Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 20: Die Zeit fliegt --------------------------- Erschöpft ließ sich Yūri auf die Couch im viel zu stillen Wohnzimmer fallen. Nur eine kleine Lampe neben dem Fernseher brannte, sonst war es dunkel und still in der Wohnung. Wie die Zeit vergangen war. Gefühlt saß er eben noch neben seinen Freunden und hatte den Auftritt von Leo in der Detroiter Eishalle gesehen und nun saß er alleine in ihrer Wohnung. Er hatte gestern nach seiner Landung kurz mit Phichit telefoniert, seitdem aber nichts mehr von ihm gehört. Vermutlich hatte er in New York alle Hände voll zu tun. Trotzdem fühlte es sich komisch an, denn seit sie zusammengezogen waren, war keiner von den beiden mal alleine für eine Weile weg gewesen. Klar, Phichit hatte auch Nachtschichten gehabt, aber zu wissen, dass er erst einmal nicht nach Hause kam, und das für einige Monate, war eben doch irgendwie anders. Yūri lachte leise über sich selbst. „Ich höre mich schon an, als wären wir ein altes Ehepaar...“, seufzte er grinsend und erhob sich. „Hamster füttern, duschen, gegessen habe ich schon...“, zählte er für sich selbst auf. Vor etwas mehr als einer Woche hatte er angefangen, auch alleine Aufträge anzunehmen. Während der Einarbeitung war sein neuer Kollege und Mentor sehr zufrieden mit ihm gewesen, was er auch an seinen Chef weitergegeben hatte. So konnte Yūri dann etwas früher als geplant auch alleine losziehen. Und trotz ein wenig Lampenfieber zu Beginn, war er schnell mit der Arbeit warm geworden. Tatsächlich so warm, dass er bereits seine frühere Stelle gekündigt hatte. Es war nun die erste Woche ohne seinen anrüchigen Nebenberuf und es fühlte sich eigenartig an, nicht abends noch zu arbeiten, wenn 'normale' Leute sich das Abendprogramm im Fernsehen ansahen. Es ging sogar soweit, dass Yūri abends eher rastlos war. Das Fehlen von Phichit machte es nun nur noch schlimmer. Er wollte schon häufiger seine Freunde anrufen, vielleicht noch ein kleines Treffen organisieren, aber hatte immer wieder davon abgesehen, da sie ja auch zur Schule gingen und auch noch arbeiteten. Es fühlte sich einfach nicht richtig für ihn an, ihnen deswegen zur Last zu fallen. Doch was ihn am meisten beschäftigte, obwohl er sich das noch nicht ganz eingestehen wollte, war, dass er keine Chance gehabt hatte, sich von Victor zu verabschieden. Er hatte es sich fest vorgenommen. In diesen zwei Wochen hatte er es ihm sagen und warten wollen, was der andere aus dieser Information gemacht hätte. Er hatte von verschiedenen Szenarien geträumt. Hatte geträumt, wie Victor es abtat, als ginge es ihn nichts an oder auch, wie er ihn bat, sich doch einmal zu treffen. Es waren die wildesten Ideen dabei herausgekommen, doch schlussendlich blieb die Realität: Victor hatte nicht mehr angerufen. Schon wieder lachte Yūri leise, doch nun war es eine Spur bitterer. Was hatte er sich denn auch gedacht? Ich könnte dich nicht vergessen... Yūri, hallte Victors Stimme in seinem Kopf. Ja, natürlich. Er war der professionelle Mitarbeiter in der Telefonsex-Hotline gewesen. Warum hatte ausgerechnet er sich etwas vorgemacht? Das war doch lächerlich. Yūri hätte sich für seine Gedanken am liebsten geohrfeigt. Stattdessen rieb er sich frustriert den Nacken, während er den Hamsterkäfig wieder verschloss und noch einmal nachschaute, ob auch tatsächlich keiner der drei Insassen ausbrechen konnte. Yūri nahm das Ganze zum Beweis, dass er für diesen Job von Anfang an nicht geeignet gewesen war. Immerhin war ihm das passiert, was normalerweise die Mitarbeiter mit ihren Kunden machen sollten. Nur hatte Yūri dafür Geld bekommen, in seinen Fantasien mit Victor einzutauchen. Auch nicht das Schlechteste, das musste er zugeben, aber