Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 77: Wie ein Fisch ------------------------- Yūri stand starr vor seiner Wohnungstür. Sein Gehirn schien gleichzeitig zu langsam und viel zu schnell zu arbeiten und irgendwie dachte er, dass ihm schwindelig war. Er glaubte sogar, dass sich sein Mund immer wieder öffnete und wieder schloss, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Victor stand ihm gegenüber und zählte gerade Dinge auf, die er gerne in seiner Heimat sehen würde. Dinge wie die Eiskunsthalle, das Schloss, welches die Stadt nahezu wachsam überragte. Das Meer und den Strand. Dinge, von denen Yūri hin und wieder mal erzählte, beiläufig und selten eine längere Geschichte dazu erwähnte. Doch Victor hatte es sich gemerkt. Dieser Gedanke traf ihn wie einen Schlag in die Magengrube und sein schlechtes Gewissen wurde mit einem Mal noch viel größer. Sein Mund fühlte sich viel zu trocken an. Ein Räuspern holte ihn aus seiner Schockstarre. Vor allem deshalb, da es eindeutig nicht von Victor kam. Er blickte ihm über die Schulter um seine, doch etwas betagte Nachbarin zu sehen. Phichit hatte mal erwähnt, dass sie jenseits der 80 Jahre war und seitdem wartete Yūri irgendwie immer darauf, dass sie auszog oder die Hausverwaltung einen Treppenlift installiert. Doch die gute Frau war immer noch rüstig und gut zu Fuß, also würde bis dahin wohl noch ein wenig Zeit ins Land gehen. So hatte sich ein Running Gag zwischen seinem besten Freund und ihn entwickelt, dass sie sogar noch fitter sei, als sie beide zusammen. Was vermutlich auf ihren manchmal doch recht hohen Konsum an Junk-Food zurückzuführen war. Phichit hingegen vermutete, dass Kimchi der geheime Jungbrunnen von ihr war. Denn er hatte ihr mal bei einer leichten Lendenwirbelblockade geholfen und war danach mit gefühlten Tonnen selbstgemachtem Kimchi von ihr in die Wohnung zurückgekehrt. Sie hatte wohl darauf beharrt, dass Kimchi gut für den Körper sei. Und auch wenn Yūri in den darauffolgenden Wochen niemals zuvor so viel Kimchi gegessen hatte, hatte er nicht unbedingt eine Veränderung feststellen können. Vielleicht hätten sie die Unmengen an frittiertem Hühnchen weglassen sollen, damit es wirkt? Doch jetzt sah auch sie ihn abwartend an und Yūri wurde klar, dass sie wohl alles mitbekommen haben musste. Er spürte, wie seine Wangen brannten. Als sie dann noch fragend ihre Augenbrauen hob, schlug er die Hände vor sein Gesicht. „Es gibt nichts zu verzeihen und keine zweite Chance, die du brauchst, Victor“, murmelte er in seine Hände. Und dann, da ihm klar wurde, dass das einfach nicht genügte, richtete er sich wieder richtig auf, ließ seine Hände sinken und blickte Victor direkt in die Augen. „Ich bin derjenige, der sich entschuldigen muss. Aber lass uns erst einmal reingehen“, sagte er dann und zog Victor förmlich in die Wohnung. Jedoch entging ihm das süffisante Grinsen der alten Dame nicht. Erst als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er wieder aus, ohne vorher bemerkt zu haben, dass er überhaupt seinen Atem angehalten hatte. Sein Blick fiel auf Victor, der nun mitten im Wohnzimmer stand. Man konnte ihm ansehen, wie unschlüssig und nervös er wegen der ganzen Situation war und Yūri musste über sich selbst die Stirn runzeln, dass ein Teil von ihm sich freute, dass Victor wegen ihm in solch einem Zustand war. Das war nicht fair von ihm. Immerhin hatte er die ganze Sache und ihren wunderschönen Urlaub zunichte gemacht. Victor glaubte, dass wenn sein Herz noch weiter so bis zu seinem