All of our Flaws von Leilan (Vi/Cait) ================================================================================ Prolog: Prolog: Die alte Fischfabrik ------------------------------------ ------------------------------------------------------------------------------------------------------- Die Nacht war schon vor einigen Stunden über Piltover hereingebrochen und die Straßenlampen in den besseren Vierteln der Stadt hatten sich aktiviert – eine der großen Errungenschaften der Stadt, immerhin einen Großteil seiner Bürger mit Strom zu versorgen. Dieser wurde aus den Gasen der Sümpfe gewonnen wurde und speiste die unterschiedlichen Hextechgerätschaften, die die Stadt zu dem machte, was sie war – die Metropole des Fortschritts. Große Institute der Forschung, Akademien, Zentren der Bildung, Museen, automatische Hextechbrücken, Pumpen, die das unwirtliche Sumpfland bewohnbar machten, surrende Instrumente, die ständig Wetter- und Luftveränderungen bestimmten, leuchtende Reklametafeln, die Fortschritt und Frieden propagierten, und hier und dort auch ein Plakat für die weltbekannte Liga der Legenden, prägten das Stadtbild. Doch Piltover hatte auch seine Schattenseiten. Die äußeren Viertel, nur wenig beleuchtet, weit abseits von der Pracht der Stadt, heruntergekommen und zum Teil verlassen, gehörten den zwielichtigeren Bewohnern der Stadt... und denen, die man vergessen hatte. Zwar war es in Piltover sehr schwer, Verbrecher zu sein – immerhin war die Kriminalitätsrate hier sehr gering und die Rate der Verbrecher, die gefasst und verurteilt wurden, exponentiell hoch, doch änderte das nichts daran, dass eine Stadt wie diese gerade aufgrund ihres Reichtums viele Verbrecher anlockte. Außerdem sorgte die Tatsache, dass in Piltover Bildung über alles geschätzt war, dafür, dass die Kluft zwischen den gebildeten, betuchten Mitgliedern der oberen Gesellschaftsschicht der Stadt und dem ungebildeten Volke größer war als in anderen Städten. Wer in eine arme Familie hineingeboren worden war, hatte wenig Möglichkeit auf Bildung in einer der Akademien der Stadt und somit wenig Gelegenheit, aus dem Kreislauf der Armut zu entkommen. Hier in den äußeren Bezirken herrschte das Recht des Stärkeren. Wenn nicht gerade eine Razzia der Wache stadtfand, galten hier keine Regeln. Die von der Stadt zur Verfügung gestellten Sicherheitsroboter patroullierten hier nicht, und die Sitten auf den Straßen waren rauh und die Lebensumstände unwirtlich. Die Abflüsse und der Abfall der Hextechakademien wurde durch diese Bezirke geleitet, und verschwand schließlich irgendwo in den Tiefen der Klippe, um schließlich in Zaun zu landen, doch der Unrat und die Gerüche, die nicht selten die armen Bewohner krank machten, waren hier allgegenwärtig. Hier war Vi aufgewachsen. Etwas anderes hatte sie nie gekannt und sich auch nie vorgestellt, dass es etwas anderes für sie geben könnte. Mit einem erleichterten Stöhnen ließ sie den schweren Sack fallen, nachdem sie die letzte halbe Stunde damit verbracht hatte, ihn möglichst ungesehen durch die Straßen zu schleppen. Ihre Kleidung war völlig durchgeschwitzt und unter ihrer provisorisch zusammengeschraubte Rüstung war ihr unendlich warm. Ständig liefen ihr Schweißtropfen über Stirn und Nacken und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als die riesigen Hextechhandschuhe auszuziehen, die sie bereits seit mehreren Stunden trug. Zwar fühlte sie sich ohne sie unwohl, doch schmerzten ihre Arme und Schultern von dem immensen Gewicht