dennoch – jetzt am Schluss – wahnsinnig unbefriedigend. Denn er hatte nichts, was er greifen konnte. Ihm blieben lediglich die Bilder in seinem Kopf. Kein Gesicht, an das er sich erinnern konnte, nur eine Stimme, die er dafür jedoch für immer in seinem Kopf abspeichern wollte. Er hatte sogar mehr als einmal überlegt, den Job wieder anzufangen. Aber zwei Jobs parallel laufen zu lassen? Nein, da wusste er schon vorher, dass er das nicht schaffen würde. Doch manchmal erwischte er sich bei der Frage, ob Victor in der Zwischenzeit einmal angerufen und festgestellt hatte, dass Yūri nicht mehr dort arbeitete. Hatte er es überhaupt gemerkt? Oder hat er sich einfach mit dem nächstbesten ehemaligen Kollegen verbinden lassen? Hatte er genauso viel Spaß mit einem anderen? Vielleicht sogar mehr? Oder hatte er dann einfach aufgelegt? War er traurig gewesen? Oder hatte er bei einem anderen Trost gesucht? Mit Sicherheit, so oft wie er angerufen hatte... Es gab so viele Kollegen, wahrscheinlich hatte er sich einfach jemanden empfehlen lassen oder probierte sich jetzt fröhlich durch die Mitarbeiterschar. Vielleicht machte er sich auch eine Liste, um herauszufinden, wer sein Ersatz werden sollte? Nun war Yūri wirklich kurz davor, sich zu ohrfeigen. Er wusste schon aus Erfahrung, dass wenn er noch länger die Gedanken zuließ, er unweigerlich in eine Spirale schlechter Gedanken versank. Am liebsten hätte er sich betrunken, denn für eine Runde Joggen war es nun schon viel zu spät. Er hatte Phichit versprechen müssen, im Dunkeln nur noch belebte Straßen zu betreten und da wollte er ganz sicher nicht durch joggen. Und obwohl Yūri wusste, dass Alkohol nie eine Lösung war, zumindest wenn man im nicht chemischen Sinne dachte, aber manchmal wollte er einfach seinen blöden Kopf mit den dazugehörigen Gedanken ausschalten. Doch dieses Vorhaben konnte er direkt schon wieder streichen, immerhin hatten sie kein Alkohol im Haus. Böse Zungen würden an dieser Stelle vielleicht behaupten, dass es daran lag, dass Yūri betrunken etwas... Munterer als sonst war. Und da sich Yūri dann am nächsten Tag immer wegen den Geschichten schämte, die seine Freunde ihm natürlich brühwarm unter die Nase rieben, war das für Yūri normalerweise auch vollkommen in Ordnung. Normalerweise. Doch was war an seiner Situation aktuell schon normal? War es normal, dass sein Mitbewohner mindestens 3 Monate in New York war? War es normal, dass er sich nach jemandem verzehrte, den er beim Telefonsex kennengelernt hatte? Wobei er NICHT der Kunde gewesen war? Und was war schon normal...? Eine kalte Dusche war normal. Und dann würde er hoffentlich nicht mehr so viel Unfug denken. Er nickte vehement, als wollte er seinen Entschluss damit noch einmal unterstreichen und ging in Richtung Badezimmer. Wenn er fertig war, konnte er einmal versuchen, per Skype seine Familie anzurufen, immerhin waren sie ja 13 Stunden voraus und somit schon im Morgen. Ansonsten würde er sie einfach mal über das Festnetz anrufen. Ein Telefonat mit seiner Mutter hatte ihn schon so manche Sorgen vergessen lassen. Während Makkachin fröhlich ins Wohnzimmer sprang, warf Victor elanlos die Leine über den Haken. Sein Handy verband sich automatisch wieder mit seinem Musiksystem in der Wohnung und die nächste melancholische Schnulze dudelte vor sich hin. Er war nicht in der Laune gewesen, eine seiner Playlists auszusuchen, stattdessen hatte er aus einer Laune raus die vorgeschlagene Playlist „Stimmung: Melancholie“ ausgewählt. Und so plärrten momentan Ry X, Damien Rice, Coldplay und Konsorten durch seine Lautsprecher auf ihn ein. Für seinen Geschmack viel zu laut, aber viel leiser ging auch nicht mehr und die Stille machte ihn noch wahnsinniger. Dabei war am Anfang alles so