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Actio est reactio

von Nerdherzen und den physikalischen Gesetzen ihrer Eroberung
von

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Können und Nichtkönnen

Dinge, an die ich mich sehr wahrscheinlich nicht gewöhnen kann:
 

1. Julius‘ Hand in der Luft, während wir Unterricht haben.
 

2. Gespräche zwischen Julius und verschiedenen Lehrern nach dem Unterricht.
 

3. Julius, der in der Schule mit mir redet. Normalerweise hat er niemals mit mir geredet, außer mal darüber zu schnauben, wenn ich der einzige war, der irgendeine Aufgabe gelöst hatte oder wenn ich mich als einziger gemeldet habe.
 

Jetzt plötzlich kommt es vor, dass Lehrer und Lehrerinnen uns zusammen nach vorne ans Pult rufen, nachdem die Stunde vorbei ist. Ich frage mich, inwiefern Julius‘ Freunde darüber informiert sind, wieso plötzlich alle Lehrer mit Julius reden wollen und wieso ich auch immer mit dabei bin. Julius scheint mir der Typ zu sein, der so uncoole Dinge wie Nachhilfe vor seinen Kumpels verheimlicht und so tut, als würde er mich nicht kennen.
 

Ich meine, er kennt mich ja auch nicht wirklich.
 

Aber bislang habe ich mich noch nicht getraut, ihn danach zu fragen. Deswegen rede ich für gewöhnlich auch nicht mit ihm, wenn wir uns in der Schule sehen. Ich hab mich nach einigen Monaten an dieser elenden Schule schon daran gewöhnt, einfach immer alleine in der Gegend rumzustehen und meine Pausenbrote zu essen. Schule war nie deprimierender als hier. Wenn ich zu sehr daran denke, dass ich an meiner alten Schule mit meinem Freundeskreis im Wintergarten oder in der Cafeteria der Schule sitzen würde, dann geht es mir manchmal so schlecht, dass ich am liebsten nach Hause gehen würde.
 

Deswegen versuche, nicht zu sehr daran zu denken.
 

Ich sitze meistens vorm Klassenzimmer, wo sich sonst ohnehin niemand aufhält. Dann muss ich keine schwitzigen Hände und Herzrasen wegen irgendeines komischen Schweigens kriegen, falls irgendein Klassenkamerad sich zu mir gesellt. Ich habe ohnehin meistens Stöpsel in den Ohren und höre Musik. Wenn man alleine ist, dann gibt es in Schulpausen nicht allzu viel zu tun außer lesen, Musik hören und essen. Manchmal alles gleichzeitig, wie heute.
 

In meinen Ohren dröhnt Stromae, in der einen Hand habe ich den neusten Teil von Ben Aaronovitchs »Rivers of London«-Reihe und in der anderen ein Brot mit Käse und Gurke. Gerade, als ich an einer besonders spannenden Stelle angekommen bin, tippt es auf meiner Schulter und ich fahre heftig zusammen, lasse beinahe mein Brot fallen und verliere prompt die Seite, auf der ich gerade noch gelesen habe.
 

Hastig ziehe ich mir die Stöpsel aus den Ohren und drehe mit hämmerndem Herzen den Kopf. Zwei sehr grüne Augen blicken mir entgegen. Julius hat die Augenbrauen gehoben und die Hände abwehrend gehoben. Vermutlich hat er nicht damit gerechnet, dass ich mich so erschrecke.
 

»Dude, keine Panik«, sagt er und ich verenge die Augen zu Schlitzen. Hat er mich gerade tatsächlich und wahrhaftig Dude genannt?
 

Stille.
 

»Was hörst du da?«, will er dann wissen. Ich blinzele.
 

»Hä?«, gebe ich geistreich zurück. Er verdreht die Augen und zeigt mit einer übertriebenen Geste auf meinen MP3-Player, der in meinem Schoß halb vergraben unter dem Buch liegt.
 

»Stromae«, sage ich dann und räuspere mich. Er zuckt mit den Schultern.
 

»Alors on danse?«
 

»Was?«
 

»Das ist ein Lied. Von Stromae. Das eigentlich jeder kennt… hier«, sage ich, halte ihm einen Stöpsel hin und suche auf dem MP3-Player nach dem entsprechenden Lied. Es ist definitiv nicht eins meiner Lieblingslieder, aber eigentlich kennt es jeder, der ansonsten noch nie von Stromae gehört hat. Julius schiebt sich den Stöpsel ins Ohr und ich sehe, wie er das Lied sofort erkennt.
 

