Bird On A Wire von yezz ================================================================================ Prolog: Fuß fassen (Prolog I) ----------------------------- Nachdem er sein Auto in der Tiefgarage abgestellt hatte, streckte er sich ausgiebig. Mit einem geübten Blick in den Spiegel der Sonnenblende kontrolliere er noch einmal den Sitz seiner stahlgrauen Krawatte. Er fuhr mit der flachen Hand über die Schultern seines maßgeschneidertem Anzug aus aschgrauem, leicht glänzenden Stoff. Es war eine Art Ritual geworden, seit er den Posten bei Feltsman Publishing, einer der renommiertesten Verlagshäuser des ganzen Landes, angetreten war. Man musste schon wirklich gut sein, um direkt nach einem Literaturstudium dort anzufangen. Auf der Uni hatten seine Kommilitonen immer gescherzt, dass ein Job als Hausmeister bei Feltsman beliebter war, als der des Redakteurs bei kleineren Verlagen. Nun ja, das hatten sie zumindest so lange getan, bis herausgekommen war, wer er war. Plötzlich hatte man ihn entweder gemieden oder versucht, sich bei ihm einzuschmeicheln, in der Hoffnung, einen der heiß begehrten Plätze zu erhalten. Aber auch endlich in der Berufswelt angekommen, gab es immer noch diese Neider. Leute, die meinten, er habe den Job nur bekommen, weil er der Neffe des Gründers, und gleichzeitig Leiter des Verlags, sei. Jener Mann, Yakov Feltsman, der in der Szene schon fast verehrt wurde, hatte er doch mit 25 Jahren den Verlag gegründet und innerhalb 45 Jahren daraus das gemacht, was er nun war. Yakov Feltsman hatte immer hart für seinen Erfolg gearbeitet und nie Almosen verteilt. Wer nichts taugte, wurde knallhart ausgesiebt. Niemand wusste das besser als er. Immerhin wurde ihm schon zu Beginn seines Studiums gesagt, er solle sich nicht einmal wagen, einen Fuß vor das Verlagsgebäude zu setzen, wenn er nicht als Jahrgangsbester abschneiden würde. Nicht, dass das erst mit dem Studium angefangen hätte. Früher war sein Onkel einmal im Monat bei seiner Tante vorbeigekommen. Doch statt warmer Worte hatte er nur gehört, er solle in der Schule lernen und sich nicht wagen, nur mit einem mittelmäßigen Zeugnis nach Hause zu kommen. Doch Victor hatte nicht wirklich etwas dagegen gehabt. Hatte die Trauer um den Unfalltod seiner Eltern schnell in Schulbüchern und schlussendlich auch in anderen Büchern ertränkt. Alles, was sein Onkel mitgebracht hatte, wurde förmlich verschlungen. Die Bücher zogen ihn in ihre eigene, heile Welt. Retteten ihn vor dem langweiligen Alltag außerhalb der Schule und der strengen Hand seiner Tante. Und so war es kein Wunder, dass er nicht nur die Schule, sondern auch die Eliteuniversität mit Bestnote abschloss. Seufzend griff Victor nach dem Becher Kaffee, den er sich vorher noch in seinem Stammkaffeehaus geholt hatte. Es war 07:55 Uhr. Zeit für das Büro, Zeit für die Neider der unteren Etagen, Zeit für das Gerede hinter seinem Rücken von denen, die es nicht geschafft haben. Scheiterte er, lachten sie höhnisch. Hatte er Erfolg, zerrissen sie sich ihre Mäuler. Aber irgendwann würde er sicher Fuß fassen. Er war ein Kämpfer und ihm machte es nichts aus, was die Leute auf seiner Arbeit über ihn sagten. Er war auf der Arbeit um zu arbeiten, nicht um Freunde zu gewinnen. Wobei Victor zugeben musste, dass bei Weitem nicht alle so waren. Die Kollegen, die direkt unter ihnen arbeiteten oder die, mit denen er zusammenarbeitete, hatte er bald von seiner Kompetenz überzeugen können. Und das reichte ihm auch voll und ganz. Er wusste, dass er es packen konnte und diejenigen, die sich jetzt noch die Mäuler über ihn zerrissen, konnten ihm gestohlen bleiben. Er stieg aus dem Auto und ging festen Schrittes zum Treppenhaus. Eine Hand am Kaffeebecher, die andere an seinem Handy. Er überprüfe schnell seinen Terminkalender, den er immer in seinem Handy abgespeichert hatte. Victor mochte Überraschungen, doch in der Berufswelt musste er erfahren, dass diese meist eher einen negativen Beigeschmack hatten. Daher