Lieben und geliebt werden von Saph_ira ================================================================================ Kapitel 13: In Arras -------------------- Es lag schon einige Jahre zurück, dass sie zuletzt in Arras waren – damals als sie nichts vom Elend und dem harten Leben der Bauern gewusst hatten und zum ersten Mal damit konfrontiert wurden... Und als sie zum ersten Mal Maximilien de Robespierre getroffen hatten, der sich nun Anwalt für das Volk nannte, für die Rechte der einfachen Bürger einsetzte und dem sie eigentlich die verhängnisvolle Schlägerei in Paris zu verdanken hatten.   Im Gasthof „Zum alten Allas“ machten sie eine Rast, bevor sie weiter zu Oscars Haus ihre Reise fortsetzen wollten. Das war Ende Oktober 1787, die Ernte auf Feldern war eingebracht und es wurden daraus die Vorkehrungen für den Winter getroffen. Oder zumindest sollte es so sein. Wie auch beim letzten Mal vor etwa einem Jahrzehnt empfing sie der Wirt vom Gasthof „Zum alten Allas“ warm und herzlich. „...Ihr werdet von Mal zu Mal immer schöner, Lady Oscar.“ Er lächelte fast väterlich und widmete sich dann gleich ihrem Begleiter: „André! Du bist aber zu einem stattlichen Mann herangereift! Allerdings habe ich eine Frage: Was ist eigentlich mit deinem Auge passiert?“   „Lange Geschichte“, wedelte André knapp ab – es war ihm äußerst unangenehm über seine Verletzung zu sprechen. „Wir sind hier um etwas zu essen und dann brechen wir wieder auf.“   „Aber selbstverständlich!“ Der Wirt klopfte André freundschaftlich auf die Schulter. „Bei mir bekommt ihr nur die besten Speisen! Nehmt schon Platz und ich gehe in die Küche!“   „Es hat sich hier kaum etwas geändert und doch kommt mir alles anders vor...“ Oscar nahm ihren Mantel ab, legte ihn über die Lehne eines Stuhls am Tisch und nahm Platz.   André machte bei seinem Mantel das gleiche und setzte sich ihr gegenüber. „Das stimmt.“ Er sah sich in der Gaststube um – sie war genauso leer wie damals. Nur diesmal saß kein Robespierre am benachbarten Tisch.   Oscar warf André einen milden Blick unter ihren langen Wimpern zu und dieser erwiderte den Blick nur ganz kurz, als hätte er dies gespürt. Auf einer gewissen Weise stimmte das auch – er spürte meistens, wenn Oscar etwas bewog oder sie etwas von ihm wissen wollte. Diesmal jedoch nicht. Oscar sah ihn nur musternd an, was ihm beinahe unbehaglich wurde. „Was macht dein Auge?“, fragte sie ihn nach einer Weile des Betrachtens doch noch.   André senkte seinen Blick auf die kleine Kerze, die in der Mitte des Tisches zwischen ihnen stand und die kleine Flamme spiegelte sich in seinem unversehrten Auge. Er wollte nicht über seine Verletzung reden, das machte ihn verlegen und beschämt zu gleich. Und er wollte kein Mitleid – vor allem nicht von ihr. „Mach dir deswegen keine Sorgen...“, murmelte er leise, aber verständlich. Was sollte sie jetzt von ihm denken? Er war entstellt und ihre Sorge um seine Wenigkeit bereitete ihm mehr Kummer, sogar mehr als die unerwiderte Liebe über all die Jahre...   Der Wirt kam zu seiner Erlösung mit zwei Krügen frischem Bier und stellte es vor jedem auf dem Tisch ab. „Bis das Essen fertig ist, bringe ich euch schon die Erfrischung.“   „Danke“, sagten Oscar und André fast zeitgleich.   Kaum dass der Wirt sich abgewandt hatte und sie ihre Gläser an sich nahmen, ertönte ein heftiges Wiehern eines Pferdes von draußen, gefolgt von einem nervösen Schnauben eines zweiten. „Das sind doch unsere!“ Oscar schaute hellhörig in Richtung Tür.   „Und dein Pferd kling aufgebracht, Oscar...“, meinte André mit gerunzelter Stirn. Wie ein echter Pferdekenner erkannte er die Gemütsverfassung der Tiere schon an dessen Wiehern ohne sie angeschaut zu haben und das gefiel ihm nicht.   Als wollte der Wirt seine alarmierende Wahrnehmung bestätigen, kehrte er schlagartig an den Tisch zurück und in seinem Gesicht zeichnete sich eine gewisse Besorgnis. „Nicht dass es Pferdediebe sind...