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2nd Season: Russian Diaries

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Eine Vitrine voller Erinnerungen – Wer ist Frau Praslova?

„Wer ist Jelena?“, frage ich platt, als wir beim Frühstück sitzen und Viktor mir angekündigt hat, dass wir heute eine Frau mit dem Namen Jelena besuchen werden.

„Die beste Frau der Welt“, erklärt er mir mit verträumten Blick. „Für dich heißt sie Frau Praslova.“

„Gut“, entgegne ich, obwohl ich immer noch nicht weiß, wie ich mir Jelena Praslova vorstellen soll. Viktor scheint sie gut zu kennen und er wirkt aufgeregt. Es zieht etwas in meiner Brust, aber ich will versuchen, mir nichts anmerken zu lassen.

Wir machen uns nach dem Frühstück fertig und wir nehmen Makkachin mit. Seit wir die Wohnung verlassen haben, verhält sich Viktor wie ein kleines Kind in ungestümer Vorfreude auf etwas ganz Besonderes. Sogar Makkachin teilt die Freude seines Herrchens, denn der Hund zieht wie bekloppt, sodass ich Probleme habe, ihn an der Leine halten zu können. Und er kennt den Weg offenbar sehr genau, Viktor muss sehr oft mit ihm hier entlang gegangen sein. Das Einzige, was mich mehr irritiert als meine leise köchelnde Eifersucht, ist die Tatsache, dass wir uns immer mehr ins Zentrum der Stadt begeben statt in ein Wohngebiet. Um genau zu sein, laufen wir mitten in die Altstadt hinein und kommen schließlich vor einer nicht ganz billig anmutenden Schneiderei zum Stehen. Dem Namen auf dem Schild nach zu urteilen, das ich mit Mühe und Not entziffern kann, gehört der Laden eben jener Jelena Praslova. Von außen ist das Gebäude historisch anmutend aus der Gründerzeit mit vielen kunstvollen Verzierungen und einer Sandsteinfassade; von innen aber erstrahlt es in modernem Chic. Im Schaufenster sind haufenweise teure Stoffe aus feinsten Materialien auf Schneiderpuppen drapiert oder bereits zu festlichen Roben verarbeitet worden. Ich kann durch die Schaufensterdekorationen weiter hinten reihenweise behängte Kleiderstangen erkennen, dazu elegante, schlanke Schränke und Glasvitrinen, die fein säuberlich mit Perlen, Knöpfen und Pailletten gefüllt sind und auf den Auslagetischen liegen akkurat noch andere, feine Kostbarkeiten aus Leder, Seide, Chiffon, Federn und Seidenblumen. Von der Decke hängt ein riesiger, goldener Chandelier, der dem ganzen Ambiente einen edlen Touch verleiht. Und ich stelle mit Verwunderung fest, dass an die Schneiderei auch ein Friseursalon angeschlossen ist.

„Also Yuuri,“ beginnt Viktor und ich reiße mich von dem Anblick durch die Fensterscheiben los, „Willkommen in der wunderbaren Welt von Jelena.“

Er drückt die Klinke und wir treten ein, begleitet vom Klang einer kleinen Glocke. Kaum im Laden angekommen, löst Viktor den unheimlich nervösen Makkachin von der Leine und ich will noch eingreifen, da rauscht der Hund bellend mit einem Affenzahn in die Hinterräume, ohne dass ich ihn halten kann.

„Er hat da hinten einen Napf und will trinken“, erklärt mir Viktor als er mein hilfloses Gesicht sieht, obwohl ich gar nicht gefragt habe. Aber dann scheint ja alles gut zu sein... Moment! Wie? Makkachin hat einen Napf da hinten?!

