Intellexi von Pertaret ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Die Blätter waren dem Wind hilflos ausgesetzt. Wie Treibholz im Meer wurden sie von den Böen verweht und umhergeschleudert. Zyklonartig wirbelten sie durch die Straßen, wurden auf eine unfreiwillige Reise geschickt, fort von ihren Bäumen. Abgeworfen und verstoßen, ziellos und ungerichtet fegten sie an Häusern, Dächern, Straßenlaternen und Autos vorbei. Sie umtanzten die Menschen, die eilig die Straßen entlangeilten und Kapuzen oder Schirme über ihre Köpfe zogen. Der Regen machte die Blätter nass und schwer, doch der Wind war stark genug, um sie trotz ihres Gewichts durch die Lüfte zu wirbeln. In einem kleinen Hauseingang hatten sich ein paar Blätter angesammelt. Vor dem Wind geschützt rotteten sie sich dort zusammen. Ein Meer aus Braun, Rot, Gelb, Orange. Es hatte sich schon ein kleiner Haufen auf der Stufe zur Haustüre gebildet und zitternd kauerten die Blätter dort, ihrem Schicksal ausgesetzt genossen sie nun den kurzen Moment der Ruhe. Tammo riss die Tür auf und stob hinaus. Achtlos zertrat er die Blätter und wirbelte sie auf. Das flammenfarbene Spiel des Laubes umgab ihn und verlieh dem kalten Herbsttag ein Hauch von Wärme in all dem Grau der Regenwolken. Die Blätter stöhnten auf, als der Wind sie wieder erfasste und ihr Seufzen verstärkte. Das Geräusch ertönte in der ganzen Straße. Gewaltsam wurden die Blätter wieder auf ihre Reise ins Unbekannte geschickt und wenige Sekunden später sah Tammo sie nicht mehr. Schnellen Schrittes stapfte er an den Pfützen vorbei, durch die prasselnden Regentropfen die Straße entlang und scheuchte dabei einige weitere Blätterhaufen auf. Er mochte die Farben der Herbstblätter. Und er mochte ihren Tanz im Wind. Normalerweise ließ er kaum einen Blätterhaufen aus, um ihn durch ungeschickte Schritte aufzuwühlen. Doch diesmal hatte Tammo leider nicht so viel Zeit wie sonst, um die Blätter aufzuscheuchen. Er war spät dran und konnte den schön herbstigen Herbsttag nicht genießen. Seine Wangen waren rot und sein Atem ging schnell, hinterließ eine silberne Wolke in der Luft, der er für einen Moment verträumt hinterherschaute. Als ihm auffiel, dass er schon wieder trödelte, riss er sich etwas verärgert über sich selbst zusammen und eilte weiter. Am Ende der Straße wandte sich Tammo nach rechts, wich einigen ihm entgegenkommenden Passanten aus und ging wieder ein Weilchen geradeaus, bis er nach links in eine breite Straße einbog. Wieder verlangsamten sich seine Schritte kurz. Er liebte diese Straße. Es war eine Allee, welche zu beiden Seiten von großen, stattlichen Rosskastanien gesäumt wurde. Ihre Blätter waren gelblich und braun und der Fußgängerweg war von den Kastanienfrüchten bedeckt, die vom Straßendienst noch nicht weggeräumt worden waren. Er versuchte das warme Sonnengelb der Kastanienblätter auszublenden und schritt eilig den Bürgersteig entlang. Der Junge liebte die Straße nicht nur wegen ihrer wunderschönen Bäume. In dieser Allee befand sich sein zweites zu Hause, in dem er beinahe so viel Zeit verbrachte wie in der Wohnung, die er mit seinen Eltern bewohnte. Als er ungefähr die Hälfte der Kastanienallee hinter sich hatte, stand er vor einem großen Gebäude aus rotbraunen, großen Backsteinen. Es war die städtische Bibliothek. Sie war groß, aber nicht riesig. Sie war nicht modern, aber auch nicht antik. Tammo hatte, seit er lesen gelernt hatte, sehr viel Zeit in diesem Gebäude verbracht. Es war gemütlich und warm und vor allem gab es dort Massen an Büchern. Er las unglaublich gern und viel. Während seine Schulkameraden Videospiele auf einer Konsole