Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 9: And on the 8th Day (Part 2) -------------------------------------- Drei Tage. Drei Tage hatte er es geschafft, ihm auszuweichen. Diese Schule war einfach nicht groß genug. Jetzt saß er hier, in diesem kleinen Büro mit den vollen Bücherregalen und dem unbequemen Besucherstuhl. Vor ihm auf dem Schreibtisch Notizblöcke. Stiftehalter, aufklappbarer Kalender, ein Familienfoto. Yoshiki hatte sich demonstrativ desinteressiert auf dem Stuhl zurückgelehnt und die Finger vor dem überschlagenen Knie verschränkt. Ja, diese Pose hatte er extra geübt. Für Situationen wie diese. Er war stolz darauf. Ihm gegenüber saß sein Musiklehrer und drehte seinen Füller in den Händen. „Also gut“, sagte Herr Urano schließlich und legte die rechte Hand mit dem Stift darin ab. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie spielen auf der Abschlusszeremonie und ich vergesse, was ich gesehen habe.“ „Uhm…“, machte Yoshiki, als würde er nachdenken, und sagte dann nach einigen Sekunden gedehnt: „Nein?“ Das mochte wieder in die Zeugnisspalte Respektlosigkeit fallen, Yoshiki empfand das anders: Die Alternative war ‘Ich mach Ihnen auch einen Vorschlag, ich gehe und Sie ficken sich ins Knie‘ gewesen. Er hatte schon immer mal das F-Wort zu einem Lehrer sagen wollen… jeder hatte ja irgendwelche Träume. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, konnte der ältere Mann hinter dem Schreibtisch jedoch aus seinem Nein scheinbar schon ein gutes Drittel seiner Gedanken herauslesen. Pädagogen. Er tippte zweimal mit dem stupfen Ende seines Füllers auf den Schreibtisch. „Yoshiki. Ihnen ist offenbar nicht ganz klar, wo hier die Grenze verläuft. Schlampig angezogen sein, keine Hausaufgaben machen – das ist eine Sache. Auf dem Schulgelände rauchen ist eine andere. Sie sind minderjährig und der Besitz von Tabakwaren eine Straftat.“ „Ah ja?“, fragte Yoshiki unbeeindruckt. „Also was, wollen Sie mich ernsthaft anzeigen?“ Sein Lehrer atmete ein und mit einem Seufzen wieder aus. Vielleicht hielt ihn das davon ab, den Jungen hier und jetzt einmal kräftig zu schütteln. „Nein. Das will ich nicht. Daher mein Vorschlag. Ich würde Ihnen ungern die Zukunft verbauen, bevor sie überhaupt angefangen hat.“ „Tz“, machte Yoshiki, hart an der Grenze zu abfällig, und sah aus dem Fenster. Draußen regnete es Bindfäden. „Tun Sie nicht, als ginge es Ihnen hier um mich.“ „Bitte. Dann auf Ihre Art. Alle sind gegen Sie.“ Herr Urano schüttelte den Kopf. „Ich versteh das nicht. Sie sind doch nicht dumm. Wenn Sie nicht so strunzfaul wären, könnten Sie das alles hier doch locker schaffen.“ „Ich bin nicht faul“, erwiderte Yoshiki abgeklärt, den Blick weiterhin nach draußen gerichtet. „Ich hab nur einfach keine Lust.“ Ein paar Sekunden lang war nur das Geräusch des Regens zu hören, wie er vom Himmel auf den Asphalt fiel und hin und wieder in einem leisen Trommeln an die Scheiben schlug. Herr Urano seufzte. „Also. Wie schaut’s aus?“ Yoshiki wandte seine Aufmerksamkeit mit einem distanzierten Blick wieder nach drinnen. „Was? Ob ich erpressbar bin?“ „Nein. Ob Sie bereit sind, der Schule etwas zurückzugeben, die so lange beide Augen zugedrückt hat.“ Yoshiki musste lachen. Humorlos. „Was sind Sie, der Pate?“ Jaja, eine Hand wusch die andere oder was auch immer… Olivenölimporte… Pferdeköpfe… was passierte eigentlich mit dem Rest der Pferde? Na egal… Herr Urano machte einen gequälten Laut, legte die Brille neben sich auf den Schreibtisch und rieb sich die Nasenwurzel. „Yoshiki, was ist los mit Ihnen! Ich versuche hier doch ein ganz normales Gespräch! Seien Sie halt nicht ganz so… so…“ „Stur?“, bot Yoshiki an. Sein Lehrer nahm die Brille wieder zur Hand und gestikulierte damit. „Ich wollte kindisch sagen. Aber ja. Von mir aus stur. Warum machen Sie das? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?“ „Ja.“ Ein paar Sekunden wartete Herr Urano darauf, dass sein Schüler weiter ausholte. Doch nichts passierte. Also hakte er nach. „Und?“ Yoshiki lehnte sich ein Stück nach vorne, als wolle er ein Geheimnis teilen, schaute sich sogar noch einmal über die Schulter und sagte dann halblaut: „Das geht Sie einen Scheiß an.“ Herr Urano, der sich unwillkürlich ebenfalls konspirativ über die Tischplatte gelehnt hatte, sank wieder in seinen Stuhl zurück und seufzte. „Gut. In Ordnung. Sie können gehen.“ Yoshiki sah ihn misstrauisch an und bewegte erst einmal nur die Augenbrauen. Verwirrt zusammen. „… wie jetzt?“ Sein Lehrer setzte sich seine Brille wieder auf und griff nach einem Notizblock. „Ja. Ich werde Ihre Mutter anrufen und den Sachverhalt erklären und ab morgen brauchen Sie dann nicht mehr zu kommen. Je nachdem, wie sich die Lage darstellt können wir auch beraten, ob Ihrer Entwicklung ein Eingreifen von staatlicher Seite nicht vielleicht auch zuträglich wäre.“ „Sie verarschen mich.“ Ohne es zu wollen hatte er das überschlagene Bein gelöst und beide Füße auf den Boden gestellt. Nicht mehr so locker. „Nein. Das ist das vorgeschriebene Vorgehen in so einem Fall.“ Herr Urano wandte seine Aufmerksamkeit seinem Papier zu. „Sie können gehen“, wiederholte er nach einigen Sekunden. Yoshiki starrte ihn an. So ein Wichser! Der glaubte, nur weil er hier ein bisschen auf dicke Hose machte, würde er anfangen zu heulen oder was? Ein paar Sekunden, in denen er mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und seine Optionen durchging, herrschte Stille. „Ok!“, rief er schließlich. „Ich spiel auf Ihrer hässlichen Abschlusszeremonie!“ „Nein, das tun Sie nicht“, sagte sein Lehrer ruhig. Einen Moment lang traute Yoshiki seinen Ohren nicht. So etwas hatte er noch nie gehört. Er blinzelte verständnislos. Was hatte er gesagt? Hatte er das richtig verstanden? Passierte das jetzt wirklich, oder was war los? Ihm wurde mit einem Mal ein bisschen komisch. War es das etwa gewesen? Das berüchtigte Zu-Weit-Gehen, vor dem ihn alle immer gewarnt hatten? Das hatte er sich irgendwie immer spektakulärer vorgestellt... Herr Urano ließ es ihn genau bemessene fünfzehn Sekunden lang aussitzen. Dann schloss er seinen Füller, legte ihn zur Seite und faltete die Hände auf dem Tisch. „So. Sehen Sie, wie das auch funktionieren kann?“ Yoshiki sagte nichts. Das erschien ihm gerade am Sichersten. Sein Lehrer sah ihn eindringlich an und begann mit der Standpauke. „Yoshiki. Sie sind nicht mehr fünfzehn. Sie sind bald ein erwachsener Mann. Es wird nicht einfacher, wenn Sie sich aufführen, wie… Sie sich eben aufführen. Früher oder später wird Ihnen jemand begegnen, der nicht mehr fünfe gerade sein lässt. Da ist eine Welt da draußen, in der Sie irgendwie zurechtkommen müssen.“ Yoshiki sagte immer noch nichts. Er hatte ein bisschen Bedenken, was ihm vielleicht rausrutschen würde, wenn er es tat. Also nickte er einfach nur einmal kantig. Herr Urano seufzte nachsichtig. „Sie halten sich für so schlau… aber zum Schlausein gehört eben auch, dass man erkennt, wenn man am kürzeren Hebel sitzt.“ Der Junge vor ihm knirschte fast hörbar mit den Zähnen. Er hätte gerne gefragt, ob es das jetzt war und er gehen konnte. Doch vermutlich wäre auch das kindisch. Also hielt er seine versteinerte Miene durch und wartete schweigend ab. Es dauerte noch zehn lange, quälende Sekunden, die die Konsistenz von Toffee zu haben schienen, bis sein älteres Gegenüber noch einmal resigniert seufzte und mit der rechten Hand eine wegwischende Bewegung machte. „Überlegen Sie sich bis nach Neujahr, was Sie spielen wollen. Und jetzt gehen Sie.“ Das musste man ihm nicht zweimal sagen. Dennoch zwang Yoshiki sich, möglichst ruhig und gelassen zu wirken, als er gemächlich seine Sachen einsammelte und sich erhob. Retten, was an Würde noch zu retten war. „Und Yoshiki…“ Der Angesprochene hielt in der Tür inne. Allerdings ohne sich umzudrehen. „Schneiden Sie sich die Haare. Sie sehen aus wie ein Mädchen.“ -X- Toshi stand vor dem kleinen Restaurant und wartete. Während er dieser nicht sehr spannenden Beschäftigung nachging, beobachtete er die Leute, die auf der anderen Straßenseite durch den Park flanierten, die meisten von ihnen scheinbar auf dem Weg nach Hause oder zumindest an einen wärmeren Ort: Den ganzen Tag war es sonnig gewesen, doch in der letzten halben Stunde hatte es zugezogen und ein kühler Wind wehte vom Meer her. Es wurde eindeutig Herbst. hide war zu spät. Toshi ging ein paar kleine Schritte die Straße hinunter und wieder hinauf. Kein Zeichen des anderen Jungen. Vielleicht, dachte er und betrachtete abwesend die Bilder der verschiedenen Gerichte im Fenster des Ladens, war ihm inzwischen doch klar geworden, was Toshi eigentlich gemeint hatte. Gut. Wenn er nicht auftauchte, war das wohl auch eine Antwort. Er war ein erwachsener Mann, er konnte damit umgehen. Enttäuschungen gehörten zum Leben. Man bekam eben nicht alles, was man wollte, vor allem in der Liebe. Es war in Ordnung, wenn hide anders tickte. Irgendwann jemand anderen kennenlernte. Mit dieser Person alltägliche Dinge tat. Über seine bescheuerten Witze lachte. Zärtlichkeiten austauschte. … er konnte nicht damit umgehen. Mit einem Seufzen wandte er sich vom Fenster ab – gerade rechtzeitig, um etwas auf ihn zu rennen zu sehen. Toshi machte sich bereits auf den Zusammenprall gefasst. Doch dieser blieb aus. Der Gitarrist bremste gerade eben noch vor ihm ab. „Hu, ich, da, ich, spät, ‘tschuldigung!“, keuchte hide. Er stützte sich mit einem Arm auf Toshis Schulter und hielt sich mit dem anderen die Seite. „Oh, Gott…“ Er atmete ein paar Mal tief durch und stellte sich dann wieder auf die eigenen Beine. „Hu. Ich bin da.“ „Das freut mich“, sagte Toshi lächelnd. Und meinte es. „Wollen wir reingehen?“ „Worauf du wetten kannst“, stimmte hide zu. Er atmete immer noch etwas schneller als normal. „Ich hab einfach unendlich Hunger.“ Toshi machte zwei Schritte zur Seite und hielt die Tür auf. „Bist du wieder gesund?“, fragte er, während er hinter hide das Restaurant betrat. „Joooaaaa“, sagte hide gedehnt. „Noch ein bisschen verschnupft, aber ich glaube, du bist sicher mit mir. Entschuldige, dass ich zu spät bin. Ich… hab mir keine gute Ausrede überlegt, warum.“ Toshi musste noch etwas breiter lächeln. „Ist in Ordnung.“ Er war aufgetaucht. Das war das Wichtige. Die kleinen Tische entlang der Wand waren belegt, also setzten sie sich nebeneinander an die Theke. Toshi bedauerte ein wenig, hide nicht gegenübersitzen zu können, andererseits waren auf diese Weise keine sechzig Zentimeter Holz zwischen ihnen. Ihre Ellenbogen berührten sich fast. So glich sich im Leben eben alles aus… „Was ist denn das da?“, fragte Toshi. Neben ihm wickelte hide sich aus ungefähr fünf Lagen Wolle. Es war eine meterlange, knallbunte und absolut hässliche Monstrosität. „Das? Das ist mein Schal“, erklärte hide. So weit, so offensichtlich. „Eigentlich wollte ich meine Moneten zusammenhalten, aber den hab ich gesehen und er war dreimal reduziert. Drei Mal! Da musste ich zuschlagen. Ich kann gar nicht verstehen, warum der noch da war. Das ist der geilste Schal der Welt! Er enthält alle meine Lieblingsfarben, hier dieses Pink und da dieses Gelb und dort dieses Rot… Und fühl mal.“ Er hielt Toshi das riesige Knäuel hin. Dieser streichelte es. „Flauschig“, stimmte er zu. „Megaflauschig“, bestätigte hide und hängte seine neuste Modesünde dann hinter sich über die Lehne. Toshi wandte sich schmunzelnd wieder nach vorn und sah einem der Köche dabei zu, wie er Gemüse kleinhackte. Also hatte hide eben einen schrecklichen Modegeschmack. Kleine Schrullen machten liebenswert. Und wen juckte das alles – er redete mit ihm. Heilige Kuh, er redete mit ihm! Ganz normal! Und ganz allein. Er kam gut durch den Plan. Der Plan war: hide zum Essen bitten – Check. Mit ihm reden wie mit einer normalen Person – Check. Einen schönen Abend verbringen, der hide dazu brachte, sich unsterblich in ihn zu verlieben, romantischer Urlaub in Europa und dann glücklich und zufrieden zusammenbleiben, bis sie alt und runzelig waren. Ja. Das war ein guter Plan. Reichte in Teilen etwas weit in die Zukunft, aber dennoch. Neben ihm begutachtete hide jetzt die bebilderte Speisekarte an der Wand gegenüber. Toshi war durch seine Wartezeit draußen schon mit dem Wissen reingekommen, was er wollte. Also konnte er in der Zeit, in der hide die Speisekarte betrachtete, hide betrachten. Unauffällig, verstand sich. Als hide den Blick senkte, kam einer der Beiköche, mit einem kleinen Bärtchen wie eine Ziege, herüber. „Kamo Negi“, sagte Toshi, „und eine Cola.