hinterhof offen stand und immer wieder gegen einen großen, angestoßenen Schrankkoffer schlug.

Irritiert blieb Anni stehen.

Zog jemand ein oder aus? Sie verschob den Gedanken und eilte zum Hofausgang. Wider besseren Wissens warf sie die Tür ins Schloss. Durch die Glasscheiben sah sie die Gesellen zusammenzucken. Einem fiel vor Schreck die Schweinehälfte von der Schulter. Erschrocken hob sie die Hand und presste sie gegen die Scheibe.

Was dachten die Burschen von ihr?

Wahrscheinlich hielten sie sie für verrückt. Bei der Vorstellung fühlte Anni sich kindisch. Hatte sie tatsächlich gesehen, was sie glaubte? Sie war übermüdet und viel zu nervös, nach all dem, was passiert war. Rasch wandte sie sich um und machte sich an den Aufstieg.

Als Anni atemlos vor der Wohnungstür stehen blieb, hörte sie die typischen Geräusche von Schwungrad und Pedal der Nähmaschine. Mutter arbeitete in der Küche. Ihr war also nichts geschehen. Es ging ihr gut.

Offenbar hatte sie sich hinausgetraut. Die angenehme Stimme von Konrad Löb drang zu Anni. Sie lauschte. Er redete sanft auf Mutter ein, leider konnte sie seine Worte nicht verstehen. Hinter dem fahl-gelben und weißen Milchglas sah sie Schatten, die vor dem Licht in der Küche huschten. Vermutlich ging Wolff wieder unruhig durch den Raum. Nach all den entwurzelnden Erlebnissen fühlte Anni sich selbst getrieben. Kindsmorde, die Verhaftung, Geschöpfe, die es nicht geben sollte, und schließlich die Entlassung …

Nervös tastete sie in ihrer Tasche nach dem Umschlag der Waggonfabrik Gebrüder Gastell. Das Papier war kalt, trocken, rau. Auf seltsame Weise drängte sich ihr der Vergleich mit der Reaktion des alten Mannes auf, nachdem sie ihn offen angegriffen hatte. Das Wissen über ihn und eine Welt jenseits des Sichtbaren hatte viel verändert.

Annis Blick auf die Realität hatte sich verschoben.

Wann hatte es begonnen?

Sie sah die Stufen hinauf. Neben der kleinen Toilettenkabine fiel blasses Licht durch das Fenster. Das Wetter hatte gewechselt. Ein erneuter Hauch von Sonnenschein kroch über die ausgetretenen Stufen. Wie im Juli, dachte sie. Begann nicht da schon die Veränderung?

Sie erinnerte sich genau an den Tag, als sie das erste Mordplakat gelesen hatte, jener Tag, an dem Lotte, Löb und Wolff eingezogen waren. Sollte das ein Zeichen gewesen sein?

Anni griff nach dem Geländer und stieg die Etage zu Lottis Wohnung hinauf.

Schon von der Treppe aus fiel ihr auf, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Vielleicht war ihre Freundin irgendwo im Haus unterwegs oder sie hatte den Müll nach draußen gebracht.

Behutsam klopfte Anni. Natürlich blieb die Reaktion aus. Mit etwas anderem hätte Anni nicht gerechnet. Trotz allem betätigte sie ein weiteres Mal den Klopfer oberhalb des glänzenden Messingschildes, auf dem Lieselotte Runge stand. Woher nahm Lotti eigentlich das Geld, sich eine Wohnung zu leisten, ohne untervermieten zu müssen?

Diese Frage hatte sich Anni in der kurzen Zeit, die ihre Freundin hier wohnte, öfter gestellt. Letzten Endes arbeitete sie doch ausschließlich für Frauen aus dem Viertel, denen sie das Haar legte. Möglicherweise nahm sie aber auch Aufträge von reichen Frauen an … Aber welche gebildete Dame ließ schon eine freche Berliner Göre an sich heran, die aussprach, was sie dachte? Wer bezahlte ihr den Luxus einer eigenen Wohnung? Anni bemerkte, dass sie die Hand zurückgezogen hatte. Wolffs Zweifel an Lotte hatten sich auf Anni übertragen. Der Gedanke fühlte sich aber nicht annähernd so falsch an, wie sie erwartet hätte. Wahrscheinlich lag es an ihrem Auftreten heute Früh. Irgendetwas hatte sich in Annis Sicht geändert, nichts Großes, dafür aber Tiefgreifendes. Die ganze Zeit hatte sie den Wunsch gehabt, sich ihr mitzuteilen, teilweise so zu sein wie sie. Und nun?

„Lotti?“

Anni lauschte.

