Intellexi von Pertaret ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Es war Montag. Das war der Tag, an dem die Bibliothek für die Besucher geschlossen war und das Personal diverse Katalogisierungstätigkeiten ausübte und verschiedenste Bücher einräumte und sortierte. An diesem Tag kam zudem auch Angestellte einer Reinigungsfirma, die die Grundreinigung der Bibliothek übernahmen. Heute war Tammos erster Schulferientag, sodass er nun schon morgens mit seiner Arbeit beginnen konnte und erst abends wieder zu gehen brauchte. Er liebte es, so viel Zeit in der Bibliothek zu verbringen. Die Arbeit machte ihm Spaß und er fand sie weder anstrengend noch lästig. Sobald er in die Bibliothek eintrat, legte er seine Jacke im Raum hinter der Ausleihtheke ab. Sie war nass vom Regen draußen und Tammo nahm sich vor, nächstes Mal definitiv an einen Regenschirm zu denken. Denn genau wie leicht entzündliche Substanzen waren feuchte Gegenstände nicht gern an einem Ort gesehen, an dem sich viele Bücher befanden. Der Raum hinter der Theke war eine Art Lagerbereich, in dem zurückgegebene Bücher, neu bestellte Bücher und aussortierte Bücher deponiert und dann von den Bibliothekaren sortiert wurden. „Guten Morgen, Frau Reisig!“, grüßte Tammo eine der anderen Bibliothekarinnen, die gerade damit beschäftigt war, einen Stapel Bücher zu sortieren und auf einem Wagen zu platzieren. Neben ihr stand schon ein zweiter Wagen, der mit Folianten voll beladen war. Er sah so klein und zierlich aus, dass Tammo sich wunderte, wie er das Gewicht so vieler Bücher tragen konnte, ohne darunter zusammenzuklappen. Frau Reisig sah von ihrer Arbeit auf und grüßte ebenfalls. „Hallo Tammo, mein Junge! Das ist schön, dass du heute wieder hier bist! Wärst du so lieb und würdest die Bücher hier“ sie zeigte auf den vollbepackten Wagen „einsortieren gehen?“ Tammo nickte eifrig und begann den Wagen vorsichtig zum Dienstaufzug zu schieben. Ein leises Quietschen ertönte, als die Rollen sich in Bewegung setzten. Die meisten Bücher auf dem Gefährt schienen in den zweiten Stock zu gehören. Tammo faszinierte das Ordnungssystem der Bibliothek. Jedes Buch hatte seinen eigenen Platz, seine Nachbarn, sein eigenes kleines zu Hause. Immer wenn ein Buch ausgeliehen wurde, war es Tammos Aufgabe, es wieder zurück an seinen Platz zu stellen, sobald es in die Bibliothek zurückgebracht wurden. Der Aufzug setze sich ratternd in Bewegung. Oben angekommen, öffneten sich die Türen und Tammo zog den Wagen vorsichtig hinter sich aus dem engen Fahrstuhl heraus. Er blickte auf die Aufkleber, die an den Buchrücken befestigt waren. Darauf zu erkennen waren kleine Zahlen und Buchstaben, die die Position jedes einzelnen Buches verrieten. Gut, die ersten Bücher mussten in Abteilung der wissenschaftlichen Lektüre. Biologie, Chemie, Physik, Psychologie, Mathematik, es gab viele Rubriken. Er schob den Wagen nach rechts an der Treppe vorbei, die in den dritten und obersten Stock führte. Sie war mit einer roten Kordel abgesperrt, an der ein Schild hing. Zutritt für Unbefugte ist untersagt. Wie Tammo wusste, sammelte die Bibliothek einige seltene und auch alte Exemplare bestimmter Werke und hob sie zur Verwahrung auf. Nur wenige Mitarbeiter durften die Räumlichkeiten, in denen die alten Folianten beherbergt wurden, betreten. Es wurde Besuchern nur gestattet, die Sammlung einzusehen, wenn sie den Oberbibliothekar und Leiter der Bibliothek Herrn Dr. Angbard persönlich um Erlaubnis baten und einen guten Grund vorzuweisen hatten. Meistens handelte es sich um Literatur-, Sprach- oder Geschichtswissenschaftler. Allesamt verstaubte, alte Menschen, deren Haut schon selbst wie Papier auszusehen schien. Die Sammlung befand sich im obersten Stockwerk der Bibliothek, direkt unter dem Dach. Der Dachboden soll wohl besonders renoviert und klimatisiert worden sein, damit das alte Material, aus dem die Bücher bestanden, nicht zerfiel. Wie gern würde er in das Archiv der seltenen und kostbaren Bücher einen Blick werfen. All die Folianten mussten einen