Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Kapitel 4: Zurück in den Alltag ------------------------------- "Na ja, jedenfalls läuft es darauf hinaus, dass meine Arbeitszeiten sich wieder komplett geändert haben und den Rest kennst du ja", beendete Phichit seine Erklärung über die aktuelle Situation im Krankenhaus. "Und deswegen muss auch unser heutiger Filmabend ausfallen", schob er seufzend hinterher. "Aber vielleicht kannst du ja deine Arbeit auf heute legen und dafür morgen Abend dafür Zeit einplanen?", fragte er hoffnungsvoll, als Yūri weiter still blieb. Dieser legte nur den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. Es verging eine Weile, bis sich Phichit wieder zu Wort meldete. „Ach, Yūri! Sei doch nicht so. Es tut mir doch leid! Das habe ich eben schon gesagt!“ Das riss Yūri aus seiner Starre. „Entschuldige Phichit. Ich bin nur etwas müde heute. Arbeit geht ja vor, das ist kein Problem. Wegen morgen muss ich mal schauen, ich habe keine Ahnung...“ … ob er vielleicht morgen wieder anruft?, kam ihm wieder in den Sinn. Er schüttelte vehement den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. „Ich versuche es zu klären. Ich glaube, ich sollte mal eine Runde laufen, habe seit der letzten Vorlesung irgendwie Kopfschmerzen“, log er und war sich gleichzeitig ziemlich sicher, dass Phichit ihn durchschaut hatte, denn er hob nur fragend eine Augenbraue. Doch sein bester Freund kannte ihn gut genug, um das Thema nicht weiter anzuschneiden. Er nickte. „Dann solltest du bald los. Heute Abend soll es noch regnen“, gab Phichit ihm den Tipp. „Ich räume ab, wenn du sofort los willst“, schlug er vor und deutete dabei auf den gedeckten Tisch. „Das wäre super. Dann gehe ich mich umziehen“, dankbar nahm Yūri das Angebot an und stand auf. Innerhalb von wenigen Minuten stand er so im Flur vor der Haustür und band sich seine Laufschuhe. „Bist du schon weg, wenn ich wiederkomme?“, fragte er in die Wohnung hinein. „Ja, ich mach mich so in 20 Minuten auf den Weg“, Phichits Kopf tauchte hinter der Ecke auf, die den Flur und das darin mündende Wohnzimmer von der Küche abtrennte. „Dann einen ruhigen Dienst!“, wünschte er ihm. „Danke, das werde ich brauchen. Aber so viel Glück habe ich sicher nicht“, maulte er heiter zurück. Sie beide wussten, auch wenn er viele Gründe hatte, sich zu beschweren: Arzt zu sein, war für Phichit kein Beruf, es war eine Berufung. Kurz darauf verließ Yūri die Wohnung und wäre beinahe über 2 Gläser Marmelade gestolpert, die eine Nachbarin seinem Mitbewohner hingestellt hatte. Er rollte die Augen und stieg darüber. Sollte Phichit das doch aufsammeln. Bevor er die Tür zuzog, prüfte er noch einmal, ob er den Schlüssel mitgenommen hatte und steckte sich dann die Kopfhörer in die Ohren, um sich ausreichend beim Laufen zu motivieren. In seiner Heimat hatte er das nie gemacht. Er hatte es geliebt, mit den Leuten auf seiner Runde kurz ein paar Worte auszutauschen und irgendwie kannte auch jeder jeden. Hier genoss er die Anonymität und wollte sie auch gerne Aufrecht erhalten. Er war auch eh nie der Typ, der Unbekannte von sich aus Ansprach und es irritierte ihn immer, wenn Unbekannte ihn nach mehr als nur den Weg fragten. Als Phichit und er nach einer Wohnung gesucht hatten, war eine der Vorgaben gewesen, dass es ein ruhigerer Teil der Stadt sein musste. Das hatte den Nachteil, dass er einen weiteren Weg zur Uni hatte. Aber da er eh mit dem Auto fuhr, da er wenn möglich Bus, U- oder S-Bahn mied. Das war für ihn generell sehr praktisch, da er so auch flexibler zu den Leuten fahren konnte, wenn mal wieder jemand ein Problem mit seinem PC oder Internet- und Telefonanschluss hatte. Gerade wenn er so flexibel