undone von Daisuke_Andou ================================================================================ Kapitel 27: ------------ Undone Kapitel 27 Tadaima. Ich fühle mich wie ein Verbrecher, als ich den Weg zur Keisei-Line beschreite und mir zwei Polizisten entgegen kommen. Klar ist es ihre Aufgabe verdächtigen Vorkommnissen am Flughafen nachzugehen, aber so verdächtig kann ich nicht aussehen, denn sie ziehen wortlos an mir vorüber. Nicht einmal eines Blickes haben sie mich gewürdigt. Trotzdem weicht das unbehagliche Gefühl in meiner Brust nicht vollkommen. Ich habe unweigerlich den Eindruck beobachtet zu werden. Doch vielleicht ist dies auch nur eines meiner Hirngespinste, ausgelöst von den Ängsten, die sie mir damals eingetrichtert haben und die mein Leben von Grund auf ändern sollten. Mittlerweile bin ich es gewohnt mich wie ein Schatten zu bewegen, möglichst alle Spuren zu verwischen und keine Fußabdrücke zu hinterlassen. Es ist besser so. Auch wenn ich hier nicht erwünscht bin, bin ich zurückgekehrt – ohne ihr Wissen. Teils fühle ich mich wie ein Besucher in einer anderen Welt und sauge jeden Eindruck um mich herum auf wie ein Schwamm. Sogar der Anblick von Schulkindern in ihren Uniformen beruhigt mich fortschreitend, obwohl das für dieses Land so normal ist, wie in anderen das Amen in der Kirche. Alles hier ist für mich ein ungewohnter Anblick und dennoch so vertraut. Fast so, als würde ich in ein vorheriges Leben zurückkehren, inkl. haufenweise Déjà-vus. Schweigend beobachte ich meine Mitmenschen und stelle fest, wie stereotypisch alles ist. Früher wäre mir das wohl nie aufgefallen. Früher sind mir so viele Dinge nicht aufgefallen. Etwas angefressen setze ich meinen Rucksack auf meinem Schoß ab und ziehe wenig später einen Umschlag heraus. Die winzige Karte, die sich darin befindet, bastele ich mit etwas Mühe in mein Smartphone und fahre es hoch. Erstaunlicherweise funktioniert alles einwandfrei. Ich öffne eine Nachricht und tippe nur die Worte „angekommen“ und „danke“ in das Textfeld. Anschließend sende ich die Mitteilung an eine Nummer, die mir handschriftlich auf einen Zettel, der sich ebenso im Umschlag befunden hatte, notiert worden war. So weit, so gut. Aber nichts anderes habe ich erwartet. Ein bisschen fühle ich mich wie 007. Auf geheimer Mission. Der Film über mich würde bestimmt Millionen einspielen, auch ohne dass ich einen Smoking tragen müsste. Dieser Gedanke amüsiert mich, auch wenn ich nach wie vor verkrampft in der Bahn hocke. Vehement zwinge ich mich dazu, mich zu entspannen. Bringt ja nichts hier stocksteif zu sitzen und jeden um mich herum zu observieren. Keiner weiß von meinem Ausflug in dieses Land. Offiziell habe ich für eine Weile geschäftlich im Ausland zu tun. Daher wäre es unsinnig von mir nun Gespenster zu sehen, wo keine waren. Und je näher ich meinem Ziel komme, desto unsichtbarer werde ich im Getümmel der Großstadt. Meine anfänglichen Bedenken zerstreuen sich immer mehr und meine Endhaltestelle rückt näher. Let’s go! ~*~*~ Nochmals vergleiche ich die Adresse in der Nachricht auf meinem Mobile Phone mit der Realität. Hier ist es also. Hier wohnst du. Sogar die Etage steht dabei und die Apartmentnummer. Kurz sehe ich mich um, aber niemand ist zu sehen bis auf einen Postboten. Ich