Dann höre ich Schritte und eine Frauenstimme, die Makkachin überschwinglich begrüßt. Und schließlich kommt die Besitzerin dieser Stimme um die Ecke und ich möchte im Boden versinken für meine alberne Eifersucht. Jelena Praslova ist sicher um die 60 Jahre alt, sie hat eine mittlere Statur und Größe, trägt ein schwarzes Cocktailkleid mit dezentem Schmuck sowie ein Armkettchen und hat leichtes Makeup aufgetragen. Ihre braun gefärbten Haare hat sie in einem eleganten Knoten auf ihren Hinterkopf gesteckt. Auf der Nase sitzt eine schlanke, rechteckige Brille und sie hat ein bezauberndes Strahlen im Gesicht. Sie erinnert mich ein bisschen an eine gute Fee.

„Viktor, ihr seid ja schon da! Ich war gerade noch dabei, die neue Lieferung durchzugehen, da hab' ich Makkachin gehört.“

Sie kommt uns mit offenen Armen entgegen und sie und Viktor umarmen sich, Küsschen links und rechts. „Du warst noch gar nicht bei mir, seit du wieder hier bist, Junge“, begrüßt sie ihn. Dann fällt ihr Blick auf mich. „Und das muss Yuuri sein, nicht wahr? Willkommen, Yuuri, ich bin Jelena!“

Sie reicht mir ihre Hand und ich schüttele sie etwas unschlüssig, weil ich noch nicht weiß, wie ich Viktors Verhältnis zu dieser scheinbar sehr herzlichen Frau einsortieren soll. Sie betrachtet mich unglaublich interessiert.

„Er ist größer als ich dachte für einen Japaner, aber was hat er für bezaubernde Augen! So ein schönes, klares Braun.“ Ich werde rot. „Ich bin ja ganz aufgeregt. Ich habe schon viel über dich gehört, Yuuri, und jetzt sehe ich dich vor mir; ach, Viktor, er ist wundervoll! Das ist jemand für dich, das spür' ich sofort. Ich glaub', mir kommen die Tränen...“

Viktor nimmt sie in den Arm und lacht. „Ist doch kein Grund zum Weinen. Freu' dich bitte.“

„Oh, das tu ich doch!“, entrüstet sie sich, während sie die Tränen aus den Augenwinkeln wischt. „Und wie! Ich bin einfach zu alt und rührselig mittlerweile. Die kleinsten Sachen und schon kullern die Tränen.“

Viktor lässt sie los und sie richtet sich wieder. „Bitte entschuldigt. Wollt ihr euch zuerst umschauen oder wollen wir erst einmal nach oben? Etwas trinken vielleicht? Ich hab alles da, Kompott, Kaffee, Tee? Oder willst du Yuuri dein Zimmer zeigen?“

Sein Zimmer? Viktor hat hier ein Zimmer? In einer Schneiderei?! So langsam bin ich überfordert. Die Ahnungslosigkeit muss mir deutlich ins Gesicht geschrieben stehen, denn Frau Praslova beginnt zu lachen.

„Hast du ihm nichts erzählt?“

„Dass du aber auch gleich mein Zimmer erwähnen musst ...“, zwinkert Viktor ihr zu.

„Also, Yuuri, - ich darf doch Yuuri sagen? -“, beginnt Frau Praslova und ich nickte etwas unschlüssig. Sie wendet sich in Richtung der Hinterräume und winkt uns zu, ihr zu folgen. „Ich will es dir erklären, aber gehen wir erstmal nach oben. Einfach gesagt, schneidere ich Viktors Kostüme seit er zehn war. De facto hat Viktor aber gewissermaßen bei mir gewohnt. Wenn Herr Feltsman keine Zeit für ihn hatte, war er immer bei mir. Oder er kam noch spät nach der Schule oder seinem Training vorbei. Oder wenn es Streit gegeben hatte.“ Wir biegen um die Ecke in einen langen, hohen Flur, von dem aus mehrere Räume abgehen, die offenbar als Näh- und Lagerzimmer genutzt werden. „Ich werd' es nie vergessen, als er drei Tage am Stück hier gesessen und sich versteckt hat, als er sich den Hund zugelegt hat. Was für ein Drama. Das war der Moment, in dem ich beschlossen hatte, ihm eins der oberen Zimmer freizumachen, in das er sich zurückziehen konnte.“

Ok, das war viel Info auf einmal, die ich erstmal sacken lassen muss. Viktor hat hier also quasi gewohnt, wenn er mit Herr Feltsman Streit hatte? Was für Drama gab es mit Makkachin, dass er sich drei Tage lang versteckt hat? Vor wem überhaupt?