“ „Shoyu“, sagte hide, „und ein Wasser.“ Es verging eine Sekunde, in der Toshi die Karte scannte. Ein Verdacht drängte sich ganz stark auf. Er hob die Hand, um den Koch noch einmal zu bremsen und sagte: „Sumimasen. Vergessen Sie das. Wir brauchen noch zwei Minuten.“ Der Mann nickte und wandte sich einem Herren im Anzug näher an der Tür zu. Als er weit genug weg war, drehte Toshi sich zu hide. „Würdest du dir bitte bestellen, was du wirklich willst?“ Vielleicht irrte er sich, aber Nudelsuppe ohne alles und Wasser war nicht wirklich das Bild, das er von hide hatte. „Die sind… vollkommen in Ordnung“, sagte hide abwehrend und lief ein wenig rot an. Toshi sah ihn einen Moment zu lange an. „hide… Dir ist klar, dass ich einlade?“ Wie nicht anders zu erwarten, ging der Gitarrist sofort auf die Barrikaden. „Ich kann mein eig-“ „hide!“, fuhr Toshi dazwischen, schmunzelnd, aber in einem Tonfall, der keinen Widerstand zuließ. Er war nicht hierhergekommen, um darüber zu diskutieren, wer sich hier was leisten konnte. Er war hierhergekommen, um die einzig wahre Liebe kreieren! Und das konnte man nicht bei faden Nudeln und Wasser! „Das hier passiert! Lass es einfach zu!“ Ein paar Sekunden schaute hide zwischen der Karte, der Tischplatte und ungefähr allen anderen Dingen im Raum außer Toshi hin und her, während er abzuwägen schien. Einen Moment lang fürchtete Toshi, dass er auch die Option bedachte, einfach aufzustehen und zu gehen. Er wünschte sich auf einmal inständig, er hätte lieber nichts gesagt. Fade Nudeln waren besser als gar keine Nudeln. Doch dann wanderte hides Blick weiter zu ihm, stellte für eine Zehntelsekunde scheuen Augenkontakt her und sah dann wieder weg. „Ok“, willigte er schließlich ein. Es klang eher weniger begeistert, doch das reichte Toshi. Es würde sicher besser, wenn das Essen erstmal da war. Liebe ging ja bekanntlich auch ein wenig durch den Magen. Er winkte dem Koch noch einmal. hide warf ihm noch einen schiefen Seitenblick zu und sagte dann, nach einem letzten kurzen Zögern: „… Kakiage und eine Limo bitte.“ Toshi lächelte in sich hinein. „Ich bleib bei Kamo Negi und Cola.“ Der Mann mit dem dünnen Bärtchen nickte und wandte sich wieder seinen Töpfen zu. Ein paar Sekunden schwiegen sie sich an. Dann fragte hide: „Wie komm ich zu der Ehre?“ Er schaffte es ohne Ironie. Das hätte Toshi nicht verdient. „Ich…“ Toshi sah zur Seite und begegnete großen dunklen Mandelaugen. Aus der Nähe war deutlich zu sehen, dass hide gerade zu wenig schlief. Trotzdem hätte Toshi ihn stundenlang anschauen können. Er musste lächeln, diesmal aus sich heraus. „Ich freue mich, dass du wieder zurück bist.“ hide lächelte seicht zurück. „Ich mich auch. Oh, danke.“ Er nahm dem Hilfskoch hinter dem Tresen seine Limonade ab. „Wie ist es bei Pata?“, fragte Toshi und griff mit einem Nicken nach seiner Coke. Zeit, das Thema von der Frage, wer hier für was bezahlen würde auf etwas Erfreulicheres umzuleiten. Sie stießen an. „Oh, es ist ganz schön“, antwortete hide und nahm einen Schluck Limo. „Ich dachte am Anfang, dass es bestimmt anstrengend für die Familie wird, wenn ich auch noch dort herumlungere. Aber alle sind sehr nett zu mir.“ „Und wie sind die drei Quadratmeter?“ „Ich schlafe und lerne dort ja nur“, sagte hide. „Sonst bin ich die meiste Zeit in der Schule oder mit euch zusammen. Wird sogar noch weniger werden, wenn ich endlich Arbeit finde. Und dafür ist es absolut ausreichend. Es hat was von Klosterleben. hides kleine Zelle.“ Er hielt inne und runzelte die Stirn, während er verarbeitete, was er gerade gesagt hatte. „… das klang jetzt frustrierend, aber eigentlich wollte ich damit sagen, dass es mir beim Konzentrieren hilft. Es lenkt mich nichts ab. Weil nichts da ist.“ Ein paar Frauen schoben sich hinter ihnen vorbei und hide angelte in einer unbequemen Verrenkung nach seinem Schal, der im Begriff war, sich auf den Boden zu verabschieden. „Ich schlaf auch besser. Und Patas Tante kann wirklich gut kochen. Also alles in allem geht es mir gut. Es ist nur…“ Er zögerte und verzog schließlich das Gesicht, schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“ „Was denn?“, fragte Toshi und lehnte sich in dem Versuch, hide anzuschauen, ein Stück nach vorne. Er versuchte, einen sanften, anteilnehmenden und keinen drängenden Tonfall anzuschlagen, als er anhängte: „Nun sag schon.“ hide schaute ihn nur einen sehr kurzen Moment an, bevor er den Blick lieber auf die Wand gegenüber und dann auf den Tresen unter seinen Händen fixierte. Er seufzte. „Ich weiß nicht. Es läuft so… gut gerade. Das macht mich nervös. Ich warte irgendwie drauf, dass es… sich rächt. Oder so. Ich weiß, das ist bescheuert. Aber ich fühl mich, als wäre das … unnatürlich.“ Toshi runzelte die Stirn. „Dass… du bei Pata wohnst?“ Er verstand nicht. „Nein. Als hätte ich gerade ein bisschen zu viel Glück, als dass das gutgehen kann. Aber gut.“ hide setzte ein neues Lächeln auf. „Bis jetzt klappt es noch, also versuche ich einfach, mich zu freuen, solange es dauert.“ Toshi nahm einen zweiten Schluck Cola, um sich Bedenkzeit zu kaufen. Jetzt hatte er verstanden. Was an verqueren Gedankengängen in der Welt ihres Gitarristen nicht alles Sinn machte! hide“, sagte er dann, „die meisten Menschen sind die meiste Zeit glücklich. Das ist normal. Du musst von dem Gedanken weg, dass es irgendwie… falsch ist, wenn man halbwegs zufrieden sein Leben machen kann.“ Als er zur Seite schaute, wirkte hide ein wenig abwesend. Er hatte die Ärmel seines etwas zu großen Pullis bis zu den Fingerknöcheln vorgezogen und nestelte daran herum. Schließlich aber hörte er so abrupt damit auf, als sei ihm gerade erst klargeworden, was er da tat. „Ja. Ich weiß. Es ist nur… egal. Ja, ich werd’s versuchen… Uh!“ Das letzte Geräusch galt einer großen Schüssel Nudeln, die vor ihm abgesetzt wurde. Darauf schwammen unförmige, tempura-artige Teiggebilde. Ja, das sah Toshi mehr nach hide aus. Er lehnte sich ein Stück zurück, als seine Nudelsuppe mit Ente auftauchte. „Also dann“, sagte er. „Itadakimasu.“ „Itadakimasu“, sagte hide. „Danke.“ Er erschien Toshi immer noch (oder eher wieder?) ein bisschen zerknirscht. Doch die Art, wie hide die ersten Bissen nahm, sagte ihm, dass ihm vermutlich bald vergeben war. Mit einem schiefen Lächeln nahm Toshi seine Stäbchen zur Hand und fing an. Es gab keine gutaussehende Art, Ramen zu essen. Das war Toshi von vorne herein klar gewesen und dennoch war er fast sofort ein bisschen frustriert. Vielleicht war es wirklich besser, dass hide ihm nicht gegenüber saß. Sonst klebte ihm am Ende noch eine Nudel am Kinn. [DIE NUDEL!!!] Er legte die Stäbchen peinlich berührt weg und nahm lieber erst einmal ein paar Löffel Suppe, während hide neben ihm genüsslich vor sich hinschlürfte. Schließlich endete das Schlürfen. „Und, wie war dein Tag?“, nuschelte hide an einem Mund voller Nudeln vorbei. Toshi ließ den Löffel sinken und griff doch wieder zu den Stäbchen. Bei ihm sahen Hamsterbacken vermutlich weniger putzig aus als an hide, aber er hatte Hunger – und wollte dem Gitarristen lieber nicht erklären müssen, warum er nicht aß, wenn die Antwort lautete ‘Ich versuche, für dich möglichst gut auszusehen‘. „In Ordnung“, sagte er und fischte nach Nudeln. „Wie immer. Schule und Volleyball und so. Yoshiki wurde beim Rauchen erwischt und war mega angepisst. Nur als Warnung für die Probe am Samstag. Ich glaub, das hält noch ‘ne Weile vor.“ „Ok?“, machte hide fragend. Er hatte runtergeschluckt. „Ja“, sagte Toshi. „er kam da nur durch einen faustischen Pakt wieder raus. … seine Worte, nicht meine“, hängte er an, als er hides Gesichtsausdruck sah. „Was hat denn eine Faust damit zu tun?“, fragte hide irritiert. „Nicht so wichtig“, sagte Toshi. „Wie war dein Tag?“ „Ganz gut. Stressig. Schule, Kaligrafie, Lernen, hier.“ Er trank einen Schluck Limo und schaute kurz schuldbewusst in Richtung Toshi. „… bin zwischendurch eingeschlafen. Das war nicht geplant.“ „Das ist ok“, sagte Toshi. Immer noch. „Du hast viel um die Ohren. Ich find’s ja schön, dass das hier geklappt hat.“ So schön… Doch neben ihm schob der Gitarrist die Unterlippe ein Stück vor. „Als ich aufgewacht bin, klebte meine Mathehausaufgabe an meiner Stirn“, beschwerte sich hide, so kläglich, dass Toshi in seine Nudeln prusten musste. hide schlug ihm gegen den Oberarm. „Nicht lustig!“ „Naja“, sagte Toshi und klickte zweimal mit seinen Stäbchen, „so ein bisschen lustig?“ „… von mir aus.“ Sie wandten sich ihren jeweiligen Suppen zu. „Willst du mal probieren?“, fragte hide. Toshi warf der äußerst herzinfarktverursachenden Angelegenheit in hides Schüssel einen zweifelnden Blick zu. „Nein Danke“, sagte er also schließlich. Und deutete hides Gesichtsausdruck richtig, als er anbot: „Möchtest du?“ „Darf ich Ente?“, fragte hide, nachdem er sich noch einige wenige Augenblicke geziert hatte. Gutes Essen war in diesem speziellen Fall wichtiger als Stolz. „Ja.“ „Danke.“ Er fischte einen Happen Fleisch aus Toshis Schüssel. „Yaaay!“ Und verschwunden war es. Toshi kehrte mit einem Lächeln zu seinen Ramen zurück. Das hier brauchte ein bisschen Aufmerksamkeit. „Was machst du eigentlich ab Mai?“, fragte hide, als er gerade versuchte, ein Stück Ente so zu falten, dass er es in den Mund bekam. Oder genauer gesagt war er schon beim zweiten Teil. Leider verhielt sich die Scheibe Tierkadaver im Folgenden äußerst unkooperativ und er musste eine Hand vorhalten, um keinen Einblick auf das Innenleben seines Mundraumes zu geben. Und kauen, kauen, kauen, komm schon, runter damit… Die Ente hatte darauf so gar keine Lust. Grandioses Timing… „Ich weiß nicht“, sagte er, als das Fleischstück endlich war, wo es hingehörte. „Ich nehme an, ich suche mir auch eine Arbeit und singe.“ „Einfach so?“, fragte hide. „Naja.“ Toshi zuckte mit den Schultern. „Ich hab Yoshiki gesagt, dass ich es versuche. Also versuch ich es. Wenn ich mit fünfundzwanzig noch keine Erfolge sehe, werde ich mir allmählich Sorgen machen. Auch, was die Wahl meiner Freunde angeht. Bis dahin… schauen wir mal.“ hide stützte den linken Arm auf den Tresen und schaute Toshi direkt an. Dieser hörte auf zu essen. Die Frage musste wichtig sein. „… glaubst du denn, dass das Zukunft hat?“ „Die Band?“ „Ja.“ Eine ganze Weile lang schaute Toshi dem Koch beim Einfüllen viererlei Ramen zu, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Dann blickte er zurück zu hide. „Ich glaube, es ist unmöglich.“ hide nickte langsam, als hätte er diese Antwort befürchtet, biss von einem der Teigbatzen ab und nuschelte: „Warum machst du dann das alles hier?“ Der Sänger zuckte ratlos mit den Schultern. „Weil Yoshiki das schaffen will. Er ist scheiße in Mathe, Wahrscheinlichkeiten halten ihn also nicht auf.“ Der andere Junge lachte leise. Toshi zog einen Mundwinkel hoch, doch seine Augen lächelten nicht mit, als er fortfuhr: „Und ich weiß, er wird es immer weiter versuchen, bis er es schafft. Oder es ihn umbringt. Vielleicht beides.“ Noch einmal rührte er in der Schüssel, als würden ihm die Nudeln darin bei genauerer Untersuchung seine Zukunft vorhersagen. „Und was für ein Freund wäre ich, wenn ich einfach daneben stehen und dabei zuschauen würde.“ Neben ihm war hide wieder ernst geworden und schaute nachdenklich in seine eigene Suppe. Die Fettaugen in der Schüssel schauten zurück. Schließlich fragte er: „Warum will er das eigentlich so sehr?“ Toshi zögerte unmerklich. Es gab Dinge, die auszusprechen ihm nicht zustanden. Also sagte er: „Ich bin nicht sicher. Es hat was mit seinem Vater zu tun, aber was genau da in ihm vorgeht, weiß ich auch nicht. Er redet da nur sehr selten drüber.