Wenn sie die Geräusche des Hauses ausschloss, drang kein Laut aus der Wohnung, nur das Knacken des Holzbodens. Irgendwo über ihr öffnete jemand eine Tür. Die Toilettenspülung dröhnte nach, während neues Wasser gezogen wurde. Ungleichmäßige Schritte näherten sich, unterbrochen von dem Pochen des Gehstockes.

Sie gehörten nicht zu Lotti. Einem Impuls folgend schob Anni die Tür auf und huschte in den Flur. Sie wollte nicht gesehen werden, keine dummen Fragen beantworten, weder wegen Vater noch der Tatsache, dass sie schon zu Hause war. Rasch schob sie die Türe ins Schloss; gerade rechtzeitig, wie sie bemerkte. Tatsächlich trampelte ein Mann die Stufen bis zu Lottis Wohnung und pochte wuchtig gegen die Tür.

„Mädchen, mach auf!“

Tranitz!, schoss es Anni durch den Kopf. Warum kam er zu Lotti? Wollte er das Mietgeld einfordern? Heute war aber der neunte, nicht der erste November. War Lotti im Verzug mit der Miete? Hinter Annis Stirn baute sich Druck auf. Sie verstand gar nichts mehr.

„Ich weiß, dass du da bist, Lotte. Komm, mach auf, lass uns pimpern !“

Sicher konnte er sie durch die Scheiben sehen oder wenigstens ihren Schatten. Die Sonne schob sich durch die Wolken und reflektierte an der geweißten Wand des Hinterhauses, gerade so, als flute pure Helligkeit durch die weit offene Küchentür auf den Flur. Anni drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Ihr Herz hämmerte. Sie starrte zur Tür. Tranitz bewegte sich, neigte sich … eine der Scheiben in der Kassettentür war klar. Sicher bemerkte er sie. Vorsichtig glitt Anni an der Wand hinab und kauerte sich in die Ecke, in der Hoffnung, dass er sie nicht bemerkte.

„Du bis da, vorhin war deine Tür offen, Weib! Mach auf!“ Wuchtig trat er gegen die Tür, sodass die Scheiben in ihrer Bleifassung klirrten.

Anni machte sich klein. Die Kälte der Wand durchdrang ihren nassen Mantelstoff. Dicht über ihr knarrten die Federn des Brief- und Zeitungsschlitzes. Unten flog eine Tür auf und der wohlbekannte Schritt von Konrad Löb drang zu ihr.

„Was soll das, Tranitz? Was machen Sie da?“

Der Hauswart stampfte auf.

„Und Sie, Löb?“, bellte er verärgert. „Müssten Sie und der andere Krüppel nicht längst in Ihrer Zeitung sitzen und Ihre Bildchen malen?“

„Kommen Sie runter, Tranitz. Ihre Frau wartet sicher schon auf Sie.“

Wütend knurrte der Hauswart.

„Ich muss noch auf dem Boden nach dem Rechten sehen!“

„Na dann – soll ich Ihnen zur Hand gehen?“, bot Löb an. In seiner Stimme schwang Häme mit.

„Nein, die Hilfe eines Krüppels ist mir nur Last!“

Die Schritte des Hauswarts entfernten sich. Nach einer kleinen Ewigkeit schloss sich auch die Wohnungstür ihrer Eltern.

Anni löste sich.