„Die Anschaffung von Makkachin ist ihre Lieblingsgeschichte“, flüstert mit Viktor zu. „Alles halb so wild.“

„Ok...“

Am Ende des Gangs erreichen wir eine elegant gewundene Holztreppe.

„Hier hat sich nichts verändert“, sagt Viktor zu Frau Praslova, als wir zur Wohnung über dem Laden emporsteigen. Ich lasse meine Gedanken kurz schleifen und schaue mich um. Das Ambiente wird altmodischer, aber nicht weniger stilvoll. Es passt so viel besser zur Fassade, denke ich. Die Wohnung von Frau Praslova ist wie sie selbst elegant und freundlich und es gibt eine Menge Blumen, egal ob auf Bildern, als Sträuße oder in Töpfen auf den Fensterbänken. Küche und Wohnraum bilden wie bei Viktor ein großes Zimmer. Typisch wie für einen Altbau sind die Fenster hoch, die weißen Gardinen lang und schwer. An den Wänden stehen Vitrinen aus dunklem Holz, die Porzellan, Matroschkas und eine ganze Menge gerahmter Fotos beinhalten. Mein Blick bleibt direkt an diesen Fotos hängen, noch bevor ich den ganzen Raum einmal betrachtet habe. Es scheinen alles Fotos von Viktor zu sein.

„Ah, du hast sofort meine kleine Galerie entdeckt“, lächelt Frau Praslova. „Hier habe ich alle Bilder von Viktor, die für mich etwas ganz besonderes sind. Der Wert dieser Aufnahmen wäre für die Presse unbezahlbar. Geh ruhig hin, sieh sie dir an.“

Mein Herz klopft wie verrückt, als ich etwas zögerlich näher trete. Frau Praslova überholt mich schnellen Schrittes, öffnet das Vitrinenglas und nimmt zielstrebig ein erstes Foto heraus, um es mir zu zeigen.

„Hier war er das erste Mal bei mir und hat sein erstes Wettkampfkostüm bekommen. Er war gerade zehn geworden“, erzählt sie und gibt mir das Bild in die Hand. Der junge Viktor, mit schulterlangen Haaren, wenig begeistertem Blick und roten Augen, trägt ein feuerrotes, enges Outfit mit schwarzen Rauten und erinnert an eine Mischung aus Harlekin und Spielkarte. Irgendwie gar nicht sein Stil.

„Das hat die Hexe ausgesucht“, erklärt Frau Praslova und sucht Viktors Blick.

„Sie meint Lilia“, fügt Viktor hinzu. Lilia? Die Lilia Baranovskaya?

„Fürchterliche Frau“, bekräftigt Frau Praslova ihre Aussage, während Viktor hinter mich tritt und beide Arme um meine Schultern legt. „Viktor war gerade neu dazu gekommen. Also musste er aus bereits vorhanden Kostümen wählen und hat den Fehler gemacht, zu sagen, dass ihm keins gefällt. Die Frau ist ausgerastet, es gab ein Riesentheater. Sie hat ihn dann in das hier gesteckt und damit war für sie die Sache erledigt. Wenn er seine Vorstellung umsetzen wolle, so hat sie ihn anschrieen, müsse er dafür erstmal was leisten. Was für ein Ton. Einfach schrecklich, ein Kind so anzugehen.“

„Oh ...“, es ist grad alles, was ich sagen kann. Die meisten Informationen, die ich über Viktors Leben habe, beruhen auf Artikeln und Berichten aus dem Fernseh oder irgendwelchen Magazinen, weil er selten etwas von sich erzählt. Mir wird gerade ein ziemlich flau im Magen aufgrund der neuen, unbekannten und vor allem viel privateren Details.