»Ah, achso«, meint er. Ich erwarte, dass er den Stöpsel rausnimmt und mir sagt, dass meine Musik scheiße ist. Aber er macht keine Anstalten. Steht einfach da mit meinem Stöpsel im Ohr, den Händen in den Hosentaschen und starrt an mir vorbei aus dem Fenster.
 

Ich bin nicht sicher, was ich tun soll.
 

»Ähm… möchtest du…«, fange ich an, aber ich spreche schon wieder viel zu leise und beende die Frage nicht. Am liebsten würde ich meinen Kopf gegen die Backsteinmauer hinter mir hauen. Wow, Tamino. Niemand würde denken, dass du es überhaupt jemals in deinem Leben geschafft hast, Freunde zu finden. Ehrlich gesagt erinnere ich mich kaum noch daran, wie ich meinen Freundeskreis überhaupt gefunden habe. Habe ich damals auch schon so leise gesprochen?
 

»Welches ist dein Lieblingslied?«, will Julius wissen. Da ich sitze und er steht, darf in diesem Moment ausnahmsweise mal zu mir runter schauen. Normalerweise sehe ich immer zu ihm herab. Ich glaube, ich schaue ihn an wie ein Karpfen. Er schnaubt amüsiert und schaut dann wieder aus dem Fenster. Hab ich das gerade richtig gehört? Vielleicht hab ich ihn falsch verstanden, weil ich immer noch einen Stöpsel im Ohr habe und Stromae laut »Alors on danse« hinein singt?
 

Probehalber suche ich in meinem MP3-Player nach »Papaoutai«, was ich momentan rauf und runter höre. Dann schaue ich wieder hoch in Julius‘ Gesicht.
 

»Das ist ja auch auf Französisch«, sagt er nach einer Weile. Diesmal muss ich schnauben.
 

»Ja. Alle seine Lieder sind auf Französisch«, erkläre ich.
 

»Worum geht’s in dem Lied?«, will er wissen.
 

»Darum, dass Väter scheiße sind.«
 

Julius blinzelt.
 

»Oh. Ok«, sagt er. »Hört sich mehr nach Partymusik an.«
 

»Ja, schon. Aber eigentlich sind all seine Texte ziemlich tiefgründig.«
 

Julius gibt mir meinen Stöpsel zurück und zeigt dann auf das Buch.
 

»Und was liest du?«, will er wissen. Als nächstes fragt er noch, was auf meinem Brot ist. Ich beiße ab und drücke ihm das Buch in die Hand. Es ist die englische Ausgabe und ich kann beinahe sehen, wie Julius sich zusammenreißen muss, um darüber nicht auch noch einen Kommentar zu machen. Ja, hallo. Ich bin Tamino und lese Bücher auf Deutsch, Englisch und manchmal Französisch und ich höre komische, französische Musik und in diesem Augenblick vermisse ich meine Freunde so dermaßen doll, dass ich am liebsten anfangen würde zu heulen.
 

Toll.
 

Julius begutachtet das Buch von vorne, liest den Klappentext, schlägt es auf und ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht darüber zu informieren, dass das Buch keine Bilder hat. Dann schaut er mich an.
 

»Gibt’s auch irgendwas, was du nicht kannst?«, fragt er. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Mit den Ohren wackeln. Auto fahren. Backen. Mit der Zunge an meine Nasenspitze kommen?«
 

Julius lacht tatsächlich. Dann sieht er kurz so aus, als würde er darüber nachdenken, seine Zunge rauszustrecken, um zu sehen, ob er das kann.
 

»Ich kann mit den Ohren wackeln. Und Auto fahren«, informiert er mich. Ich gebe ihm zwei hochgestreckte Daumen. Er grinst sehr breit und ich sehe, dass er ausgesprochen spitze Eckzähne hat. Ich muss kurz daran denken, wie begeistert vielen Mädchen wären, wenn ein Typ wie Julius sich als Vampir entpuppen würde.
 

Ich frage mich, ob ich meinen MP3-Player ausmachen und in den Rucksack stecken soll. Wenn hier jemand steht, der sich mit mir unterhält, ist es wahrscheinlich unhöflich, wenn ich weiter Musik höre. Ich beiße unschlüssig von meinem Brot ab und frage mich, wieso ich so miserabel mit sozialen Situationen bin.
 

»Hast du zufällig nach der Schule Zeit für Bio-Hausaufgaben?«, fragt er dann und ich seufze innerlich. Das hätte ich mir auch gleich denken können. Dass er nur hergekommen ist, um danach zu fragen. Der Rest war dann wohl eine Einleitung, um mich ein wenig weichzuklopfen.
 