sein konnte, waren die Betroffenen am Spendabelsten. Das hatte er schnell gemerkt. Und sein Zweitjob nahm er in der Regel abends wahr. Er hatte da selten feste Arbeitszeiten, nur 2 bis 3 feste Termine im Monat. Bei dieser Hotline wurde man nach angenommenen Anrufen und deren Dauer bezahlt. Damals, als er den Job angenommen hatte, war er wirklich verzweifelt gewesen. Niemand wollte seine Dienste für Computer-Reparaturen etc. in Anspruch nehmen und seine Ersparnisse, um Phichit auf diese Uni bzw. in diese Stadt zu folgen, waren langsam aufgebraucht. Außerdem hatte er das Auto ohne Winterräder gekauft gehabt und es war schon August gewesen. Unter normalen Umständen, hätte er sich das wohl nie getraut. Doch nachdem er ein paar anonyme Gespräche mit Kollegen geführt hatte und ein paar Kniffe erzählt bekommen hatte, merkte er, dass es Spaß machen konnte, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Den Verführer zu spielen und andere zu ihrem Höhepunkt zu bringen. Wenn er allerdings so genau außerhalb seiner Arbeitszeit darüber nachdachte, schoss ihm direkt die Röte ins Gesicht. Und nicht nur das, unweigerlich wanderten seine Gedanken wieder zu diesem einen Kunden am vorherigen Abend. Es hatte langsam und schüchtern angefangen, doch er war dann schnell aus sich herausgekommen. Und diese wundervoll sanfte Stimme. Und wie er seinen Namen ausgesprochen hatte... Yūri schüttelte wieder den Kopf als er um die Ecke in einen Park einbog. Er hörte Rufe durch seine Kopfhörer, doch ignorierte sie. Doch als ihn was von der Seite traf, schrie er auf. Er schloss die Augen fest, während er rückwärts auf den Fußgängerweg fiel und etwas fast die Luft aus seiner Lunge presste. Die kleinen Kopfhörer fielen ihm bei dem Aufprall aus den Ohren. Er wollte sich etwas zur Seite bewegen, doch der Druck wollte nicht von seinem Körper weichen und er spürte etwas nasses, warmes über sein Gesicht... Blinzelnd öffnete er ein Auge und sah etwas Rosanes vor seinem Auge baumeln. Plötzlich nahm er ein hechelndes Geräusch war und als er das zweite Auge öffnete, erkannte er einen bräunlichen, großen Pudel, der ihn mit purer Verzückung anschaute. „Makkachin!“, hörte er eine entsetzte Stimme näherkommen. Yūri lachte leise und richtete sich auf, während er den Hund am Kopf kraulte. Dieser bellte aufgeregt und schaute ihn an. „Na, da ist einer verschmust“, lachte Yūri und nahm nun auch die zweite Hand dazu, während er immer noch auf dem Boden saß. „Ist alles in Ordnung? Es tut mir ja so leid! Ist ihnen etwas passiert? Ich habe einen Moment nicht aufgepasst und dann ist Makkachin losgelaufen. Oh mein Gott, haben sie sich verletzt?“, die Stimme war schon leicht hysterisch, als er seinen Kopf zur Quelle hin wandte. Das Mädchen war vielleicht 15 oder 16 Jahre, aber kreidebleich vor Schreck. „Mir geht es gut, keine Sorge“, Yūri lachte, während er weiter den Hund kraulte. „Ist das deiner?“, wollte er wissen, doch das Mädchen schüttelte sofort den Kopf. „Von unserem Nachbar, aber der ist tagsüber immer arbeiten und dann gehe ich mit ihm raus“, sie grinste schief. „Na, dann solltest du aufpassen, nicht dass dein Nachbar noch Ärger bekommt, weil sein Hund wie wild durch die Gegend rennt und Leute umwirft“, zwinkerte er ihr zu. Doch das schien völlig seine Wirkung zu verfehlen. Sie schaute ihn mit großen Augen an und schlang sofort die Arme um den Hals des Hundes, zog ihn etwas von ihm weg. „Nein! Bitte nicht! Das würden sie mir doch nicht antun, oder? Meine... meine Mutter ist fast den ganzen Tag nicht zu Hause. Makkachin ist der einzige Grund für mich mittags nach der Schule nach Hause zu kommen. Wenn er... wenn er...