nutze die Gelegenheit und schlüpfe nach ihm mit ins Haus. Unbeirrt geht er zu den Briefkästen, doch ich bin mir noch unsicher was ich nun hier will. Vielleicht einfach nur dir nah sein? Aber eigentlich macht es nicht so viel Sinn, hier zu spionieren. Großartig viel macht dieses Gebäude nicht her. Mittelständisch eben. Aber vielleicht denke ich das auch nur, weil ich mittlerweile andere Dinge gewöhnt bin. Es ist nicht so, dass mein Elternhaus nur so vor Luxus strotzt. Trotzdem glaube ich, dass diese Gegen nicht zu dir passt. Ich räuspere mich und entscheide mich doch, den Postboten anzusprechen. „Entschuldigen sie. Sie kennen sich hier sicherlich besser aus. Matsumoto Takanori. Der wohnt doch hier in diesem Haus, oder?“ Der ältere Herr in seiner blauen Arbeitsuniform sieht mich an und überfliegt schließlich die Namen an den Briefkästen. „Nein, da irren sie sich. Das hier ist der Eingang zu dem Haus auf der rechten Seite. Matsumoto-san wohnt nebenan. Der Eingang befindet sich auf der rechten Seite, wenn sie um die Straßenecke gehen.“ Unweigerlich muss ich stutzen, nicke jedoch verstehend. „Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen“, bedanke ich mich höflich, deute eine Verbeugung an und verlasse das Haus wieder. Verwirrt sehe ich mich um. Das soll man finden, wenn man noch nie hier war! Kann ja keiner ahnen, dass der Eingang zum falschen Haus gehört. Das sah alles so passend aus. Kopfschüttelnd besinne ich mich. Gemäß der Anweisung des Postboten gehe ich einmal um die Ecke und sehe einen unscheinbar wirkenden Eingang hinter einem rostroten Tor. Nun ist es aber auch für mich ersichtlich, dass dieser zu dem Hochhaus gehört, zu dem ich eigentlich möchte. Hier gibt es sogar eine Klingel direkt am Tor und auf dieser kann ich sogar deinen Namen lesen. Super. Das habe ich also schon einmal gefunden, selbst wenn ich mich etwas dämlich angestellt habe. Auf gut Glück drücke ich gegen die Tür, die ins Gebäude führt. Sie öffnet sich sofort. Es verwundert mich, denn direkt daneben ist ein Feld angebracht, in das man einen Code tippen sollte. So viel zur Sicherheit in diesem Land. Hier macht sich wohl keiner großartig Gedanken um Einbrüche und dergleichen. Auch da bin ich mittlerweile anderes gewohnt. Aber mir kommt das gelegen. Ich nehme nicht an, dass ich auf die Schnelle den Code irgendwie in Erfahrung gebracht hätte. Freudig spaziere ich in den Vorraum. Der macht aber letztendlich keinen anderen Eindruck als der im Gebäude nebenan. Alles hier ist so stoisch, so zweckmäßig. Aber immerhin steht eine Grünpflanze in der Ecke. Nur hat die ihre beste Zeit auch schon hinter sich. Zielgerichtet spaziere ich zu den Briefkästen und mache deinen aus. Ich öffne die Klappe um zu sehen, was sich dahinter verbirgt. Vielleicht ist das nicht die feine Art so etwas über dich in Erfahrung bringen zu wollen, aber irgendwo muss ich ansetzen. Ich habe so viel nachzuholen. So viel, was mir nicht mehr berichtet wurde. Und selbst wenn, es hätte keinen Wert mehr für mich. Gerade jetzt merke ich, wie sehr ich versagt habe und wie schwer meine Fehler wiegen. Es war dumm zu glauben, dass jemand anderes meine mir auferlegte Aufgabe erfüllen könnte. Und das zu meiner Zufriedenheit – töricht! Doch jetzt kann ich einfach nicht mehr untätig sein. Ich