Durch die verkrampfte Haltung hatten sich ihre Muskeln verspannt. Unsicher stemmte sie sich auf die Füße und wandte sich zur Tür. Das Sonnenlicht fiel ungehindert durch die Milchglasscheiben. Unsicher drehte sie sich um. Was wollte sie doch gleich hier? Mit Lotti reden, sicher, aber sie war nicht da. Warum hatte sie aber die Tür offen stehen lassen? Anni schluckte trocken und ging den kurzen Flur entlang, bis er abknickte. Diese Wohnung glich der ihrer Eltern in der Aufteilung bis aufs Haar, nur wirkte sie so leblos und leer. Bis auf den großen Garderobenschrank zwischen Stube und Schlafzimmer lag nicht einmal ein Läufer auf den Dielen. Der Boden und die dunkel lackierten Wände glänzten. Ein schwacher Geruch nach Lysol hing in der Luft, durchtränkt von Lottis süßem Parfum. Warum diese Putzwut? Irritiert wandte Anni sich zur Küche. Bei Lotti roch es zumeist nach gebratenem Fleisch, oder wenigstens Suppenfleisch und Bauchspeck – wo immer sie ihn herbekam. Doch jetzt stank der Raum nahezu nach dem Desinfektionsmittel. Herd und Tisch waren blankgescheuert und der Boden noch feucht. Neben dem Ofen stand ein leerer Kohleneimer. Weder Töpfe noch Pfannen standen umher. Anni trat an das Küchenbuffet und sah in die einzelnen Fächer. Lottis Porzellan war sauber verstaut. Beruhigt schloss sie die Türen wieder. Auf der Anrichte stand der Brottopf. Wenn auch der gefüllt war, musste sie sich keine Sorgen machen. Vorsichtig hob sie den Deckel an. Weißer Staub wirbelte auf. Instinktiv hielt Anni sich die Hand vor Mund und Nase. Aus zusammengekniffenen Augen schaute sie hinein. Weiß-grüner Schimmel füllte das Innere aus und hatte sich in die Risse des dicken Keramiks gegraben. Was ging hier vor sich? Anni drehte sich einmal im Kreis. Was fiel auf, was war anders als sonst? In der Spüle lag der Putzlappen, aber wo befand sich der Eimer? Langsam trat Anni an das weiße Steinbecken heran. Im Ausguss hatte sich Sand gesammelt, das Wasser war im Begriff zu trocknen. Ein schwach rosiger Schimmer hatte sich um den Siphon gesammelt. Anni streckte die Hand danach aus, zog sie aber gleich wieder zurück. War das Blut? Wie passte all das zusammen? In ihr erwachte irreale Angst. Lotti konnte etwas zugestoßen sein, vielleicht stand deshalb die Türe offen. Vielleicht … war sie dem Kindermörder zum Opfer gefallen! Der Mann war sicher in der Nacht im Haus gewesen! Der Gedanke würgte sie. Aber was, wenn er noch hier war? Nein, unmöglich! Sie hatte ihn mit dem Lastkraftwagen fortfahren sehen. Ihr wurde schwindelig. Mit beiden Händen klammerte sie sich an den Spülstein, um nicht einzuknicken. Das wäre schrecklich. Und sie wollte keine ermordete Lotti finden - wenigstens nicht allein! Löb war im Haus, er und der Hauswart, und Mutter. Sie musste Hilfe holen.

Eine neue Perspektive / 09.11.1918

„Lotti ist wahrscheinlich in ihrer Wohnung umgebracht worden!“, rief Anni so eindringlich es ging.

Ihr Herz schlug bis zum Hals und die warme, feuchte Luft in der Küche machte es ihr nicht einfacher zu Atem zu kommen. Sofort brach ihr der Schweiß aus.

Löb, der gerade Kohle nachgelegt hatte, stemmte sich auf seinen Stock und richtete sich auf. Auch ihre Mutter sah sich um, blass, still, in sich gekehrt, wie sie es immer war. Unter ihren Augen hatten sich tiefe Schatten eingegraben, die Wangen wirkten eingefallen und die vollen Lippen spröde und farblos. So verhärmt hatte Anni sie heute früh nicht zurückgelassen, oder doch?

„Was redest du da?“, fragte sie mit brüchiger Stimme und sah auf die Küchenuhr, während sie mit dem Fuß das Schwungrad der Nähmaschine anhielt. „Warum bist du überhaupt schon hier?“

Anni wies nach oben.

„Lottis Tür war offen und ich bin in ihre Wohnung gegangen. Im Spülstein ist Blut und die ganze Wohnung ist geputzt …“

„Vielleicht hat sie sich geschnitten“, murmelte Mutter teilnahmslos.

Anni nickte, schüttelte dann aber den Kopf. Sie wandte sich an Löb, der nähergekommen war.

„Als ich ankam, fuhr gerade ein Lastkraftwagen aus dem Hinterhof. Hinter dem Steuer saß ein Mann mit glühenden Augen …“

Sie unterbrach sich. Es fiel ihr schwer in Worte zu fassen, dass eventuell Wolff und der unsichtbare Mann von der gleichen Art waren. Sie konnte ihn nicht bloßstellen, schließlich war er ein Freund, der Beschützer ihres Zuhauses.

„Ich bin mir sicher, dass es der Gleiche war, der uns angegriffen hat. Und ich glaube, dass er gestern Nacht schon bei Lotti war.“

Löb hob die Hand und brachte Anni zum Verstummen. In seinen Zügen lag Angst.

„Es sind zwei“, murmelte er tonlos.

Anni nickte. „Dachte ich mir fast schon, der, den Herr Wolff verfolgt hat, und der zweite, der es auf Sie und mich abgesehen hatte.“

In einer beinah hilflosen Geste ergriff Löb ihre Schulter und drückte sie. Anni fühlte sein Zittern. Er drehte sich zu Mutter um.