“ „Ok“, sagte hide. Eine Minute aßen sie schweigend vor sich hin. Als Toshi das nächste Mal zur Seite schaute, betrachtete hide noch einmal die Karte an der Wand. Vielleicht liebäugelte er mit der sehr kurzen Dessert-Spalte. Vielleicht aber auch nicht, denn in diesem Moment sah der andere Junge zurück zu ihm und fragte: „Ich versteh Yoshiki – nehm ich an. Er hat Glück, dass er dich hat. Aber… was hast du denn davon?“ Toshi zog die Augenbrauen zusammen. Was er davon hatte? So hatte er noch nie darüber nachgedacht. Sofort wusste er deshalb, dass er darauf keine Antwort hatte, keine Antwort haben konnte und, dachte er nahtlos weiter, hoffentlich niemals eine brauchen würde. Wenn dieser Moment kam, war es vorbei. „Ich weiß nicht. Er ist mein Freund. Das reicht mir.“ Ein etwas unangenehmer Gedanke kam ihm, während er den Blick weiter auf hides Profil gerichtet hatte: Bewertete er seine Beziehungen denn mit Kosten und Nutzen? Dann bemerkte er eine leichte Bewegung in hides Zügen. „Was?“, fragte Toshi. „Nichts.“ hide grinste leicht, erst in seine Suppe und dann zu Toshi. „Ich frag mich um ehrlich zu sein gerade, ob ich das bewundernswert oder dumm finde. Tut mir leid.“ Nein, dachte Toshi. hide war nicht der Typ, der in wirtschaftlichen Kategorien dachte… zumindest nicht tief drin. Daran würde er einfach glauben. Musste er glauben. Solange er konnte. „Ist in Ordnung. Ich frag mich das auch manchmal.“ Toshi fischte mit einem leichten Lächeln nach einem weiteren Stück Ente. Und beschloss, dass das jetzt definitiv genug Yoshiki für den Abend war. Yoshiki hatten sie so schon genug. „Hast… du irgendwelche Pläne?“, fragte er zögerlich. „Sag bitte, wenn das das falsche Thema ist und wir lieber…“ hide schlürfte Nudelenden in seinen Mund und wischte sich mit dem Handrücken Brühe vom Kinn. „Das ist in Ordnung. Uhm… Pläne… Pläne wäre zu viel gesagt. Hängt davon ab, ob ich einen Abschluss kriege oder nicht. Wenn ich einen kriege, mach ich… irgendwas. Wenn ich keinen kriege, mach ich auch irgendwas, nur ähm… schlechter. Ja.“ Er begann eine neue Stäbchenladung aufzufischen. Die Nudeln wollten nicht. hide ließ sie also in Ruhe und suchte stattdessen nach weiteren Stücken von teigumhülltem Gemüse. Er wurde fündig. „Willst du denn irgendwas Bestimmtes?“, fragte Toshi. „Weiß nicht“, sagte hide kauend. „Muss ich nochmal in mich gehen. Früher wollte ich immer was mit Kunst machen, aber dann hieß es, das wär scheiße und ich soll lieber was Bodenständiges lernen und ja. Jetzt muss ich den ganzen Mist erstmal… aussortieren und rausfinden, was davon wirklich von mir ist und was man mir eingeredet hat. Klingt komisch. Ist aber so. Kann eine Weile dauern. Und gerade hab ich keine Zeit dazu… Was ist mit dir?“ Toshi wurde rot. „Was soll sein?“ „Du guckst so.“ „Ich schau dich halt an, wenn du redest!“, verteidigte sich der Sänger. Dann seufzte er und gestand dem letzten Stück Ente in seiner Schüssel, dass er kein guter Lügner war. „Ich… keine Ahnung. Glaubst du, dass du vielleicht… nicht mehr mit uns spielen wirst, wenn du irgendwas anderes findest?“ „Tz“, machte hide amüsiert und steckte sich den Rest Teigbatzen in den Mund. „Ich hatte jetzt unter anderem wegen euch schon so viel Scheiße am Schuh kleben, dann kann ich jetzt auch sehen, wo das weiter hinläuft.“ „Ist das ein Nein?“, fragte Toshi. „Das ist ein Nein“, bestätigte hide kauend. „Ich spiele.“ „Gut“, sagte Toshi, ungewollt erleichtert. „Gut…“ Er piekte sein letztes Stück Ente auf. „Redest du eigentlich noch mit deiner Mutter?“, fragte er, als sie die Schüsseln etwa zur Hälfte geleert hatten. „Selten“, antwortete hide nach einigen Sekunden der Stille. „Ich hab ihr zuletzt gesagt, dass ich nicht mehr im Hostel bin. Das war alles.“ „Hast du ihr gesagt, dass du bei Pata wohnst?“ hide starrte vor sich hin. „Nein“, gab er schließlich zu. „Es ist mir ganz lieb, wenn sie das nicht weiß.“ „Wieso?“, fragte Toshi leise. „Ich…“, sagte hide sehr langsam und rührte in der Brühe vor sich, „vertrau ihr nicht? Ist schlimm, das von seinen Eltern zu sagen, ich weiß. Aber kann man nichts mehr machen. Der Zug ist abgefahren.“ Er zuckte mit den Schultern, lächelte und angelte ein letztes, versunkenes Stück Tempurateig aus der Schüssel, das sein Rühren zutage gefördert hatte. Toshi wandte sich wieder seiner Suppe zu, knetete seine Stäbchen und räusperte sich schließlich unbehaglich. „Tut mir leid. Jetzt hab ich dich ausgefragt. Ich wollte nicht, dass das hier… ein Verhör wird.“ „Alles gut“, antwortete hide. „Lass uns jetzt einfach das Thema wechseln, ja?“ „Ja.“ Toshi dachte kurz nach. „Ähm… Kunst?“, fragte er dann. „Kannst du?“ hide zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht. Nicht mehr. Keine Ahnung. Ich hab mal ziemlich gern gezeichnet. Aber das ist lang her…“ Das Thema schien ihm nicht unbedingt besser zu gefallen und Toshi begann, krampfhaft seinen Hinterkopf nach fröhlicherem Gesprächsstoff zu durchforsten. Doch hide nahm die Sache bereits selbst in die Hand. Vielleicht wollte er um seiner selbst willen vermeiden, dass Toshi noch einmal ein Thema vorschlug. „Erzähl mir mal von deiner Familie. Du hast doch auch eine, oder nicht?“ Er warf ihm einen Seitenblick zu. Toshi räusperte sich. Sehr gut. Das erschien ihm ein unverfänglicher Gegenstand. „Öhm. Ja. Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich hab eine Mutter, einen Vater und zwei Geschwister. Mein Bruder ist elf und meine Schwester fünf.“ „Süß“, meinte hide. „Naja“, sagte Toshi. „Manchmal vielleicht. Aber sie machen einen auch wahnsinnig.“ Der Gitarrist grinste leicht und angelte ein paar Nudeln. „Möchtest du mir ein paar Anekdoten erzählen?“ Und wenn es nur dem Zweck diente, dass hide wieder fröhlicher aus der Wäsche schaute: Toshi hätte sich mit Freuden den Mund fusselig geredet. Eine gute Stunde später traten sie zusammen aus dem warmen Restaurant hinaus auf die abendliche Straße. „Wo musst du hin?“, fragte hide. „Bahn?“ „Ja“, antwortete Toshi. „Dann begleite ich dich noch.“ „Sicher?“ Es war inzwischen ziemlich kühl geworden und der Wind unangenehm. „Du hast gerade erst aufgehört, in der Gegend rum zu kulchen.“ „Nah“, machte hide. „Wir haben doch gelernt, dass ich jetzt den besten Schal der Welt besitze.“ Um den Punkt zu verdeutlichen, zog er das bunte, riesige, hässliche Ding noch ein Stück höher. „Ich saß den ganzen Tag am Schreibtisch, das hier tut mir vermutlich ganz gut.“ „Na dann“, sagte Toshi setzte sich in Bewegung. Er war der Letzte, der gegen weitere Minuten in hides Gegenwart protestieren würde. Nach einem alles in allem doch recht gelungenen Abendessen neben hide durch die Straßen zu gehen fühlte sich richtig an. Gut, natürlich, warm. Es konnte von ihm aus in Zukunft jeden Tag so sein. Doch eine Sache störte ihn… „hide“, begann er schließlich vorsichtig, „kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Klar“, willigte hide freimütig ein. Essen machte ihn immer zufrieden und umgänglich. „Was?“ „Kannst du bitte aufhören zu lächeln, wenn du es nicht meinst?“ Bis zur nächsten Straßenecke gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte hide, alle Versuche einer Verteidigung unterlassend: „Ist dir klar, wie sehr das meine Mimik einschränkt?“ „Dann ist das halt so. Aber ich will nicht dauernd drüber nachdenken müssen, ob du’s ehrlich meinst, wenn du fröhlich aussiehst. Das ist… anstrengend. Warum machst du das?“ hide schwieg einige weitere Schritte lang, bevor er antwortete. „Weiß nicht. Ich nehme an, weil es einfacher ist, zu sagen, dass alles in Ordnung ist, als zu erklären, warum … es einem manchmal zu viel wird.“ Darauf wusste Toshi nichts zu sagen. Er verstand auf einer Ebene, was hide sagen wollte, doch gleichzeitig verstand er es auf einer anderen Ebene auch nicht. Also nickte er nur. Als sie das nächste Mal an einer Straßenlaterne vorbeikamen, warf er einen Blick zur Seite. hide sah wirklich ein ganzes Stück älter aus, wenn er nicht auf dem Spaß-Modus lief. Da war ein ernster Zug um seine Augen herum, der von jenen Dingen erzählte, die gerne in den frühen Morgenstunden aus dem Unterbewusstsein gekrochen kamen, um wirre Gedanken und schlechte Träume zu bringen. Aber das machte nichts. Toshi sah wieder nach vorne. Er mochte alle hides, die es gab. Auch die, deren Anblick ihm ein kleines Messer zwischen die Rippen rammte. Schweigend gingen sie nebeneinander her die Viertelstunde zur Bahnstation. Auf dem Gleis angekommen unterhielten sie sich noch einige Minuten über das und jenes, absolut unwichtige Alltagsdinge, von denen Toshi wusste, dass er sie sich merken würde, nur weil sie aus hides Mund kamen. Als in der Ferne der Zug aus der Dunkelheit auftauchte, wandte er sich an ihn. „… du umarmst nicht, oder?“, fragte Toshi. „Mmh, naja, doch. Manche Leute schon. Vielleicht. Ich probier’s mal“, sagte hide mit dem Anflug eines Lächelns und breitete die Arme aus. Toshi zögerte einen Moment, wusste nicht genau, wo er seine Arme hinpacken sollte oder seinen Kopf oder sich selbst. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er entsetzt, er hätte tatsächlich vergessen, wie man jemanden umarmt. Doch dann klinkte sich zum Glück sein Muskelgedächtnis ein. Arme um die Taille, Kopf nach rechts, sich selbst näher, aber nicht zu nah. Trotzdem war es viel zu nah für einen öffentlichen Platz. hide legte das Kinn auf seiner rechten Schulter ab und eine Hand zwischen seine Schulterblätter. Die anderen Menschen am Gleis ignorierten sie. Toshi schloss die Augen. Ihm war plötzlich wieder schwindlig und viel zu warm. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, laut und kräftig und so schnell, dass er es für unmöglich hielt, dass hide es nicht merkte und er wünschte sich, er könne hier stehen und diesen Jungen, den er aus ihm unerfindlichen Gründen mochte an sich drücken, bis eines Tages die Sonne ausbrannte. Doch er wollte noch etwas sagen, also ließ er hide nach einigen Sekunden los. Vermutlich war es so schon zu lang gewesen. „hide…“ Der Gitarrist rieb sich den Oberarm, als wisse er nicht genau, wie man mit dem Moment nach einer Umarmung angemessen umging, doch er machte auch keinen Schritt zurück, um wieder mehr Abstand zwischen sie zu bringen. „Ja?“ Toshi ließ den Blick noch einmal über ihn wandern, Großaufnahme aus nächster Nähe. Das kalte Licht der Straßenlaternen ließ hide gräulich und ein wenig krank aussehen, doch Toshi erging es vermutlich nicht besser. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, in der Luft lag der Geruch von Elektrizität und Abgasen. Nichts hier war wie in einem Liebesfilm und der riesige hässliche flauschige Wollschal machte es nicht besser. „Ich…“ Toshi steckte die Hände in die Jackentaschen. In der rechten fand seine Hand ein einzelnes Geldstück und beschäftigte sich im Folgenden damit. „Wir kennen uns nicht wirklich gut. Deswegen ist das vielleicht komisch. Aber ich will, dass du weißt… wenn man was für dich tun kann… du kannst mit mir reden, in Ordnung? Wenn irgendwas ist. Oder wenn du irgendwas brauchst. Und wenn es nur… keine Ahnung, ein… Purin ist.” Das war keine Liebeserklärung im traditionellen Sinne, doch alles in allem fand Toshi sie eigentlich gelungen. Leider war die Reaktion eine andere als erwartet. Nach einigen Sekunden Stille blickte hide zur Seite, atmete resigniert durch und auf einmal war da eine kühle Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht. Toshi erkannte fast sofort, wo er falsch abgebogen war. Doch es war bereits zu spät. „… werdet ihr irgendwann wieder aufhören, mich zu behandeln, als wäre ich bedürftig?“, fragte hide. Die Worte versetzten Toshi einen Stich, der mehr wehtat, als er gedacht hätte. Sein Inneres wand sich. „Ich glaube nicht, dass du bedürftig bist“, sagte er beschwichtigend, nach allen Regeln der Kunst um Schadensbegrenzung bemüht. „Ich wollte nur… sagen, dass ich da bin. Für dich. Und so.