möchte die Kontrolle wieder zurück und selbst entscheiden, was wichtig ist und was nicht. Grob sehe ich deine Post durch. Ein Päckchen von einem Verlag. Anscheinend ein Magazin oder sowas. Dann ein Katalog mit Modekram. Also, mit irgendwelchen Materialien. Scheint dich wohl zu interessieren. Beruflich bestimmt. Ich kann damit nur wenig anfangen. Ansonsten befinden sich nur Flyer und ein paar Briefe in deinem Briefkasten. Alles nichts, was mich großartig interessiert. Also stopfe ich die Sachen nicht gerade sorgfältig zurück und spaziere zum Fahrstuhl. Erstmal erkunden, wie… Ich vernehme ein Geräusch hinter mir und sehe, dass die Flyer und ein paar Briefe der Schwerkraft zum Opfer gefallen sind. Kann ich später aufheben. Jetzt will ich nach oben, gucken, wie es da so aussieht. Wer weiß, wie viel Zeit mir bleibt, bis mich ein neugieriger Nachbar hier erwischt. Unangenehmen Fragen möchte ich möglichst aus dem Weg gehen. Da mein Informant mir deine Apartmentnummer mitgeteilt hat, weiß ich genau in welches Stockwerk ich fahren muss. Hier oben ist es dann doch recht übersichtlich. Fünf Wohnungen. Zwei davon links neben dem Fahrstuhl, die anderen auf der anderen Seite. Deine ist die ganz am Ende des Ganges, wie ich herausfinde, nachdem ich die Schilder an den Türen gelesen habe. Eine weitere Tür führt nach draußen zu einem kleinen Balkon. Anscheinend ist dieser gedacht für alle Bewohner dieser Etage. Man teilt hier eben gern… Nachdem ich meinen Kopf hinaus gesteckt habe, sehe ich auch, dass von hier die Feuerleiter nach unten führt. Der Fluchtweg also. Trotzdem ist für mich nicht zu erkennen, wo man rauskommt. Doof. Zurück an deiner Tür versuche ich mein Glück, aber du hast abgeschlossen. Sehr vernünftig. Man weiß schließlich nie. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, dass dieses Schloss sehr sicher ist oder gar viel aushält. Da habe ich schon andere auf bekommen. Aber für heute belasse ich es dabei. Mir genügt es zu wissen, wo du lebst. Irgendwie werde ich es schon schaffen, wieder Teil deines Lebens zu werden, mich in dein Leben hinein zu zecken, wenn man das so sagen kann. Optimistisch gestimmt trete ich meinen Rückweg über die Außentreppe an. Man weiß schließlich nie, ob man nicht mal schnell von hier wegkommen muss. Und da wäre es schon gut zu wissen, wo man unten denn herauskommt. Alle Informationen kann mir mein Informant eben doch nicht geben, selbst wenn er mir bisher eine große Hilfe war. ~*~*~ Ramen haben noch nie so gut geschmeckt wie heute. Man weiß Dinge eben erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr haben kann. So leere ich laut schlürfend die riesige Schüssel vor mir und lecke mir über die Lippen. Ich könnte glatt noch eine weitere Portion verdrücken, doch mein Smartphone lenkt mich von diesem Gedanken ab. Das Display zeigt mir eine der eingespeicherten Erinnerungen: 1. Februar Taka. Als wenn ich dafür eine Erinnerung benötigen würde. Nur zu gern möchte ich deinen Geburtstag mit dir feiern, aber ich weiß, dass mir das verwehrt bleiben wird. Auch dieses Jahr. Grausame Welt. Nichtsdestotrotz nagt das schlechte Gewissen an mir. So viele Gelegenheiten, an denen du ein Geschenk verdient hättest und die ich nicht habe wahrnehmen können. Eine Wiedergutmachung dafür gibt es leider nicht