„Frau Beckmann, gehen Sie mit Anni zu Familie Tranitz und verlassen anschließend das Haus. Von Stürickow soll kommen und am besten so viele bewaffnete Männer wie möglich mitbringen. Sagen Sie ihm, wir haben es mit dem Gleichen zu tun, der damals Heinrich verstümmelt und Fräulein Driesen ermordet hat!“

Anni wurde es bei den Worten kalt. Halfen Waffen gegen solch einen Gegner? Sie bezweifelte es.

„Hier, im Haus, jetzt?“, hauchte ihre Mutter.

Ihre Augen weiteten sich. Sie sprang auf, kam um den Tisch herum und umklammerte seinen Arm.

„Konrad“, wisperte sie, „wo ist Heinrich? Warum ist er nicht hier?“

Wortlos schüttelte er den Kopf. Wahrscheinlich wusste er nicht, wo Wolff sich aufhielt. Vielleicht hatte er sich auf die Spur des Monsters gesetzt …

Anni fühlte sich plötzlich fest von ihr in die Arme geschlossen. Die schiere Geste tat gut, beruhigte sie aber keineswegs. Schutz gab es vor dem Mann nicht.

Vorsichtig befreite sie sich und sah ihre Mutter an.

„Ich habe die Hoftür geschlossen und die Eingangstür ist auch zu … auch wenn ich nicht sicher bin … einer von ihnen war gestern hier drin, im Flur.“

„Sie wissen es besser, Anni!“ Abfällig schnaubte Löb. „Seine Präsenz ist durch Wand und Türe gesickert, machen Sie sich nichts vor. Mit solchen Kleinigkeiten hält sich ein solches Geschöpf nicht auf. Vor allem, weil es nicht ein Mann, sondern zwei sind.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“

Anni griff in ihren Mantelkragen.

„Einen hat Herr Wolff verfolgt, der andere griff uns an.“ Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte Anni.

„Was, wenn der erste, der durch die Wand kam, Heinrich absichtlich fortgelockt und so lang beschäftigt hat?“

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Die feuchte Luft nahm ihr den Atem, trotzdem spann sie laut den Gedanken weiter. „Herr Wolff, Heinrich, kam heute früh gar nicht mehr dazu, mich in das einzuweihen, was er erfahren hatte. Lotte hat mich sofort zur Arbeit gescheucht.“

Noch während sie die Idee aussprach, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals: Zweifel an Lotte. Sie hatte willentlich verhindert, dass Wolff seine Erlebnisse aussprechen konnte. Anni biss sich auf die Unterlippe. Was, wenn Lotti schon die ganze Zeit gegen sie gearbeitet hatte?

Anni schauderte.

Sie war kurz nach den ersten Kindermorden hier eingezogen, hatte in dieser Wohnung freien Zugang überallhin und vermied es Wolff unter die Augen zu treten.

Anni hatte nicht vergessen, wie er am ersten Tag ihre Witterung in sich aufgesogen hatte. Das starke Parfum irritierte ihn vielleicht, verwirrte seine Einschätzung. Unsanft löste Anni sich aus Mutters Griff.

An diesem Tag war auch noch etwas anderes sehr auffällig gewesen: der Lärm des Lastkraftwagens. Lieferungen kamen morgens, nicht abends.

Kannte Lotti die beiden Männer zu dem Zeitpunkt etwa schon? Unsicher schaute sie hinauf. Ein Hauch von Zweifel blieb zurück. Was wenn sie sich irrte und Lotti nichts von den Umtrieben gewusst hatte? Dann konnte es sein, dass Lotti als Mitwisserin aus dem Weg geräumt worden war. Und was, wenn der zweite Mann, nicht der Fahrer, noch oben in der Wohnung gewesen war?

Ihre Haut begann zu prickeln. Dann wäre sie die ganze Zeit mit einem Mörder zusammen gewesen. Die Kälte ließ sich nicht mehr vertreiben.

„Woher wissen Sie, dass es zwei Männer sind?“, fragte Mutter. „Sie machen Anni Angst. Wer sagt, dass wir es wieder mit den Landsern zu tun haben?!“ Ihre Stimme schnappte über.

Annis Blick glitt von den ängstlichen Zügen ihrer Mutter zu Konrad Löb, der ernst und nachdenklich wirkte.

„Anni hat recht und Heinrich ist sich sicher, Annemarie“, flüsterte er. „Vielleicht sind es nicht dieselben beiden Männer, aber er hat einen von ihnen heute früh verfolgt.“

Mutter gab einen hohen, hilflosen Laut von sich. Stumm weinte sie. Anni spürte ihr Beben, die tiefsitzende Urangst, die sie wahrscheinlich über Jahrzehnte mit sich geschleppt hatte. Es war besser, wenn sie das Haus verließ, fraglos.