gut gewesen. Yuri war bei dem Wettbewerb Erster geworden. Mit einigen Punkten Abstand sogar. Victor war so stolz gewesen, dass er sie alle noch zum Essen eingeladen hatte und sie hatten einen schönen Abend miteinander verbracht, hatten viel gelacht und geredet. Es hatte sich angefühlt, als seien sie alle eine normale, große Familie und das hatte Victors Herz warm werden lassen. Er hatte sogar gesehen, wie Yuri und Otabek heimlich ihre Nummern ausgetauscht hatten, was Victors Grinsen nur noch größer hatte werden lassen. Doch seit Yuri am Montag bereits wieder, sehr zum Widerwillen beider, abgereist war, fühlte sich Victors große Wohnung viel zu leer und viel zu leise an. Makkachin gab natürlich sein Möglichstes, um Victors Laune zu bessern, aber auch er stieß da an seine Grenzen. Also hatte sich Victor in die Arbeit gestürzt. Alan Aaronovitchs nächstes Meisterwerk war an den Druck übergeben worden und er musste mit dem Exzentriker wieder einmal die Promotion seines Werkes ausdiskutieren. Es war immer wieder eine Kunst Alans Meinung 'Der Schinken verkauft sich so schon gut genug und wofür sollten wir eine 5. Fortsetzung bewerben? Wenn wer den ersten Band nicht hat, interessiert ihn die Fortsetzung einen feuchten Furz' und die des Verlags 'Bei dem Gehalt und den Prämien muss das Buch auf sämtlichen Bestsellerlisten auf Platz 1 stehen' unter einen Hut zu bringen. Natürlich wussten sie alle, die Wahrheit lag irgendwo dazwischen. Doch wenn man direkt an der Schmerzgrenze ansetzte, hatte man keine Möglichkeit, sich runterhandeln zu lassen, ohne dass es wirklich weh tat. Doch die erhoffte Lesetour hatte sich Victor direkt abschminken können. Am Ende hatten sie sich darauf einigen können, dass der Laden, der die meisten Ausgaben innerhalb der ersten Woche verkaufte, eine exklusive Autogrammstunde gewinnen würde. Das würde alles relativ kurzfristig ablaufen, denn so etwas machte natürlich wenig Sinn, wenn dann das Buch bereits seit einem halben Jahr im Verkauf war. Und doch war es eine ziemlich gute Motivation für die Buchhandlungen, das Buch möglichst prominent zu platzieren, selbst zu bewerben und das Personal darauf aufmerksam zu machen. Immerhin wusste man, dass Alan Aaronovitch so gut wie keine öffentliche Auftritte absolvierte und somit konnte man sich denken, dass Fans aus dem ganzen Land zu diesem einen Laden gepilgert kamen. Zumindest hoffte das Victor. Alan hingegen, da war er sich ziemlich sicher, hoffte das genaue Gegenteil, damit er Victor mit seinem 'Hab ich es dir nicht gesagt?'-Blick anschauen konnte und ihm zukünftig bei allen Vorschlägen diesen einen Tag unter die Nase reiben konnte. Er konnte nicht in Worte fassen, wie sehr er sich den Erfolg dieser Aktion wünschte. Schon allein, um mit einem selbstzufriedenen Grinsen Alan anschauen zu können. Aber nicht nur die Fortsetzung der Loch-Leven-Saga hatte ihn ziemlich eingespannt. Eine Grippewelle hatte gefühlt die halbe Redaktion ins Bett verfrachtet und so hatte er neben seiner eigenen, nicht geringen Arbeit, auch noch einige Dinge seiner Kollegen übernommen. Über zwei Wochen war er der Erste morgens auf der Etage und abends der Letzte geworden. Aus Mitleid hatte ihm Sarah sogar ab und an einen Caramel Macchiato vom nächsten Coffeeshop mitgebracht. Das war immer ein kleiner Lichtblick für ihn gewesen. So hat er sich durch Manuskripte, Designvorlagen, Autorenbesprechungen und Verlagsmeetings gekämpft und war abends total erschöpft ins Bett gefallen. Noch ehe er es wirklich verstanden hatte, waren 2 Wochen vorbei gewesen und plötzlich, als hätte jemand den Schalter umgelegt, waren alle wieder da gewesen und der Alltag war bei Feltsman Publishing eingekehrt. Er hatte sich heute Abend zufrieden vor sich her summend