und was bleibt ist die Ernüchterung. Ein fader Beigeschmack, der nicht verschwinden will. ~*~*~ Nachdem ich dich wie jeden Morgen seit ein paar Tagen zum obligatorischen Automaten deines Vertrauens begleitet habe, damit du dir deinen Morgenkaffee ziehen konntest, sehe ich mich endlos langen Stunden der Langeweile gegenüber. Um zu agieren fehlen mir nach wie vor die notwendigen Informationen. Aber es kann sich nur noch um ein paar weitere Tage handeln, bis ich in Erscheinung treten kann. Zumindest hoffe ich das. Meine Geduld geht nämlich so langsam flöten. Mir ist es eben nicht genug, dich nur aus der Ferne beobachten zu können und deine Routine zu verinnerlichen. Trotzdem pfeift meine Vernunft mich zurück. Tag X wird schon noch früh genug kommen. Bis dahin hole ich vertane Zeit nach und vergnüge mich in Vierteln der Stadt, die ich bisher noch nie besucht habe. Ich muss mir jedoch eingestehen, dass es in Begleitung weitaus spaßiger wäre. Doch in diesem Land habe ich keine Freunde mehr und es wäre mir auch eher anzuraten, dass ich es vermeide, unnötige Kontakte zu knüpfen. Freudig beiße ich in den Spieß mit gegrillten Oktopus, den ich mir an einem kleinen Stand der Ameyoko gekauft habe, als mein Blick an einem Shop hängen bleibt: Tiere. Niedliche, kleine Fellknäuele suchen ein neues zu Hause. Mit gemischten Gefühlen folge ich dem Getümmel im Laden, um mir einen Überblick zu verschaffen. Dabei schrecken mich nicht einmal die Preise an der Scheibe ab, sondern eher die kleinen Glaskästen, in denen die Racker ihre Zeit fristen müssen. Irgendwie tun sie mir leid, wie sie versuchen nach Aufmerksamkeit zu haschen, nur um endlich jemanden zu finden, der sie mitnimmt und ihnen hoffentlich ein besseres Leben bietet. Irgendwie erinnert mich der kleine Haufen Elend im Glaskasten unten links an mich selbst. Kommt zumindest von der Haarfarbe her hin. Ich komm nicht drum herum, mich vor ihn zu hocken und meinen Zeigefinger auf Höhe seiner Pfote an das Glas zu drücken. Wie winzig und zerbrechlich er doch ist, aber trotzdem sieht er mich hoffnungsvoll an. Sicherlich denkt er, dass ich „sein Mensch“ bin. „Sorry, Kleiner, ich bin als Herrchen nicht geeignet. Hab’s nicht so drauf, mich um andere zu kümmern…“ Das war leider ein Fakt, denn oftmals bin ich schon mit mir selbst überfordert. Jedenfalls stelle ich das immer wieder fest. Ich habe nicht diesen siebten Sinn zu spüren, wenn es wem schlecht geht. Ganz anders als du, der es direkt merkt und dann natürlich sofort etwas tun will. „Hmm… Aber ich glaube, ich wüsste da jemanden, mit dem könntest du dich verstehen. Weißt du, der ist auch eher klein… und flauschig… und hat genau solche braunen Kulleraugen wie du!“ Zufrieden mit meiner Schlussfolgerung knabbere ich hastig meinen Oktopusspieß ab und stopfe das Stäbchen wie ein Rebell in die Öffnung des Getränkeautomaten, der eigentlich nur für Dosen vorgesehen ist. Dann stürme ich den Laden. „Den kleinen Hund da möchte ich gern mitnehmen!“, sage ich selbstsicher und deute auf den entsprechenden Glaskasten. „Möchten Sie ihn erstmal auf den Arm nehmen und genauer ansehen?“, fragt mich die Verkäuferin voller Zurückhaltung. Anscheinend schüchtert sie meine Gestalt ein. „Eh… nein, nein, der soll es sein. Einmal einpacken bitte mit Wohlfühlpaket für den Kleinen dazu!