und ihre Fäuste fühlten sich taub und gefühllos an. Der Inhalt des Sacks verrutschte beim Abstellen und schepperte und klapperte leise. Heute hatte sie einen guten Beutezug gemacht. Sie hatte eine Gruppe Schmuggler dabei erwischt, wie sie die Lieferung einer Hextechakademie abgezweigt hatten und es war ihr nach einer längeren Rangelei gelungen, einen Teil davon mitzunehmen. Morgen würde sie den ganzen Tag damit verbringen, ihre Handschuhe zu reparieren und auf den neusten Stand zu bringen. Wenn sie richtig gesehen hatte, war ein Druckluftmodul dabei, etwas, das sie schon seit Jahren hatte einbauen wollen. Sie blickte auf ihre Handschuhe. Sie waren blutverschmiert. Zum Glück war es nicht ihr eigenes, doch es machte ihr erneut bewusst, dass sie für diesen Sack mit Hextechkleinteilen einige Knochen hatte brechen müssen. Zwar waren es nur Verbrecher gewesen, die hatten leiden müssen – Personen, die es nicht anders verdienten – aber trotzdem war es wichtig, dass sie es nicht vergaß, sonst wäre sie ja nicht anders als die, die sie jagte. Vi ließ sich auf einer ziemlich morschen Holzkiste nieder. Sie befand sich in einem ihrer Unterschlüpfe – sie tendierte dazu, nie zu lange an einem Ort zu bleiben, da es sonst zu leicht war, sie zu finden. Dies hier war, so glaubte sie, früher einmal eine alte Fischfabrik gewesen, zumindest hatte sie sich das aufgrund der vielen stilisierten Fischsymbole auf den Maschinen erschlossen. Im alten Lagerraum lagen ihre Besitztümer. Viel war es nicht – ein ziemlich abgewetzter Rucksack mit ihren Habseligkeiten, ihr Werkzeugkoffer mit dem zusammengewürfelten und -geklauten Inhalt und ein Seesack mit ihren jüngsten 'Funden' – ihrem Diebesgut. Mehr brauchte sie nicht und mehr konnte sie sich auch nicht leisten, seit sie eigentlich ständig auf der Flucht war. Mehr Besitz bedeutete mehr Ballast und das war gefährlich. Umständlich und durch die tauben Finger noch zusätzlich behindert, löste sie die Verschlüsse ihrer Handschuhe. Sie gaben ein Zischen von sich, lösten selbständig einige Schaniere, weiteten sich und erlaubten schließlich, dass sie ihre Hände herauszog. Schon in dem schlechten Licht der verrußten Öllampe, die Vi angezündet hatte, erkannte sie sehr deutlich, dass sie nicht besonders gut aussahen. Ihre Fingerknöchel waren zum Teil aufgeplatzt und blutverkrustet, sogar eine ältere Narbe hatte sich wieder geöffnet und pumpte nun im Rhythmus ihres Herzschlages tropfenweise Blut aus der Wunde. Außerdem hatte sie einige Hämatome, die immer deutlicher zu sehen waren und die morgen sicherlich eine unschöne, tiefblaue Farbe angenommen haben würden. Sie versuchte, die Finger zu bewegen und biss die Zähne zusammen, als nach und nach das Gefühle in ihre Hände zurückkam und der Schmerz immer deutlicher wurde. Schließlich tastete sie ihre Knochen ab und pfiff erleichtert durch die Zähne, als sie feststellte, dass wohl nichts gebrochen war. Zum Glück hatte sie auch bei dem Kampf nur unwesentliche Verletzungen davongetragen. Eine leichte Quetschung an der Hüfte durch einen unschönen Aufprall und ansonsten wohl nur ein paar blaue Flecken. Nichts, was sie nicht gewohnt war und in Kauf nahm. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, holte sie einen kleinen Kasten aus ihrem Gepäck und desinifizierte die Wunden, bevor sie sich daran machte, sie zu verbinden. Wie sie sich darauf freute, gleich etwas zu essen. Sie hatte wirklich einen Bärenhunger. Und vielleicht einen Schluck Schnaps gegen den Schmerz und die langverdiente Zigarette. Diese vielleicht sogar am Besten zuerst. Als das Verbandszeug weggepackt war, zündete Vi sich eine Zigarette an und lehnte sich rücklings gegen eine weitere Kiste, schloss kurz die Augen und nahm dann einen Tiefen Zug. 