„Lilia und ich sind nie gut miteinander gewesen“, ergänzt Viktor mir gegenüber. „Das weißt du aber. Dass Yurio mit ihr auskommt, erstaunt mich immer wieder.“

„Der junge Yuri Plisetsky?“, erkundigt sich Frau Praslova und zieht dabei die Brille tiefer auf die Nase. „Das kann ich dir sofort beantworten, mein Lieber. Plisetsky ist vornerum ein Rabauke, aber er hat Respekt vor denen, die ihm sagen, wo es lang geht. Er hat große Schwierigkeiten, sich zu artikulieren, in Gesellschaft wie auch auf dem Eis und braucht jemanden, der ihm deutlich sagt, was er machen muss. Ohne Anweisungen bringt er nichts und Anweisungen sind das, was die Hexe bestens geben kann. Er hat viel Potenzial und Talent, aber er wird kein zweiter Nikiforov. Dazu fehlt ihm das, was allgemein als Genie bezeichnet wird.“

Mir steht der Mund etwas offen. Treffender hätte sie Yurio fast nicht beschreiben können. Ich gebe Frau Praslova das Foto zurück und sie gibt mir direkt das nächste.

„Das ist ein Jahr später, mit elf. Da waren die Haare lang genug, dass wir ihn ordentlich frisieren konnten“, schwärmt sie. „Wir haben diese Flechtfrisur daraus gemacht, das hatte dir gut gefallen, nicht, Viktor?“

„Wenn du das sagst; ich weiß das nicht mehr“, lacht er und zuckt mit den Schultern.

Viktors Haare sind in der Tat kunstvoll in französischen Zöpfen um seinen Kopf geflochten. Das Outfit dagegen wirkt sehr traditionell, hat kurze, weite Hosen in schwarz und ein Hemd, dass mit einer Art - wie ich finde - Alpenstickereien versehen ist. Eigentlich fehlen nur noch die Hosenträger.

„Das hat auch sie ausgesucht, nicht?“

„Ja, und natürlich durften die Haare auch nicht so bleiben. Sie hätte sie ihm am Liebsten abgeschnitten“, wird mir berichtet. „Wir ließen die Haare letztendlich als einfachen Zopf im Nacken. Aber ich mag dieses Foto von Viktor, weil er sich hier wenigstens über die Frisur freut.“

Sie nimmt das Bild wieder und reicht mir das nächste, diesmal aber von einer ganz anderen Stelle als die bisherigen beiden. Mein Herz macht einen Hüpfer. Es ist das blau-schwarze Outfit in Federoptik mit Pailletten, zu dem Viktor diesen riesigen Blumenkranz in den Haaren trug.

„Er ist ganz still, Viktor“, bemerkt Frau Praslova. „Wahrscheinlich hast du ihn damit verzaubert. Ach, was red' ich, du hast uns alle verzaubert, als du damit zur Zauberflöte(*) gelaufen bist.“

„Stimmt das, Yuuri?“ fragt Viktor amüsiert.

„Nicht ganz... aber ich erkenne das Outfit. Du hattest Gold bei den Europameisterschaften damit gewonnen“, sage ich, ohne den Blick von dem Foto abzuwenden. Im Hintergrund erkenne ich Herrn Feltsman, aber Lilia Baranovskaya fehlt. Auf den anderen beiden war sie zu sehen gewesen.