Behutsam streifte Anni die schwere Hand ihrer Mutter ab und trat auf den Flur, bevor sie nach oben deutete.

„Anni!“

Sie sah kurz zu Mutter, bevor sie den Kopf schüttelte.

„Ich muss mehr wissen. Vielleicht ist Lotti ein Monster, vielleicht ein Opfer. Ich weiß es nicht. Aber ich kann nicht tatenlos abwarten.“

Mutter krampfte beide Hände in ihre Bluse. Bitternis verzerrte ihr Gesicht.

„Wenn ihr nichts unternehmt, weil ihr beide Angst habt, bitte, aber ich muss die Wahrheit wissen!“

„Anni, nein!“

Ohne auf den Ausruf ihrer Mutter zu hören, fuhr sie herum und eilte zur Tür.

„Konrad, halten Sie sie auf!“

Hinter sich hörte Anni Schritte, das Humpeln Konrads. Es war leicht ihm zu entkommen, aber sie zweifelte daran, dass er sie aufhalten wollte. Auch er besaß den verzweifelten Mut, all dem ein Ende setzen zu wollen. Darin waren sie Verbündete.

„Hol von Stürickow, Mutter!“, rief Anni über die Schulter, „denn ich bin mir nicht sicher, ob da oben nicht immer noch jemand ist!“

*

Musik drang aus der Wohnung. Anni erkannte sofort die zackigen Klänge des Radetzky-Marsches. Die Tür stand wieder offen, nur war das Sonnenlicht gewichen. Schatten lauerten im Flur. Jemand war hier!

Vielleicht sollte sie doch einfach laufen und den Hilfskommissar holen. Doch da waren immer noch der Verdacht und zugleich die Angst um Lotti. Hier oben gewannen die Zweifel an der Mittäterschaft ihrer Freundin neue Nahrung. Würde sie es sich je verzeihen, wenn Lotti noch lebte und gerade mit dem Tod rang? Die Antwort lag auf der Hand.

Sie trat über die Schwelle. In der Wohnung hatte sich ein weiterer Geruch festgesetzt. Süßliche Schwere, die etwas von vergammeltem Fleisch an sich hatte, lag in der Luft. Kurz schloss Anni die Augen und überlegte, woher sie den Geruch kannte. Da war etwas, ein Moment vor zwei Jahren …

Hinter ihr kam Konrad herein. Er sagte nichts. Anni hob die Lider und sah ihn an. Aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Aber er hielt sich gerade, fest auf den Stock gestützt. In seiner zweiten Hand lag ein Armee-Revolver. Offenbar hatte er doch noch Waffen aus seiner Soldatenzeit übrigbehalten. Anni verdrängte den Gedanken und musterte ihn. Nervös leckte er sich über die Lippen.

„Du läufst sofort weg, wenn es gefährlich wird, versprochen?“

In seinen Worten lag eigentlich keine Frage, sondern vielmehr ein Befehl. Still nickte sie. Mit dem Kinn wies sie auf die Küche. Er ignorierte die Geste.

„Ich nehme an, du warst in keinem der anderen Zimmer?“

Anni bemerkte ein Zittern in seiner Stimme. Konrad Löb hatte Angst. Aber sollte er als Soldat nicht jeder Art von Feind ins Gesicht lachen können, außer … Wieder sah sie Wolff vor sich. Ohne ihn war Konrad kein strahlender Held, nur ein einfacher Mensch. Der Gedanke tat ihr im gleichen Moment leid, denn schließlich stand er hier, neben ihr.

„Nein“, flüsterte sie. „Ich hatte zu viel Angst etwas ganz Furchtbares zu finden.“ Kurz zögerte sie, bevor sie hinzufügte: „Genauso wie Sie.“

„Ja“, hauchte er und schob sich an ihr vorbei. Vorsichtig spähte er in den Querflur. Anni folgte ihm. Im Gegensatz zu vorhin stand die Schlafzimmertür weit offen. Die Musik kam aber aus der Stube. Behutsam zupfte sie an seinem Ärmel. „Die war vorhin noch geschlossen und es war still.“

Ein bewegter Schatten fiel auf die Dielen.

Anni zuckte zurück. Wer war das? Konrad löste sich und ging leise weiter. Im Gegensatz zu seinem Freund kam ihr das Geräusch seiner Schritte wie Getrampel vor.

Wer immer hier lauerte, musste ihn hören.