“, entscheide ich mich für den Weg des geringsten Widerstandes. „Der Chihuahua in schoko-tan?“, fragt sie noch immer unsicher. „Hm… Ja, der kleine Hund da, mit den großen Ohren! Und können sie auch bitte Unterlagen bereitmachen für Check-up’s beim Arzt? Er wird mit mir auch verreisen müssen.“ Vielleicht klinge ich ein bisschen harsch, aber mein Feingefühl in dieser Sprache ist einfach nicht mehr vorhanden. Mit meinen Kumpels rede ich eben anders. Nichtsdestotrotz scheint die Dame dennoch gewillt zu sein, mir das kleine Stück Leben in Form des Chihuahuas anzuvertrauen. Mein Plan ist es sowieso, ihn in sorgsame Hände zu geben, denn ich weiß, dass du schon immer ein Haustier haben wolltest. ~*~*~ Tausend Gefühle prasseln auf mich nieder, als ich mit dem Pappkarton im Arm der Außentreppe deins Wohnhauses nach oben steige. Natürlich bin ich darauf bedacht, besonders leise zu sein. Trotzdem stolpere ich im Dunkeln ab und an eine Stufe nach oben. Ist eben ziemlich finster. Bereits vor zwei Stunden ist das Licht in deiner Wohnung erloschen und du wohl schlafen gegangen. Und das, obwohl mittlerweile dein Geburtstag angebrochen ist. Darum bin ich ja überhaupt hier. Schließlich möchte ich dir dein Geschenk überbringen. Na ja, vor die Tür legen… Ich würde zu gern wissen, wie du reagierst, wenn du mein Geschenk morgen früh findest. Leider kann ich es dir nicht persönlich überreichen, aber ich weiß, dass Koron dir ein guter Gefährte sein wird. Gerade schläft er in dem kleinen Karton in seiner Kuscheldecke und sieht so friedlich aus. Ich bringe es kaum übers Herz, ihn wegzugeben. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er dir gefallen wird und er dein Herz im Sturm erobert. Ein Spielzeug und Futter für den ersten Tag habe ich ihm auch mitgegeben. Und natürlich seine Leine. Schließlich will ich dich nicht gleich überfordern, wenn er in dein Leben stolpert. Vorsichtig stelle ich den Karton vor deiner Wohnungstür ab und streichle nochmal mit zwei Fingern über Korons Köpfchen. „Pass mir ja gut auf Taka auf!“, flüstere ich deinem neuen Haustier zu und dann ziehe ich mich auch schon wieder zurück. Die Zeit bis zum Morgen werde ich mich in der Nähe deiner Wohnung aufhalten und warten. Die letzte Bahn ist nun sowieso schon weg und ich möchte wenigstens morgen früh einen kurzen Eindruck davon gewinnen, wie mein Geschenk bei dir angekommen ist. Wehe du freust dich nicht! ~*~*~ Du verlässt dein zu Hause wie jeden Tag auch und es verunsichert mich ungemein. Es macht den Eindruck, als hast du dein Kissen noch im Gesicht. Aber eigentlich sollte ein breites Grinsen deine Lippen zieren. Schließlich ist Koron doch bei dir? Oder ist er nicht? Auch schlaftrunken hättest d den Karton vor deiner Tür doch gar nicht übersehen können! Der stand doch mitten im Weg! Mich beschleicht ein ungutes Gefühl und da du nun sowieso auf dem Weg zur Arbeit bist, husche ich in das Gebäude. Diesmal nehme ich sogar die Eingangstür und benutze den Fahrstuhl, um in dein Stockwerk zu fahren. Oben angekommen strecke ich sofort den Kopf in den Flur, sehe aber schon von weitem, dass Korons Karton umgekippt ist. Die Decke hängt halb draußen und auch das Futter ist teilweise aufgerupft und auf dem Boden verteilt. Nur von Koron keine Spur! Vielleicht ist er ja in deiner Wohnung? Aber dann hättest du nie so ein Gesicht gezogen. Geschweige denn hier so ein Chaos im Flur hinterlassen. Und hättest du ihn denn einfach so allein lassen können? „Koron?