'Endlich entspannen', dachte sie und ließ ihren Körper in eine möglichst bequeme Haltung gleiten, als sie plötzlich etwas unerwartetes hörte. Draußen aus dem Hauptraum der Fabrik. Waren das... Schritte? Wenn, dann waren sie sehr leise gewesen – vielleicht Ratten? Vi saß augenblicklich wieder aufrecht auf ihrer Kiste, die Zigarette zwischen die Zähne geklemmt, ohne sie weiter zu beachten. Ihre Ohren waren gespitzt und sie lauschte mit klopfendem Herzen nach den Geräuschen. Es war schonmal vorgekommen, dass sie in einem Unterschlupf entdeckt worden war und das war eine sehr blutige Angelegenheit gewesen. Und heute war sie definitiv nicht mehr zu einer Prügelei aufgelegt, geschweige denn dazu in der Lage, diese mit Sicherheit für sich zu entscheiden. Das Geräusch wiederholte sich nicht, doch Vi entschied, auf Nummer Sicher zu gehen. Sie schwang sich so leise wie möglich von der Kiste, verursachte dabei allerdings leises Knacken bei dem morschen Holz. Schleichen war nie eine ihrer besonderen Qualitäten gewesen, doch sie gab sich alle Mühe, möglichst keine Geräusche zu verursachen, während sie – von ihren metallbeschlagenen Schuhen behindert – in den Hauptraum der Fabrik schlich. Sie strich sich eine der verschwitzten, knallpinken Strähnen aus dem Gesicht und blickte sich um. Ihre Hextechhandschuhe lagen noch immer bei ihrem Gepäck – sie anzuziehen hätte ihr jetzt mehr geschadet als geholfen, ihren Händen ging es schon schlimm genug. Die Fabrikhalle wurde nur durch den Schein des Mondes erleuchtet, der durch die verstaubten, zum Teil zerbrochenen hohen Fabrikfenster oben unter dem Dach, schien. Viele Ecken lagen in tiefem Schatten, nur die alten Transportbänder und ein Haufen Schutt vom eingestürzten Dach waren in groben Umrissen in der Mitte der Halle auszumachen. Mit misstrauischen, aufmerksamen Blicken begann Vi ihren Streifzug durch die Halle, um sicherzugehen, dass sie alleine und sicher war. Es gab zu viele Leute hier im Viertel, die ihren Tod wollten und das würde sie zu verhindern wissen. Als sie etwa die Hälfte der Strecke durch die Halle durchquert hatte, hörte sie plötzlich ein Geräuch hinter sich und fuhr herum. Hinter ihr stand eine Frau, nur wenig vom Licht des Mondes erleuchtet, sodass sie das Gesicht nicht erkennen konnte und versperrte Vi den Rückweg in ihren Lagerraum. Sie war schlank und trug eine eng anliegende Hose und darüber einen modischen Mantel, der mit einem Gürtel zugebunden war und ihre gute Figur betonte. Die wohl längeren Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und darüber trug sie einen Hut, dessen Krempe sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Über der Schulter hing ein Gewehr, das Vi trotz der schlechten Beleuchtung als modifiziertes Scharfschützengewehr erkennen konnte. Allerdings – was Vi mehr als alles andere verwunderte – machte die Person keinerlei Anstalten, die Waffe schussbereit zu machen, sie wirkte für den Moment nicht aggressiv. „Was willst du?