Annis Herz raste. So leise sie konnte, folgte sie ihm. Mit jedem Schritt wuchs die Sicherheit, einen Fehler zu begehen. Plötzlich trat Lotti auf den Flur und prallte zurück. Erschrocken keuchte sie. In ihrem lockigen Haar und dem viel zu teuren Pelzkragen ihres Mantels glänzten Wassertröpfchen. Sie trug edle, dunkle Lederhandschuhe. Auf ihren geröteten Wangen lag eine feine Schweißschicht, die ihre Haut zum Glänzen brachte. Sie musste sich ziemlich angestrengt haben. Mit einer Hand schlug sie sich auf die Brust und fächelte sich mit der anderen Luft zu.

„Habt ihr mir erschreckt!“, stieß sie aus und zwang sich ein halbwegs unbefangenes Lächeln auf die Lippen.

Konrad schwieg. Er hielt die Waffe auf sie gerichtet. Der letzte Rest Freundlichkeit wich aus Lottis Zügen.

„Wat willste, Landser? Willste mir erschießen?“

„Nein, wir hatten nur Angst um dich.“

Anni zweifelte ihre Worte im gleichen Moment an, in dem sie sie aussprach. Offenbar war sie nicht Opfer, sondern Komplizin gewesen. Wäre das der Moment, um wegzulaufen? Anni starrte die elegante Erscheinung an, zu der in keiner Weise der platte Berliner Dialekt passte.

Lotti schien die Veränderung in ihrem Gemüt und ihrer Stimme wahrzunehmen. Diese Frau verhielt sich nicht ängstlich, sondern lauerte … genau wie in der letzten Nacht. Streng zog Lotti die Brauen zusammen.

„Ach ja?“

„Meine Angst war wohl überflüssig. Dir geht es blendend.“ Anni straffe sich.

Sie löste sich von Konrads Seite und trat auf Lotti zu. „Wo warst du?“

„Wech, kurz wenichstens.“ Ärgerlich verschränkte Lotti die Arme vor der Brust und baute sich in der Schlafzimmertür auf. „Warum frachste?“

„Deine Tür war offen“, entgegnete Anni und versuchte einen Blick ins Schlafzimmer zu erhaschen. Viel konnte sie nicht erkennen, nur einige Koffer, die gepackt worden waren, ein halb offener Schrankkoffer und Kleidung, die auf Boden und Bett verstreut lag. Anni hatte selten so viel Kleidung unterschiedlichster Art gesehen. Einfache Röcke, Schürzen und Blusen lagen zwischen auffallenden Kleidern, wie sie die Filmschauspielerinnen trugen. Dazwischen fanden sich aufreizende Miederwaren und zugleich elegante Abend- und Tagesgarderobe, wie sie wirkliche Damen trugen. Hüte, Handschuhe, Schmuck und Schuhe lagen verstreut.

„Du verreist?“, fragte Anni.

Mit wieviel unterschiedlichen Persönlichkeiten? Den Gedanken hielt sie besser für sich.

„Wat dajegen?“ In Lottis Ton schlich sich blanke Wut. „Wat jeht dich kleene Krabbe des überhaupt an? Ik bin alt jenuch zu tun, wat mer passt, und jerade vor nem Blag vonnem Mörder muss ik mir nich rechterfijen!“

„Das Balg von einem Mörder, wie?“

In Annis Magen kochte Hitze, die ihren ganzen Körper entflammte.

„Was geht hier vor sich?!“

Ohne auf eine Antwort zu warten, stieß sie Lotti zur Seite und drängte sich an ihr vorbei in das Schlafzimmer. Auf dem Boden lagen die einfachen Kleider, die sie in den letzten Wochen so oft getragen hatte. Am Saum eines Blusenärmels hatte sich der Stoff schwarz verfärbt. Anni ging in die Knie und hob sie auf. Auch Brust- und Bauchbereich waren verkrustet. Es sah genauso aus wie die blutige Kinderschürze. Die Tür fiel hinter ihr zu. Anni fuhr herum. Sie war allein in dem Zimmer. Draußen löste sich ein Schuss. Der Knall hing kurz in der Luft. Anni stockte der Atem. Ihr Herz zog sich zusammen. Hatte Konrad auf Lotti geschossen? Ein furchtbares Fauchen und Reißen drang durch das Holz. Jemand wurde gegen die Tür gestoßen. Sie hörte einen Schmerzensschrei. Sie war auch ein solches Wesen! Anni wirbelte herum. Was konnte sie tun, um Konrad zu helfen? Hier gab es nichts, was auch nur andeutungsweise als Waffe getaugt hätte … Das Schloss knackte, als erneut jemand gegen die Tür prallte, und sprang auf. Rittlings stolperte Konrad in das Zimmer und fiel auf den Rücken, wobei er Stock und Revolver losließ. Die Waffe prallte schwer auf, bevor er sie unter sich begrub. Wie eine Katze sprang Lotti ihn an. Ihre Augen glühten, während sie fauchte. Sie hielt die Lippen zurückgezogen.