“ hide starrte einige Sekunden lang an Toshi vorbei ins Gleisbett. „Ok“, sagte er schließlich. Er sagte nicht Danke. „Ok“, sagte Toshi. Eine etwas seltsame Stille trat ein. Neben ihnen hielt der Zug, einige wenige Leute stiegen aus, noch weniger stiegen zu. Toshi hatte gerade noch Zeit sich zu fragen, warum genau dieser eigentlich schöne Abend in die Jauchegrube gefallen war. Dann musste er gehen. „Bis Samstag“, sagte er also. „Ja“, sagte hide. Toshi wandte sich ab. Nach wenigen Schritten stockte er für eine Zehntelsekunde. Er hatte etwas vergessen. Er hatte hide nicht gesagt, dass er ihn mochte. Und noch schlimmer war: Er war sich nicht ganz sicher, ob es einen Unterschied machte. Als er sich auf der obersten Stufe noch einmal umdrehte, war hide bereits verschwunden. Toshi seufzte lautlos, ging weiter in den Wagon zu seiner rechten und ließ sich auf einen Platz am Fenster fallen. Er fühlte sich komisch; seltsam unvollständig, seltsam leer. Vielleicht war es schon länger her und es fiel ihm nur jetzt erst auf, wo ihn seine eigene Unvollständigkeit plötzlich schmerzte. Doch irgendwann, klammheimlich und kommentarlos, hatte er hide einen Teil von sich anvertraut, mit dem dieser jetzt machen konnte, was er wollte. Einen Teil, von dem Toshi wusste, dass hide ihn bewahren und ehren oder auch in hunderttausend Stücke zerbrechen konnte. Und das erschien ihm auf einmal überaus verhängnisvoll. Immerhin – hide war nicht ganz stabil. Vor dieser Wahrheit konnte er die Augen nicht mehr verschließen. Es war offensichtlich, dass ihn bereits normale menschliche Nähe überforderte. Wie sollte man so jemandem sagen, dass man seine Augen mochte, seinen schrecklich infantilen Humor, die Schnute, die er zog, wenn er sich wirklich konzentrierte? Dass man jeden Abend neben ihm einschlafen wollte und sich nichts mehr wünschte, als ihn glücklich zu sehen? Das konnte nicht gut gehen. Und wenn er ehrlich mit sich war, ganz ehrlich, dann wünschte Toshi sich gerade, er könne etwas dagegen tun, wie vollkommen, absolut, Hals über Kopf verliebt er war. Für sich selbst, aber auch für hide. Würde er das Stück von Toshis Herz jemals in seinen Taschen finden, es würde ihn vermutlich mehr belasten, als es ihm gut tat - geschweige denn, dass er wissen würde, was er jetzt damit anfing. Und welche Folgen das für ihn selbst haben konnte… darüber wollte Toshi jetzt lieber noch nicht nachdenken. Wahrscheinlicher war gerade ohnehin, dass der Teil Herz einfach niemals gefunden wurde, weil hide von selbst nicht auf die Idee kam, seine vermutet leeren Taschen durchzuschauen. Toshi war ein kluger junger Mann. Deswegen wusste er, dass es das Schlauste wäre, sich am Samstag bei hide zu entschuldigen, sein Teil Herz unauffällig wieder an sich zu nehmen, es ganz hinten in eine Schublade zu packen und dann wenn möglich dort zu vergessen. Doch er wusste auch, dass es aussichtslos war: Selbst jetzt, wo ihn Zweifel ohne Ende plagten, schloss er die Augen und suchte nach dem leichten, bereits fast wieder verflogenen Geruch von Caster und Vanille, der an seiner Jacke hängen geblieben war und fand ein wenig Trost darin. Es war zum Lachen und zum Heulen. Aber was wollte er machen? Das Herz wollte eben, was es wollte. Da gab es keinen logisch begründbaren Weg raus. Er öffnete die Augen wieder, folgte mit dem Blick den draußen vorbeiziehenden Lichtern und verlor sich in der Dunkelheit zwischen ihnen. Er hatte hide getroffen, ihn für perfekt gehalten und sich verliebt. Und jetzt hatte er hide kennengelernt, gesehen, dass er nicht perfekt war - und liebte ihn noch mehr. Er war ein masochistischer Vollidiot. -X- Als er am Freitag nach der Schule zuhause zur Tür hereinkam, begrüßten ihn Wärme, der Geruch des Abendessens und ein quäkendes Mädchen, das ihm gleich alles erzählen musste, was heute passiert war. Es tat Toshi ernsthaft leid, dass er ihr kein bisschen zuhörte – sein Tag war lang gewesen und seit gestern fand er ohnehin alles irgendwie scheiße. „Ist das Toshi?“, fragte seine Mutter aus der Küche und würgte seine Schwester damit in der Mitte einer Erzählung über eine Spinne im linken Gummistiefel ihrer Freundin ab. „Ja!“, rief Akimi zurück. „Frag ihn mal, was er am Montag für einen Kuchen will.“ „Mir egal“, sagte Toshi lustlos und stellte seine Schuhe ordentlich neben die seines Vaters. Ihm war gerade wirklich nicht nach feiern. „Schokolade!“, rief Akimi zurück. Toshi verdrehte die Augen. Ein Außenstehender könnte sich fragen, wer hier Geburtstag hatte. Aber gut. Sollte ihm Recht sein. Im Endeffekt hatten seine Geschwister bereits seit einigen Jahren wesentlich mehr von diesem Tag als er. Kuchen und Kerzen und Glückwünsche verloren mit jedem Jahr ein wenig mehr von ihrem Zauber, traurig aber wahr. Vielleicht lag es daran, dass man die übrigen 364 Tage im Jahr genug Zeit hatte, um allmählich zu begreifen, was Älterwerden bedeutete – und dass es nicht halb so toll war, wie man es sich ausgemalt hatte. Mit einem lautlosen Seufzen richtete er sich auf, ließ Akimi stehen, warf einen kurzen Gruß in die Wohnküche und betrat dann das Zimmer, dass er sich mit Hiro teilte. Dieser saß gerade am Wohnzimmertisch und machte Hausaufgaben, also hatte er den Raum für sich. Seit er auf der Highschool war, war das die Abmachung: Toshi brauchte tagsüber Ruhe zum Lernen, oder so in der Art lautete die Begründung. Gerade war er einfach nur froh, eine Tür zwischen sich in der Welt zu haben, die er schließen konnte. -X- „… und Momotaro, der Hund, der Affe und der Fasan blieben Freunde bis an ihr Lebensende.“ Toshi klappte das Buch zu. „Nochmal!“, rief Akimi und strampelte einmal mit den kurzen Beinchen. Er saß im Schlafzimmer seiner Eltern auf dem Boden neben Akimis Futon und brachte die allabendliche Zeremonie hinter sich. Normalerweise machte ihm das Freude und er nutzte die Zeit, um selbst mit seinem Tag abzuschließen, doch heute erschien es ihm vollkommen inakzeptabel. „Das kannst du vergessen“, sagte er daher entschieden. „Ich bin müde und ich will ins Bett.“ Er stellte sich innerlich auf eine längere Diskussion ein, doch zu seiner Überraschung blieb seine Schwester still, zog sich die Decke bis unters Kinn und schaute ihn aus großen Augen prüfend an. Toshi schaute zurück. „Bist du traurig?“, fragte sie. Toshi seufzte und betrachtete das Blumenmuster auf ihrer Bettdecke. Kinder hatten manchmal einfach diese Gabe, unangenehm zutreffende Beobachtungen zu machen. Hiro war noch schlimmer gewesen, aber zum Glück allmählich aus dem Alter raus. „Ein bisschen“, sagte er schließlich. „Warum?“, fragte sie. „Du hast doch übermorgen Geburtstag. Wir haben es nicht vergessen!“ Toshi musste schief lächeln. Diese Zeit im Leben, wo Geburtstag und Ausflug in den Zoo alle anderen Probleme erst einmal lösten. Damals war alles noch irgendwie einfacher gewesen… oder so redete man sich ein. „Ja. Das stimmt. Ich freu mich auch.“ „Und warum bist du dann traurig?“ Unverständnis sprach aus ihrem Gesicht. Aber auch ehrliches Interesse. Das konnte er nicht enttäuschen, ohne ein Arsch zu sein. Er seufzte noch einmal. „Da… ist … diese…s Mädchen, das ich mag. Aber sie mag mich, glaube ich, nicht zurück.“ „Warum?“ „Es ist schwierig. Ich glaube, es ist ihr zu viel. Aber egal…“ Toshi lehnte sich zur Seite und legte das Buch zurück in Akimis Buchkiste. „Wir passen eh nicht zusammen.“ „Warum?“ Boah… Warum-Fragen waren schrecklich! Einen Moment war Toshi danach, einfach weil halt zu sagen und das Thema abzuhaken. Doch dann beschloss er, wirklich darüber nachzudenken. Vielleicht kam sogar etwas Nützliches für sein Gespräch mit hide dabei herum. „Wenn wir… Onigiri wären“, sagte er schließlich, „wäre sie Avocado und Mayo und Thunfisch und Wasabi, und ich wäre… Reis ohne alles.“ Akimi betrachtete ihn ein wenig nachdenklich. „Dir wird doch immer schlecht von Mayo“, sagte sie und drehte sich auf die Seite, um ihn besser anschauen zu können. „Ja“, sagte Toshi. „Warum nimmst du dann kein anderes Onigiri? Ohne Mayo?“ „Weil es dann nicht mehr das Onigiri wäre, das ich will.“ „Du bist komisch“, befand seine Schwester und kuschelte sich tiefer ins Kissen. „Ja“, stimmte Toshi ihr zu. Darüber konnte man wohl nicht mehr streiten. Und er wusste nicht, wie er einem fünfjährigen Mädchen erklären sollte, dass das mit dem Mögen komplizierter wurde, wenn man erst einmal Haare an bestimmten Stellen bekam. Nachdenklich nestelte seine Schwester an einem Zipfel ihrer buntgemusterten Zudecke herum. „Mama macht mir immer Reisbällchen ohne alles, wenn ich krank bin.“ „Ja. Da ist das so. Aber die sind halt langweilig.“ Akimi schaute ihn noch eine ganze Weile angestrengt an und vollbrachte eine für ihr Alter bemerkenswerte Transferleistung, als sie schließlich fragte: „Findet sie dich denn langweilig? Ich find dich nicht langweilig.“ Toshi schaute auf seine Hände. „Ich weiß nicht.“ „Hast du nicht gefragt?“ „Nein.“ „Warum?“ „Weil sie dann weiß, dass ich sie mag.“ „Und du willst das nicht?“ „Nein. Noch nicht. Vielleicht auch gar nicht.“ „Warum?“ Toshi seufzte. Warum-Fragen! Wenn man nur genug davon gestellt bekam, reduzierte das wohl jedes halbwegs intelligente Lebewesen irgendwann zu einem heulenden Etwas in einer Gummizelle. Er konnte nur hoffen, dass sie bald damit aufhörte. „Weil es jetzt… in Ordnung ist. So mag sie mich vielleicht nicht so sehr wie ich sie, aber zumindest ist sie da. Wenn ich ihr sage, wie sehr ich sie mag, dann… hab ich sie vielleicht gar nicht mehr.“ Akimi runzelte die Stirn. Das ging jetzt eindeutig über ihr Verständnis hinaus. Vermutlich waren in ihrer Welt mögen und nicht-mögen noch klar voneinander getrennt, mit wenig Luft dazwischen. Mögen war einfach. „Du bist wirklich komisch… Pokko?“ Sie deutete auf ihr Plüschtierregal. Toshi stand auf, angelte nach dem gelben Stoffküken und setze es seiner Schwester aufs Kopfkissen. Diese nahm das Kuscheltier in die Hände und hielt es sich vors Gesicht, bevor sie es in den Arm nahm. „Weißt du“, sagte sie dann, während Toshi sich wieder neben sie auf den Boden setzte, „ich mag kein Wasabi. Wasabi brennt… und Mama mag auch keine Mayo und Hina mag keinen Thunfisch und Sosuke und Yuki sagen, Avocado schmeckt wie altes Ei. Reis ist immer gut.“ Akimi gähnte und drückte das Huhn an sich. „Jeder mag Reis… Reis passt zu allem…“ Ihr Bruder legte die Hände in den Schoß und dachte darüber nach, was sie vielleicht oder vielleicht auch nicht gesagt hatte. Plötzlich war er sich doch nicht ganz sicher, ob Akimi über Reis redete, oder ob sie vielleicht wirklich verstand, worum es ging. Wie viel hatte er in ihrem Alter von diesen Dingen mitgekriegt? Er erinnerte sich beim besten Willen nicht mehr. „Mmh“, machte er nach einiger Zeit. „Mein Onigiri hat es ziemlich schwer dann, was?“ Doch als er nach einer Bestätigung suchend zu dem Mädchen schaute, schlief sie bereits. -X- Mit der Probe am nächsten Tag würde Toshi in seiner Erinnerung vor allem zwei Dinge verbinden: Sie erschien ihm unendlich lang und sie erschien ihm noch unendlicher unangenehm. Obwohl er keine Spannung spüren konnte, die einen aktiven Streit zwischen hide und ihm angezeigt hätte, war da etwas unbeholfenes, sperriges in der Art, wie hide seinem Blick auswich und Toshi versuchte, beim Singen nicht durch den Raum und damit in seine Richtung zu wandern, wie er das sonst gerne machte. In der Pause schließlich traf er den Gitarristen am Kühlschrank, als dieser gerade ein Erdnussmochi aus der Packung zog. Er warf einen Blick über die Schulter, wo Taiji und Yoshiki erstaunlich zivilisiert über einen Chorus sprachen und Pata vom Sofa aus hin und wieder einen qualifizierten Kommentar dazugab und drehte sich dann wieder zu hide. „Können wir kurz reden?“, murmelte er fast lautlos. hide nickte. Schweigend, und ohne den anderen einen Vorwand zu liefern – Toshi wusste genug über solche Situationen, um sich im Klaren zu sein, dass Verhalten, das einem selbst merkwürdig vorkam, erst dann wirklich merkwürdig wurde, wenn man stammelnd zu einer Erklärung desselbigen ansetzte – traten sie nach draußen auf den Gang und gingen einen Treppenabsatz nach oben. Dort hielten sie wie auf ein geheimes Signal hin inne. Ein paar Sekunden lang sahen sie einander unschlüssig an. „Ja“, begann Toshi schließlich, „also, ich wollte mich entschuldigen. Anscheinend hab ich vorgestern was Falsches gesagt und wenn ich dich da irgendwie verletzt habe, tut es mir leid und ich hoffe, wir können einfach vergessen, dass das passiert ist. Ja. So.