Sayōnara von Maclilly (Kein Abschied ist einfach) ================================================================================ Kapitel 1: »Sayōnara, Seto.« ---------------------------- »Nein … Nein … Sie können doch nicht einfach …«   Seto Kaiba wusste, dass seine Sekretärin ihre Debatte auf verlorenen Posten führte. Sie würde ihn nicht aufhalten können. Allerdings gestand er ihr zu, sich recht ordentlich zu schlagen. Ihre Vorgängerin hatte nur fünf Sekunden durchgehalten – was in etwa die Zeit war, die man benötigte, um das Atrium zu durchqueren. Sie war immerhin schon bei zehn Sekunden.   Elf, zwölf …   Seto Kaiba saß hinter seinem Schreibtisch, der gläsern, sauber und spartanisch eingerichtet war: Moderner Flatscreen-Bildschirm mit höchster Auflösung; ergonomische Tastatur und kabellose Maus; ein gerahmtes Bild von sich selbst und Mokuba beim gemeinsamen Schachspiel als sie noch Kinder waren.   Seine Finger flogen über die Tastatur. Ein rhythmisches Klacken erfüllte den Raum. Trotz der phänomenalen Helligkeit, die durch die drei verglasten Fronten des Büros fiel, brannten an der Decke Leuchten und auf dem Schreibtisch eine Schreibtischlampe. Seto Kaiba sparte nicht. Schon gar nicht Energie.   Dreizehn, vierzehn …   Die Stimme seiner Sekretärin wurde eine Oktave schriller. »Nein. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie hier nicht hinein- … Kommen Sie zurück!« Fünfzehn. Die Flügel der großen Tür aus Holz und Glas wurden übertrieben dramatisch aufgestoßen. Jemand trat über die Türschwelle. Dahinter klackerten spitze Absätze.   Seto Kaiba machte sich nicht die Mühe, von seinem Computerbildschirm aufzusehen. »Mr Kaiba, verzeihen Sie die Störung, es-« Die Sekretärin unterbrach sich selbst. Sie klang inzwischen nicht nur verzweifelt, sondern regelrecht aufgelöst und den Tränen nahe. »Nein, Sie sollen stehen bleiben … Sie dürfen nicht …« Sie fluchte heftig. »Ich warne Sie, wenn Sie nicht sofort stehenbleiben, rufe ich den Sicherheitsdienst-« »Die Security wird Ihnen auch nicht helfen können.« Seto Kaiba hatte sich dazu herabgelassen, sich einzumischen. Aufsehen tat er jedoch nicht. Er unterbrach seine Arbeit auch nicht. Über seine eisblauen Augen rauschten die Spiegelungen von Ziffern und lateinischen Buchstaben. »Nicht bei dem. Die können Schwachsinn auch nicht heilen.«   Er wusste, dass seine Sekretärin ihn verdutzt anglotzte, als hätte er eben verkündet, sich ins Weltall katapultieren zu lassen. Seine Lippen kräuselten sich. Er hasste es, wenn er seinen Mitarbeitern erklären musste, wie sie ihren Job zu erledigen hatten. »Sie können gehen.« Die Sekretärin zögerte; besaß aber offenbar genügend Anstand (oder Angst), ihre Zweifel nicht offen zu zeigen. Sie hing also an ihrem Job. Sie machte kehrt und schloss beide Türflügel sorgfältig hinter sich.   Yugi Mutou blieb. Natürlich wusste Seto Kaiba, dass nicht der »echte« Yugi Mutou vor ihm stand. Nur einem Narren konnte entgehen, dass es zwei Yugis gab. Und Seto Kaiba war kein Narr. Das hier war nicht der Yugi Mutou, der auf offiziellen Dokumenten, in Datenbanken und auf Klassenlisten existierte. Das hier war nicht der »echte« Yugi Mutou. Aber das war für Seto Kaiba nur eine Nebensächlichkeit. Für ihn war das hier der wichtige; der richtige Yugi. Der Yugi, den er einst versucht hatte umzubringen. Der Yugi, der im Gegenzug seine Seele zerschmettert hatte. Der Yugi, mit dem er sich seine Gefechte lieferte. Der Yugi, der in der Welt von Seto Kaiba existierte. Der andere, »echte« Yugi war nur ein Statist. Für Seto Kaiba spielte er eigentlich keine Rolle.    »Was willst du?«, fragte Kaiba geringschätzig, ohne sich von seinem Desktop abzuwenden.   »Hallo, Kaiba«, sagte Yugi. Seine Stimme war eine Nuance tiefer, erwachsener als die des »echten« Yugis. »Wie-« »Erspar mir das«, fuhr ihm Kaiba knapp über den Mund, »Ich habe kein Interesse daran, meine Zeit mit dem Austausch von überflüssigen Höflichkeiten zu verschwenden. Ich habe Geld, mir geht es gut. Was willst du?« Yugi antwortete nicht. Unaufgefordert setzte er sich auf einen Business-Sessel, der mit weißen Leder bespannt war. Er überschlug die Beine. Niemand hatte ihn gebeten, Platz zu nehmen. Nur sehr wenige Menschen besaßen den Schneid, sich Seto Kaiba so offensichtlich zu widersetzen. Kaiba konnte nicht beurteilen, ob ihm dieses Verhalten zusagte. Er war unschlüssig, wie er darauf zu reagieren hatte, was, erstens, ausgesprochen selten (fast nie) vorkam und ihn, zweitens, nicht sonderlich erfreute. Leidlicherweise war zu meist dieser Yugi dafür verantwortlich, wenn Seto Kaiba das Gefühl hatte, die Kontrolle zu verlieren. Und Seto Kaiba verlor nicht gern die Kontrolle. Überhaupt verlor er nicht gerne. »Yugi, ich habe keine-« »Ich bin hier, um mich zu verabschieden.«   »Du verreist?« Zum ersten Mal ließ sich Kaiba dazu herab, von seinem Computerbildschirm aufzusehen. Das war viel wert. Denn Seto Kaiba liebte seinen Computer fast so sehr wie sich selbst. Seine Arbeit unterbrach er jedoch nicht. Seine Augen waren schmal geworden. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sich nicht viel verändert. Yugi Mutou war immer noch zu klein; seine Haare waren immer noch zu bunt und er trug immer noch zu viel Leder. Um seinen Nacken hingen inzwischen drei Ketten: Das mit Nieten besetzte Lederhalsband; die schwere, grobgliedrige Eisenkette, an der das Millenniumspuzzle hing, und eine dünne Silberkette, deren Anhänger unter einem enganliegenden, schwarzen Shirt verschwand.   An Yugis Lippen zupfte die Andeutung eines Lächelns. »Ja, so könnte man es ausdrücken«, sagte er in einem Tonfall, der unmissverständlich verdeutlichte, dass Seto Kaiba etwas entging, »Ich verreise.«   Ihre Blicke begegneten sich. In Yugis Augen, die bei diesem richtigen, falschen Yugi nicht violett, sondern blutrot, stechend und angenehm warm waren, funkelte Amüsement. Seto Kaiba lenkte seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf den Monitor. Seine Finger fühlten sich merkwürdig steif an und in der Konsequenz schlug er fester auf die Tasten ein. Er weigerte sich, zuzugeben, dass es ihn in irgendeiner Form interessierte, was Yugi tat. Tatsächlich war ein nicht insignifikanter Teil seiner eigenen Person sogar felsenfest überzeugt, dass es ihn wirklich nicht interessierte. Als problematisch erwies sich jedoch jener klägliche Teil, von dem Kaiba meist behauptete, ihn gar nicht erst zu besitzen. Der Teil, der dieses schreckliche Durcheinander aus Gefühlen, Emotionen und Empfindungen beherbergte, und an den Yugi so gerne mit seinem »Macht-der-Freundschaft«-Unsinn (wahlweise auch zu ersetzen durch »Stärke-der-Einigkeit« oder »Kraft-des-Vertrauens« – ehrlich, hatte Mutou irgendwo eine Vorlagensammlung voller phrasenlastiger, moralisch überkandidelter Floskeln, die er vor jedem Duell auswendig lernte?) appellierte. Er bestand darauf, dass es Kaiba nicht vollkommen egal war, wohin sich sein ärgster Rivale verdrückte.   