Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 51: Pokerface --------------------- Tatsächlich ließ Phichit am nächsten Tag nichts aus. Sie hatten sich das Guardian Building und das Fisher Building angeschaut, hatten die Old St. Mary's Church besichtigt. Makkachin hatte vermutlich der Belle Isle Park am besten gefallen, doch Victor fand auch das Detroit Historical Museum sehr interessant. Tatsächlich fragte er sich, warum er nicht schon einmal früher in diese Ausstellung gegangen war. Und die ganze Zeit konnte er mit Yūri hinter der kleinen Gruppe hinterher schlendern, während Phichit mit leuchtenden Augen Yurio und Otabek die Stadt zeigte. Zuerst war Yurio eher genervt, bis er bemerkte, dass Otabek Phichits Ausführungen recht interessiert folgte. Otabek war auch noch nicht allzu lange in der Stadt, erinnerte sich Victor. Victor wunderte sich, dass Yurio im Beisein von Otabek meistens umgänglicher war. Er war sich aber nicht sicher, warum das so genau war. Vielleicht war es Otabeks ruhige Art, die Yurio ein wenig beruhigte oder erdete? Auch wenn Victor nicht wusste, was es war, war er sehr froh darum. Hätte er vorher Wetten abschließen müssen, hätte er eher damit gerechnet, dass er den ganzen Tag nörgeln würde. Doch Victor musste auch zugeben, dass Phichit seine Sache gut machte. Es war erstaunlich, denn er war ja erst vor einigen Stunden aus New York zurückgekommen und hatte sich sicher auch noch einmal zum Schlafen hingelegt. „Bist du sicher, dass er Arzt ist? Denn aktuell wirkt es eher, als sei er Fremdenführer“, lachte Victor leise zu Yūri. „Ja, er hat bei einer Sightseeing Agentur gearbeitet, während er studiert hat. Er liebt es, Leute durch die Stadt zu führen. Du müsstest mal sein Instagram-Account sehen. Es gibt jede Menge Gruppen-Selfies von dieser Zeit, man könnte meinen, dass er zu seinen Studienzeiten super beliebt gewesen wäre“, lachte Yūri. „War er nicht?“, Victor runzelte die Stirn. „Doch. Phichit ist so jemand, der eigentlich mit allen auskommt“, antwortete Yūri. „Ist das so?“, Victor zog eine Augenbraue hoch und bezweifelte die Aussage doch ein wenig. Doch dann fiel ihm ihre erste Begegnung in diesem japanischen Imbiss in ihrer Wohngegend ein. Er hatte ihm eine mehr oder weniger hilfreiche Essensberatung gegeben und das sogar ohne ihn darum zu bitten. Aber warum war er dann zu ihm so misstrauisch? Sie hatten schon über die Hotline gesprochen und hatte Phichit ihn nicht mehr oder weniger gelobt, weil er sich keinen Vorteil aus Yūris Lage als er krank war geschlagen hatte? Also warum war er dann so? „Ist irgendetwas, Victor?“, riss ihn Yūris Stimme aus den Gedanken. „Ach, ich frage mich einfach, wie ich Phichit von mir überzeugen kann“, gestand er ehrlich. „Sei einfach du selbst, das reicht völlig“, lächelte ihn Yūri mit einem leichten Rotschimmer auf den Wangen an und Victors Herz setzte einen Schlag aus. Am liebsten wollte er Yūri auf der Stelle in den Arm nehmen und küssen, aber vermutlich war das keine gute Idee. Stattdessen nahm er kurz Yūris Hand und drückte sie mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Hey, ihr Lahmärsche. Wir wollen was zu Abend essen. Kennt ihr hier irgendetwas?