Hals schlagen würde, er sich hier und jetzt auf den, doch etwas abgenutzten, Teppich in Yūris Wohnzimmer übergeben musste. Das wäre sicherlich keine erstrebenswerte Wendung in diesem ganzen Hin und Her. Er war wirklich ein bisschen verwirrt und wusste nicht, was er denken oder tun sollte. Er versuchte sich zusammenzureißen und ging immer wieder in Gedanken durch, dass es Yūri wohl auch leidtat. Das bedeutete doch im Umkehrschluss, dass es nicht aus war zwischen ihnen? Oder zumindest, dass noch eine Chance für sie bestand, richtig? Aber warum wollte er dann sein Geschenk nicht annehmen? Immerhin sollte er es ja spätestens an Weihnachten eh bekommen. Oder hatte er irgendeine Grenze überschritten? War es zu viel? Wollte er nicht, dass er mit ihm zu seinen Eltern fährt? Das würde Sinn machen. Sollte er vorschlagen, sich ein Hotelzimmer zu holen? Oder vielleicht wollte er lieber Phichit mitnehmen? Immerhin waren ja die Flugtickets schon bezahlt und er hatte in der ganzen Aufregung über diese Idee völlig vergessen, ob es eine Reiserücktrittsversicherung oder so gab. Und warum runzelte Yūri jetzt die Stirn? Sein Herz sank. Das war kein gutes Zeichen, oder? Er räusperte sich und begann mit: „Hör mal…“ Doch gleichzeitig begann Yūri zu sprechen: „Es tut mir wirklich…“ Sie hielten beide inne und Victor versuchte, aus Yūris Mimik schlau zu werden. Aber er hatte das Gefühl, dass zu viele Emotionen in ihm um die Oberhand kämpfen. Yūris braune Augen sahen ihn direkt an. Waren sie ein wenig feuchter als sonst? Victor zog die Augenbrauen zusammen. Das gefiel ihm gar nicht. Sein Kopf suchte krampfhaft nach einer Idee, die Situation selbst ein wenig lenken zu können. Er räusperte sich wieder, denn der Kloß in seinem Hals wollte einfach nicht verschwinden. „Sollen wir uns setzen?“, fragte er in die Stille hinein, die wieder zwischen ihnen entstanden war. Yūri nickte und wie ungeschickte Schuljungen setzen sie sich gemeinsam auf das Sofa, jeweils etwas dem anderen zugewandt, dass sich ihre Knie fast berührten. Victor atmete tief durch. Dann entschloss er sich zu etwas, das er lange nicht mehr getan hat. Er öffnete den Mund, um einfach zu sprechen, ohne vorher seine Worte zurechtgelegt zu haben. „Ich weiß, dass ich kein perfekter Partner bin. Unsere ganze Beziehung ist so verrückt und auch so intensiv. Ich habe manchmal das Gefühl, wir kennen uns nicht erst diese paar Monate. Ich weiß, das klingt eigenartig und manchmal zweifle ich selbst an meinem Verstand. Frage mich, ob das nicht irgendein Hirngespinst ist oder Traum und ich irgendwann furchtbar enttäuscht aufwachen werde“, er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Doch er konnte nicht verhindern, dass sich irgendwann auch wieder sein Hirn einschaltete. „Im Nachhinein wird mir oft bewusst, wie sehr ich mit meinen Geschenken wohl über die Stränge schlage. Es war für mich noch nie so einfach, euphorisch zu werden. Aber immer, wenn du ins Spiel kommst… Du bist irgendwie meine fleischgewordene Euphorie. Gott… Das klingt so kitschig und abgedroschen, oder? Jedenfalls ist es ok, wenn du nicht mit mir nach Japan fliegen möchtest. Du kannst auch mit Phichit oder-“, weiter kam er nicht, denn er wurde von Yūri unterbrochen. „Der Einzige, mit dem ich dorthin fliegen werde, bist du Vitya. Hör bitte auf dich für etwas zu geißeln, was du nicht verbockt hast.