Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 70: Unangenehme Entdeckung ---------------------------------- Yūri hatte gehört, wie sich die Tür leise geöffnet und geschlossen hatte. Er hatte die Schritte von jemandem im Raum gehört. Doch das Brummen der Server hatte die Geräusche so überlagert, dass er keine Unterschiede bemerkt hatte. Er war davon ausgegangen, dass Mila wieder einmal nach ihm schauen wollte. Zum x-ten Mal fragte, ob er was zu Essen oder Trinken wollte. Oder sogar ihre Drohung wahr machte und ihm einfach etwas brachte. Doch in dem Moment, als er das Räuspern hörte, war ihm klar, dass das nicht Mila war. Es war auch nicht irgendein anderer Angestellter, der vielleicht von Mila den Auftrag erhalten hatte, nach ihm zu schauen. Nein, es war jemand, den er ziemlich gut kannte und eigentlich vermeiden wollte, auf ihn zu treffen. Zumindest heute. Zumindest jetzt. Ja, er war ein schreckhafter Mensch, doch mit Schuldgefühlen war diese Eigenschaft noch wesentlich schlimmer. Ohne jegliche Kontrolle über seinen Körper zu haben, zuckte er zusammen und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Unterkante des Regalbodens über ihm. Der natürlich aus Metall war, er hing ja schließlich kopfüber in einem Serverschrank. „Au!“, kam es über seine Lippen, ohne es gewollt zu haben. Nun war ihm klar, wenn Victor nicht bereits wusste, wer da in ihren Gerätschaften rumfuhrwerkte, wusste er es spätestens jetzt. Mit einem kleinen Seufzer beendete er vorübergehend seine Arbeit und zog seinen Oberkörper aus dem engen Schrank. Nicht ohne seinen Kopf, mit schmerzverzerrtem Gesicht zu reiben. Zum Glück war der Schwung nicht stark genug gewesen, um sich noch eine Platzwunde zu zuziehen. Das hätte nun echt noch gefehlt. Als er Victor ansah, sah er aus, als hätte er einen Geist gesehen. Sein Mund stand einige Zentimeter auf und er blickte so fassungslos drein, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Und sie hatten schon einige recht unglaubliche Situationen hinter sich gehabt. Damals, als er Victor gesagt hatte, dass er der Yūri von der Sex-Hotline war, hatte er nicht so geschockt geschaut. Dieser Blick hatte sich trotz des Alkohols in Yūris Gedächtnis eingebrannt und mittlerweile konnte er ihn auch besser deuten: Es war kein Schock gewesen, der damals in seinen Augen gestanden hatte, sondern vielmehr ein Verstehen. Als wären endlich alle Puzzle-Teile auf den richtigen Platz gerutscht und alles würde plötzlich einen Sinn ergeben. Überraschung stand damals in seinem Gesicht geschrieben, aber Fassungslosigkeit wie gerade? Nein. Sie schauten sich eine Weile wortlos an, während sich Yūri weiterhin die schmerzende Stelle rieb. Sollte er etwas sagen? Sich bei Victor entschuldigen? Oder sollte er ihm einfach ein bisschen Zeit lassen, das alles zu verarbeiten? Noch während er überlegte, blinzelte Victor und öffnete den Mund. Unbewusst spannte sich Yūris Körper an, doch Victor schloss den Mund wieder, ohne ein Wort zu sagen. Dann rieb Victor sich den Nacken, ließ den Blick kurz durch den Raum gleiten und begann noch einmal: „Also… Du bist hier der…?“ Yūri war überrascht, Victor mal nicht so wortgewandt zu erleben. Die Situation schien ihn wirklich überfahren zu haben. „Ja, ich versuche gerade euer Firmennetzwerk wieder ans Laufen zu bringen“, lächelte er schief. Victor rieb sich die Stirn und blickte Yūri wieder an. „Warum hast du nichts gesagt? Du hast dir am Wochenende so viel Mühe gemacht und viel Zeit investiert… Dabei hätte ich einfach mit Yakov reden können“, er konnte aus Victors Stimme Frust heraushören, vielleicht auch ein wenig Verärgerung. Und wenn Yūri ehrlich war, konnte er es verstehen. Immerhin hatte er ihm von der Arbeit erzählt, aber diese wichtige Information absichtlich verschwiegen. Doch er hatte auch einen Grund. Aber würde das Victor verstehen? „Aber genau das ist es“, sagte Yūri leise und blickte Victor dabei