“ hide seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein. Es war auch blöd von mir. Ich weiß ja, du wolltest nur … nett sein, irgendwie. Ihr wollt ja alle nur… egal. Ich bin gerade einfach ein bisschen… angespannt. Also ja. Vergessen klingt gut.“ Er hatte das Mochi noch in der Hand und irgendwie verlieh der inzwischen etwas angedätschte [ein bisschen Mundart hat noch keinem geschadet] Reismehlbatzen der Situation eine ganz eigene Art grotesker Komik. Doch Toshi war nicht nach lachen. „Ok“, sagte er also nur. „Ok“, sagte hide. Déjà-vu. Sie schauten sich weitere Sekunden unschlüssig an. Oder genauer, Toshi schaute hide an. hide schaute auf alles andere: erst den Boden neben Toshi, dann seine eigenen Schuhe, dann schließlich das Mochi und die Spuren von Kinako, die selbiges an seinen Fingerspitzen hinterlassen hatte. Toshi folgte seinem Blick kurz zu diesen filigranen Händen und wanderte dann wieder nach oben. Wenn du weißt, was gut für dich ist, riet ihm seine schlaue Stimme aus dem subgenualen präfrontalen Kortex, Nimm was du zurückkriegen kannst und dann sieh zu, dass du von ihm weg kommst. hide räusperte sich. „Ich… werd dann mal wieder reingehen, ok?“ Der Sänger nickte. „Klar. Ich komm gleich nach.“ Er dachte nicht einmal darüber nach, ob und was er vielleicht sonst noch sagen konnte. Sieh zu, dass du weg kommst. hide lächelte leicht, trat noch einmal vom linken auf den rechten Fuß wie ein nervöser Schuljunge und verschwand dann mit einem letzten flüchtigen Blick in Toshis ungefähre Richtung und einem Biss in sein Mochi wieder in den Raum. Weg. Ein letzter Anblick seines Gesichts im Profil und der Klang von Taijis Stimme, bevor hide die Tür hinter sich zuzog. Toshi starrte auf die nun geschlossene Tür. Versagt, dachte er nach einigen Sekunden. Er hatte versagt. Bei der Rettung seines Herzens genauso wie bei der Eroberung von hides. Und dann dachte er weiter: Aber ich bleibe. Ich kann nicht anders. Und damit hatte er es gedacht. Sein Untergang schien besiegelt. Er wollte sich umdrehen und gehen. Umdrehen und rennen, und dabei niemals auch nur einmal anhalten, um Luft zu holen. Doch er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht. Warum konnte er es nicht? Gut. Er hatte jetzt auch zwölf Schuljahre hinter sich und wusste: Liebe war nichts anderes als ein abgedrehter Hormoncocktail, der in seiner Wirkung einer Drogenabhängigkeit letztlich nicht ganz unähnlich war. War es das? Einfach nur das? Er war ein Junkie? High on hide? Nein. Toshi schüttelte den Kopf. Das klang so gar nicht nach ihm. Was also dann? In diesem Moment ging die Tür wieder auf und Toshi war auf einmal Angesicht zu Angesicht mit Yoshiki. Dieser runzelte die Stirn, folgte Toshis Blick und lugte irritiert auf die Außenseite der Tür. Natürlich gab es dort nichts zu sehen, also schaute er schließlich wieder zurück zu seinem besten Freund. „Was machst du denn da?“ „Nichts. Ich hab noch… was überlegt.“ Yoshiki schaute skeptisch. „Ah ja. Kommst du?“ „Un.“ Toshi wartete, bis Yoshikis Kopf wieder verschwunden war, dann rieb er sich einmal übers Gesicht und seufzte. Was auch immer die Antwort auf diese und alle damit verbundenen Fragen war, er würde sie nicht innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden hier im Keller einer alten Fischfabrik finden. Noch einmal durchatmen, dann ging er zurück nach drinnen. Man wartete auf ihn, doch er stellte sich nicht zurück ans Mikro sondern lehnte sich stattdessen gegen die Tür. Wenn man die Aufmerksamkeit schon mal hatte… „Also, wegen unserem Bandnamen… ich hab nachgedacht“, sagte Toshi. „Hoffentlich ging das gut“, murmelte Taiji und streichelte den Basshals. „Und ich denke“, fuhr Toshi unbeirrt fort, als habe er ihn nicht gehört, „X ist eigentlich gar nicht schlecht. Ich meine, wir wissen nicht genau, wer wir sind und was wir machen. Und vielleicht ist es nicht unklug, sich da nicht festzulegen. Und in Mathe ist’s ja so, dass X nur ein Platzhalter ist Für was auch immer. Unendliche Möglichkeiten.“ „Mmh. Nice“, sagte Yoshiki anerkennend und grinste ihm am Crash vorbei zu. „Das ist eigentlich ziemlich cool“, stimmte hide zu. Er saß noch auf der Kante der Armlehne. „Also das ist es?“, fragte Taiji wenig begeistert. „X? Für den Nerd-Scheiß haben wir jetzt wochenlang gebraucht?“ „Und he“, sagte hide und überkreuzte die Unterarme. „X!“ Yoshiki deutete auf ihn. „Gefällt mir. Das nehmen wir.“ „Ist auch eine gute Koordinationsübung“, sagte hide, schielte und verknotete seine Arme weiter. „Wer das nicht mehr hinbekommt, ist eindeutig zu betrunken.“ Selbst Taiji musste grinsen. -X- Am Montagnachmittag dann saß Toshi mit seiner Familie um den Tisch, aß den Schokoladenkuchen und nahm mit überschwänglichem Dank ein Geldgeschenk entgegen. Er sagte seinen Eltern besser nicht, dass das in etwa reichen würde, um die Schulden zu bezahlen, die er sich bei Yoshiki angesammelt hatten. Hiro schenkte ihm eine große Box Süßkram und Akimi hatte ihm mit äußerster Hingabe ein Bild gemalt und es diesmal sogar auf Pappe geklebt und einen Rahmen aus bunten Nudeln außenherum gebastelt - wohl um zu zeigen, dass es diesmal ernst war. „Magst du es?", fragte sie hibbelnd und guckte ihm abwechselnd über die Schulter und ins Gesicht. „Oh ja”, sagte er. Sie musste lange daran gesessen haben, also sagte man das. „Aber was ist das? Ist das… ein Onigiri?“ „Ja!“, sagte sie erfreut und deutete auf das blassere der beiden Dreiecke. „Das ist ein Onigiri mit allem und das ist eins ohne alles und sie halten Händchen!“ „Das ist bescheuert“, schaltete sich Hiro ein. „Onigiri haben keine Hände, du Dummbatz.“ „Das ist gar nicht bescheuert und meine haben welche!“ Toshi schaute auf das Bild in seinen Händen und einen Moment wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er entschied sich für Lachen und strubbelte ihr einmal durch die Haare. „Danke.“ Später am Abend lag er auf seinem Futon, schaute an die Wand und folgte mit den Augen den dicken Umrandungen der Dreiecke, die er im Halbdunkel gerade noch so ausmachen konnte. Innerhalb dieser Umrandungen, das wusste er, lachten die Reisbällchen viel zu große Lacher, wie zwei bescheuerte, total verliebte Vollidioten. Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht war es das. Vermutlich würde sich nie irgendwer in irgendwen verlieben und gegen Widerstand dranbleiben, wenn es nicht um das Glück wäre. Irgendwie waren Menschen so, nicht wahr? Man glaubte immer, dass Hoffnung größer war als Verzweiflung, Freude größer als Leid und Liebe... Liebe größer als Angst. Wenn man immer Angst hatte, dann konnte man nicht lieben - vor allem nicht auf so eine bescheuerte, selbstzerstörerische Art. Liebe war ein Risiko, und anscheinend eines, das Toshi sich einzugehen nicht ganz ausreden konnte. Die Frage war nur: wie groß genau war das Risiko bei hide? Die Beantwortung dieser Frage, dachte Toshi und drehte sich auf die linke Seite, brauchte definitiv mehr Feldforschung. -X- „Hallo!“, begrüßte hide an einem Spätnachmittag im November ein Mädchen vom Wohnzimmer aus, als er gerade zur Haustür herein und gleich weiter in die Küche gefallen war, um sich Tee zu machen, bevor es mit der Arbeit weiterging. „Öhm“, machte hide, in der Bewegung erstarrt und sehr intelligent. „Hullo?“ Er hatte sie noch nie gesehen. Der erste Gedanke war, dass es eine Freundin von Terumi sein musste, doch erstens war von dieser nichts zu sehen und zweitens erschien sie ihm nicht wie der Typ Mensch, der Freunde hatte. Ja, das war gemein. Und er hatte es gedacht. Nun ja. Weiter im Text. „Ich bin Masami“, sagte das Mädchen, als erkläre das alles. „Ok?“, machte hide, nach wie vor erstarrt wie das Reh im Scheinwerferlicht. Jetzt schaute sie etwas verwirrt und, auf eine freundliche Art, entrüstet. hide hatte seit seiner Kindergartenzeit niemanden mehr getroffen, der diese Kombination schaffte - damals hatte er sich mit dem Gesicht voran in die „Hat Tomo nie von mir erzählt?“ „Öhm…“, machte hide einen weiteren, unbestimmten Laut. Er wusste nicht ganz, welche Antwort hier in Patas Sinne war und vielleicht fiel die Antwort ja in den nächsten drei Sekunden vom Himmel. Und tatsächlich: er wurde gerettet. „Wir hatten noch kein Männergespräch, wo man sich gegenseitig von Mädchen erzählt“, sagte Pata, der mit einer Packung Tee neben hide in die Küche getreten war und sich nun daran machte, Wasser aufzusetzen. „Masami. Meine Freundin.“ „Da hätte ich auch nicht viel zu erzählen“, murmelte hide, wandte sich dann aber endlich ihrem Gast zu. „Ja. Sorry. Ich bin hide. Freut mich.“ „Ich weiß“, sagte sie. „Weil anscheinend haben wir schon Gespräche, wo man sich gegenseitig von anderen Männern erzählt. Freut mich auch.“ hide grinste dümmlich. Er konnte nichts dagegen machen. Ihre gute Laune war hochansteckend. „Wir zelebrieren jetzt altmodisches Teetrinken“, sagte Tomoaki. „Mit Süßkram. Willst du auch?“ hide drehte sich zu ihm um, um höflich abzulehnen. Doch neben dem anderen Jungen auf der Anrichte stand eine Box mit kleinen Reiskuchen – abstrakte Formen, Blumen, Nachbildungen von Früchten. Er klappte den Mund wieder zu. Wow. „Gern“, hörte er sich sagen. „Was ist der Anlass?“ „Ich hab Geburtstag“, sagte Tomoaki. „… oh“, machte hide geplättet. Heute war aber auch ein intelligenter Tag. „Ich… Alles Gute. Ich hab nichts für dich. Weil… ich’s nicht wusste.“ Tomoaki lächelte amüsiert und nahm einen Stapel Teller aus dem Schrank. „Das ist in Ordnung. Ich brauch nichts. Setz dich.“ Die Küchenuhr piepste bei exakt zwei Minuten und er schüttete den ersten Aufguss Tee weg und begann einen zweiten. Froh, dass ihm diese eindeutige Aufforderung das Denken abnahm, ging hide also und setzte sich dem Mädchen gegenüber. Sie winkte fröhlich. hide winkte bereits mit einem weiteren idiotischen Lächeln zurück, bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte. Das hier, dachte er, war so ungefähr das größte Gegenteil dazu, Terumi gegenüberzusitzen, das man sich vorstellen konnte. Ein Blick auf sie und das Leben war mit einem Mal einfach. „Also“, sagte er deshalb, „Paaa-“ Er konnte den Blick des anderen Gitarristen urplötzlich im Hinterkopf spüren und riss sich gerade noch am Riemen. Nicht schon wieder unerlaubt den anscheinend nicht ganz so beliebten Spitznamen verwenden. Äh… Panade, Parameter, Palästina, … Hirn! „-r. Paar, ihr beide, ja?“ Das war knapp! „Jupp“, antwortete seine Gegenüber, sich nicht im Klaren darüber, wie knapp hide hier gerade den Eisberg umschifft hatte. „Seit vier Jahren. Sehr glücklich!“, rief sie den letzten Teil an hide vorbei. „Das freut mich“, kam Tomoakis ruhige Stimme aus der Küche. Die Uhr piepste erneut. Es duftete nach Tee. hide rechnete unwillkürlich zurück. Er wusste nicht genau, wie alt Pata war (und gerade war es ihm wirklich zu peinlich, nachzufragen), doch so oder so bedeutete es vierzehn oder fünfzehn. Diese Zahlen und die Zeiten, die er mit ihnen verband, erschienen ihm unendlich weit weg. „Wow. Das ist lang“, sagte er schließlich. „Nicht so lang“, sagte sie. „Meine Eltern feiern dieses Jahr Zwanzigjähriges. Das ist lang. Und auch wieder nicht so lang. Relativität und so.“ Sie hielt einen wissenden Zeigefinger hoch. hide winkte mit einem Lächeln ab. Er brauchte weder Physik noch Philosophie in seinen fünf Minuten Ruhe. Hinter ihm klirrte es. Masami runzelte die Stirn und lugte an ihrem Gesprächspartner vorbei. „Brauchst du Hilfe?