Seto Kaiba presste die Kieferknochen aufeinander, als hätte er Zahnschmerzen. Er suchte nach einer Lösung. Schließlich ließ er sich zu einem Kompromiss hinab – etwas, was er in der Geschäftswelt niemals getan hätte – und fragte: »Wann kommst du zurück?« Yugi hob demonstrativ eine Augenbraue. Kaiba knirschte unmerklich mit den Zähnen. Immer diese übertriebene Theatralik. »Das interessiert dich?« »Die Arbeiten an Kaiba Land gehen voran«, entgegnete Kaiba ohne aufzusehen, »Zur Eröffnung werde ich ein Turnier abhalten. Du wirst daran teilnehmen.« Es war keine Bitte. Es war auch keine Einladung. Es war schlicht und ergreifend ein Befehl.   Yugi hob nun auch die zweite Augenbraue. »Du willst einen Vergnügungspark mit einem Duel Monsters Turnier eröffnen?« Kaibas Lippen verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln. »Überrascht dich das?« Yugi lachte dunkel und heiser auf. »Nein.«   Er lehnte sich auf dem Sessel zurück. Mit einem Zeigefinger tippte er sich gedankenverloren gegen das Kinn. Sein Blick wurde glasig, als müsste er die Dauer seiner eigenen Reise mit der Zeit abgleichen, die man mutmaßlich brauchte, um einen kompletten Vergnügungspark aus dem Boden zu stampfen, und diese dann um den Faktor verringern, mit dem sich die Arbeitsleistung erhöhte, wenn ein Seto Kaiba mit mörderischen Blick hinter seinen Arbeiternehmern stand.   Seto Kaiba machte ein eigenwilliges Geräusch, das unverkennbar an Spott erinnerte. Er nahm an, dass komplexe Rechenaufgaben, die sich jedes Zusammenhanges mit einem Kartenspiel entzogen, nicht ganz in Mutous Wohlfühlzone lagen.   Schließlich machte Yugi eine unwirsche Kopfbewegung und meinte leichthin: »Ich nehme an, dass Yugi bis dahin zurück ist.« Die Aussage irritierte Seto Kaiba, gleichwohl er dies natürlich nicht offen zugab. »Was willst du mir damit sagen, Yugi?«, fragte er. Mit zusammengekniffen Augen spähte er bedrohlich über den Rand seines Bildschirms. Er sah, wie Yugi den Kopf in den Nacken legte und einen kontrollierten Atemzug tat, als müsste er sich für das Kommende wappnen. Dann sah er Kaiba wieder direkt an. »Du weißt, dass ich nicht Yugi bin.« Kaiba starrte Yugi unverwandt an. »Und du weißt auch, dass ich einst meine Erinnerungen verloren habe, als meine Seele in das Puzzle verbannt wurde«, fuhr Yugi fort und machte eine halbherzige Handbewegung zum Millenniumspuzzle, »Und dass der Schlüssel zur Befreiung meiner Erinnerungen die drei ägyptischen Götter sind, deren Karten Yugi und ich bei deinem Turnier gewonnen haben.