“, sie fing an zu stammeln und kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Grundgütiger, nein! Es tut mir leid, das war ein Scherz“, es tat Yūri furchtbar leid, dass er dem Mädchen einen solchen Schrecken eingejagt hatte. „Mir ist ja nichts passiert. Ich wollte nur... Es war ein dummer Spruch, damit du besser auf ihn aufpasst. Es kann ja auch sonst was passieren oder er auf die Straße rennen“, nun kämpfte er mit den Worten, er war fassungslos, dass ein solch unbedarfter Spruch so nach Hinten hatte losgehen können. Das Mädchen nickte und vergrub ihr Gesicht ins wollige Fell des Pudels, der immer noch fröhlich hechelnd da saß und auf mehr Streicheleinheiten wartete. Yūri rappelte sich auf und bot dem Mädchen seine Hand an. „Komm steh auf. Ich bin Yūri und du?“, stellte er sich im freundlichen Ton vor. „Katya “, nur zögerlich nahm sie die Hand an und ließ sich beim Aufstehen helfen. Die Hundeleine dabei aber fest im Griff. „Und das ist Makkachin“, stellte sie den Pudel noch einmal vor. „Freut mich“, lachte Yūri. „Stürmische Art des Kennenlernens, aber auch mal was anderes.“ Nun stimmte sie auch ins Lachen mit ein. „Wir wohnen gleich da vorne“, Katya deutete mit ihrer Hand auf einen teuer aussehenden, freistehenden Wohnkomplex. „Willst du dir vielleicht das Gesicht waschen?“, sie grinste schief. „Oh ja, das wäre göttlich.“ „Victor“, rief Katya fröhlich aus, als sie ihm die Tür öffnete. „Was führt dich hierher?“ Victor streckte den Arm aus und hielt ihr eine Tüte unter die Nase. „Du warst beim Red Dragon?“, fragte sie, mit vor Begeisterung, glänzenden Augen. Victor nickte. „Einmal Nummer 37 mit extra Erdnuss-Sauce. Deine Mutter hat mir geschrieben, dass es bei ihr etwas später wird und gefragt, ob ich dafür sorgen könnte, dass du auch ordentlich zu Abend isst. Angeblich hast du in der Vergangenheit immer mal wieder Mahlzeiten übersprungen, junge Dame“, der mahnende Ton war nur halb ernst gemeint. „Victor“, maulte sie ähnlich theatralisch zurück. „Ich mag einfach nicht alleine kochen.“ „Na, dann kochen wir eben gemeinsam. Makkachin freut sich über Besuch“, er bedeutete ihr, ihm in seine Wohnung zu folgen und sie gehorchte ihm, zog die Tür hinter sich zu und schloss die Wohnungstür ab. „Und? Ist irgendetwas passiert?“, fragte er über die Schulter. „EskönnteseindasMakkachinabgehauenistundjemandenumgerannthat“, murmelte die leise vor sich her. „Was hat Makkachin?“, Victor blieb abrupt stehen und Katya zog den Kopf ein. „Ist etwas passiert?“, wollte er sofort wissen. Sie schüttelte vehement den Kopf. „Ein junger Mann hat eine ordentliche Gesichtswäsche bekommen, aber mehr nicht“, sie traute sich Victor nicht in die Augen zu gucken. „Puh. Gott sei Dank. Aber pass das nächste Mal auf. Auch wenn er meist lieb und brav ist, er hat erstaunlich viel Kraft“, Victor zwinkerte ihr über die Schulter zu und schloss seine Wohnungstür auf. Makkachin begrüßte ihn überschwänglich, sodass sich Victor nur mit Mühe und Not auf den Beinen halten konnte. Er drückte ihr die Tüte mit dem Essen in die Hand und beugte sich zu seinem Hund hinab. „Da hat jemand aber Kuscheleinheiten nötig“, säuselte er, während er den Kopf des Hundes kraulte. „So lange war ich doch gar nicht weg, mein Junge. Tu doch nicht immer so, als würde man dich vernachlässigen. Was sollen die Leute von mir denken?“ Katya fing an zu lachen. „Selbst bei deinem Hund ziehst du die theatralische Nummer ab!