»Ich hab in der neunten und zehnten Latein«, erkläre ich also und schiebe das Buch in meinen Rucksack.
 

»Oh. Das ist ja kacke«, meint er. Ich zucke mit den Schultern.
 

»Geht so. Ich mag Latein.«
 

Julius verdreht die Augen und ich schrumpfe ein bisschen in mir zusammen.
 

»Sprichst du irgendwie… zwanzig Sprachen oder so?«, fragt er. Ich wundere mich, dass er immer noch hier ist, obwohl ich gesagt habe, dass ich keine Zeit habe. Ich hebe die Hand, um zu zählen.
 

»Vier einhalb. Und Latein. Aber das spricht man ja nicht wirklich«, gebe ich zurück und verfluche mich im selben Augenblick, weil ich Klingonisch einfach so mitgezählt habe und er vielleicht gleich fragt, welche Sprachen ich spreche. Ich merke, wie ich rot anlaufe.
 

»Deutsch, Englisch, Französisch…«, zählt er auf und sieht mich fragend an.
 

»Ähm… Ich… äh… ich verstehe Wolof. Kann es aber nicht selber sprechen. Deswegen nur einhalb.«
 

»Was ist das für ne Sprache?«
 

»Kommt aus dem Senegal«, erkläre ich.
 

»Ah. Da wo deine Oma herkommt.« Er zögert kurz und ich sehe, wie er noch mal nachzählt. »Und was ist die vierte?«
 

Ich schließe kurz die Augen und verschlinge meine Hände ineinander. Herzlichen Glückwunsch, Tamino, du hast es wieder geschafft dir mit deinen seltsamen Interessen selbst ins Knie zu schießen. Ich räuspere mich.
 

»Ähm... ich – also…«
 

Julius sieht immer noch abwartend aus. Oh man. Es ist nicht zu fassen, dass ich einfach drauf los rede, ohne vorher nachzudenken. Wieso bin ich so wie ich bin?
 

»IchkannKlingonischsprechenaberdaszähltwahrscheinlichnichtwirklich«, puste ich in einem Affentempo heraus und möchte eigentlich gerne sterben. Ich mache mich total zum Horst. Es ist kein Wunder, dass ich an dieser Gott verdammten Schule keine Freunde gefunden habe, wenn ich es nicht mal schaffe, normal über meine Interessen zu reden, oder wie ein Bekloppter vor mich hinzublubbern. Oh Gott.
 

»Was für’n Ding?«, fragt Julius.
 

»Kl–Klingonisch. Aus Star Trek.«
 

Es wäre durchaus berechtigt meine Stimme in diesem Moment als ein leises, mäuseartiges Piepsen zu beschreiben. Julius starrt mich an, als wäre ich völlig wahnsinnig geworden.
 

»Du sprichst ne Sprache, die es nicht wirklich gibt?«, sagt er langsam. Ich ziehe die Schultern so hoch, wie ich kann. Mein Käsebrot werde ich definitiv nicht mehr aufessen. Mir ist nämlich ziemlich schlecht.
 

»Total abgefahren«, murmelt er. »Sag mal was auf Klin…dingens!«
 

»Klingonisch«, verbessere ich automatisch.
 

»Klingonisch. Wie auch immer. Ich hab keine Ahnung wie Klingonisch sich anhört«, sagt Julius und er sieht tatsächlich gespannt aus. Aber ich hab schreckliches Lampenfieber und schüttele hastig den Kopf. Wahrscheinlich sind meine Augen riesig und ich sehe aus wie ein Kaninchen, das gerade eine Schlange vor seinem Bau entdeckt hat.
 

Julius hebt abwehrend die Hände und sieht aus, als wäre er ziemlich erstaunt über meine Reaktion.
 

»Ok, ok! Kein Druck.«
 

Kann der Boden jetzt bitte unter mir aufgehen und mich schlucken? Es wäre genau der richtige Zeitpunkt. Jetzt. Sofort.
 

Es herrscht ganze zehn Sekunden schreckliches Schweigen und ich wünsche mir sehnlichst, dass es zur nächstes Stunde läutet.
 

»Hättest du theoretisch nach Latein Zeit? Für Bio?«, sagt Julius dann. Ich muss mich sehr darauf konzentrieren ruhig zu atmen und brauche einen Moment, um die Frage zu verarbeiten.
 