Anni fuhr zusammen, als sie das Tiergebiss erkannte, mit dem sie nach Konrads Hals schnappte. Anni raffte Mantel und Rock, holte aus und trat nach dem Kopf der Frau. Sie spürte Widerstand, hörte ein unschönes Knacken. Lotti heulte auf, nur um sofort noch einmal nachzusetzen. Aber etwas hatte sich verändert. Der Unterkiefer saß schief und die Bänder gaben unschöne Geräusche von sich.

Durch ihre Handschuhe hatten sich Klauen gebohrt. Alles Menschliche war aus ihr gewichen. Konrad wehrte sich aus Leibeskräften gegen sie, doch sie war schnell und geschickt … Ihm gelang es, sie am Mantelärmel zu greifen und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er wand sich unter ihr. Dieses Wesen hatte Schwierigkeiten sich mit der Verletzung gegen ihn zur Wehr zu setzen. Sie schnappte und schlug, konzentrierte sich allein darauf Konrads Hände und Arme abzuwehren. Blut rann aus vielen kleinen Wunden in seine Ärmel. Anni musste ihm helfen. Sie sah auf die Bluse in ihrer Hand. Vielleicht konnte sie Lieselotte ablenken. Erneut zerrte er an ihrem Ärmel, sodass der Pelz über ihre Schultern rutschte und sie die Arme kaum noch bewegen konnte. Das war Annis Chance. Sie schleuderte Lotti die Bluse ins Gesicht. Die Frau bäumte sich auf. Im gleichen Moment zerriss der dicke Wollstoff über ihren Armen. Der Fellkragen hing an einer Seite über ihre Schulter. Mühsam befreite sie ihre Hände und zerfetzte den Blusenstoff. Der beste Moment, noch einmal zuzutreten. Anni holte aus und stieß Lieselotte ihren Stiefel vor die Brust. Vor Schmerz keuchend, atemlos, fiel sie zur Seite. Löb befreite sich unter ihr. Blindlings tastete er nach seiner Waffe, ohne sie zu fassen zu bekommen. Er schien zu fürchten, dass etwas Schreckliches passierte, wenn er dieses Wesen aus den Augen ließ. Vielleicht tat er gut daran schnell zu handeln, denn Lotti erholte sich zusehends. Anni wurde nervös.

„Konrad, machen Sie endlich!“

Erschrocken sah er sich nun doch um und ergriff den Revolver. Aus dem Augenwinkel bemerkte Anni, wie sich Lotti aufraffte und herumfuhr. Sie verströmte entsetzlichen Verwesungsgeruch. Anscheinend schwitzte sie ihn aus. Sie riss das Maul auf. Schleimfetzen spritzten von ihren Lippen. Im gleichen Moment schoss Löb ihr in den Kopf. Blut spritzte über die polierte Lackwand. Das blonde Haar färbte sich rot.

Anni fiel keuchend auf die Knie. Diesen Anblick würde sie nie wieder vergessen.

*

Von Stürickow klopfte an den Rahmen der Küchentüre, bevor er eintrat. Kurz hob Anni den Blick, bevor sie sich abwandte. Für heute hatte sie genug gehört, gesehen und getan. Auch Konrad regte sich nicht. Er kauerte in seinem Stuhl, beide Hände um die Teetasse gekrampft.

„Herr von Stürickow, wann kommt mein Mann frei?“, fragte Mutter, die aus dem Schlafzimmer herüberkam und um ihn herumging. Anni kannte den fiebrigen Glanz in ihren Augen. Natürlich machte sie sich Sorgen, aber nicht nur um die Heimkehr von Vater, sondern auch um diese … Monstrosität. Konrad hatte von zwei Männern gesprochen, einen davon hatte Anni selbst gesehen. Lotti mochte tot sein, aber damit war die Gefahr noch nicht gebannt. Außerdem war Heinrich Wolff bislang nicht nach Hause zurückgekommen. Nach dem, was Anni heute gesehen hatte, wuchs ihre Sorge. Laut Konrad war einer der Männer möglicherweise für das entsetzliche Aussehen seines Freundes verantwortlich.

„Sie wissen, dass Johann nie einem anderen etwas antun könnte.“

Mit der Hand wies sie gen Decke.