hoffnungsvoll an. Er musste ihn einfach verstehen. Gerade Victor. Doch der legte den Kopf fragend schief und zog die Augenbrauen zusammen. Ein seltsamer Anblick. „Nun ja“, setzte Yūri erneut an, ohne wirklich zu wissen, wie er das erklären sollte, ohne dass es komisch klang. „Ich wollte das selbst erreichen. Natürlich hättest du es einfacher für mich regeln können, aber ich wollte es eben auf dem richtigen Weg machen. Wäre es dann schief gelaufen, hätte ich dich vor der drohenden Katastrophe gewarnt, aber ich wollte es selbst schaffen und nicht deshalb, weil ich mit dir zusammen bin“, seufzte er und hoffte, dass Victor es verstand. Sein Herz klopfte ihm dabei bis zum Hals und er war sich sicher, seinen eigenen Puls in seinen Ohren zu hören. Victor schloss die Augen und nickte dann. „Ich glaube, kaum einer versteht das, wie ich. Trotzdem wäre es mir lieber gewesen, davon gewusst zu haben… Irgendwie…“, Victor schüttelte den Kopf, als würde ihm immer noch die Sprache fehlen, doch Yūri wusste intuitiv, was Victor sagen wollte. „Ja, es fühlt sich eigenartig an. Ich weiß. Und das tut mir wirklich leid“, sagte er. Plötzlich schenkte ihm Victor wieder sein strahlendes Lächeln und Yūris Herz setzte sein rasantes Tempo fort, nur diesmal aus einem anderen Grund. „Ist die Jeans neu?“, fragte Victor dann mit einem Grinsen. Yūri schaute stirnrunzelnd an sich hinunter. „Nein, warum?“, fragte er dann ein wenig verwirrt, nicht zuletzt wegen dem plötzlichen Themenwechsel. „Ich bin eigentlich hierher gekommen, um dir Feuer unterm Hintern zu machen und mein erster Gedanke war, dass der Hintern, der mich da willkommen geheißen hat, fast so ansehnlich war wie deiner“, Victor schob die Augenbrauen kurz hoch. „Guckst du jedem ITler auf den Arsch?“, fragte Yūri verwundert, musste aber dabei schmunzeln. „Du bist der Erste, den ich hier sehe. Also bin ich offenbar schuldig im Sinne der Anklage“, Victor legte seine Hand theatralisch auf sein Herz und tat reumütig. Yūri konnte nur lachend den Kopf schütteln. Victor schloss die Distanz zwischen ihnen und drückte Yūri an sich. „Um ehrlich zu sein würde ich dich jetzt am liebsten über diesen Drucker da beugen und über dich herfallen“, gestand er ihm mit heiserer Stimme. Yūri spürte, wie sein ganzer Körper warm wurde und kribbelte. Nicht lange und Victor würde noch an einer anderen Stelle merken, was seine Worte noch bei ihm bewirkt hatten. „Das ist neben Kopien vom nackten Hintern machen mit ein Hauptgrund, warum die Dinger kaputt gehen“, antwortete Yūri und griff damit schon fast verzweifelt nach dem letzten Strohhalm seiner Willenskraft: Die Arbeit. Victor lachte schnaubend in sein Ohr. Doch mit einem Blick auf das Workcenter fiel Yūri etwas ein. „Du sagtest, du bist der erste ITler, den du hier siehst?“, fragte er dann noch einmal und lehnte sich ein wenig zurück, um Victor anzuschauen. Victor runzelte die Stirn und schaute ihn fragend an, nickte aber. Widerwillig löste sich Yūri von Victor und ging hinüber zum Gerät, drückte ein paar Tasten und machte dann große Augen. „Ich glaube, ich nehme dein Angebot zur Unterstützung jetzt war“, sagte er dann und blickte Victor verzweifelt an, weil er nicht wusste, was die Information, die er ihm gleich mitteilen würde, für die Firma bedeutete. „Was ist los?“, Victor hatte den Umschwung in der Stimmung erkannt und kam zu ihm. Er legte eine Hand auf Yūris Ellbogen, legte den Kopf schief und schaute ihn fragend an. „Scannt ihr viel mit diesen Dingern? Habt ihr das gleiche Modell überall stehen?“, fragte Yūri. „Je nach Bereich scannen wir vermutlich mehr, als zu drucken. Verträge archivieren, ausgedruckte Manuskripte scannen wir auch ein, damit sie in digitaler Form auch vorliegen. Geschäftszahlen, Budgetplanungen… All so etwas. Soweit ich das auch verstanden habe, können auch die Kopien über Scans gemacht werden, oder?