“ Victor öffnete seine Augen. Sein Kosename von Yūris Lippen klang noch nie so schön und liebevoll. Sein ganzer Körper kribbelte vor Aufregung, als er den Rest des Satzes begriff. Yūri würde mit ihm wirklich nach Japan fliegen? Aber dennoch konnte er den Rest nicht ganz so stehen lassen. „Ich war derjenige, der diesen unangebrachten Kommentar gemacht hat. Natürlich habe ich es verbockt“, Victor betonte das letzte Wort besonders. Doch Yūri schüttelte den Kopf. „Ich habe aus einer Mücke einen Elefanten gemacht“, sagte er. Diese Aussage brachte Victors Körper zum Beben. Blitzschnell richtet er sich auf und nahm Yūris Hand in seine. „Bitte sprich niemals so geringschätzig über deine Gefühle. Niemals. Deine Gefühle haben alle eine Daseinsberechtigung, egal wie hässlich oder schön sie sind. Sie sind ein Teil von dir. Leugne bitte niemals ein Teil von dir, denn all das macht den Yūri aus, den ich liebe. All das bist du, Любимый.“ Ein Schauder durchfuhr Yūris Körper, als er seinen Kosenamen hörte. Trotzdem musste er immer wieder an die vergangenen 24 Stunden denken. Mit selbstironischem Grinsen schüttelte er den Kopf. „Wir sind wirklich nicht gut mit unseren Worten, was?“, fragte er dann. Doch zumindest für seinen Teil hatte er darauf bereits eine Antwort. Victor lachte leise. „Nein, nicht wirklich. Aber da ich langfristig mit dir plane, haben wir auch was, woran wir langsam arbeiten können“, grinste er dann und zwinkerte ihn an. Yūris Herz hatte bei seinen Worten mindestens einen Schlag ausgesetzt. Es klang lächerlich objektiv, als hätte er kein Mitspracherecht, und doch fand er diese Aussage unglaublich schön. „Du planst also langfristig mit mir?“, Yūri zog eine Augenbraue hoch und konnte sich nicht verkneifen, ein wenig herausfordernd zu klingen. „Natürlich. Ich sehe uns schon in 40 Jahren irgendwo auf einer Parkbank. Du mit deinen gefürchteten paar Pfunden zu viel und ich mit blank polierter Glatze“, erklärte Victor erst, als sei es das selbstverständlichste, bevor er dann in Gelächter ausbrach. Yūri hatte sofort das Bild vor Augen. Auch wenn ihm dabei warm ums Herz wurde, musste er einfach in Victors Lachen einstimmen. Das Bild von einem Victor, auf dessen Kopfhaut sich die Sonne spiegelte, war einfach zu kurios. Als sie wieder zu Atem kamen, blickte Yūri Victor in die Augen. „Abgemacht. Deine Glatze wird eh die Blicke aller Leute auf sich ziehen, da macht es nichts, wenn ich ein bisschen zulege“, kicherte er dann, während Victor kurz schmollte. „Ich sollte dich wissen lassen, dass ich alles tragen kann. Von Klamotten bis Frisuren. Schöne Menschen kann nichts entstellen!“, stellte er dann, immer noch grinsend, klar. Yūri hatte keine Mühe, sich das vorzustellen. Das Selbstbewusstsein, welches Victor immer nach Außen hin zeigte, würde schon dafür sorgen. Das war auch der Grund dafür, dass Yūri selbst oft vergaß, dass auch Victor ab und zu unsicher in ihrer Beziehung war. Manchmal schien es für Yūri so selbstverständlich, dass Victor alles schaffte und mit allem klarkam, dass er ihn schon fast auf ein Podest stellte. Als wäre er unantastbar. Vielleicht war das auch Yūris größter Fehler: Er himmelte Victor zu sehr an. In seiner Welt des Victors gab es kein Scheitern. Dass Victor allerdings ein Mensch aus Fleisch und Blut, mit Fehlern und Macken war, war für Yūri viel zu schnell vergessen. Dieser Gedanke ließ Yūri blinzeln. „Weißt du, manchmal scheint mir unsere Beziehung wie in einem schlechten Liebesfilm“, begann er. Doch auf Victors zusammengezogene Augenbrauen hin, beeilte er sich: „Ich meine nicht, dass unsere Beziehung schlecht ist! Ich meine diese klischeehaften Liebesfilme! Oder vielleicht sogar romantische Komödien.