„Viktor hatte die erste Seniorsaison herrausragend gut abgeschlossen. Als Herr Feltsman bei mir für einen neuen Termin angerufen hat, habe ich zu ihm gesagt, er möge diesmal seine Frau nicht mitbringen. Der Junge verdiene endlich ein eigenes Kostüm, wenn er so erfolgreich ist. Eins, das zu ihm passt, hab ich gesagt.“

Ich hänge wie gebannt an ihren Lippen und warte, dass sie weitererzählt.

„Mein Herz ging auf, als sie hier waren und Herr Feltsman Viktor eröffnete, er dürfe sich sein Kostüm komplett alleine zusammenstellen. Viktor hat gestrahlt ohne Ende. Herr Feltsman hatte Bedenken, dass er wahllos alles anhäufen würde, was er findet, aber Viktor brachte nur das zu mir, wovon er wusste, wo er es am Kostüm haben wollte. Ich habe kaum etwas ändern müssen. Das Kostüm ist im Grunde so, wie Viktor es sich ausgedacht hat. Als es schließlich fertig war, sagte ich zu Herr Feltsman: Viktor ist wirklich etwas ganz Besonderes. So jung und schon so kreativ und selbstständig, das gibt’s nur ganz selten. Die Choreografien hat er damals ja auch schon selbst gemacht.“

Viktor lacht. „Wenn du so in Erzähllaune bist, dann geh ich doch nach unten und schau mich um.“

„Nur zu, du kennst dich ja aus“, lächelt sie ihn an und Viktor verschwindet die Treppe nach unten. Ich höre noch, wie er nach Makkachin ruft.

Frau Praslova reicht mir derweil ein anderes Foto, auf dem der junge Viktor mit Makkachin zu sehen ist. Es ähnelt dem Bild, dass ich in Yukos Magazin gesehen habe und aufgrund dessen ich mir meinen Hund gekauft hatte. Ich hatte damals meine Eltern um Erlaubnis gefragt und unter der Bedingung, eine gute Note im Mathetest zu schreiben, auch direkt ihre Zusage erhalten. Ganz so einfach schien es bei Viktor nicht gewesen zu sein, wenn er sich drei Tage lang bei Frau Praslova verstecken musste. Dabei sieht das Foto so unbeschwert aus. Viktor lacht ehrlich und glücklich.

„Als ich das Foto gemacht habe, war das Drama noch in vollem Gange“, erzählt Frau Praslova als könne sie meine Gedanken lesen. „Viktor durfte sich eine Belohnung für seinen Weltmeistertitel bei den Juniors aussuchen. Sie, also Herr Feltsman und die Hexe, dachten wahrscheinlich, dass er wie alle Jungs in seinem Alter mit einem Spielecomputer oder was es da alles gab, zurück kommen würde. Humbug, das hätte ich ihnen gleich sagen können. Viktor hat sich nie für sowas interessiert. Aber einen Hund hätte er gerne wieder gehabt. Er hatte oft erwähnt, dass er den Hund seines Onkels vermisst. Die Hexe hat das natürlich geflissentlich überhört, bis Viktor mit dem Pudel vor der Tür stand.“

Ich verstehe und muss sofort lachen. Dann hat Viktor sich also vor ihr versteckt... Lilia Baranovskaya sieht auch nicht so aus, als wäre mit ihr gut Kirschen essen und plötzlich einen Hund im Haus zu haben, wäre auch für meine Eltern nicht einfach gewesen. Mit Yurios Kater scheint sie aber keine Probleme zu haben... wahrscheinlich ist sie eine Katzenfrau.

„Was war mit dem Hund des Onkels?“, frage ich nach.