“, ruinierte Yurio die Stimmung zwischen ihnen. Victor legte einen Finger an seine Lippe und überlegte kurz. „Nicht weit von hier sollte ein gutes koreanisches Restaurant sein, das für sein frittiertes Hühnchen bekannt ist“, schlug er dann vor. Yūri war immer wieder überrascht, woher Victor die vielen guten Restaurants kannte. Er begründete es immer damit, dass er durch seinen Beruf oftmals in Cafés, Bars oder Restaurants Treffen mit Autoren hatte, aber das warf bei Yūri wieder mehr Fragen auf. Er nahm sich fest vor, dass sobald Victor ein wenig mehr Zeit hatte, er ihn mal richtig fragen würde, was er so machte und auch nach den Namen einiger Autoren fragte. Doch aktuell wollte er Victor mir Fragen zu seinem Beruf nicht noch das Wochenende verderben. Immerhin hatte er ja schon angekündigt, dass sie sich in den nächsten zwei Wochen deswegen weniger sehen konnten. Yūri machte schon heimlich Pläne, ihm ein Care-Paket zu packen oder andere Kleinigkeiten für ihn zu tun. Immerhin hatte sich Victor so selbstlos um ihn gekümmert und war sogar bei ihm geblieben und hatte von seiner Wohnung aus gearbeitet. Das war nicht selbstverständlich, darüber war sich Yūri im Klaren. Umso mehr verspürte er den Drang, etwas Gutes für Victor zu tun. Sie hatten zwei große Portion Yangnyeom tongdak, also die frittierten Hähnchenteile für das der Laden bekannt war, bestellt. Eine Portion in mild und die anderen Portion mit der landestypischen, koreanischen Würzung. Dazu hatten sie noch einfachen, weißen Reis bestellt. Als ihr Essen serviert wurde, lief Yūri das Wasser im Mund zusammen, so gut roch es. Yūri musste Grinsen, als er Victors funkelnde Augen sah. Es war nicht neu für Yūri, dass Victor gerne neue Gerichte ausprobierte und offen für alle möglichen kulinarischen Erkundungen war. Das ließ ihn tief in seinem Inneren hoffen, mit ihm eines Tages das Katsudon seiner Mutter essen zu können. Was er wohl dazu sagen würde? Er sah zu, wie Victor von seinem Stück Hähnchen abbiss und kaute. Innerlich zählte er langsam von 3 runter: 3... 2... 1... Yūri versuchte nicht einmal das Grinsen zu unterdrücken, als sich Victors Augen ein wenig weiteten und er „Вкусно!“ ausrief. Yurio neben ihm schnaubte abfällig und murmelte etwas, das Yūri nicht verstand. Allerdings vermutete er, dass er diese Marotte von Victor bereits kannte und, wie von so vielem, genervt davon war. Währenddessen plapperte Phichit fröhlich vor sich hin, wobei sich Yūri nicht ganz sicher war, ob ihm irgendwer überhaupt zuhörte. Aber auch Phichit schien es egal zu sein, ob ihm jemand zuhörte. Doch auch schnell war der letzte Redeschwall vorbei und alle stürzten sich auf das Essen. Gefräßiges Schweigen machte sich am Tisch breit. Die Besitzer des Ladens hatten so viel Spaß mit ihrer bunten Truppe, dass sie ihnen noch einen Teller mit Nuss-Yeot, eine Art koreanisches Toffee und Maejakgwa, ein geflochtenes, buntes Gebäck mit Honig, Ingwer und Zimt, hinstellten. Natürlich machten sie sich auch mit dem gleichen Enthusiasmus über diese Leckereien her. Victor war froh, den Tag ohne einen größeren Wutausbruch seines Bruders, über die Bühne gebracht zu haben. Natürlich war er das ein oder andere Mal grummelig gewesen, aber alles in allem hatte er sich recht umgänglich verhalten. Nun standen Phichit, Yūri und er vor dem Gebäude, in dem seine Wohnung war und er wollte nicht wirklich, dass der Abend endete. Yurio und Otabek hatten sich schon nach drinnen verabschiedet, hatten sogar Makkachin mitgenommen, der nach dem ereignisreichen Tag ziemlich platt war. Und nun druckste er ein wenig herum, da er noch gerne Zeit mit Yūri verbringen wollte, aber auch nicht stören wollte, da er seinen Freund und Mitbewohner auch eine Weile nicht mehr gesehen hatte. Er war sich nicht sicher, wie er vorsichtig nachfragen sollte, daher lobte er unverfänglich Phichits Führung und hoffte, ihm würde das Thema abgenommen werden. Seit wann fühlte er sich eigentlich so unglaublich unsicher? Das war doch sonst nicht seine Art! Das frustrierte ihn. „Jetzt wo die Kinder zu Hause sind, machen wir uns jetzt frisch für den Erwachsenenteil des Abends?