« Ein Muskel an Kaibas Kinn zuckte unheilverkündend. Es war unverkennbar, dass er die Zweckentfremdung seines Turniers zu einer hanebüchenen Zirkusveranstaltung, deren leidlicher Höhepunkt viel zu viel ägyptische Mythologie und Magie gewesen waren, noch nicht ganz verdaut hatte. Yugi musste dies nicht entgangen sein, denn er beeilte sich, seine Erzählung fortzusetzen. »Yugi und ich haben die Anweisungen, die Marik uns geben konnte, befolgt. Wir haben die Steintafel im Museum aufgesucht, ein letztes …« Yugi zögerte, als wüsste er genau, dass Kaiba die Erwähnung von »Spiel der Schatten« in seinem Büro nicht gut aufnehmen würde. Damit lag er zweifellos richtig, dachte Kaiba. »… Duell mit dem Geist des Millenniumsrings bestritten und ich … ich habe meine Erinnerungen zurückerlangt.«   Seto Kaiba ließ sich zu einem weiteren Geräusch herab, welches unmissverkennbar voller Abscheu triefte. »Ich hoffe für dich, du erwartest jetzt keinen Hofknicks, Pharao.« Er betonte die letzten drei Silben mit so viel Verachtung, wie ihm nur möglich war. Und Seto Kaiba war zu sehr viel Verachtung fähig. Für einen Augenblick wirkte Yugi ehrlich verdutzt. Er starrte Kaiba an. Es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben.   Was für ein denkwürdiger Augenblick, schoss es Seto Kaiba genugtuend durch den Kopf.   Dann brach Yugi plötzlich in Gelächter aus. Er lachte auf. Es war nicht das fiese, siegesgewisse Schmunzeln, das diesem Yugi sonst so felsenfest auf das Gesicht gepflastert war, und auch nicht das quietschfidele Jauchzen des echten Yugis. Es war ein richtiges, aufrichtiges und warmes Lachen. Es war Seto Kaiba ausgesprochen befremdlich. Dieser verzog das Gesicht minimal, als hätte er eben etwas erlebt, was ihn zutiefst anwiderte, und widmete sich erneut seinem Computer. Seine Augen klebten wieder am LED-Monitor. Er hatte genügend wertvolle Zeit eingebüßt. Er verlor sich in seinen Zahlen und Berichten. Den Rest seiner Umgebung blendete er erfolgreich aus. Er studierte Baupläne; ging Kalkulationen durch und segnete Entscheidungen ab oder widerrief sie. Yugis albernes Gelächter war nur noch ein fernes Rauschen. Schließlich verebbte es gänzlich und eine Zeit lang herrschte Schweigen. Nur das Schlagen von Fingern auf der Computertatstatur war zu hören. Kaiba genoss die Stille. Yugi schien das zu ahnen und beschloss, es zu brechen. »Das wird mir fehlen«, sagte er und klang beinahe melancholisch und doch irgendwie eigenartig erheitert. Kaiba gab vor, ihn nicht gehört zu haben. Er haute weiter auf die Tasten. »Ehrlich gesagt, habe ich unsere Auseinandersetzungen immer genossen«, sprach Yugi weiter, als wäre Kaibas Schweigen eine unausgesprochene Aufforderung, die Konversation bloß nicht abbrechen zu lassen – was es ganz bestimmt nicht war. »Seit ich meine Erinnerungen wiederhabe, schätze ich sie sogar noch mehr. Ich weiß jetzt, dass es sich vor dreitausend Jahren niemand erlaubt hätte, so mit mir zu sprechen.« Er schmunzelte verschwommen. »Zum Beispiel wäre es niemanden eingefallen, mir zu unterstellen, ich sei schwachsinnig.« »Das war keine Unterstellung«, entgegnete Kaiba kühl. Sein Mund umspielte ein gehässiges Grinsen. »Und erspar mir dieses emotionale Geschwätz und komm zum Punkt, Yugi.« »Wie du willst«, sagte Yugi leicht missbilligend. Er tat einen weiteren tiefen Atemzug. Er schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Dann sagte er: »Du wirst mir fehlen, Seto.«   Das Klacken der Tastatur setzte kurz aus. Kaibas Finger schwebten einen Moment ziellos in der Luft, als seien sie jäh erstarrt. Die herrschende Stille war wie das greifbar gewordene Äquivalent eines aussetzenden Herzschlags.   »Wie bitte?