“ „Du meinst, wenn die Bekanntschaft auf irgendeinem Missverständnis aufbaut?“, Victor nickte wissend. „Ja, genau. Am besten noch, dass einer der beiden um die halbe Welt fliegt, um den anderen zu sehen und der sich aus irgendwelchen, an den Haaren herbeigezogenen, Gründen nicht mehr an ihn erinnern kann“, lachte Yūri. Jetzt war er voll in seinem Trash-Filme-Element. „Ein betrunkenes Liebesgeständnis oder so! Das klingt total nach mir“, warf Victor begeistert ein. „Nein, tut mir leid. Ich vertrage noch lange nicht so viel wie du. Ich wäre der, der ein peinliches Geständnis machen würde. Dir bleibt nur die Rolle von demjenigen, der um die halbe Welt jettet“, lachte Yūri. „Nur um dann zu kapieren, dass du das völlig vergessen hast? Was ein schweres Los“, seufzte Victor. „Ein bisschen Spannung muss sein. Und irgendwann nach 90 Minuten wird Licht ins Dunkle gebracht und die Überraschung ist perfekt! Was ein Schwachsinn“, lachte Yūri. Victor legte einen Finger an die Lippe und legte den Kopf ein bisschen schief. Ein paar Strähnen rutschten ihm über die Stirn. „Aber hier machst du den entscheidenden Fehler, Yūri“, erklärte er nachdenklich. „Aha? Der wäre?“, jetzt war Yūri neugierig. „Wir wären in der Hauptrolle. Das bedeutet, das kann nur ein Kassenschlager werden“, lachte Victor wieder. Yūri konnte nicht anders, als mitzulachen. Vor einer knappen halben Stunde hat sich alles noch so schwer angefühlt, als würde sogar die Luft in seiner Wohnung ihn erdrücken. Jetzt hatte er das Gefühl, dass er auf Wolken schwebte. Sein Trübsinn war wie weggeblasen, sein Herz hüpfte vor Freude und er fühlte sich, als könne ihn nichts erschüttern, wenn er nur Victor an seiner Seite hatte. Dennoch musste er was gestehen: „Als du eben weggefahren bist, dachte ich, ich sehe dich nicht wieder.“ Victors Gesicht wurde wieder ernst. „Ich war bereit, in Selbstmitleid zu ertrinken. Ich dachte, ich hätte es verkackt. Dass ich eine Grenze überschritten hätte, die das Band zwischen uns zerschnitten hat. Aber Yurio kann es nicht ertragen, wenn ich so bin. Er hat mir ganz schön den Kopf gewaschen und zur Vernunft gebracht“, fasste Victor mit schiefem Grinsen das Aufeinandertreffen mit seinem Bruder zusammen. „Oh?“, Yūri hob eine Augenbraue und fuhr dann mit neckendem fort: „Also muss ich mich bei Yurio bedanken?“ „Ich sollte ihm vermutlich ein teures Spiel oder so ein Jahresabo für Spiele als Dankeschön kaufen“, gluckste Victor und Yūri war der Meinung, dass er aus Verlegenheit ein bisschen rot wurde. „Oder einfach nur danke sagen“, schlug Yūri mit einem Schulterzucken vor. Victors Gesicht hellte sich auf. „Das ist sogar viel günstiger! Wenn ich dich nicht hätte, müsste ich dich wirklich suchen. Du machst mein Leben so viel besser“, er grinste schelmisch, doch Yūri konnte heraushören, dass Victor es nicht nur im Scherz sagte. Doch da nagte die ganze Zeit eine Frage an ihm und jetzt, da alles wieder in Ordnung zwischen ihnen zu sein schien, musste er sie einfach stellen. „Also gut. Victor Nikiforov und Yūri Katsuki fliegen gemeinsam nach Japan. Gib mir alle Details!“ Kurz konnte man sehen, wie Victors Augen zu funkeln begannen, als er Yuris Worte hörte. „Am ersten Weihnachtstag geht unser Flieger, wir bleiben über Silvester und fliegen dann am 04.01. wieder zurück. Die Details arbeiten wir hoffentlich gemeinsam aus“, war alles, was Victor dazu zu sagen hatte, doch er strahlte wie ein kleiner Junge am Weihnachtsabend vor einem Haufen Geschenke. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)