“, fragte Phichit unverhofft und ließ Victor aufblicken. „Für den Erwachsenenteil?“, hakte er überrascht nach. „Ja, Kneipentour“, Phichit grinste und zuckte mit den Achseln. Victor blickte fragend zu Yūri, der nur mit den Achseln zuckte. „Ja, klar. Warum nicht?“, er blickte die beiden abwartend an, aber sie schauten nur zurück. „Gut, also dann in einer halben Stunde? Soll ich zu euch kommen?“, fragte er dann. „Klingt gut, dann sehen wir uns gleich!“, bestätigte Phichit und schob Yūri vor sich hin. In Windeseile hetzte Victor in seine Wohnung, sprang unter der Dusche und stand nur wenige Minuten später in seinem begehbaren Kleiderschrank. Schlussendlich entschied er sich für eine schwarze Jeans und ein braun-rotes, langärmeliges Oberteil mit V-Ausschnitt. Er schnappte sich noch eine helle Sweatjacke mit goldenem Reisverschluss vom Kleiderbügel, da er nicht wusste, wie kalt es die Nacht werden würde, vor allem, da er nicht wusste, wie lange sie unterwegs sein würden. Und wo es sie hin verschlagen würde. Victor fühlte sich wie ein Jugendlicher, der zum ersten Mal auf eine Party mitgenommen wurde. Schnell föhnte er sich noch die Haare und stand dann noch ein paar Minuten vor dem Spiegel und fragte sich, ob er seine Haare noch irgendwie anders frisieren sollte, verwarf aber die Idee, weil er Sorge hatte, es vermasseln zu können. Sich noch einmal die Haare waschen zu müssen würde sein Zeitmanagement vollkommen zerstören. Zufrieden stellte er fest, dass Yurio Makkachin und Potya bereits gefüttert hatte, bevor er sich bei Otabek einquartiert hatte. Er überlegte kurz, ob er eine Nachricht schreiben sollte, dass er noch einmal weg ist, erinnerte sich aber an Yūris Worte. Er hatte ihm mehr oder weniger zu verstehen gegeben, sich ein wenig mehr um Yurio zu kümmern. Also hielt er auf dem Weg nach draußen kurz an der Haustür der Tursunbajs und informierte einen relativ mürrischen Yurio über sein Vorhaben. Zu dem Zeitpunkt, in dem Yūri zum 2. Mal auf Toilette ging hatte Victor auch endlich genug von diesen grässlich riechenden Moscow Mule getrunken, dass er durchaus redselig zu sein schien. Das war zumindest die Beobachtung, die Phichit selbstzufrieden machte. Sein ganzes missmütiges Gehabe war natürlich größtenteils nur gespielt. Er konnte nicht behaupten, dass er Victor vollkommen vertraute, aber er hatte bereits mehr als nur einmal bewiesen, aus welchem Holz er geschnitzt war. Am Anfang war er vielleicht noch skeptisch gewesen, ob er Yūri auch wirklich liebte. Als bester Freund war er natürlich besorgt gewesen, dass Yūri von einem, zugegebenermaßen gutaussehenden, Gigolo verführt und danach wie ein benutztes Taschentuch fallen gelassen wurde. Doch diese Sorge hatte bereits das Bild vor dem Autohaus ein gutes Stück weit eingedämmt. Gut, zu diesem Zeitpunkt war sich Phichit nicht ganz sicher gewesen, ob Victor nicht einfach nur ein verdammt guter Schauspieler war oder ob das Funkeln in seinen Augen echt war. Doch zu sehen, wie die beiden miteinander agierten, ließ keine Zweifel übrig. Manchmal war das so unschuldig und vorsichtig, dass Phichit glaubte, sein Herz würde schmelzen. Aus solchen Interaktionen wurden wahre Liebesgeschichten. Und nun war es an der Zeit für ihn, der einen Hälfte dieser Liebesgeschichte auf den Zahn zu fühlen. Gemessen an der Menge an Leuten in diesem Club würde Yūri etwas länger auf Toilette brauchen. „Also, Victor. Ist es dir ernst mit Yūri?