“, stellte sie fest und drückte sich an den beiden vorbei, um in die Küche zu gehen. Der Teenager war oft genug in der Wohnung, um zu wissen, wo sie Teller und Besteck finden konnte. „Das verletzt mich jetzt aber“, schniefte Victor und hielt nur kurz mit dem Kraulen inne, um sich mit der freien Hand ans Herz zu fassen. „Aber wie du siehst, habe ich hier einen hervorragenden Lehrmeister, der mich immer noch um Klassen schlägt“, damit begann er, Makkachins Ohren zu kraulen. „Aber erzähl mal“, setzte er an, als er sich wieder aufrichtete und seinen Mantel auszog. Direkt danach entledigte er sich seiner dunkelgrauen Anzugsjacke und lockerte sich ein wenig die maigrüne Krawatte. Er krempelte sich die Ärmel seines weißen Hemdes etwas hoch und strich den Stoff seiner Weste glatt. „Du bist heute so schick.“, stellte nun auch Katya fest. „Ich meine, du trägst ja immer Anzug, aber einen Dreiteiler sieht man dann doch nicht so häufig an dir.“ Victor winkte ab. „Meeting mit dem anderen Bereichen und dem Vorstand. Zahlen für Auflagen besprechen und so weiter...“, erklärte er und rollte dabei mit den Augen. „Aber ist dein Onkel nicht Geschäftsführer? Macht es das nicht einfacher?“, wollte sie wissen. Victor lachte, es klang eine Spur bitterer, als er es vorgehabt hatte. „Das denken viele. Aber eher ist es andersrum der Fall. Mein Onkel erwartete nichts anderes als Perfektion von mir. Vermutlich darf ich mir auch morgen anhören, was ich alles falsch gemacht habe“, er setzte sich an den Tisch, den Katya bereits gedeckt hatte und nahm eine von den Wasserflaschen, die er dort immer stehen hatte. Wortlos schenkte er ihr ein Glas ein und dann sich selbst. „Klingt nach Spaß“, sie zog eine mitleidige Grimasse. „Oh ja, wenn man zu der Sorte Mensch gehört, die auch auf Schmerzen stehen“, doch als ihm wieder einfiel, dass er mit einer Minderjährigen sprach, wurden seine Augen kurz groß und er presste die Lippen aufeinander. „Erzähl mir doch einfach von dem jungen Mann, den du getroffen hast!“, lenkte er vom Thema ab. Katya kicherte, doch ließ sich darauf ein. Immerhin hatte Victor ihr etwas zu essen von ihrem Lieblingsrestaurant mitgebracht. „Ähm... Also lass mich überlegen. Er war Asiate und trug eine Brille. War etwas kleiner als du, aber schien Sport zu machen. Er war am Joggen, als Makkachin ihm einmal durch das Gesicht geschlabbert hat“, erzählte sie und schaufelte sich einen Löffeln in den Mund. „Also einmal quer durchs Gesicht?“, hakte Victor nach und Katya nickte kauend. Victor seufzte und fasste sich kurz an die Stirn. „Ich habe ihn mit nach Hause genommen, damit er sich das Gesicht waschen konnte.“, erzählte sie weiter, als sie ihren Bissen hinuntergeschluckt hatte. „Du hast was?“, Victor fiel alles aus dem Gesicht. „Du warst alleine! Es hätte weiß Gott was passieren können! Du kannst doch nicht einfach einen Fremden in die Wohnung lassen!“ Victor war fassungslos und erschüttert. Gleichzeitig aber auch unendlich dankbar, dass offensichtlich nichts passiert war. „Ach, das war nicht so einer. Der sah ganz lieb aus. Wahrscheinlich irgend so ein Nerd, der alle Schaltjahre mit einem Mädchen spricht“, tat sie das einfach so ab. „Mach. Das. Nie. Wieder.“, meinte Victor ernst. „Du kannst den Leuten nur vor den Kopf gucken, Katya. Das musst du mir versprechen, sonst kann ich dich niemals mehr guten Gewissens mit Makkachin rauslassen. Du kanntest doch noch nicht einmal seinen Namen!“ „Doch! Er hat sich mir vorgestellt. Wie war er noch gleich... Jaromir? Nein... Jurij... Nein, das war es auch nicht. Yusri? Ja, ich glaub es war Yusri oder so ähnlich“, überlegte sie laut. Victor stützte seinen Ellbogen auf dem Tisch ab und legte seine Stirn in der Hand ab. „Versprich mir nur einfach, dass du niemals mehr einen Fremden in die Wohnung lässt, wenn niemand da ist. Und das schließt auch diesen Yusri mit ein, verstanden?“, er hob seinen Kopf, um sie mahnend anzublicken. „Ja, Mama“, maulte sie wieder und schob sich einen weiteren Löffel in den Mund. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)