“, fragte sie. „Nein“, sagte Tomoaki. Es klirrte noch einmal. Sie wandte sich an hide. „Er braucht Hilfe…“, meinte sie verschwörerisch, aber nicht so leise, dass ihr Freund es wirklich nicht hörte, und stand auf, um zur Rettung zu eilen. hide drehte sich im Sitzen um und folgte ihr mit dem Blick und beobachtete – aufgrund des Höhenunterschieds nur im obersten Drittel – die Szene in der Küche. Zuerst einmal waren da die Protagonisten. Weibliche Hauptrolle. Sie war überhaupt nicht sein Fall und er wäre nie auf die Idee gekommen, sie als hübsch zu bezeichnen. Wenn er ein positives Adjektiv wählen müsste, er hätte knuffig genommen: Sie war klein, doch weit entfernt von zierlich. Sie hatte kleine Patschehänddchen und kleine Tapsefüßchen, kurze Beine und ein Mondgesicht. Doch als sie lächelte war ihm, als hätte jemand eine Kerze in einem dunklen Raum entzündet. Das, dachte hide, war nicht die Sorte von Mädchen, von der er manchmal nachts träumte – keine Frau, die einem mal nackt die Tür aufmachte oder mit der man wilde Partys schmiss oder so richtig Eindruck machen konnte. Das da, das war die Art von Mädchen, die einem Abendessen kochte und das Kissen aufschüttelte und die Leiter hielt, wenn es was zu reparieren gab. Mit einem Mal fühlte er sich komisch. Er überlegte kurz, ob er neidisch war, doch konnte das Gefühl nicht finden. Also war es nicht das. Ratlos packte er das Gefühl für spätere Untersuchungen in einen sterile Tüte. Dann war da Pata. Auch ihm warfen die Leute vermutlich kaum einen zweiten Blick zu – nicht unbedingt unattraktiv, aber so unauffällig wie Raufasertapete. Pata war ein komischer Kauz. Aber er kümmerte sich um seine Schwester, um seine Verwandten und, wenn man es genau nahm, auch irgendwie um hide und schien dafür nichts zu erwarten. Das sagte einem viel über ihn… oder nicht? Kurz und unwillkürlich wandte sich hides Hirnmasse der Frage zu, ob und was er Pata geschenkt hätte, wenn man ihn rechtzeitig vorgewarnt hätte. Er kam zu keinem eindeutigen Ergebnis – ein eindeutiges Zeichen, dass er den anderen Jungen nicht verstand. In diesem Moment spitzte draußen die Abendsonne ein letztes Mal hinter der Wolkendecke hervor und das kühle, goldene Licht erhellte die Szene vor ihm wie in einem dieser kitschigen Heimatfilme. So idyllisch, das man davon kotzen könnte, dachte hides Hirn ungefragt. Dann schob sich die nächste Wolke vor die Sonne, und der Gedanke verschwand. Das Paar in der Küche hatten inzwischen Geschirr, Tee und Wagashi aufgeteilt und trug alles jetzt weiter ins Wohnzimmer. „Soll ich-“, begann hide, doch das Mädchen schnitt ihm sofort das Wort ab: „Gnah! Das bringt nur das ausgefeilte System durcheinander!“ Also blieb er sitzen, verdammt zum passiven Danke-Sagen. Er bemühte sich redlich, nun überall hinzusehen außer auf die beiden, doch scheinbar gelang ihm das nicht. „Was ist?“, fragte Tomoaki und verteilte Teeschalen rund um den Tisch. hide wurde rot, doch Masami zwinkerte ihm zu, also sagte er: „Nichts. Ihr… passt nur wirklich gut zusammen.“ „Jaja“, sagte Masami fröhlich. „Wie Arsch auf Eimer, wenn ich mal so sagen darf. Entschuldigung, das war mein eines schlimmes Wort am Tag.“ „Wer von uns beiden ist der … Eimer?“, fragte Pata. „Das überlass ich dir.“ Sie stellte vorsichtig die Schachtel Wagashi in die Mitte des Tischs. „Aber Vorsicht: Es gibt nur eine richtige Antwort.“ Er musste nicht lange überlegen. „Du bist der Eimer.“ Ein Kniff in die Wange war die Belohnung. „Ja. Das ist die Antwort. Herzlichen Glückwunsch. Hallo Teru!“ „Hallo.“ Ein Schatten war neben hide aufgetaucht, waberte einmal um den Tisch und ließ sich schräg gegenüber auf das Sitzkissen fallen. Es war wirklich unglaublich, dachte hide, unauffällig zwischen den beiden Mädchen hin- und herschauend, wie unterschiedlich Menschen sein konnten. Wie wohl Pata und er nebeneinander wirkten? Er warf dem anderen Jungen, der sich gerade an die Stirnseite setzte, einen weiteren langen Blick zu. Vielleicht… wollte er es lieber gar nicht wissen. In der Zwischenzeit hatte sich auch Patas Tante dazugesellt und saß jetzt neben ihm. „Kommt er noch hoch?", fragte Masami, die rundherum Tee einschenkte. „In ein paar Minuten", sagte sie. „Wir sollen einfach schon mal anfangen." Masami reichte Tomoaki die Schachtel. „Dann fang mal an." Pata nahm ein Wagashi, das aussah wie eine Kastanie und reichte die Schachtel weiter. „Wann hast du denn Geburtstag, Hideto?“, fragte die Tante, während ihre Hand unentschlossen über den Süßigkeiten kreiste. „Oh. Ähm…“, machte hide und zögerte einen winzigen Moment, bevor er sagte: „Im Frühling.“ Er wusste nicht, warum er log, doch war sich sofort sicher, dass es die richtige Wahl gewesen war. Der Gedanke, wie alle um diesen Tisch saßen um ihn zu feiern, drehte ihm den Magen um. Es war dem Gefühl, das er beim Anblick des glücklichen Paars verspürt hatte, nicht ganz unähnlich. Mit einem Mal wünschte hide sich in die relative Abgeschiedenheit seines Zimmers zurück, um in Ruhe seine Empfindungen ordnen zu können. Doch jetzt band ihn eine unsichtbare Verpflichtung, die da war Patas Geburtstag, an diese Situation. hide schluckte den Kloß im Hals hinunter und versuchte, einfach nicht darüber nachzudenken, dass es etwas zum Nachdenken gab. Die Schachtel tauchte vor ihm auf und nach einigem Zaudern nahm er schließlich eines, das aussah wie eine Kirschblüte. Dann erhoben sie den Tee auf Pata, dieser verbeugte sich und damit war das Essen eingeläutet. hide aber starrte ehrfürchtig auf seinen Teller. Eigentlich sah es viel zu edel aus, um gegessen zu werden… vor allem von ihm. Er hatte ja nicht einmal gewusst, was hier gefeiert wurde. Er schluckte noch einmal. Ihm gegenüber biss Terumi in einen kleinen Kuchen in Form einer Mandarine. Wenn sie das konnte, dachte er plötzlich, konnte er das auch. Er nahm die kleine Blüte vorsichtig in die Hand und biss ab. Sie schmeckte wunderbar. Aber davon einmal abgesehen, dachte er, war es vielleicht bedenklich, dass er sich sehr viel mehr an Patas Schwester als an seiner Freundin maß. -X- „Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.“ Ein wenig zurückhaltend betrachtete Yoshiki auf den Geburtstagskuchen auf dem Tisch. Er war herzförmig und mit weißer Creme und perfekten roten Früchten bedeckt, und er fragte sich einen Moment lang, wo zum Henker seine Mutter mitten im November Erdbeeren herbekommen hatte. „Ich glaube, ich werde langsam zu alt dafür“, sagte er schließlich, anstatt sich zu bedanken. „Wie lange willst du das noch machen?“ „Noch mindestens zwei Jahre“, antwortete sie. „So lange bist du eben mein Junge. Wenn du zwanzig bist, kannst du machen, was du willst. Tut mir leid, dass ich mich freue, immer noch einen Sohn zu haben.“ Sie klang ein bisschen eingeschnappt. Yoshiki seufzte, ließ sich neben den Tisch fallen und streckte die Waffen. „Ok, ok… danke.“ Reglos sah er zu, wie sie zwei Stück Kuchen abschnitt und ihm eines davon etwas weniger liebevoll über den Tisch schob, als sie das sonst tat. Das war wohl seine eigene Schuld und für einen Moment tat es ihm fast leid – aber er war einfach keine fünf Jahre mehr alt, verflucht! Wie lange wollte diese Frau denn noch so tun, als ob dem so wäre? Er nahm die Gabel in die Hand und probierte den Kuchen. Nach den ersten Bissen wurde er sich bewusst, dass seine Mutter ihn über den Dampf ihres Tees hinweg beobachtete. „Was?“, fragte er. „Wie ist er?“ Yoshiki ließ die Gabel sinken und schaute sie fast vorwurfsvoll an. „Was willst du hören. Er ist fantastisch.“ Er senkte den Blick wieder und setzte seine Obduktion des Kuchenstücks fort. „Wie immer.“ „Nicht zu süß?" „Doch. Aber du weißt, ich mag das so.“ Schweigend arbeitete er sich durch den Kuchen, von den erstaunlich fruchtigen Erdbeeren ganz oben zu der fluffigen Biskuitmassen ganz unten, und als er fertig war, streckte er seiner Mutter den Teller ein zweites Mal hin. Sie schien damit besänftigt. -X- Es war der Abend des dreizehnten Dezember. hide saß über sein Physikbuch gebeugt und versuchte, sich irgendwie die Frequenzen und Wellenlängen von Licht anzueignen. Das dauerte. Konstruktive Interferenz. Was zur Hölle? Der halbe Boden war bereits mit mehr oder weniger erfolgreich gelösten Übungsaufgaben bedeckt und allmählich machten das künstliche Licht und die kleine Schrift ihm Kopfschmerzen. Aber das musste heute noch, oder er kam mit seinem Plan in Verzug. Es war ein ziemlich ehrgeiziger Plan, zugegeben… Also. Die beiden Minima erster Ordnung hatten den Abstand 10 mm. Dann… 4,312 sagte sein Taschenrechner. 2,189 sagte die Musterlösung. „Gnaaaaah!“, machte hide und hielt sich gerade noch davon ab, sich genervt nach hinten fallen lassen zu wollen. Zimmer nicht breit genug. Verfluchte Chihuahuascheiße! Was war los mit diesen bekackten Aufgaben! Er drehte sich zur Seite und boxte sein Kissen. Zwei Mal. Dann atmete er durch, riss das Blatt von seinem Block, suchte seinen Stift, den er frustriert irgendwo in einer Armlänge Radius fallen gelassen hatte, malte einen Erinnerungskringel um die Aufgabe und versuchte eine andere. Ok. Ein Gitter wird vom Licht einer Glühlampe beleuchtet. Hinter dem Gitter ist im Abstand von 60cm ein Schirm. Bestimmen Sie aus den aufgeführten Messergebnissen die Wellenlänge von violettem, blauen, grünem, gelben und rotem Licht. Bluärg. Ja. Doch. Konnte er. Ähm… also… die Augenbrauen zusammengezogen beugte er sich tiefer über den Block und fing an. Ein paar Minuten arbeitete er konzentriert vor sich hin, dann hörte er etwas. Er drehte den Kopf zur Seite, um ein Ohr zur Wand zu haben. Jemand, und er wusste wer, hörte schon wieder KISS. The hard times are dead and gone But the hard times have made me strong And the hard times have made me see That the hard times ain't where I wanna be Terumi war, was Lärmbelästigung anging, eine eher dankbare Nachbarin – die meiste Zeit bemerkte man sie überhaupt nicht. Doch sie hatte jeden Abend etwa eine halbe Stunde, in der sie laut Musik hörte. Manchmal spielte sie mit, so wie heute, manchmal schien sie nur zuzuhören. hide hatte bemerkt, dass dieses musikalische Intermezzo erstaunlich oft mit der Zeit des Abends zusammenfiel, während der er selbst öfter als nicht etwas durchhing. Leise das Solo mitsummend wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Dann kam der letzte Chorus. Er checkte seine Ergebnisse in der Musterlösung. Uh yeah! “Cool me down, baby, ‘cause I am hot!”, rief hide etwas lauter als beabsichtigt. „… ähem.“ Zum Glück jedoch lief im Nebenzimmer gerade die letzte Strophe. I don't wanna be there or even think back I don't wanna be there, 'cause I'm on the right track Now I'm on the right track I'm finally on the right track Als er gegen ein Uhr morgens schließlich eine Erfolgsquote von etwa siebzig Prozent erreicht zu haben glaubte und ihm der Schädel vor lauter Formeln brummte, rollte er den Futon aus und sich selbst in der Decke ein. Vielleicht gab es so etwas wie eine Zukunft. -X- Pata stand in der Küche Wache und achtete darauf, dass die Soße für die nächtlichen Sobanudeln nicht überkochte. In der nächsten halben Stunde würde er davon erlöst werden, doch bis es soweit war, lehnte hide neben ihm an der Spüle und leistete ihm Gesellschaft. Sie hatten ein bisschen über die Heritage Korina-Serie geredet und über Phil Collins und über eine Stelle im letzten Song, die einfach nicht wollte, wie sie wollten. Danach schauten sie beide in den großen Topf. Schließlich wandte hide sich zum Kühlschrank. Er gönnte sich heute zur Feier des Tages eine Schüssel Cornflakes. Zum Mittagessen. Dekadent. [Und bei den Preisen für das Zeug in Japan ist das hier keine Ironie.] Gerade hatte er die Milch über die Flakes geschüttet und wartete jetzt darauf, dass sie schön durchweichten. Pata stellten sich bei dem Gedanken an Maismatsche die Nackenhaare auf – der Spaß an Flakes war doch, dass sie knusprig waren? Aber egal. „hide“, begann er, gerade als der andere Junge den ersten Löffel Pampe gehoben hatte. „Du weißt, dass du heute mit uns feiern kannst, ja?“ Der Angesprochene ließ den Löffel wieder sinken und schaute ins Wohnzimmer, wo der Tisch festlich für mindestens zehn Personen gedeckt war. hide seufzte und rührte noch einmal sein Mahl durch. Es machte Geräusche, wie wenn man mit Gummistiefeln durch den Sumpf stapfte. „Ja. Aber… das fände ich komisch.