„Gestorben, da war Viktor glaube ich acht. Jedenfalls hat der Onkel danach keinen Hund mehr angeschafft, er selbst war auch schon alt und gesundheitlich zu angeschlagen, als dass er sich noch um ein Tier hätte kümmern können.“

„Und Viktors Eltern?“

Frau Praslova winkt ab. „Die Mutter doch nicht. Sie war nicht mehr die Jüngste als sie Viktor bekam und einen Hund noch zusätzlich zur Arbeit und dem Kind, nein. Da war es besser, dass sie dem Jungen den Vorrang gegeben hat, schließlich war ihr Bruder krank und der Hof musste auch weitergeführt werden. Viktors Vater hat in einer anderen Stadt gearbeitet und nicht bei der Familie gewohnt.“

Ich fühle mich unangenehm überrumpelt. Hat Viktor denn kein gutes Verhältnis zu seiner eigenen Mutter? Mein Blick wandert wieder auf das Foto. Es stimmt schon, es gibt kein einziges Interview, in dem Viktor über seine Eltern geredet hat.

„Mach dir keine Sorgen“, sagt Frau Praslova mit beruhigender Stimme, als hätte sie schon wieder meine Gedanken erraten. „Viktor hat ein gutes Leben bei seiner Familie gehabt. Die Eltern und der Onkel hatten zusammen einen Hof und Viktor ist als kleiner Junge zwischen Hühnern und Schafen herum gestapft. Er hatte viel Freiraum. Im Winter ist Viktor immer mit dem Hund auf dem zugefrorenen Weier hinter dem Hof spielen gewesen. Er ist mit dem Hund eisgelaufen, Gott, was hätt' ich dafür gegeben, wenn ich das hätte sehen können.“

Oh, ich auch. Das ist eine wirklich schöne Vorstellung.

„Viktor hat seinen Onkel wirklich sehr gern gehabt, der ihm quasi den Vater ersetzt hat. Und der Onkel hat Viktor nicht weniger geliebt. Die wundervolle und unbeschwerte Art habe Viktor von ihm, hat Herr Feltsman gesagt. Getroffen habe ich den Onkel aber nie. Er ist leider viel zu früh gestorben, um Viktors brillante Karriere noch mitzuerleben.“

„Wie alt war Viktor, als sein Onkel gestorben ist?“, frage ich wieder merklich verunsichert. Ein Todesfall in der Familie könnte natürlich eine Erklärung sein, warum er nie von seiner Familie gesprochen hat.

„Neun. Das war kurz nachdem Herr Feltsman ihn unter seine Fittiche genommen hatte“, erklärt Frau Praslova. „Es war aufgrund der Krankheit vorhersehbar und Viktor hatte die Chance, sich zu verabschieden, bevor man ihn nach St. Petersburg geholt hat. Das war sehr wichtig. Viktor hat in den ersten Jahren bei Herrn Feltsman sehr hart trainiert. Mit dem Eislaufen hat er viel verarbeitet. Es war sein Onkel, der die Klassenlehrerin kurz nach Viktors Einschulung darauf hingewiesen hatte, dass Viktor sich auf dem Eis fast besser bewegte als auf normalem Boden. So kam der Stein überhaupt ins Rollen.“

Sie macht ein kurze Pause, um mir Zeit zugeben, alles zu verarbeiten. Auf der einen Seite bin ich froh, all diese Dinge zu erfahren, aber es schmerzt, dass Viktor darüber bisher nie von sich aus darüber geredet hat, außer dieses eine Mal, als ich ihn darum gebeten hatte. Aber einfach mit der Tür ins Haus fallen will ich dann auch nicht... Dann spricht Frau Praslova weiter:

„Sie ließen Viktor im Sportunterricht einige Übungen turnen und stellten fest, dass seine Motorik und Beweglichkeit im Vergleich zu der der anderen Kinder in seinem Alter viel weiter entwickelt war. Also kam er zum Leistungsturnen. Der dortige Betreuer legte seinem Onkel aber schnell nahe, den Jungen doch besser zum Ballett zu schicken, da Viktor neben der enormen Gelenkigkeit ein bemerkenswertes Bewusstsein für Ästhetik und Kreativität besaß, welches er beim Leistungsturnen nie hätte einbringen können.“