fabelhaften Geruch nach alten Büchern verbreiten und ihren ganz eigenen Charme versprühen. Das vergilbte Papier würde dumpf rascheln, die Ledereinbände würde sich schon etwas rau vom Alter anfühlen. Tammo schwelgte in Gedanken und begann allein bei der Vorstellung an die Kostbarkeiten selig zu lächeln. Ein Buch zeichnete sich schließlich nicht nur durch seinen Inhalt aus (wobei das natürlich immer noch die wichtigste Eigenschaft eines guten Buches war), sondern auch durch seinen Einband und das Papier, den Duft der Seiten und ihr Rascheln beim Umblättern. Alte Bücher waren wie alte Menschen. Sie hatten viel erlebt und enthielten ihre ganz eigene Weisheit. Sie waren Inspiration für viele jüngere Bücher und Geschichten. Tammo schob den Wagen an der Treppe vorbei und dann durch die Regalreihen hindurch. Wenn er länger hier arbeitete, vielleicht könnte er dann Herrn Angbard um die Erlaubnis bitten, das dritte Stockwerk zu betreten. Nur für einen kurzen Augenblick. Und er würde auch keine Bücher anfassen, wenn das nicht gestattet war. Er würde sich damit zufrieden geben die Titel der Buchrücken zu lesen und den Geruch in sich einzusaugen. Vielleicht würde er ja aber unbemerkt mit seinen Fingern über die Einbände streichen, dachte er verstohlen und allein bei der Vorstellung blickte er sich ertappt um. Aber wer weiß, ob er sich je trauen würde, Herrn Angbard um einen so absurden Gefallen zu bitten. Er hatte ihn in der Zeit, in der er diese Bibliothek schon besucht und in ihr gearbeitet hatte, nicht ein einziges Mal gesehen. Ständig befand er sich in seinem Büro im ersten Stock und Tammo hatte nie beobachtet, dass er heraus- oder hereinging. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt anwesend war. Was er wohl den ganzen Tag dort arbeitete? Oder vielleicht wohnte er sogar in seinem Büro. Der Junge hatte keine Ahung, was für Aufgaben dem Oberbibliothekar wohl zufielen und er wollte auch nicht zu aufdringlich wirken und eine der anderen Bibliothekarinnen oder Bibliothekare danach fragen. Irgendwann würde er es noch herausfinden. Schließlich arbeitete er auch erst seit etwas über einem Monat hier. Doch einen gewissen Repsekt hatte Tammo schon vor seinem Chef. Gerade weil er ihm noch nie begegnet war, schien Herr Angbard von vielen Geheimnissen umgeben zu sein. Das einzige, was Tammo von ihm zu sehen bekommen hatte, war eine sehr verschnörkelte Unterschrift auf seinem Arbeitsvertrag. Inzwischen hatte Tammo den Wagen über den dunklen Parkettboden an den zahlreichen Regalreihen vorbei geschoben und blieb nun an einem Regal stehen. Biologie A-Kue stand auf einem Schild, das am Regal befestigt war. Er nahm die ersten paar Bücher von dem Wagen und begann der Beschriftung auf den Buchrücken entsprechend nach ihren Plätzen zu suchen. Es waren vier dicke und große Bücher über Genetik, die er im Arm hielt. Die richtigen Lücken im Regal zwischen all den anderen Büchern zu finden, fiel Tammo nicht schwer. Zum einen hatte er schon so viel Zeit in der Bibliothek verbracht, dass er das Beschriftungssystem vollkommen durchschaut hatte und die ganzen Abkürzungen ihm nicht mehr wie unverständliche Aneinanderreihungen von Schriftzeichen vorkamen, zum anderen hatte er sich in der kurzen Zeit, in der er hier arbeitete von vielen Büchern die genaue Position gemerkt. Er räumte nach und nach die Bücher in die Regale ein. Es waren dicke Bücher, dünne Bücher, große Bücher, kleine Bücher, schwere Bücher, leichte Bücher. Sie waren wie Menschen, dachte Tammo oft. Und tatsächlich hatte er mehr mit Büchern als mit Menschen zu tun. Manchmal stimmte ihn das traurig, doch sehr oft war er auch froh darüber, die Bücher zu seinen besten Freunden zu zählen. Langsam schob er den Wagen an den Regalreihen vorbei, blieb immer mal wieder stehen, um ein Paar Bücher in ihr zu Hause zurückzubringen und stellte sich dabei vor, wie ihre Familie und Nachbarn sie jubelnd und lachend begrüßten. Tammo musste bei diesem Gedanken selbst lächeln. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)