“, ließ er seine Vermutung halblaut äußern: „Das geschieht hier oft...“   „Wie bitte?!“ Oscar sprang schon wie gestochen von ihrem Stuhl und rannte überstürzt nach draußen. André folgte ihr wie selbstverständlich und auch der Wirt lief ihnen nach.   Auf dem kleinen Höfchen vor dem überdachten Pferdestand bot sich ein erschreckendes Bild: Ein junger Mann und ein Knabe versuchten Oscars und Andrés Pferde fortzuschleppen. Der Knabe saß bereits auf dem Braunen und trieb ihn mit Tritten in die Seiten an. Das Tier tänzelte daraufhin nur nervös auf einem Platz und schnaubte.   Der junge Mann versuchte dagegen auf den Schimmel zu steigen, aber dieser warf ihn jedes Mal nur ab und stieg auf die Hinterbeine. Dabei wieherte das Tier immer lauter. Der junge Mann schnappte dessen Zügel. „Sei still! Du sollst mit uns kommen, habe ich gesagt!“   „Lass ihn los Bruder! Wir haben doch den Braunen!“, rief der Knabe aus dem Sattel nervös.   „Nein, ich muss ihn haben! Er bringt uns viel Geld ein!“ Der junge Mann ließ nicht locker. So ein Prachtexemplar würde ihnen in der Tat viel Geld einbringen und sie würden damit ihre Schulden abbezahlen können...   Der Jüngere entdeckte zufällig drei Männer, die mit langen Schritten auf sie zu rannten. „Schnell, Bruder! Da kommen die Besitzer!“   „Reite schon vor!“, befahl der junge Mann heiser. „Ich hab es gleich geschafft!“ Der Schimmel schüttelte seine Mähne und stieg erneut auf die Hinterbeine. Der junge Mann konnte ihn kaum noch bei den Zügeln halten. „Bleib ruhig! Du gehörst jetzt mir!“   „Ich lasse dich nicht alleine!“ Der Knabe sprang von dem Rücken des braunen Pferdes herunter und gesellte sich zu seinem Bruder. Er schnappte nach dem Zügel und zog das weiße Tier mit aller Kraft nach unten, bis dieses auf allen Vieren stand.   Oscar konnte es nicht glauben, was sie da sah. „Halt! Seid ihr wahnsinnig?!“Sie kannte ihren Schimmel gut genug und nur sie oder André waren imstande, ihn zu bändigen. Was allerdings die Diebe vorhatten war zu gefährlich. André, der neben ihr seinen Schritt beschleunigte, legte sich zwei Finger in den Mund und pfiff kräftig ein bestimmtes Zeichen. Sein brauner, vierbeiniger Gefährte torkelte unverzüglich ihm entgegen. Der Schimmel drehte seine Ohren hin und her und preschte los. Er stieß den jungen Mann mit seinen Flanken zur Seite, machte eine Drehung und schleuderte dem Knaben seine Hinterhufe gegen das Zwerchfell. Der Knabe konnte zwar dem harten Stoß entkommen, aber prallte trotzdem rücklings auf den Boden und der Ältere ließ vor Entsetzen die Zügel des Pferdes los. Der Schimmel spürte endlich Freiheit und lief seinem Artgenossen nach. Dieser wurde bereits von André abgefangen und von ihm an den Zügel geführt. Das Gleiche machte André mit dem Schimmel, was das Tier bei seiner vertrauten Behandlung auf der Stelle beruhigte und er ihm brav bis zum Pferdestand folgte.   Oscar erreichte derweilen die beiden Diebe. Der junge Mann kniete neben dem Knaben und hielt dessen Oberkörper in seinen Armen. Dieser atmete schwer – der Schrecken saß noch tief in ihm und er hielt sich dabei an die Brust. „Um Gotteswillen!“ Oscar kniete auch. Der Knabe war nicht älter als zwölf, fast noch ein Kind!   „Wenn Ihr jemanden verhaften und bestrafen wollt, dann mich!“, erläuterte der junge Mann entschlossen. „Aber verschont meinen Bruder!“   „Nein...“, stöhnte der Knabe. „Bitte verhaftet ihn nicht...“   Oscar sah von einem zum anderen. Der Ältere kam ihr sehr bekannt vor, sie konnte ihn nur nicht richtig zuordnen. Und vom Alter her schien er an die 18 Jahre alt zu sein. „Das klären wir später!“, beschied sie streng und erhob sich. Sie drehte sich um. „André!“   „Ja, Oscar?!“ André hatte schon schnell die Pferde unter dem Stand angebunden und stand nun direkt hinter ihr.   „Könntest du einen Arzt holen? Wir müssen den Jungen untersuchen lassen, nicht dass er schwere Verletzung davon getragen hat!“   „Das ist nicht nötig...