“, zählte Victor auf. Yūri nickte und schluckte. Worst-Case-Szenario. Vielleicht sogar ein Super-GAU. „Traue keinem Scan, den du nicht selbst gefälscht hast*“, murmelte Yūri vor sich hin und blickte vom Workcenter zu Victor, der ihn nur fragend anschaute. Yūri musste es ihm erzählen. „Im August 2013 hat ein Informatiker aus Bonn einen Software-Fehler bei diesen Geräten festgestellt. Um die Dateien für Scans möglichst klein zu halten, speichert das Gerät jeden Buchstaben nur ein einziges Mal ab und merkt sich dann im Prinzip, wo der Buchstabe dann noch einzusetzen ist. An sich ist das ein durchaus sinniges Prinzip, wenn die Buchstaben und Zahlenerkennung einwandfrei funktioniert. Verstehst du, worauf ich hinaus will?“, begann Yūri. Victor schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich befürchte ja, aber ich weiß nicht, ob ich das will“, er sprach leise, aber seine Stimme war fest. Yūri nickte, er konnte es nur allzu gut verstehen. „Nachweislich wurden Buchstaben und Zahlen daher vom System vertauscht. Aus einem ‚i‘ ist ein ‚l‘ geworden oder aus einer ‚0‘ eine ‚8‘ oder so. Je nach Qualität, Schriftart, Schriftgröße und so weiter und so fort… Der Hersteller hat sich eine Weile hingestellt und so getan, als wäre das keine große Sache. Oder besser gesagt, nur eine Sache der Grundeinstellung des Geräts und wer eben die Gebrauchsanweisung nicht gelesen habe, ist halt selbst schuld. Nur, dass dieser Informatiker diesen Fehler auch mit den anderen Einstellungen nachwies. Ich muss dir nicht erzählen, was das alles für einen Rattenschwanz nach sich zog, oder?“, fragte Yūri. Victor schüttelte den Kopf, er sah wieder ungefähr genauso fassungslos aus, wie am Anfang ihres Treffens in diesem Raum, nur dass er noch blass dabei geworden ist. „Der Fehler wurde zwischenzeitlich behoben, aber dafür muss ein Software-Update auf den Geräten eingespielt werden, der…“, Yūri hielt inne und schaute Victor an. „Der nie bei uns gemacht worden ist“, beendete Victor den Satz für Yūri. Yūri konnte nur nicken und sah wieder auf das Gerät hinab. „Scheiße. Gottverdammte Scheiße“, kam es nur von Victor, der sich mit der Hand durch das Gesicht fuhr. Dann spürte Yūri seine Hand um sein Handgelenk. „Tut mir leid, dass ich dich entführen muss, aber wir müssen zu Yakov. Am besten gestern. Das Firmennetzwerk ist gerade sowas von unwichtig geworden“, damit zog ihn Victor mit schnellen Schritten aus dem Raum. Nur vage nahm Yūri die Blicke in dem Büro war, das sie durchquerten. Mila, die aufgestanden war und irgendetwas sagen wollte, aber nicht konnte, da sie viel zu schnell am Aufzug waren, der sich sofort öffnete und sie in das oberste Stockwerk brachte. Victor musste sich eingestehen, dass das alles eine kleine Kurzschlusshandlung gewesen war. Es war ihm noch bewusster geworden, als er in das Büro seines Onkels und damit in ein Meeting geplatzt war. Das alles natürlich unverändert mit Yūri im Schlepptau. Doch er war nicht zum ersten Mal dankbar, dass sein Onkel ihn so gut kannte. Mit aller Autorität, die er hatte, erklärte er das Meeting für vorerst beendet und er würde eine Fortsetzung einberufen, falls nötig. Danach hatte er Yūris Erklärungen gelauscht. Regungslos, emotionslos, mit ernster Miene. Victor konnte schlecht einschätzen, was nun in seinem Onkel vorging, doch eins wusste er: Er hatte die Tragweite der Sache erkannt. „Das heißt, alles, was wir bisher mit diesen Geräten eingescannt haben, könnte anfechtbar sein. Beispielsweise bei Honoraren und so weiter?“, seine Frage bestätigte Victors Vermutung, dass er verstanden hatte. „Auch die Bilanzen könnten betroffen sein“, gab Victor trotzdem zu bedenken. Yakov blickte ihn an und nickte leicht, doch Yūri war da schon weiter. „Wurden die Bilanzen mit dem Gerät vor der Tür gescannt?“, fragte er und Yakov nickte nur. „Das ist ein anderer Hersteller, der meines Wissens diese Probleme nicht hatte“, konnte er wenigstens eine gute Nachricht verbreiten. Doch das verwirrte Victor. „Warum hast du hier oben ein anderes Gerät?