“, flüstere ich unsicher, obwohl ich nicht großartig die Hoffnung habe, dass er bereits auf seinen Namen hört. Schließlich ist er erst seit zwei Tagen überhaupt bei mir. Besorgt schleiche ich durch den Gang, dann aber sehe ich zu der offen stehenden Tür, die nach draußen auf den Balkon führt. Nicht, dass der Kleine runtergefallen ist oder sonstwas… Bitte nicht! Panisch reiße ich die Tür weit auf, sehe den kleinen Plüschi aber zusammengerollt in einer Ecke sitzen und kaum, dass er mich bemerkt hat, spitzt er seine Ohren und steht auf. Oh nein, er winselt leise. Wie konnte ich ihn nur allein lassen? „Och, Koron… du solltest doch im Karton bleiben. So kann Taka dich doch nicht finden!“, sagte ich seufzend, hebe den kleinen Hund aber hoch und nehme ihn in den Arm. Sofort gibt es Streicheleinheiten für den Kleinen. „Gut, dass dir nichts passiert ist.“ Die Aktion war vielleicht doch unüberlegt von mir. Ich sehe es ja ein. „Tut mir leid. Dann wirst du wohl noch ein bisschen bei mir bleiben müssen. Aber das kriegen wir zwei schon irgendwie hin!“, rede ich Koron zuversichtlich zu und gehe wieder zurück in den Flur, um wenigstens noch die Decke und die restlichen Sachen von ihm wieder an mich zu nehmen. Tja, wie krieg ich den Wauzi nun zu dir? Das ist so eine Frage, auf die ich noch keine Antwort habe… ~*~*~ „Hey, sorry, dass ich so spät noch anrufe, aber ich hab nun alle Infos zusammen, die du wolltest!“, höre ich die Stimme meines Informanten am anderen Ende der Leitung. Schlaftrunken reibe ich mir über die Augen. Eigentlich hatte ich schon gepennt, antworte daher nur mit einem halbherzigen „Hmm….“. Und auch Koron neben mir ist sehr unwillig, seinen Schlaf zu unterbrechen. „Ich schick dir alles dann gleich noch per Mail rüber. Hab die Adresse der Firma, die du wolltest. NG, in Ebisu ist sein Arbeitgeber. Termin mit dem Chef der Firma hab ich auch für dich ausgemacht. Ist allerdings recht früh am Morgen. Überlebst du. Also versuch dein Glück mal. Ansonsten hab ich bei meiner Recherche noch wen ausfindig gemacht: Kazuki Azuma, 20 Jahre. Springer in der Firma. Heißt, der hat Zugang zu allen Abteilungen. Soweit ich weiß, kommt es nur auf die Anzahl der Scheinchen drauf an und er ist sehr hilfsbereit. Vielleicht sollten wir das mal im Hinterkopf behalten.“ „Bestechung…“, murmle ich in das Telefon und gähne auch schon herzhaft. Viel zu viele Informationen auf einmal und mein Hirn setzt sich nur sehr langsam in Gang. „Hm. Könnte nützlich sein, falls wir umplanen müssen und der Typ dir nicht so das ok gibt.“ „Hn, verstehe. Jo… Passt. Die Adresse von Taka hat soweit gestimmt. War ich schon dort“, informiere ich meinen sehr nützlichen Kontakt. „Weißt doch, dass du dich auf meine Infos verlassen kannst. Ich bin eben der Beste!“, kommentierte der andere selbstsicher. „Ich weiß! Alles nur eine Frage der Zeit.