“, knurrte Vi zwischen zusammgengekniffenen Lippen und Zigarette hervor, ungehalten über die Störung und noch immer sehr misstrauisch. Ihre Augen huschten über die Umgebung und suchten nach einer Deckung, falls die Frau doch noch ihre Waffe ziehen würde. Als sie sah, dass der Trümmerhaufen nicht weit von ihrer aktuellen Position war, fühlte sie sich erleichtert und ein wenig beruhigt. Sie kannte ihre Sprintfähigkeiten, die sogar ziemlich gut waren und wusste, dass sie die Deckung erreichen konnte, bevor die Frau schussbereit war. „Gehe ich richtig in der Annahme, dass ich mit Miss Vi spreche?“, antwortete die fremde Frau mit merkwürdigem Akzent und hochtrabenden Worten, die definitiv nicht in dieses Viertel gehörten. Noch immer konnte Vi ihr Gesicht nicht erkennen. „Wer will das wissen?“, fragte Vi mit aggressivem Tonfall. Sie war offensichtlich gesucht und gefunden worden – von jemand Professionellem. War da ein Auftragsmörder auf sie angesetzt worden? Wenn ja, warum hatte sie dann noch nicht geschossen? „Bitte seien Sie ganz beruhigt. Ich bin nicht hier, um ein Attentat auf Sie auszuüben. Wäre dies meine Absicht, so hätte ich Sie bereits getötet.“ Die Stimme klang kühl und ein klein wenig arrogant, jedoch – da war Vi sich sicher – schwang keine Spur Angeberei darin mit. Die Frau meinte, was sie sagte. „Was willste dann?“, fauchte Vi, die es nicht mochte, am kürzeren Hebel zu sitzen, und spuckte die Zigarette auf den Boden, um sie direkt auszutreten. Sie fühlte sich alles andere als wohl und wünschte sich nichts sehnlicher als ihre Handschuhe an den Händen und einen Sprungangriff auf die Frau durchzuführen. Leider befand sich diese – vermutlich absichtlich – leicht außerhalb der Reichweite, die sie mit einem hextechverstärkten Sprung überbrücken konnte. „Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen, Miss Vi. Einen Vorschlag, wenn man so möchte.“ Die Frau schob die Krempe ihres Huts nach oben, sodass es Vi nun möglich war, ihr Gesicht im blassen Mondlicht zu erkennen. Und als sie die schönen, filigranen Züge in dem ovalen, sehr femininen Gesicht sah, den harten Zug um die Augen, die schön geschwungenen Lippen und die kühlen Augen, die sie aufmerksam musterten, wusste sie, wen sie vor sich hatte und ein Stein sank ihr in die Magengrube. Der Sheriff von Piltover. Caitlyn. Die beste Scharfschützin und beste Ermittlerin der Stadt – vielleicht sogar ganz Valorans. Nun verstand sie die selbstsicheren Worte. „Und was willste, Sheriff?“, fragte Vi mit betont unberührter Stimme, die den Sturm in ihrem Inneren nicht zeigte. Allgemein war sie recht gut darin, ihre Emotionen zu verbergen, wenn es sein musste, und eine harte, selbstsichere, arrogante Fassade aufrecht zu halten. „Wie ich bereits sagte. Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu unterbreiten. Uns sind die... Veränderungen in Ihren kriminellen Tätigkeiten nicht entgangen. Die Tatsache, dass Sie abseits des Gesetzes in gewisser Weise für dieses eintreten, wenn auch auf unkonventionelle und nicht von uns authorisierte Weise, hat meine Aufmerksamkeit erregt. Sie zeigen Talent dafür, Informationen über geplante Verbrechen zu sammeln und diese zu unterbrechen. Dass Sie das Diebesgut dann an sich nehmen, ist natürlich ein anderer Umstand, über den wir noch reden müssten.“ Der Sheriff machte eine kurze Pause und fixierte Vis Blick, deren Augen immer wieder nach eventuellen Fluchtmöglichkeiten suchte. Der Blick der braunen Augen war berechnend, kalt, aber nicht bedrohlich – zumindest im Moment. Dennoch fiel es Vi schwer, zu glauben, dass der Sheriff aus einem anderen Grund als einer Festnahme hier war. „Komm auf'n Punkt“, knurrte Vi und kniff die Augen leicht misstrauisch zusammen. Wäre sie nicht in so schlechtem Zustand gewesen, wäre sie vermutlich direkt in die Offensive gegangen. Aber wahrscheinlich hatte der Sheriff das genau deswegen abgepasst. Caitlyn räusperte sich kurz, war scheinbar ein wenig von Vi's mangelndem Benehmen abgestoßen, fuhr dann aber mit ihrem kleinen Vortrag fort: „Ich bin hier, um Ihnen die Möglichkeit anzubieten, mit Ihrer kriminellen Vergangenheit abzuschließen und sich auf die Seite des Gesetzes zu stellen. Als mein Partner.