«   Kaibas Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, die sogar die Bedrohlichkeit eines weißen Drachen mit dem eiskalten Blick in den Schatten stellte. Yugi sah ihn direkt an. Er schreckte nicht zurück, wie der Rest der kläglichen Menschheit es sonst tat. Tatsächlich schien er diesen Blick, der eigentlich dazu auserkoren war, ihn zu erdolchen, zu genießen. Er aalte sich geradezu darunter. Er lächelte. Diesmal war es ein Lächeln voller Arroganz und Selbstsicherheit. »Ich werde diese Welt verlassen«, verkündete Yugi schlicht, »Deswegen bin ich hier: Ich will mich verabschieden.«   Über Kaibas Gesicht huschte ein eigenartiger Ausdruck. Seine stoische Maske der Gleichgültigkeit bekam einen gewaltigen Riss. Seine Organe hatten sich auf eine für ihn unbegreifliche Art zusammengezogen. Sein Herzschlag schien sich gleichzeitig verlangsamt und beschleunigt zu haben.   Yugi überging es. »Morgen werden Yugi und ich zusammen mit den anderen nach Ägypten aufbrechen. Dort gibt es ein Tor, welches die diesseitige Welt mit der des Jenseits verbindet. Sofern unser Vorhaben gelingt, werde ich in der Lage sein, das Tor zu durchschreiten und endlich in die Totenwelt einzukehren. Danach wird Yugi hierher zurückkehren. Wenn du ihn darum bittest, wird er sicherlich an deinem Turnier teil-« »Nein!«   Seto Kaiba war aufgesprungen. Seinen Schreibtischstuhl riss es weit nach hinten, bis er gegen das Fenster prallte. Seine flachen Hände schlugen auf die gläserne Tischplatte. Es war ein Wunder, dass sie unter der Wucht des Aufschlags keinen Sprung erlitt. Allerdings machten Maus und Tastatur einen kleinen Satz in die Luft. Der Bilderrahmen kippelte, kippte aber nicht um. Seto Kaibas Fassade aus Eis war aufgebrochen. Seine Gesichtszüge hatten sich zu einer eigentümlichen Grimasse verzerrt. Die malmenden Kieferknochen, die knirschenden Zähne und die geweiteten Nasenflügel deuteten auf Wut hin. Die aufgerissenen Augen, die jegliche Macht der Einschüchterung eingebüßt hatten, auf Entsetzen. Yugi wirkte nicht beeindruckt ob des so befremdlichen Gefühlsausbruchs von Seto Kaiba. Nicht einmal überrascht. Seine Schultern sanken ein wenig tiefer; die Spannung schien aus seinem Körper zu weichen. Er hielt den Blickkontakt zu Kaiba nicht länger aufrecht. Er schloss die Augen, atmete langsam aus. »Kaiba, hör mir zu. Es tut mir leid, aber ich kann nicht in …«, begann er, doch Seto Kaiba hörte ihm nicht zu. Er konnte es nicht glauben. Er weigerte sich, zu glauben, dass es diesen Yugi bald nicht mehr geben sollte. Dass dieser für ihn so richtige und wichtige Yugi, mit dem er sich messen konnte, den er als Gegner sogar im Ansatz tolerierte und akzeptierte, dass er demnächst einfach nicht mehr existierte. Seto Kaiba konnte mit dem »echten« Yugi doch nichts anfangen. Der »echte« Yugi war für ihn bloß ein notwendiges Übel, mit dem er sich arrangierte, weil es ohne ihn auch diesen Yugi nicht gäbe. Und er brauchte diesen Yugi, weil … Plötzlich legte Seto Kaiba den Kopf in den Nacken und lachte. Er begann, laut und hysterisch zu lachen. Für Außenstehende musste es den Eindruck erwecken, er sei vollkommen durchgedreht. Vielleicht war er das auch. Aber verglichen mit Yugi Mutou war er in seinen eigenen Augen immer noch ein Sinnbild der Zurechnungsfähigkeit. Sein groteskes Lachen erfüllte den Raum. Vor der großen Bürotür hörte man Absätze klackern. Die Sekretärin lauschte wohl. Normalerweise wäre das für Seto Kaiba ein Grund gewesen, sie sofort rauszuwerfen. Doch diesmal störte es ihn nicht.    