“ Er wich Patas Blick aus. „Versteh mich nicht falsch, ihr seid nett und alles und ich würde gern mit euch den Abend verbringen, aber… da werden eure Verwandten und Bekannten da sein und ich kenn niemanden und dann wird jeder fragen, wer ich bin und was ich hier mache und… ich wär lieber nicht dabei, falls und wenn ihr diese Diskussion habt.“ Pata nickte. „In Ordnung.“ Er schaltete den Herd aus und legte den Deckel auf. „Was wirst du stattdessen machen?“ hide hob die Schultern. „Ich weiß noch nicht. Vielleicht geh ich einfach ein bisschen spazieren. Oder zum Tempel. Oder leg mich hin und verschlaf das alles.“ Um sich gekonnt von der Erwartung zu befreien, noch mehr zu diesem Thema sagen zu müssen, stopfte er sich an dieser Stelle entschlossen einen gehäuften Berg Cornpampf in den Mund. Der andere Junge beobachtete in skeptisch beim Kauen, etwas, das hide sehr irritierte. „… wenn es dir nicht gut geht damit, kannst du das sagen“, meinte er schließlich nach einigen langen Sekunden eindringlich. „Ok“, nuschelte hide an seiner Ladung Cornflakes vorbei. Er schluckte runter. „Und wenn du heute im Lauf der Nacht deine Meinung noch änderst, kannst du immer dazukommen.“ „Ok“, sagte hide, diesmal deutlicher. Er schaute in seine Schüssel. Das brauchte mehr… irgendwas. Er wandte sich zum Kühlschrank. Patas Blick folgte ihm. „Und wenn du willst, dass ich aufhöre zu reden, musst du das auch sagen.“ hide tauchte nach einer kurzen Sichtung des Kühlschrankinhalts wieder auf und begann, eine Scheibe Käse in die Cornflakes zu bröckeln. „Ich glaube“, sagte er dabei, „ich würd jetzt lieber einfach essen.“ -X- Frau Sawada mochte Feste. Um das zu wissen reichte es einem völlig Fremden, am letzten Tag des alten Jahres einen Blick in ihr Haus zu werfen. Alles war dem Anlass entsprechend geputzt und dekoriert worden, die guten Klamotten lagen für den Tempelbesuch am nächsten Tag bereits gewaschen und gebügelt bereit und wer vorgestern schon einmal reingeschaut hatte, dem war dabei ein etwa zehn Zentimeter hoher Stapel Neujahrskarten aufgefallen, die inzwischen natürlich den vertrauenswürdigen Händen eifriger Postmitarbeiter übergeben worden waren. In der Küche brodelte das Essen vor sich hin und verströmte sein köstliches Aroma im ganzen Haus. Taiji lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und las Per Anhalter durch die Galaxis. Dafür, dass er es nur an einem verregneten Herbsttag aus Ryujis Zimmer entwendet hatte, war es erstaunlich kurzweilig. Im Flur klingelte das Telefon. Er blätterte die Seite um und wartete. Es klingelte weiter. Mit einem Seufzen richtete er sich in eine sitzende Position auf, gähnte einmal, wartete noch etwas. Es klingelte immer noch. Mann. Wozu hatte man eigentlich Mütter und Brüder? Langsam stand er auf und tappe in den Flur. Das Telefon klingelte immer noch, als er davorstand. Ein Blick nach links. Ein Blick nach rechts. Anscheinend blieb es an ihm hängen… alles musste man selbst machen. Er griff nach dem Hörer. „Hai“, sagte er. „Sawada desu kedo.“ „Taiji?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung, die er sofort erkannte. „Ja. Hallo Papa. Wo steckst du? Bist du schon unterwegs?“ Taiji runzelte die Stirn und presste den Hörer fester ans Ohr. Im Hintergrund auf der anderen Seite der Leitung ging es ziemlich laut her. Ein paar Sekunden verstrichen. Sie sagten Taiji bereits alles, was er wissen musste und einen Moment lang wollte er einfach auflegen. Doch gerade sagte die Stimme schließlich „Ja“ und fuhr dann fort: „Wegen heute… Hör zu, es kam was dazwischen und ich war sehr lang im Büro. Wir haben einen sehr großen Kunden verärgert und mussten das ausbügeln.“ „Wen?“, fragte Taiji. „China“, sagte sein Vater. „Auf jeden Fall… Wir sind jetzt hier feiern gegangen. Ich komm dann morgen über die Feiertage nach Hause.“ Eine seltsame Empfindung stieg in Taijis Brustkorb auf, während er den Geräuschen einer Party in vollem Gange zweihundert Kilometer entfernt lauschte. Es fühlte sich an, als streiche ein kalter Winterwind über gefrorene Grashalme. „Ah“, schaffte er schließlich so etwas wie eine Antwort. „Verstehe.” „Richtest du das bitte deiner Mutter aus?“ „Keine Chance“, sagte Taiji frei heraus. In der Mitte stehen war eindeutig kein Teil seiner Jobbeschreibung. Sollte sein Alter selbst sehen, wie er aus der Nummer rauskam. Er drückte den Hörer, aus dem immer noch Worte drangen, unzeremoniell an die Brust und rief: „Mama!“ Und, dann noch einmal: „Maaamaaaa.“ „Die ist draußen!“, rief Ryuji aus seinem Zimmer. Taiji machte einen Schritt zurück und lugte durch das Küchenfenster nach draußen auf die Straße. Tatsache. Seine Mutter plauderte mit den Nachbarn. Einfacher, kurzer Silvestergruß gone wrong. Taiji schüttelte den Kopf, machte noch einen Schritt Richtung Küchenzeile, nahm eine glasierte Babymöhre von einem Teller und kaute gemächlich. Als er damit fertig war, stand sie immer noch draußen. „Ok“, sagte er, den Hörer wieder ans Ohr nehmend und ging langsam zurück in den Flur, „du hast Glück.“ „Danke“, sagte die körperlose Stimme. „Ich muss dann auch. Halt die Ohren steif, Champ.“ „Yo“, machte Taiji. Es klickte in der Leitung. Eine ganze Weile stand er noch da und lauschte dem gleichmäßigen Tuten des Freizeichens. Vor ihm an der Wand hing das Bild ihres Ausflugs zu den Nachi Wasserfällen von vor fünf Jahren. Sein Vater hatte das Bild gemacht und war deswegen nicht drauf. Die Ironie dieses Realismus wurde ihm gerade zum ersten Mal bewusst. „War das Papa?“ Ryuji war neben ihm im Flur aufgetaucht. Seine Stimme riss Taiji aus seiner Trance und er hängte den Hörer langsam in den Wandapparat. „Ja.“ „Wann kommt er denn?“ „Morgen“, antwortete Taiji, wandte sich ab und verschwand mit einem gemurmelten „Vielleicht“ in Richtung Garage. -X- Elf Uhr war gerade vorbei, als Toshi seinen leeren Kuchenteller auf dem niedrigen Tisch vor sich platzierte und es sich auf der Couch bequem machte. Er gähnte einmal. Vielleicht hätte er den Sake nicht trinken sollen. Aber wie Nein sagen, wenn man schon mal den elterlichen Segen zum Alkoholkonsum hatte? Akimi hatte eisern versucht, so lange wie möglich aufzubleiben und damit erwachsen zu sein, doch war Punkt neun am Tisch auf ihren Kunstwerken eingeschlafen und ins Bett verfrachtet worden. Hiro hatte sich danach entsprechend aufgebläht und getönt, dass ihm das nicht passieren würde, immerhin wäre er schon groß und überhaupt wolle er jetzt auch mal Sake probieren. Jetzt, eine gute halbe Stunde und eine kleine Schale Reiswein später, lag er zusammengerollt in der Sofaecke und sabberte im Schlaf auf das Kissen. Toshi überlegte, ein Foto zu machen, doch ließ es bleiben. Es war den Aufwand kaum wert. Stattdessen liebäugelte er mit einem zweiten Nachtisch. Immerhin – da sich nicht abzeichnete, dass er sich in absehbarer Zeit vor dem Objekt seiner Begierde entblößen würde, musste er sich auch keine übertriebenen Diätpläne erstellen. Toshi nahm seinen Teller vom Couchtisch. „Möchtest du noch ein Stück Kasutera?“, fragte er seinen Großvater, der neben ihm in der anderen Ecke des Sofas saß und gedankenverloren den Farbklecks der kleinen Orange auf den Kagami Mochi im Hausaltar betrachtet hatte. Ein etwas schwammiger Blick wanderte zu ihm und schien einen Moment zu brauchen, bis er auf ihn scharfstellte. „Ja, Tomio, sehr gern.“ Toshi schaffte es, dass sein Lächeln keinen Sekundenbruchteil lang kleiner wurde, als er ihrer beider Teller nahm und den kurzen Weg in die Küche zurücklegte, um noch Kuchen abzugreifen. So war das eben im Kopf seines Großvaters: manchmal verdunkelten Wolken die Sonne. Toshi mochte sich nicht vorstellen, wie das war, wenn die eigenen Gedanken und Erinnerungen kamen und gingen wie Ebbe und Flut. Er fragte sich nur manchmal, was sein Großvater wohl denken mochte, wer der mittelalte Mann und seine Frau waren, die auch hier in der Wohnung anwesend waren, solange er Toshi in Gedanken zu einer jungen Version seines Vaters machte. Vielleicht ein entfernter Bekannter. Es musste schlimmer für seinen Vater und für seine Mutter sein als für ihn selbst, dachte Toshi. Immerhin gehörte er in jeder Version dieser Geschichte zur Familie - in dieser Generation oder einer anderen. Aber es war Neujahr, und an Neujahr war Lächeln und damit zurechtkommen, was man eben tat. Dies war eine der Erkenntnisse des Erwachsenwerdens: ein wesentlicher Teil des Lebens bestand aus 'damit zurechtkommen'. Sie aßen noch ein Stück Kuchen, dann verlor Toshi eine Runde Shogi gegen seinen Vater (er würde darauff beharren, dass das nur passiert war, weil er auf seinen Opa gehört hatte) und weckte danach, kurz vor Mitternacht, einen sehr knatschigen Hiro. Oben in seiner Schreibtischschublade lag eine Liste mit Vorsätzen für die kommenden dreihundertfünfundsechzig Tage. Und egal was dabei herumkam: es würde ein sehr interessantes Jahr werden. -X- [Dieses Teilkapitel widme ich A. und seinen grandiosen Kochkünsten im Stadium fortgeschrittener Trunkenheit.] Yoshiki spielte in seiner Jackentasche mit den Schlüsseln für den Proberaum herum, die er dort entdeckt hatte. Eigentlich sollten sie zuhause am Haken hängen, doch nach den drei Bier beim letzten Mal wunderte es ihn nicht wirklich, dass sie den Weg dorthin nicht gefunden hatten. Es war halb zwölf und beißend kalt. Zusammen mit seiner Mutter, einigen Verwandten und engeren Freunden der Familie und vielen anderen unbekannten Menschen stand Yoshiki vor einem der größeren Tempel Tateyamas und bewegte sich von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte aus seinen Zehenspitzen zu vertreiben. Er trug seine dicksten Wintersachen und fror dennoch wie ein Schneider. Um ihn herum erzeugte das gemeinsame Atmen vieler, vieler Menschen eine seltsame, abwartende Atmosphäre. Aus irgendeinem Grund schnürte sie ihm die Luft ab. Yoshiki umklammerte den Schlüsselbund fester. Was war nur los? Eine ungute Vorahnung. War er bescheuert oder hatte er Recht? Es gab nur einen Weg, es rauszufinden. Er wandte sich zur Seite, wo seine Mutter in ein Gespräch mit seiner Tante vertieft war und tippte ihr gegen den Arm. Sie unterbrach sich mitten im Satz. „Stör ich?“, fragte er und schaute von einer zur anderen, um am Ende an seiner Mutter hängen zu bleiben. Als beide Frauen verneinten, nahm er sie behutsam zur Seite. „Mama“, sagte Yoshiki, als sie sich ein paar Schritte entfernt hatten. „Ich… ich muss gehen.“ Sie sah ihn entgeistert an. „Aber Yoshiki! Es ist mitten in der Nacht und wir haben Essen zuhause! Wo musst du denn jetzt noch hin?“ „Ich hab ein ganz komisches Gefühl. Keine Sorge, ich mach keinen Unsinn, ich muss nur was nachschauen. Feiert schön. Ich hab dich lieb und ich seh dich morgen früh.“ Er lächelte, drückte ihre schmalen Hände durch die Handschuhe hindurch und wandte sich ab, bevor sie etwas sagen konnte. Ja, das tat ihm weh, wenn auch nicht halb so sehr wie ihr. Aber die Kunst mit Müttern war, dass man sie entwaffnet haben musste, bevor sie über Argumente nachdenken konnten – denn dann verlor man für gewöhnlich. Also schlängelte er sich zwischen wartenden Grüppchen hindurch in Richtung Tor und war schnell in der Dunkelheit und der Menge verschwunden. Seine Tante schaute ihm kopfschüttelnd nach und als Frau Hayashi sich wieder zu ihr gesellt hatte sagte sie: „Er war mal so ein süßes Kind.“ Yoshikis Mutter streifte ihre Schwester mit einem Seitenblick. Schlimm genug, dass ihr Sohn sie vor allen blamierte – Seitenhiebe brauchte sie jetzt nicht auch noch. Also konterte sie etwas angefressen: „Und du hattest mal Kleidergröße 36.