“ „...Partner?“ gab Vi nach einer kurzen Pause fassungslos zurück. „Fuck, willste mich verarschen!?“ Ihre geweiteten Augen waren fest auf Caitlyns Gesicht gerichtet, suchten Spuren darin, die darauf hinwiesen, dass diese sich über sie lustig machte. Doch der Blick war genauso ernst und unterkühlt wie zuvor. „Ich scherze nie bezüglich meiner Arbeit“, antwortete Caitlyn reserviert. „Mein Angebot ist ernst gemeint. Es mag zwar sein, dass mir Ihre Methoden nicht gefallen, aber Sie sind effektiv in dem, was Sie tun. Und ich suche bereits seit einigen Jahren nach einem Partner, der mir gewachsen ist, was seine Fähigkeiten betrifft. Ich habe einige Mitarbeiter, doch diese können weder mit Ihnen noch mit mir mithalten. Ich benötige jemanden mit Ihrer Erfahrung in der... Branche. Und Ihre Durchschlagskraft wird sich sicherlich ebenfalls als nützlich erweisen.“ „Lass mich mal zusammenfassen“, begann Vi, die langsam aus ihrer perplexen Starre erwachte und ihre Fäuste in die Hüfte stemmte. „Du willst mir nen Job bei der Wache von Piltover anbieten? Mit Uniform und allem? Mir?“ „Die Uniform ist sicherlich ein Teil dessen, das ist richtig“, antwortete der Sheriff. „Mir geht es darum, Ihre sicherlich löblichen Intentionen in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie könnten für die Verbrechensbekämpfung von Piltover eine nützliche Akquirierung sein.“ Auch wenn Vi nicht alle Worte verstand, die der Sheriff benutzte, so wurde ihr langsam aber sicher klar, dass Caitlyn es ernst zu meinen schien. Das hier war kein Hinterhalt, um sie festzunehmen, sonst wäre es längst passiert, so wehrlos wie sie gerade war (Das gab sie nur mit knirschenden Zähnen zu). „Das heißt, ich kann Verbrecher verprügeln und muss dafür nich vor'n Bull'n abhaun?“, fragte Vi und langsam schlich sich ein Grinsen auf ihre Lippen. „Nun, es wird selbstverständlich gefordert, dass Sie sich an die Dienstvorschriften halten, Miss Vi. Aber zu Ihrem Aufgabengebiet wird es gehören, mit mir gemeinsam Ermittlungen zu tätigen und Verbrecher dingfest zu machen.“ Ach Vorschriften... Vi war sich sicher, dass sie Mittel und Wege finden würde, ihren Spaß beim Arbeiten zu haben. Und ein Leben ohne das ständige Weglaufen? Das schien ihr fast zu gut um wahr zu sein. Niemals hätte sie erwartet, dass sich ihr einmal so eine Gelegenheit bieten würde, ihr, die auf der Straße aufgewachsen war, seit ihren jungen Kinderjahren ums Überleben hatte kämpfen müssen, stehlen, betrügen, manchmal sogar morden. Und nun wurde ihr eine vollkommene Absolution vor dem Gesetz angeboten. „Mit welcher Antwort darf ich also rechnen?“, fragte Caitlyn kühl, als Vi länger schwieg. „Weißte was, Sheriff. Klingt gut für mich.