überließ er nichts dem Zufall. Als sein Blick an einem Termin hängen blieb, seufzte er theatralisch. Heute hatte er noch einen Termin mit dem Bestseller-Autor des Unternehmens. Er war ein begnadeter Kerl, doch... wenn man Victor um eine Einschätzung bitten würde, würde ihm wohl nur das Wort 'speziell' einfallen. Das war noch nicht einmal besonders positiv oder negativ gemeint. Er war halt nun einmal einfach wortwörtlich 'speziell'. Aber auch er war ein Grund, warum Victor von Anfang an einen schweren Stand im Verlag gehabt hatte. Als Neueinsteiger direkt nach noch nicht einmal einem halben Jahr direkt den Bestseller-Autor zugewiesen zu bekommen? Ja, das war damals eine Überraschung gewesen. Eine dieser Überraschungen, die erst einmal mit einem besonders negativen Beigeschmack daher kam. Da waren direkt die Neider, die hinter seinem Rücken tuschelten, was für ein privilegiertes Muttersöhnchen er doch sein. Doch sie hätten nicht verkehrter liegen können. Nicht nur, dass er rein technisch gesehen, gar kein Muttersöhnchen sein konnte, war es nicht unbedingt ein Privileg, mit dieser Person zu arbeiten. Tatsächlich sogar hatte der vorherige Redakteur, der ihn 2 Jahre lang betreut hatte, offensichtlich Luftsprünge gemacht, als er diesen Kerl abgeben konnte. Zusätzlich war er in Victors Büro gekommen, welches er sich mit 2 anderen Redakteuren geteilt hatte und hatte ihm sein aufrichtiges Beileid gewünscht, nun mit dem 'gestörten Drecksack' arbeiten zu müssen. Das hatte Victors Freude doch einen herben Schlag versetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er diesen Redakteurswechsel als Anerkennung seiner bisherigen Leistung gesehen. So kann es gehen – wie gewonnen, so zerronnen. Als Victor auf seiner Etage ankam, wurde er bereits von der Sekretärin begrüßt. „Dir auch einen guten Morgen, Sara. Irgendwas, was ich jetzt schon wissen muss?“, fragte er lächelnd. Sara war eine der Personen, die sich meist neutral ihm gegenüber verhielt. Sie nahm ihn weder in Schutz, noch sprach sie hinter seinem Rücken. Doch noch wichtiger für Victor war: Sie versuchte sich auch nicht bei ihm einzuschleimen. Damit hatte die junge Frau sofort einen Bonus bei Victor. „Bisher ist noch alles ruhig, Victor“, kam es fröhlich zurück. „Du weißt aber, dass heute der Termin wegen dem neuen Manuskript mit...“, fing sie an, doch er winkte ab. „Wie könnte ich das vergessen? Sollte ich den Termin mit ihm jemals vergessen, wäre das mein Todesurteil“, sagte er zwinkernd und ging zu seinem Büro. Er schloss die Tür hinter sich und genoss die Stille. Nach einigen Sanierungsarbeiten und einem Anbau, hatten die Redakteure seit Neustem eigene Büros, was er persönlich als Luxus empfand. Aber wer war er, sich zu beschweren. Heimlich vermutete er, dass Emil seine Finger im Spiel hatte, nachdem er sich irgendwann angewöhnt hatte, kurz vor den Terminen mit Herrn Bestseller-Autor aufzuspringen und hektisch den Raum zu verlassen. Meist war das verbunden mit einem recht leicht zu durchschauenden „Ach? Wer hat bloß an der Zeit gedreht?“ oder „Was? Schon so spät? Ich muss unbedingt weg!“. Ganz zufällig dauerte das, was er dann ganz dringend machen musste auch genauso lange, wie sein Termin. Aber natürlich hatte das rein gar nichts damit zu tun, dass – und da zitierte Victor Emil gerne – 'der größte Spinner der Erde' zu Besuch kam. Er setzte sich an den Schreibtisch und schaute die Manuskripte durch, die er noch zu lesen hatte. Er lag gut in der Zeit. Auch der Stapel mit Probemanuskripten von Autoren, die sich darum bewarben, dass ihre Bücher von ihnen verlegt wurden, waren nicht mehr sonderlich hoch. Je nachdem, wie gut er heute durchkam, konnte er vielleicht auch Hisashi oder Emil noch etwas abnehmen. Also startete er motiviert mit einem letzten Schluck aus seinem Kaffeebecher in den Tag, mit dem Wissen, dass je nach Laune eines gewissen Herrn, ab 14:00 Uhr sein Tag schlagartig kippen konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)