Er schob seinen großen Lehnstuhl zurück an den Schreibtisch und ließ sich darauf fallen. Sein Gelächter flaute langsam ab. Schließlich war es nur noch ein gemeines Grinsen.   Auch darüber schien Yugi keineswegs überrascht zu sein. Im Grunde hatte er diese Reaktion erwartet. »Du glaubst mir nicht«, stellte er fest. Er klang hörbar enttäuscht, aber nicht wütend. Kaiba schnaubte verächtlich. »Natürlich nicht.« Er richtete Tastatur und Maus neu aus, die bei seinem Gefühlsausbruch leicht verrutscht waren. Dann tanzten seine Finger wieder über die Tasten. Der Rhythmus, der sich ergab, beruhigte ihn. Sein Verstand wurde wieder klar. Der kurzzeitige Ausbruch von Panik war vorüber. Seine stoische Maskerade hatte sich so schnell repariert wie sie zu Einsturz gebracht worden war. »Ich erinnere mich daran, dir bereits mehrfach erklärt zu haben, dass diese ganzen Mythen nur Ammenmärchen sind. Es sind Geschichten, die man Kindern und Dummköpfen erzählt, um sich an deren Leichtgläubigkeit zu erfreuen. Es ist Schwachsinn, wie du ja bereits weißt.« Seto Kaiba richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Bildschirm. Er kehrte zurück in die Welt der Logik und Vernunft. Emotionslos ging er einige Hochrechnungen durch. Schließlich verkündete er nüchtern: »Ich plane die Eröffnung von Kaiba Land in drei Monaten. Ich erwarte deine Teilnahme, Yugi.« Yugi entgegnete nichts. Er bewegte sich. Leder scheuerte über Leder. Aus den Augenwinkeln beobachtete Kaiba, wie Yugi aufstand und auf seinen Schreibtisch zuging. Davor blieb er stehen.  »Auch wenn du dich sträubst, die Wahrheit zu akzeptieren: Ich weiß, dass du Hieroglyphen lesen kannst«, sagte Yugi und überging das merkwürdige Geräusch, dass Kaiba ausstieß, »Deswegen weiß ich auch, dass du hiermit etwas anfangen kannst.«   Er hob die Arme, fasste sich in den Nacken und löste eine der vielen Ketten, die er trug. Es war die dünne Kette aus Silber. Die, die Kaiba nicht kannte. Es klirrte leise, als sie auf der gläsernen Schreibtischplatte abgelegt wurde. Kaiba verzog widerwillig das Gesicht. Eine Lichtreflexion blendete ihn. Sein Büro ging nach Westen hinaus und inzwischen hatte der Sonnenuntergang eingesetzt. Das Abendlicht, welches durch die großen Fenster fiel, spiegelte sich auf der silbernen Kartusche, die an der Kette befestigt war. Seto Kaiba konnte die Hieroglyphen darauf erkennen. Er konnte sie sogar entziffern. Ate… »Eines Tages werden wir uns wiedersehen, Kaiba. Wenn es soweit ist, gib sie mir bitte zurück. Allerdings …« Der andere Yugi zögerte, lachte leise und sagte dann: »Allerdings hoffe ich wirklich, dass bis dahin noch viel Zeit vergeht.« Damit drehte er sich um und ging. Die Absätze seiner Schuhe machten ein ebenmäßiges, beruhigendes Geräusch auf dem Fußboden. Ein Türflügel wurde geöffnet. Er knarzte nicht. Auf der Türschwelle blieb er noch einmal stehen. »Sayōnara, Seto.« Atemu verließ endgültig das Büro.    *   (Sayōnara:  japanisch für »Auf Wiedersehen« … soweit ich informiert bin.) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)