“ Noch immer war Vi das Risiko wohl bewusst, das ihre Vertrauensseligkeit ihr einbringen konnte, doch sie konnte und wollte diese Chance nicht vorbeiziehen lassen. Sie würde sie ergreifen. Die erste Möglichkeit, ihr dreckiges Leben, das sie ohnehin schon lange satt gewesen war, zu etwas Besserem zu machen. Sie ging ein paar Schritte auf Caitlyn zu. Diese straffte ihre ohnehin schon kerzengerade Haltung noch ein wenig weiter – Vi hätte nicht gedacht, dass das noch möglich war – und ihr Gesicht verzog sich zu einer leicht misstrauischen Miene, dann jedoch, als sie erkannte, dass Vi keinerlei Aggression im Gesicht zeigte, ließ sie die Hand, die zum Gewehr geschnellt war, wieder sinken. Als Vi sie schließlich erreichte, hob sie eine Hand, um ihr einen Handschlag anzubieten. „Klingt, als wär'n wir ab jetz Partner, was, Sheriff?“ Auf ihrem Gesicht war ein breites Grinsen und ihre pinken Haare hingen ihr wild ins Gesicht. Caitlyn zögerte kurz, ergriff die ihr dargebotene Hand dann jedoch mit festem, aber elegantem Griff. Vi spürte sofort, wie zart Caitlyns Hände waren, wie schmal die Knochen, obwohl diese sich bei der Arbeit ziemlich oft die Hände schmutzig machte und das schwere Gewehr führte, als würde es nichts wiegen. „Partner“, bestätigte Caitlyn mit kühler Stimme und reserviertem Gesichtsausdruck. „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie morgen früh um sieben Uhr bei der Wache erscheinen. Dann wird Ihnen Ihre Uniform zugeteilt werden und wir werden gemeinsam die nötigen Papiere ausfüllen.“ „Geht klar“, antwortete Vi grinsend und ließ Caitlyns Hand dann wieder los. Auch wenn der Sheriff unterkühlt und berechnend war, Vi war sich sicher, dass sie sie schon noch auftauen würde. Sie war dafür bekannt, dass sie den meisten Personen entweder sympatisch war oder dass sie sie auf den Tod nicht ausstehen konnten. Sie spaltete die Massen, so wie ihre Fausthiebe Wände spalteten. Und sie war gespannt, welches von beidem auf Caitlyn zutreffen würde. „Des weiteren würde ich Sie mit Nachdruck darauf hinweisen, ab jetzt jegliche eigenmächtigen Aktionen oder weitere gesetzeswidrigen Tätigkeiten einzustellen, da Sie sich dafür vor der Wache und dem Parlament verantworten müssten.“ Das gefiel Vi nicht unbedingt, genauer gesagt überhaupt nicht, doch sie wollte die Zusammenarbeit nicht zum Scheitern verurteilen, bevor sie begonnen hatte. „Werd versuch'n, mich zusammenzureiß'n“, antwortete sie und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht. „Das will ich hoffen“, antwortete Caitlyn mit hochgezogener Augenbraue. „Dann erwarte ich Sie morgen früh. Seien Sie pünktlich.“ Mit diesen Worten nickte sie Vi abschließend zu, ohne weitere Worte zuzulassen und drehte sich um. Mit eleganten Bewegungen ihrer langen Beine bewegte sie sich katzenartig und kaum hörbar zu einer der offenstehenden und kaputten Seitentüren der Fabrik und war bald aus Vi's Blickfeld verschwunden. Eine Weile stand sie noch wie versteinert auf dem Fleck, dann kehrte sie in den Lagerraum zurück, um ihre Handschuhe zu warten. Die würde sie morgen sicherlich brauchen. In ihrem Bauch rumorten noch immer Nervosität und Unsicherheit, doch nach Außen hin würde sie sich nichts anmerken lassen. Hier in den Außenvierteln von Piltover bedeutete Schwäche den Tod. Und Vi zeigte nie Schwäche. Morgen würde sie sich das erste Mal ins Zentrum von Piltover aufmachen, ohne dort ein Verbrechen geplant zu haben oder in eines eingreifen zu wollen. Der Gedanke bereitete ihr Unbehagen, füllte sie allerdings auch mit einer gewissen, ungläubigen Vorfreude. Ein amüsiertes Schnauben entglitt ihr und während sie eine Schraube an einem ihrer Handschuhe löste, sprach sie zu sich selbst: „Ich bei der Piltover-Wache. Wer hätte das gedacht...“ ----------------------------------------------------------------------------------------------- Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)