“, fiel Phichit mit der Tür ins Haus und nippte an seinem Bier, als wäre es die normalste Frage der Welt. Zumindest hoffte er, dass er sein Pokerface aufrecht hielt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie durch Victors Körper ein Ruck ging. Seine Augen, die ein wenig vom Alkohol getrübt aussahen, fokussierten ihn mit einer Entschlossenheit, die Phichit überraschte. „Natürlich! Ich weiß nicht, was ich tun muss, damit du es glaubst, aber ich tue es!“, es klang nicht wie eine Prahlerei oder Ähnliches. Vor allem war es überraschend, wie er sich trotz der Menge an Alkohol noch ausdrücken konnte. Phichit war sich auch mehr als bewusst, dass es nicht eben dieser Alkohol war, der aus ihm sprach. Er rang sich ein leichtes Nicken ab. „Ich bin durchaus gewillt, dir zu glauben. Ich möchte eben nur nicht, dass Yūri verletzt wird“, er blickte ihn an und wusste, dass seine Mine ausdruckslos war. Er war stolz auf sich. Victor nickte fest. „Ich weiß, dass ich das eigentlich Yūri sagen müsste und das werde ich auch noch...“, Phichit spitzte die Ohren, als er Victor so hörte. Er klang gar nicht mehr so selbstsicher, wie er ihn bisher wahrgenommen hatte. „Das klingt jetzt kitschig, aber... Yūri erscheint mir wie der Sinn des Lebens, den ich bisher gesucht habe...“, er war zum Ende hin immer leise geworden, doch Phichit hatte alles gehört. War das nicht süß? Die beiden sorgten wirklich dafür, dass er Karies und Diabetes bekam, dachte er ungläubig. Doch so einfach konnte er nicht locker lassen. „Warum? Ich meine, so ein Typ wie du kann sich doch sicherlich nicht vor Verehrern retten. Egal ob männlich oder weiblich. Habe ich nicht recht? Du bist gebildet, siehst gut aus und bist obendrein noch steinreich“, Phichit sah ihn wieder aus den Augenwinkeln an und hob eine Augenbraue. Dabei hoffte er, möglichst locker und cool auszusehen. Victor fixierte ihn stirnrunzelnd. „Woher willst du das wissen?“, fragte er. „Beantworte erst meine Frage“, zuckte Phichit mit den Achseln und grinste schief. Victor schnaubte. „Weil Yūri anders ist. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, von einem Partner als Menschen wahrgenommen zu werden“, Victor schaute in die Reste seines Moscow Mule und stocherte mit dem Strohhalm in der Gurkenscheibe herum. „Ist das so?“, Phichit hob eine Augenbraue. Das hieße ja, er stritt das steinreich nicht ab, notierte er sich in Gedanken. Seine Schlussfolgerung aus der Uhr war also nicht falsch oder überzogen. „Das ist so, ja. Schlussendlich war ich immer die Kuh, die man melken konnte. Der Erbe eines erfolgreichen Unternehmens, eine gute Partie. Ich kann meinem besten Freund nur dankbar sein, dass er mich vor mehr dieser Erfahrungen bewahrt hat“, Victor blickte nicht auf und selbst Phichit hörte die Verbitterung in Victors Stimme. Erst dann sanken die Worte ein. „Erbe?“, brachte er fassungslos hervor. Victor sah ihn erschrocken an. Erst da erkannte Phichit, dass Victor dieses Detail wohl nicht hatte ausplaudern wollen. Also war es Zeit, seinerseits ein Friedensangebot zu machen. Er hob die Hände, als wolle er aufgeben. „Das ist eine Sache zwischen euch beiden, da sage ich gar nichts“, versicherte er ihm, da ihm irgendetwas sagte, dass Victor und Yūri in ihrer Beziehung noch nicht an diesem Abgrund angekommen waren. „Das geht mich gar nichts an. Aber ich kann dir eine Sache versichern: Yūri ist ein sehr aufrichtiger Mensch. Er hätte sich vermutlich auch in dich verliebt, wenn er dich unter einer Brücke lebend vorgefunden hätte. Aber nur so unter uns gesagt: Er hat durchaus etwas dafür übrig, dich im Anzug zu sehen“, er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Victor schien dabei, noch etwas zu sagen, doch er legte schnell einen Finger auf seine Lippen, denn er sah, wie sich Yūri den Weg zu ihrem Tisch zurück bahnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)