zockten, saß er zu Hause und las ein Buch. Dies war auch leider einer der Gründe, weshalb es ihm schwerfiel, Freunde zu finden. Zum einen, fanden es viele seiner Klassenkameraden seltsam, wie viel er las, zum anderen, hatte er kaum Übung darin Gespräche mit Gleichaltrigen zu führen. Er sehnte sich nach Freunden, die seine Leidenschaft teilten oder sie wenigstens akzeptierten und war oft traurig darüber, dass er sehr viel Zeit allein verbrachte oder höchstens mal mit seinen Eltern etwas unternahm. Doch gleichzeitig hatte er Angst davor, nach genau so jemandem zu suchen und erlebte lieber Abenteuer mit seinen Freunden aus den Büchern. Es faszinierte ihn, wie ein bloßes Bündel Papier ihn in eine neue Welt entführen konnte oder ihm Orte auf diesem Planeten zeigten, die er noch nie betreten hatte und vielleicht auch nie betreten würde. Noch bevor er zur Schule gegangen war, hatte er seine Mutter gebeten, ihm das Lesen beizubringen. Sie hatte sich über die Neugierde und Wissbegierigkeit ihres kleinen Sohnes gefreut und las mit ihm zusammen, schenkte ihm Kinderbücher, die er verschlang, wie ein Hungernder ein Festmahl. Bald schon hatte Tammo alle Bücher gelesen, zu denen er zu Hause Zugang hatte, und auch seine Schulbücher wurden nicht verschont, sobald er zur Schule ging. Seine Eltern konnten nicht all die Bücher für ihren Sohn kaufen, die er lesen wollte, und so nahmen sie ihn eines Tages mit in die Bibliothek, die nur wenige Straßen entfernt von ihrem Zuhause stand. Nun war Tammo zu einem sechzehnjährigen Jugendlichen herangewachsen und er kam seit ungefähr zehn Jahren beinahe jeden Tag hierher. Seit Anfang des Schuljahres arbeitete er nun als Aushilfe in der Bibliothek. Seine Kollegin Frau Leimgießer, eine sanftmütige Dame Mitte Dreißig, hatte ihn den ersten Monat seiner Aushilfstätigkeit eingewiesen, ihm das Katalogisierungs-System erklärt, über die Schulter geschaut und für Fragen bereitgestanden. Tammo kannte sie schon seit einigen Jahren und sie hatte ihm stets freundlich weitergeholfen, wenn er ein bestimmtes Buch nicht fand. Doch nun hatte sie ihre Arbeitsstelle als Bibliothekarin gekündigt, um ihr Hobby zu ihrem Traumberuf zu machen. Frau Leimgießer wurde nun zur Vollzeit-Schriftstellerin. Tammo bewunderte sie sehr dafür. Er konnte sich für seine eigene Zukunft keinen Beruf vorstellen, der ihn glücklich machen würde, es sei denn seine Tätigkeit hätte etwas mit Büchern zu tun. Buchhändler, Bibliothekar, Antiquitätenhändler, Verleger, Redakteur. Das alles waren Berufe, mit denen er sich zufriedengeben würde. Doch sein innigster Wunsch war es, genau wie Frau Leimgießer, irgendwann Schriftsteller zu werden. Er hatte schon hin und wieder zu Stift und Papier gegriffen und versucht eine Geschichte zu entwickeln, eine seiner Ideen auf Papier zu bannen, doch es war meistens daran gescheitert, dass er nicht wusste, wie er anfangen sollte. Und wenn er es doch geschaffte hatte, die ersten paar Absätze niederzuschreiben, klangen die Sätze in seinen Ohren zu unbeholfen, nichtssagend und nicht mitreißend. Jedes Mal legte Tammo den Stift dann nieder und versuchte nicht allzu enttäuscht von sich selbst zu sein. Er würde es wieder versuchen. Er war schließlich erst sechzehn, noch war es nicht zu spät, ein großartiger Schriftsteller zu werden. Tammo schüttelte sich kurz, um sich der gröbsten Regentropfen von seiner Jacke zu entledigen, dann trat er durch die große, zweiflüglige Tür in das Atrium der Bibliothek ein. Eine angenehme Wärme und der wohltuende Geruch von Büchern empfing ihn. Er atmete tief ein und lächelte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)