“ Die beiden Frauen sahen sich einige Sekunden lang schweigend an und lächelten dann. Das war die tolle Sache an Frauen: ohne Y-Chromosom konnte man sich auch im Stillen hassen. Yoshiki war zwischenzeitlich schon drei Straßenzüge weiter. Er ging schnell, aber verfiel nie ins Rennen. Selbst wenn er gewollt hätte, er käme in den Salonstreichern an seinen Füßen nicht weit. Die kalte Nachtluft brannte in Rachen und Nase und seine Lunge begann zu schmerzen. Probeweise räusperte er sich und zog den Mantel enger, auch wenn das nichts brachte. Noch die Straße runter, rechts, die Straße runter, links. Er schaffte das noch. Wenn er nicht langsamer wurde. Eine gute Viertelstunde später hastete er in die alte Fabrik und schlug die Eingangstür hinter sich zu. Yoshiki hustete zweimal, atmete gezwungen flach und wartete, dass die wärmere Außentemperatur ihn auftaute. Außen war er verschwitzt, innen war ihm kalt. Er hatte tanzende schwarze Pünktchen vor den Augen und alles tat ihm weh. Es kam ihm von früher bekannt vor, wie Fragmente aus halbvergessenen Träumen – seine Erinnerungen, vielleicht. Er hatte lange keine Probleme mehr in dieser Richtung gehabt. Erst als er nicht mehr das dezente Gefühl hatte, dass sich seine Bronchien schmerzhaft verkleinerten, stieg er leise die Treppe ins Untergeschoss hinunter. Kurz fragte er sich, was er hier wollte, wenn er falsch lag. Doch als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, überkam ihn ein Gefühl der Gewissheit. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, noch einmal seinen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, sondern drückte einfach nur die Klinke nach unten. Die Tür ging auf. „Boah!“, entfuhr es hide. Er griff sich an den Oberkörper und ließ sich wieder in die Sofakissen sinken. Er lag mit der Gitarre auf dem Schoß auf dem Sofa und war ob der unerwarteten Störung hochgefahren. „Yoshiki! Hast du mich erschreckt!“ Der Schlagzeuger nahm die Szenerie in sich auf. hide, Sofa, Bier. hide folgte seinem Blick. „Das ist das erste“, sagte er, Yoshikis Frage zuvorkommend. „Und das einzige.“ „Gut“, sagte Yoshiki. Er ging zum Kühlschrank hinüber, um sich auch eins aufzumachen. „Was machst du denn hier?“, fragte der Gitarrist. Seine Finger waren zu den Saiten zurückgekehrt, als hätten sie ein Eigenleben. Vielleicht hatten sie das auch. „Ich entfliehe meiner Verwandtschaft“, sagte Yoshiki und ließ sich dann vor hides Knie auf die Sofakante sinken. Er warf hide einen Blick zu. Dieser schaute zurück. Und sie tauschten die kleinsten aller Lächeln aus, kaum mehr als eine leichte Veränderung der Augenpartie und mit einem Mal war die Welt in Ordnung. Die seltsame Distanz der letzten Wochen, Dinge, die Yoshiki gerne gesagt und Dinge, die hide vielleicht geantwortet hätte, der Zweifel am jeweils anderen und ein bisschen an sich selbst – all das löste sich mit einem Schlag in der kleinen, feinen, lächelnden Stille zwischen ihnen auf. Sie stießen an. Der Gerstensaft perlte kühl seinen Rachen hinunter und Yoshiki zitterte einmal unwillkürlich von ganz tief drinnen heraus. Raumtemperatur wäre ihm lieber gewesen. Oder warmer Sake. Er bekam Halsweh. „Kann man Bier kochen?“, fragte er und nickte zum Wasserkocher hin. „Man kann alles mindestens einmal kochen“, sagte hide. „Wieso?“ Yoshiki stand auf. „Mir ist kalt.“ Mit einem letzten, versichernden Seitenblick zu dem Gitarristen kippte er den Inhalt seiner Flasche in die Kanne. „Aber nur warm, nicht sprudeln“, sagte hide. „Und mach dann Honig rein. Das wird beim Kochen ‘n wenig bitter.“ „Wieso weißt du sowas?“, fragte Yoshiki. „Wieso weißt du sowas nicht?“, fragte hide zurück. Darauf fiel Yoshiki nichts ein, also wärmte er stattdessen lieber sein Bier auf, füllte sich eine Tasse ab und schüttete dann großzügig Honig hinterher. Dem Geruch nach zu schließen war das keine sonderlich gute Idee. Er hätte sich einfach Tee machen sollen… aber hinterher ist man immer schlauer. „Wie spät ist eigentlich?“, fragte hide, gerade als Yoshiki ernsthaft überlegt hatte, zu trinken. „Fünf vor“, antwortete Yoshiki nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Mmh“, machte hide. Er schaute Yoshiki nachdenklich, aber auch mit etwas in seinem Blick an, das dieser nicht ganz einordnen konnte. Vielleicht war Schuldbewusstsein nicht so weit entfernt – und doch schien es so viel mehr. „Dann… verpasst du ja jetzt alles.“ Yoshiki aber winkte ab. „Ich hab das schon öfter erlebt. Ich muss es nicht mehr sehen…“ Dann kam ihm eine Idee und er lächelte hide verschmitzt zu. „Aber vom Dach aus kann man es sicher hören.“ Besagte fünf Minuten später standen sie oben auf dem Dach. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie allein. Gerade hatten sie es sich nebeneinander an der Brüstung so gemütlich gemacht, wie es die winterlichen Temperaturen zuließen, als es begann. Das tiefe, feierliche Läuten der verschiedenen Tempelglocken hallte über die Stadt. Yoshiki wärmte seine Finger an seinem Honigbier und hustete. Er nahm einen vorsichtigen Schluck. Es half gegen das Husten, doch der warme Dampf ließ die kalte Nachtluft gleich noch viel frostiger erscheinen. Etwas flauschiges schlängelte sich um seinen Hals und blieb an seinen Händen hängen, schien aber bereit, diese auch gleich mit einzuschnüren. hide wickelte ihn in seinen Schal ein. Yoshiki setzte zum Protest an, doch besann sich dann eines Besseren: Ja, das Ding war endlos hässlich. Aber warm. Es tat gut. Also befreite er seine Hände mit der Tasse Bier darin und kuschelte sich tiefer ein. Schweigend standen sie nebeneinander, lauschten und hingen ihren Gedanken nach. Das war sie, die merkwürdige Zeit zwischen den Jahren: Gerade noch genug Zeit, um sich über alle Dummheiten des letzten Jahres zu ärgern und Vorsätze zu fassen, wie man im nächsten Jahr die Dummheiten schlauer angehen konnte. Yoshiki für seinen Teil allerdings dachte in diesem Jahr mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit. In diesem Jahr würde sich so vieles ändern. Welche Veränderungen genau würden das sein und was würde er aus ihnen machen? Neben ihm hatte hide sich umgedreht und sich mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, und schaute jetzt von der Stadt weg und über das tiefschwarze Meer, auf die weit entfernte andere Seite der Bucht. Tief unter ihnen lag ein Parkplatz, und hinter dem Parkplatz lag ein Strand und hinter dem Strand lag das Meer und hinter dem Meer lag Tokio. Tokio... Es dauerte lange, bis der letzte Glockenschlag in der Nacht verhallt war. Etwa eine halbe Minute lang blieben sie noch stehen und lauschten in die unnatürliche Stille, die sich über das Land gesenkt zu haben schien. Dann sagte hide: „Ich hab Hunger.“ „Ich auch“, murmelte Yoshiki. Seine Tasse Bier war leer und seine Fingerspitzen waren so kalt, dass sie sich taub anfühlten. hide lehnte sich weiter zurück und schaute nachdenklich in den Nachthimmel. Die hellsten Sterne waren zu sehen. „Ich glaub, irgendwo auf dem Kühlschrank hab ich noch Fertignudeln.“ „Festlich.“ Der Gitarrist warf ihm einen leicht schelmischen Blick zu. „Ich hab nur eine Packung.“ Sofort änderte Yoshiki die Strategie. „Uh, du sagtest Fertignudeln? Fertignudeln find ich super. Ich kenne nichts Besseres als Fertignudeln.“ „Ich geb dir hundert Punkte fürs Schleimen“, sagte hide mild grinsend, „aber fünfzig zieh ich dir wieder ab für’s zu sehr anbiedern.“ Sie stiegen die Treppe wieder nach unten. Im Keller zauberte hide eine Fertignudelsuppe in der Plastikschüssel hervor, kochte Wasser und goss die Nudeln auf. Sie warteten in etwas, das fast eine feierliche Stille hätte sein können – wenn es feierlicher gewesen wäre. So war es nur eine etwas müde Stille. hide suchte Stäbchen. Yoshiki wickelte sich aus hides Schal. Nach exakt drei Minuten setzten sie sich um die Schüssel auf den Boden. „Es üst angürüchtet“, verkündete hide in etwas, das wohl ein vornehmer französischer Akzent hätte werden sollen. Yoshiki beugte sich über die Schüssel und schnupperte. „Das riecht komisch…“, meinte er und schnupperte noch einmal. Das roch nach… „hide, hast du das Bier raus, bevor du das Wasser reingekippt hast?“ „… Nein“, sagte hide und schlug sich einmal mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Du Blödel, warum hast du nichts gesagt?“ „Äh. Du kochst hier Biernudeln und ich bin der Blödel?“ Sie schauten einander an. „… Biernudeln klingt eigentlich ziemlich geil“, sagte hide. Kurzentschlossen rührte er einmal durch und probierte. „Ich find’s gut.“ Yoshiki probierte. Sofort vereinten sich seine sämtlichen Körpersäfte in dem Versuch, das pure Böse abzustoßen, das da soeben die Futterluke passiert hatte. „Boooah. Ich hab noch niemals so was Ekliges gegessen!“, stöhnte er und zog eine Grimasse. Er warf die Stäbchen neben sich aufs Sofa: Auf keinen Fall würde er dieses Zeug essen! hide zuckte mit den Schultern und hob die Schüssel auf seinen Schoß. „Mehr für mich.“ Yoshiki betrachtete ihn mit einem Seufzen und zerfloss ein wenig in Selbstmitleid. „Ich könnte jetzt zuhause bei meiner Mutter und ihrem Silvesteressen sein…“ Ungerührt schlürfte hide eine weitere Fuhre Nudeln. „Und dennoch bist du hier.“ Er grinste Yoshiki neckend zu. „Wer ist jetzt der Blödel?“ -X- Pata schob die Tür zu Terumis Zimmer auf. Es war leer. Das verwunderte ihn nicht. Sie hatte noch den Hausputz und die abendliche Bibellesung überstanden, vor der es kein Entrinnen gab. (Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Und so weiter. Es hatte Pata immer ein wenig irritiert, dass Gott das Licht vor der Sonne schuf, aber hey, YOLO.) Er selbst hörte einfach mit interessierter Miene zu: so zu tun, als wäre einem etwas wichtig, das den Leuten wichtig war, die einem ein Dach über dem Kopf gaben, war wohl irgendwie das mindeste. Und falls es einen Gott gab, würde er ihm hoffentlich vergeben, dass er dem ganzen Unsinn überhaupt nichts abgewinnen konnte. Terumi auf jeden Fall hatte sich dann vor dem Erscheinen der ersten Gäste unauffällig verzogen und wart seitdem nicht mehr gesehen. Pata hatte es ausgehalten, sowohl das feierliche Abenessen als auch das ganze familiäre Tralala. Es war ja eigentlich ganz nett – so lange es nicht zu häufig passierte. Als die letzten Besucher sich verabschiedet hatten und seine Tante und sein Onkel zu Bett gegangen waren, war er wach geblieben und hatte ein wenig Kawabatas Koto gelesen. Das war ihm lieber als alle Religionen zusammen. Um kurz vor sechs hörte er die Wohnungstür. Um kurz nach sechs schließlich zog er seinen dicksten Pullover über, wärmte in der Küche eine Flasche Sake an und schlüpfte in seine Schuhe. Er ging die Treppe nach unten, durch das kleine Lager und trat nach draußen auf den winzigen Hinterhof. Seit neustem stand ein Aschenbecher auf einer umgedrehten Holzkiste. Und, gerade wesentlich interessanter: Eine Leiter lehnte am Haus. Hatte er es sich doch gedacht. Den Sake in einer Hand balancierend, kletterte er langsam Sprosse für Sprosse nach oben, bis er über den Rand sehen konnte. Vorsichtig zog er sich die letzten Zentimeter aufs Dach. Raureif überzog die Ziegel und schmolz unter seinen Fingern. Es war rutschig und er nahm sich Zeit. Hektik endete in manchen Situationen nur mit einem gebrochenen Genick. Das hier war eine davon. Ganz oben, wo sich Ost- und Westseite des Dachs trafen, fand er Terumi. Wortlos setzte er sich neben sie auf den Dachfirst. Die Stille, welche sie umgab, war mit einem Mal perfekt. Kein Auto fuhr, niemand war unterwegs. Die ganze Welt schien zu schlafen. Zu warten. Pata bewegte die Zehen in den Schuhen. Die Luft war eisig und ihrer beider Atem hinterließ kleine Wölkchen. Es war nicht in der Mitte der Nacht am kältesten, dachte er, sondern am frühen Morgen. So wie jetzt. Er legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war wolkenlos - der letzte Rest einer klaren, klirren kalten Nacht. Dann wandte er den Blick zurück nach Osten. Lila. Rosa. Orange. Gold. Langsam, sehr langsam schob sich die Sonne über den Horizont. Das erste Licht des neuen Jahres vertrieb die Nacht, küsste Dächer und Straßen und erreichte schließlich die beiden Geschwister an ihrem geheimen Treffpunkt. Sie sollten vermutlich hier runter sein, dachte Pata, bevor die Nachbarn aufwachten und aus dem Fenster sahen. Doch er dachte es nur halbherzig - eigentlich war es ihm egal. Er drehte sich zur Seite und schenkte seiner Schwester ein. Sie schenkte ihm ein. „And on the 8th day“, sagte Terumi und hob den Sake. Pata musste lächeln. Er klinkte seine Schale gegen ihre. And on the 8th day… “God created Rock and Roll.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)