“, krächzte es von unten, kaum André losging.   André blieb verwundert stehen und schaute mit Oscar auf den Verletzten. Der Knabe saß schon mittlerweile aufrecht. Der junge Mann stützte ihm etwas den Rücken und betrachtete die beiden mit großen, staunenden Augen. In seinem Kopf entstand ein Bild von einer Frau in Männerkleidern, langem, blondem Haar und einem guten Herz.   „Warum denn nicht?“, fragte Oscar verständnislos.   „Ihm fehlt nichts“, erklärte der junge Mann und kam langsam auf die Beine. „Er ist nur geschwächt, weil er seit Tagen kaum etwas gegessen hatte. Und nicht nur er... Das sind viele von unseresgleichen, Lady Oscar...“   Jetzt waren es Oscar und André, die den jungen Mann verblüfft ansahen. „Woher weißt du, wer ich bin?“, murmelte Oscar und der junge Mann klärte sie auf: „Erkennt Ihr mich nicht? Ich bin es, Gilbert... Ihr habt mir vor zwölf Jahren das Leben gerettet...“   „Ich erinnere mich...“ Oscar erinnerte sich in der Tat an den sechsjährigen Bauernjungen, der durch ein Fieber beinahe gestorben wäre, wenn sie ihn nicht zum Arzt gebracht und den auch bezahlt hätte. „Du bist groß geworden, Gilbert... als ich dich zum letzten Mal gesehen habe, da warst du noch ein Kind und warst sehr krank...“ Gleichzeitig kehrte Oscar aber in die Wirklichkeit zurück und ihre Augenbrauen zogen sich missmutig zusammen. „Das heißt aber nicht, dass du unsere Pferde stehlen sollst!“   „Das hätte ich nicht getan, wenn ich gewusst hätte, dass Ihr hier seid...“ Gilbert senkte schuldbewusst seinen Blick. „Wie könnte ich? Ihr habt uns damals doch sehr geholfen... Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir mit unserer Pacht im Rückstand sind und die Steuereintreiber uns bedrohen... Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu stehlen und die Ware auf dem Markt in der Stadt zu verkaufen, um die Steuer abzubezahlen zu können...“   „Trotzdem wird das nicht ausreichen...“, sprach auf einmal der Wirt, der sich der kleinen Gruppe angeschlossen hatte. „Die Steuereintreiber sind gierige Menschen, Lady Oscar... Sie pressen den armen Bauern immer mehr aus, noch mehr als es erforderlich ist... Vor kurzem hatten sie sich an einem Bauernmädchen vergangen, weil dessen Eltern keine Steuer mehr bezahlen konnten und es als Zahlungsmittel einforderten... Das junge Ding hat sich danach im Fluss ertränkt...“   Oscar schluckte hart. Von solchen Ausmaßen des Elends und Ungerechtigkeit hatte sie nicht geahnt – nicht einmal damals, bei ihrem letzten Aufenthalt in Arras! Der Knabe rappelte sich auch auf die Beine hoch und stellte sich leicht schwankend an die Seite seines Bruders. „Und unsere Eltern sind vor zwei Jahren gestorben, weil sie uns alles gaben und selbst nichts aßen...“   Der Kloß in Oscars Kehle wurde dicker und schnürte ihr beinahe die Atemwege zu. Sie ballte ihre Hände zu Fäuste und wandte sich an den Wirt. „Das was Ihr heute für André und mich kocht, gib den beiden Jungen! Ich werde derweilen mit André in meinem Haus nachschauen, was wir noch brauchbares haben...“   „Lady Oscar, wartet...“, hielt sie Gilbert auf, kaum dass sie zu ihrem Pferd gehen wollte.   „Was ist?“ Oscar bekam noch mehr von dem unguten Gefühl.   Der junge Mann wirkte noch verlegender und sammelte seinen ganzen Mut zusammen. „Euer Haus ist schon vor Monaten geplündert worden, Lady Oscar...“   Oscar riss ungläubig die Augen auf. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was war nur in die Menschen gefahren?! „Aus welchem Grund... Und was ist mit den Bediensteten...“   Gilbert versuchte es ihr zu erklären, soweit es ihm möglich war: „Die Bediensteten sind einfach abgehauen und haben alles mitgenommen, was sie tragen konnten... Das Haus stand dann leer und wurde gänzlich von anderen geplündert... Aber glaubt mir, unsere Familie war dabei nicht mitbeteiligt... Wir schätzen Euch doch so sehr, für das, was Ihr für uns getan habt...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)