»Ähm… ja? Ich denke schon?«
 

Weil ich keine Freunde habe und sowieso nichts anderes mache, außer Hausaufgaben und lesen. Oder zum 700. Mal meine Lieblingsfolgen von Star Trek angucken.
 

»Cool. Ich versteh diese Sache mit homogen und ana… was auch immer überhaupt nicht.«
 

»Homolog und analog«, verbessere ich automatisch. Ich bin Hermine Granger, falls das noch niemandem aufgefallen sein sollte. Julius wedelt mit der Hand.
 

»Ja, die Sache. Check ich nicht. Ich warte dann nachher vorne beim Vertretungsplan«, meint er und dann klingelt es endlich und er schiebt sich seine Tasche auf der Schulter nach oben und wendet sich von mir ab. Ich hab keine Ahnung, ob das unter eine normale Nachhilfestunde fällt, oder ob wir gerade noch eine zusätzliche Hausaufgabenhilfe gegründet haben. Ich schaue mein Käsebrot an und lege es zurück in die Brotdose, bevor ich Julius ins Klassenzimmer folge, in dem er nun schon wieder umringt von seinen Kumpels und ein paar Mädchen sitzt, während ich meinen Platz in der hintersten Reihe einnehme und meine Deutschsachen auspacke. Ich glaube, Julius hat Felix Krull immer noch nicht fertig gelesen und in anderthalb Wochen schreiben wir die nächste Klausur. Wenn er die verhaut, dann ist diese ganze Nachhilfesache ja vielleicht ohnehin vorbei.
 

Frau Lüske kommt herein und ich verdränge jegliche Gedanken an Julius und Klingonisch und meine mangelnden Sozialkompetenzen. Vorerst.



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Kommentare zu diesem Kapitel (5)

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Von: abgemeldet
2018-05-29T19:06:49+00:00 29.05.2018 21:06
Oh Mann, Tamino kann einem echt leid tun, so gelöchert zu werden... Wenn man an solche Gespräche nicht gewöhnt ist, können sie einen ziemlich fertig machen. Ich halte ihm die Daumen, dass er auch die nächste Sitzung mit Julius durchsteht!
Von:  Serato
2017-10-15T14:46:13+00:00 15.10.2017 16:46
Der wandel ist sehbar wie schön
er bemüht sich ja richtig ^^

wenn er das auch durchhält wird doch noch was mit dem Abi
Von:  Riccaa
2017-10-07T23:17:31+00:00 08.10.2017 01:17
Hey,
also ich glaube man kann diese Unterhaltung zu den besten Konversationen des Jahres zählen :DDD ;) Aber ich kann Tamino verstehen, ich kann auch kein Smaltalk. Ich weiß nie was ich sagen soll und dann wird es einfach nur peinlich und man wünscht sich gaaaaaannnnz weit weg zu sein. China zum Beispiel, oder im Irak, soll ganz schön da sein; ein Erdloch würde auch reichen. Ach ja meine sozialen Kompetenzen sind auch ungefähr so ausgeprägt, wie die von Tamino :'D
Sein Musikgeschmack teile ich jedenfalls :) Ich liebe "Papaoutai" von Stromae, finde aber auch ein oder zwei Lieder von ZAZ gut.
Jedenfalls finde ich hier Julius schon sympathischer. Aber da geht noch mehr^^

Tolle Geschichte
Von:  MiuAyumi
2017-06-28T19:40:54+00:00 28.06.2017 21:40
Da wo deine oma herkommt... und ich so YES! Aufmerksamer junge du! Interessierter junge du... huehuehue (= v =) <3 wärend tamino mit seiner Panik beschäftigt ist übersieht er das offensichtliche! Oder ich sehe einfach, was ich sehen will xDDD

Schönes kapitel! <3
Antwort von:  Ur
29.06.2017 14:33
Da hattest du ja genau die richtige Reaktion :'D Tamino merkt vieles nicht ;) Danke fürs liebe Feedback <3
Von:  Aschra
2017-06-25T18:47:02+00:00 25.06.2017 20:47
Guten Abend,
nur mal so am Rande ich mag Hermine Granger^^
Und Tamino mag ich auch und Julius wird mir immer sympatischer.
Scheinbar hat Julius sich ja wirklich an ein paar der Tipps von Tamino gehalten und beteiligt sich nun am Unterricht.
Ich bin sehr neugierig wie das hier weitergeht.
Ich freu mich auf jeden Fall schonmal drauf.

LG

Aschra
Antwort von:  Ur
27.06.2017 19:15
Ich mag Hermine auch ;) Danke wie immer fürs liebe Feedback <3


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