“, fragte er. „Der andere Drucker ist kaputt gegangen und der war günstiger“, erklärte Yakov mit einem leichten Schulterzucken. Victor erinnerte sich an das Gespräch mit Yūri im Serverraum und war versucht zu fragen, ob Hintern oder Drüberbeugen der Grund war. Doch vielleicht war es wirklich nur kaputt gegangen und selbst wenn nicht, wollte er eigentlich wissen, was genau die Hintergründe waren. Vielleicht sollte er sich auch einfach freuen, falls sein Onkel noch die ein oder andere aufregende Situation in seinem Leben hatte. Nur wollte er seine Fantasie nicht weiter damit belasten, da er die Bilder sonst niemals aus dem Kopf bekommen würde. Doch gleichzeitig erkannte er, dass es dafür schon zu spät war und verzog das Gesicht. Seine Fantasie spielte ihm momentan wirklich einige fiese Streiche. „Ich sag es ungern, aber das wäre nicht passiert, wenn wir jemanden hätten, der alles IT- oder EDV-mäßige für uns regeln würde“, sagte Victor zum einen, weil es einfach stimmte und zum anderen, weil er sich dringend ablenken musste. Yakov schnaubte, aber es klang lange nicht mehr so vehement, als es noch letzte Woche geklungen hätte. „Wie lange dauert es, bis du all diese Updates aufgespielt hast, Yūri“, fragte er dann. „Ich bin mir nicht sicher, wie lange ein Update dauert. 2 bis 4 Stunden, würde ich mal vermuten. Wir könnten sie entweder nach Dienstschluss soweit möglich gleichzeitig aufspielen oder nach und nach während des Tages. In der Zeit könnte man die Druckaufträge auf ein anderes Stockwerk umleiten“, erklärte Yūri und Victor war beeindruckt, dass er direkt mit so einer Lösung um die Ecke kommen konnte. Vielleicht war es auch keine große Sache, aber dennoch fühlte sich Victor ein wenig Stolz auf seinen Partner. „Was würdest du empfehlen?“, fragte Yakov. „Erst einmal das Firmennetzwerk in den Griff zu bekommen. Vielleicht könnt ihr wichtige Unterlagen zur Archivierung und so etwas erst einmal nur hier oben einscannen. Donnerstagabend würde ich dann die Updates vornehmen. Ich weiß nicht, wie die Arbeitszeiten sind, aber falls ein Gerät früher nicht mehr gebraucht wird, kann ich das dann schon einmal in die Wege leiten. Falls es dann irgendwo zu einem Problem kommt, habe ich nicht noch 5 weitere Geräte, um die ich mich gleichzeitig kümmern müsste. Und falls im schlechtesten Fall noch irgendein Bauteil für die Geräte benötigt werden sollte, kann ich das Freitag noch gut erledigen. Am Wochenende ist das manchmal schwierig mit den Ersatzteilen“, erklärte Yūri wieder und Victor musste darüber schmunzeln, wie sehr er in seinem Element schien. Er fragte sich, ob er auch so wirkte, wenn er über Bücher redete. „Aktuell kann ja niemand die Drucker benutzen, könntest du das nicht auch jetzt machen“, fragte Yakov. „Die Workcenter sind nicht nutzbar, weil sie keine Netzwerkverbindung haben. Dadurch kann ich auch das Update nicht aufspielen, da das Gerät es über das Netzwerk runterladen muss“, bemerkte er geduldig. Wieder nickte Yakov und für einen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen. „Hast du noch Probezeit bei deiner Firma oder einen befristeten Vertrag?“, fragte Yakov dann scheinbar zusammenhanglos. Yūri zog die Augenbrauen zusammen, bestätigte dann aber: „Probezeit. Habe erst kürzlich angefangen.“ „Was hältst du von einer Anstellung als Werksstudent hier mit Aussicht auf Übernahme und dem Aufbau einer kleinen IT-Abteilung? Die ganze Zeit haben mich Kollegen und auch Vitya darum gebeten, so etwas zu genehmigen und ich habe nie den Sinn dahinter erkannt. Jetzt haben wir den Salat“, schnaubte er und Victor wusste genau, was er zwischen den Zeilen sagte: Ich hätte diesem ganzen technischen Scheiß niemals vertrauen sollen. So war sein Onkel eben, dachte Victor schmunzelnd und schielte zu Yūri. Denn nun war es an ihm, ein wenig fassungslos auszusehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)