„Und dann ist Viktor zum Ballett?“

„Nein, erst einmal nicht“, lächelt sie und sucht ein anderen Foto heraus. Ich muss zweimal hinsehen, bis mir klar wird, dass ich gerade Viktor mit vielleicht fünf oder sechs Jahren sehe. Hätte man es mir einfach so gezeigt, hätte ich wahrscheinlich gefragt, wer das niedliche Mädchen mit den kinnlangen Haaren in Regenjacke und Gummistiefeln ist, das in einer Pfütze steht und sich über den Dreck überall bestens amüsiert. Neben ihm sehe ich den besagten Hund des Onkels. Oder vielmehr einen Bär, dieser Hund ist ja riesig! Selbst Makkachin wirkt dagegen wie ein Welpe.

„Viktor war als Kind wie ein Schmetterling, zart und zerbrechlich. Er hat immer viel vor sich hingeträumt. Der Onkel hatte Recht, ihn erst zwei Jahre später zum Ballett zu schicken. Dort verlangen sie extemen Gehorsam und das hätte er nicht durchgehalten. Dass Viktor später Herrn Feltsman zugeteilt wurde, war das Beste, was ihm passieren konnte. Der Mann erscheint auf den ersten Blick zwar streng und grimmig, aber er hat sofort verstanden, dass Viktor ein Genie ist. Die Hexe weigert sich bis heute, das zu akzeptieren.

„Viktor war immer dann am Besten, wenn man ihn hat einfach machen lassen, ohne ihm reinzureden. Ich meine, natürlich hat Viktor auch Fehler gemacht und das ein oder andere Ding verhauen, aber das gehört dazu. Er ist immer wieder aufgestanden und hat sich weiterentwickelt, weil er Visionen hatte. Und der Erfolg gab ihm schließlich Recht.“

Es folgt eine Pause, in der ich weiterhin das Bild mit dem Hund des Onkels betrachte. Irgendwie ist es kaum zu glauben, dass aus diesem kleinen Jungen in der Pfütze, der so unschuldig und liebenswert lacht, der beste Eiskunstläufer der Welt geworden ist.

„Sag', Yuuri,“ spricht mich Frau Praslova direkt an und lächelt neugierig. „Wann war der Moment, in dem er dich gefangen hat?“

Ich schrecke auf und starre sie mit großen Augen und rotem Gesicht an.

„Womöglich bei seinem Auftritt in der letzten Juniorsaison, weil du dir dieses Outfit für deine Eros-Performance ausgesucht hast?“

Ich sehe ihr erschrocken ein paar Sekunden lang regungslos in die Augen. Dann kann ich nur verlegen nicken und mir wird direkt klar, wer Viktor seine ganzen Kostüme letztes Jahr nach Japan geschickt hat.


Nachwort zu diesem Kapitel:
[Hast du schon Ideen für die Programme kommende Saison, Viktor? / Klar, bin so gut wie fertig. / Eeeehhhh? So schnell?/ Sicher. Yuuri, hast du dir schon was überlegt? / Katsudon hat doch nur verquirlte Eier im Kopf... / Du hast auch noch nichts, Yurio! / Hachja, dann muss ich wohl wieder ran. Wie wär’s mit Dick und Doof? :D / VIKTOR!]