„Fräulein Runge war es doch, oder?“

Der Hilfskommissar beobachtete sie aufmerksam. Nach einem Moment setzte er zum Sprechen an, schloss die Lippen aber wieder, als jemand die Wohnungstür aufschob. Anni stand auf, um besser sehen zu können. Wolff zog den Mantel aus und hängte ihn auf einem Bügel an den Flurschrank. Die Schiebermütze schüttelte er vor der Tür ab. Kleine Tröpfchen stoben auf. Anni bildete sich ein, dass sie einen rosigen, leicht roten Schimmer hatten. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht. Sie kam auf ihn zu. Wasser troff aus seinem zu langen Haar. Er wirkte blass und müde. Anni fuhr zusammen, als sie seine blutigen Ärmel sah.

„Was ist passiert?“, stieß sie hervor.

Von Stürickow drehte sich zu Wolff um und musterte ihn eine Weile stumm. Er reagierte in keiner Weise überrascht auf die Verletzungen. Wenn Anni es sich recht überlegte, hatte er auch ihre Aussage hingenommen und den unheimlichen Leichnam Lottis nicht weiter beachtet.

„Sie haben sein Versteck gefunden, Heinrich?“, fragte er.

Arbeitete Heinrich Wolff mit von Stürickow zusammen? Anni wäre nie davon ausgegangen. Aber sie hatte sich daran gewöhnt überrascht zu werden. Warum sollte also ein Maler, der für eine Zeitung zeichnete, nicht auch die Schmutzarbeit für eine Mordbereitschaft erledigen, wenn sie einen Gegner hatte, gegen den sie mit herkömmlichen Methoden nicht vorgehen konnte?

„Ja“, murmelte Wolff, „aber er war allein.“

Er hob beide Arme. Erst jetzt sah Anni, dass sie die gleichen Verletzungen aufwiesen wie Konrad. Allerdings entdeckte sie an ihm keine Waffe. Atemlos starrte sie Wolff an.

„Aber wie haben Sie das überlebt?“, flüsterte sie. „Konrad musste schießen …“

Wolffs Augen begannen zu phosphoreszieren. Sie schluckte und nickte. Wie hatte sie das nur einen Moment vergessen können? Es musste ein ausgewogener Kampf gewesen sein.

„Den zweiten habe ich nicht zu fassen bekommen.“

„Nein!“, stieß Anni aus, „das darf doch nicht sein!“

„Wenn er sich hier blicken lässt, Anni, unser Zuhause bedroht, dann muss er sich seiner eigenen Art stellen. Er weiß, dass er allein keine Möglichkeiten hat.“

Über Wolffs hässliche Züge huschte ein liebes, unsäglich herzliches Lächeln, das seine Augen strahlen ließ. Zweifelnd schüttelte sie den Kopf.

„Wie soll ich das glauben?“

„Ich kann es nicht versprechen, aber alles dafür tun.“ Heinrich legte ihr beide Hände auf die Schultern und neigte sich zu ihr. So wie er sie ansah, vermittelte er den Hauch wirklicher Stärke. Anni konnte sich dem Zauber nicht entziehen. In dem Moment vertraute sie ihm blind.

Von Stürickow räusperte sich.

„Ihr Vater wird auch bald wieder hier sein, Fräulein Anni.“ Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte. „Seien Sie beruhigt, es geht ihm gut.“

Anni konnte seinen Worten nicht wirklich vertrauen.

Als Heinrich seine Hände löste, hinterließ er ein kaltes, leeres Gefühl. Sie wich zurück und rieb ihre Haut warm, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Aber er schien nur noch Augen für Konrad zu haben.

In Heinrichs Mimik trat ein noch viel intensiveres Gefühl.

Anni wusste, dass es nicht ihr, sondern Konrad galt. Wenn sie sich nun küssten, wäre es nicht einmal falsch gewesen. Aber Heinrich gab sich diese Blöße nicht.

Wortlos trat er an den Spülstein, krempelte die Ärmel auf und ließ Wasser über die Wunden laufen.

Anni biss sich auf die Unterlippe. Alle wussten, was er war: ihre Mutter, der Hilfskommissar, Konrad, wahrscheinlich auch ihr Vater, jeder außer ihr.

Warum hatten sie es ihr nicht früher offenbart?

Was auch immer er war, Jäger oder Hüter, seine Wesenszüge unterschieden ihn von dem, was Lotti gewesen war. Ein warmes und vertrautes Gefühl ging von ihm aus, ein Gefühl, als sei alles in Ordnung und niemand werde je wieder Angst um seine Kinder haben müssen.



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