in die Dusche geworfen, hatte sich mit ungefähr genauso guter Laune ein Abendessen zubereitet und dann war sein Blick kurz zum Telefon gewandert. Natürlich hatte er in den letzten zwei Wochen hier und da an Yūri gedacht. Er hatte schon einige wundervolle und vor allem befriedigende Momente geteilt, wie konnte er ihn da vergessen? Und auch 'hier und da' war sicherlich ein wenig untertrieben gewesen. Doch das war immer sein Bonbon gewesen. Sein Leckerli. Seine Belohnung, wenn er den ganzen Trubel durchgestanden hatte. Und dieser Tag, diese Belohnung hätte heute sein sollen. Wäre da nicht die Bandansage gewesen, dass diese Nummer nicht vergeben sei. Verwirrt und mit zusammengezogenen Augenbrauen hatte er die Hauptrufnummer gewählt und da war diese Auskunft, die ihm ein wenig den Boden unter den Füßen weggezogen hatte: „Bitte entschuldigen sie, aber Yūri steht nicht mehr zur Verfügung. Soll ich sie mit jemanden anderen verbinden? Ich könnte ihnen Gravin empfehlen.“ Gravin... Wer hieß schon Gravin?! Vor allem, wer wollte diesen komischen Gravin? Victor ganz sicher nicht. Er hatte einfach aufgelegt. Wie im Schock hatte er sich erst versucht, mit Musik und Arbeit zu betäuben, doch dann war er mit Makkachin rausgegangen. Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte oder verwirrte, dass Yūri dort nicht mehr arbeitete oder es ihn so sehr beschäftigte. Und was war nun das Gefühl, das er nun hatte? Wut, Enttäuschung, Verwirrung? Doch noch bevor er seine Gefühle deuten konnte, kam ihm ein Gedanke, der alles nur noch schlimmer machte: Was ist, wenn Yūri ihn blockiert hatte? Immerhin hatte die Dame in der Zentrale 'nicht mehr zur Verfügung' und nicht 'arbeitet nicht mehr bei uns' oder so etwas ähnliches gesagt. Konnte das wirklich sein? Hatte er etwas falsch gemacht? Eine Grenze unbewusst überschritten? Angestrengt versuchte er sich das letzte Gespräch noch einmal in Erinnerung zu rufen. Doch ihm fiel nichts ein. Beim letzten Mal war Yūri selbst für ihn überdurchschnittlich aktiv gewesen. Das ganze Szenario war seines gewesen, Victor hatte sich nur allzu gerne, geschwächt von der Gegenreaktion der Impfung, fallen gelassen und hatte genossen. Und wie er genossen hatte. Er konnte sich noch genau die Bilder vorstellen, wie Yūris Hände über seinen Körper gefahren waren und die schmutzigen Dinge, die er ihm ins Ohr geflüstert hatte. Ein erregtes Schaudern ging durch Victors Körper. Irgendwie fühlte sich Victor betrogen, doch auch die Sorge, dass er irgendetwas falsch gemacht hatte, nagte an ihm. Hatte er in der Ekstase des Höhepunktes etwas Unangemessenes oder Beleidigendes gesagt? Eigentlich war er nicht der Typ für so etwas, aber wenn man nicht ganz Herr seiner Sinne war, wie konnte man es wissen? Wie würde er es jetzt noch jemals herausfinden können? Er machte sich keine Illusionen. Er konnte vielleicht noch einmal in der Vermittlung der Hotline anrufen. Aber würden sie ihm eine Auskunft geben? Durften sie das überhaupt? Oder würden sie ihm vielleicht nur eine Lüge auftischen, damit er aufgab? Die Gedanken hatten ihn den ganzen kurzen Spaziergang begleitet, an den er sich im Nachgang kaum erinnern konnte. Nun saß er auf seinem Sofa, das ihm in diesem Moment zu weich vorkam, in seiner Wohnung, die ihm bereits seit 2 Wochen zu leer und still war und fragte sich, wo er tatsächlich im Leben stand. Bisher war er der Meinung gewesen, dass er ein ziemlich erfülltes Leben hatte und gut klar kam. Natürlich hatte er zwischendurch oft genug bemerkt, dass er sich eigentlich nur etwas vorgemacht hatte, doch nun, mit einem Schlag, traf ihn die Wahrheit hart und unvermittelt. Im Grunde lebte nur für die Arbeit, sonst hatte er nichts. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)