5. Kapitel: Finde deine Geschichte – Die neuen Programme!


Anmerkungen:
(*) Ich habe gelesen, dass das Kostüm zu Tschaikowskys „Die Zuckerfee“ gehören soll, aber es überzeugt mich nicht. Sorry. Mein erster Gedanke zu diesem Outfit war und wird „Der Vogelfänger“ aus Mozarts „Die Zauberflöte“ bleiben. Ich finde, es passt so viel besser zum Kostüm und zu Viktor. Verzeiht mir, dass ich mir die künstlerische Freiheit nehme und das Outfit damit neu besetze. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Sumino
2017-07-27T01:33:31+00:00 27.07.2017 03:33
Süsse kapi die ganze Hintergrund Geschichte von Victor <3 Ich kann mir die Frau echt gut bildlich vorstellen
Antwort von:  Flokati
27.07.2017 12:18
Danke sehr, das freut mich :D
Von:  MuyMariposa
2017-07-26T19:32:15+00:00 26.07.2017 21:32
Wenn ich ein Kapitel von dir gelesen habe, weiß ich immer nicht ob ich mich freuen soll oder traurig und aufgeregt bin :D
Da deine Geschichte so wundervoll zum Anime passt und man sich das so toll zur Originalgeschichte als Fortsetzung vorstellen kann, hat man hier die selben Gefühle. Vorfreude auf das nächste Kapitel/ Folge und dann diese Enttäuschung weil es schon wieder vorbei ist und die Aufregung zum nächsten Kapitel sofort einsetzt. (Obwohl deine Kapitel alles andere als kurz sind ^^)
Ich finde es toll, etwas aus Victors Vergangenheit zu erfahren und Jelena ist bezaubernd! Diese vielen kleinen winzigen Details du du immer mit einbaust um beim Leser dafür zu sorgen, dass man im Kopf die Geschichte auch vor sich sehen kann. Das fasziniert mich immer wieder, wenn ich eine Fanfic lese die das bei mir schafft :)
Irgendwie habe ich dann auch immer Lust mir den Anime nochmal anzusehen und diese Sachen dann zu suchen, wie das Kostüm mit dem Blumenkranz von Victor <3
Jedenfalls ist die Einführung dieser wundervollen älteren Dame, man könnte ja schon fast sagen von Victors Oma, daran musste ich die ganze Zeit schmunzelnd denken bei ihrer Art, super gelungen.
Zurecht wird hier auch endlich mal was über Lilias herrische Trainingsweise hergezogen :D

Was ich mich noch frage, im Anime wird dies auch nur kurz erwähnt aber irgendwie muss ich immer wieder daran denken, ob Victor auch noch einen Plan B hat so wie Yuri, der ja (was auch immer) studiert hat? Vielleicht erfahren wir ja bei dir eine Möglichkeit :D


Antwort von:  Flokati
26.07.2017 22:26
Und ich freue mich auf deine Kommis :D" *hüstel*
Vielen lieben Dank dafür!
Es macht mich glücklich zu lesen, dass Jelena direkt angenommen wird! Das ist bei eigenen Charakteren immer schwierig, ob die Integration ins vorhandene Setting gelingt und mir fällt ein Stein vom Herzen, dass dies offenbar der Fall ist! Jelena liegt mir selbst sehr am Herzen.
Jedenfalls noch mehr aus Viktors Leben zu lesen geben, weil die FF in seinem Umfeld spielt ^^
Von:  --lina--
2017-07-26T12:45:15+00:00 26.07.2017 14:45
Ich weiß nicht mal wo ich anfangen soll.
Jelena ist so bezaubernd und wieso bin ich Dumpfkröte nicht von selbst drauf gekommen, dass Viktors gute Fee natürlich seine Schneiderin ist. Das Puzzle setzt sich perfekt zusammen, ihre Art zu sprechen erinnert mich an meine Oma ;;
Sie ist ein herzensguter Mensch und ich verstehe warum Viktor sie so liebt.
Ich kann Yuuris Gefühle verstehen, wenn es um Viktors Vergangenheit geht - scheint nicht ganz einfach gewesen zu sein.
Ich mags wie du alles ineinander einfädelst, Jelenas Auffassung von Lilia ist im übrigen genial - ich mag sie so sehr!! <3
Du hattest Recht, man kann sie nur lieben. Danke dir für diese wunderbare Frau.
Ich freue mich jetzt schon auf das folgende Kapitel.
LIEBE FÜR DICH!!! Und Kekse und Tee gibts auch <3
Antwort von:  Flokati
26.07.2017 19:58
Danke dir, Liebes! <3


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