“ Ich bin unzufrieden, denn irgendwie läuft alles nur sehr schleppend. Das liegt aber natürlich nicht an meinem Helfer. Zwar hatte ich deine Adresse sehr schnell, dir zu folgen stellte sich aber anfänglich als ein Ding der Unmöglichkeit heraus. Nicht selten bist du mir in der Bahn oder an der Station entwischt. So lernte ich aber immer besser, dich zu lesen. Mittlerweile habe ich sogar herausgefunden, wo du arbeitest, wo du einkaufst, wo du essen gehst und auch, wo du immer deinen Kaffee kaufst. Nur einen Weg mit dir in Kontakt zu treten, habe ich bisher noch nicht gefunden. Leider. „Apropos Zeit. Der Termin ist erst am 24. Sorry.“ „WAS? Och nee! So langsam weiß ich nicht mehr, wie ich hier meine Zeit totschlagen soll!“ Entnervt atme ich aus. Jetzt bin ich gefrustet. „Ich weiß. Das zieht sich alles etwas.“ „Etwas ist gut!“ Meine Geduld wird auf eine ganz schöne Probe gestellt. „Ach ja, denk dran, Kou ist auch auf den Weg. Sei also etwas vorsichtiger, wenn du in den nächsten Tagen unterwegs bist.“ „Joahr, ich weiß Bescheid. Aber dann kann ich mich ja echt mal um nen paar Business-Sachen kümmern. Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von alleine. Danke, dass du mir bescheid gegeben hast. Wir telefonieren wieder…“, würge ich meinen Gesprächspartner ab. Ich glaube, in den nächsten Stunden kann ich mir meinen wohl verdienten Schlaf abschminken. Innerlich bin ich viel zu aufgewühlt, um jetzt Ruhe finden zu können. Anscheinend zieht sich mein Aufenthalt doch länger, als ich es ursprünglich geplant hatte und eigentlich habe ich nur noch eine andere wichtige Sache auf meiner To-Do-List stehen, die mir allerdings Kopfzerbrechen bereitet. Andererseits, es ist mir egal wie lange es dauert. Ich habe Jahre lang auf eine Chance gewartet und selbst die nicht mal bekommen, hätte ich es nicht selbst in die Hand genommen. ~*~*~ Nachdenklich tippe ich mit meinen Fingern auf dem Tisch des kleinen Cafés herum. Das Ambiente hier sagt mir sehr zu und besonders der Fakt, dass ich genau am Fenster sitzen kann. Somit kann ich die Straße gut im Auge behalten. Ich stopfe mir das letzte Stückchen meines Sandwiches in den Mund und kaue mit dicken Bäckchen. Alles spüle ich mit dem Rest meines eh schon kalten Cappuccinos runter und checke weitere E-Mails auf meinem Smartphone. Da muss ich heute Abend wohl auch nochmal ran. Selbst wenn mir ein Großteil der Arbeit aktuell vom Hals gehalten wird, bewahrt mich das nicht davor, doch ein paar Entscheidungen treffen zu müssen. Es geht schließlich um meine Firma. Und nichts lenkt mich besser von der Misere, genannt „Leben“ ab, als Arbeit. Nicht selten bin ich in den letzten Tagen durch die Straßen spaziert auf der Suche nach neuer Inspiration. Ich sehe auf und erhasche gerade noch den Grund meines Wartens. Hektisch binde ich mir meine Maske um und schnappe mir meine Tasche. Dann verlasse ich umgehend den Laden und tauche im Getümmel der Menschen auf der Straße unter. Ich schlängele mich durch sie wie ein Ninja, das Ziel meiner Obduktion weiterhin nicht aus den Augen lassend. An der Ampel stehe ich schräg hinter dir, ohne dass du irgendwas mitbekommst. Wenn du nur wüsstest, wie leicht es ist, dir zu folgen, deine Gewohnheiten auszuspionieren. Du wirst auf direkten Weg zur Bahnstation gehen und dort das Gate ganz rechts benutzen. Eben weil du das immer tust. Du bist ein Gewohnheitstier, ganz klar. Und seitdem ich weiß, wo du arbeitest, machst du mir es nur noch einfacher, mehr über dich zu erfahren. Wenigstens kann ich so etwas von deiner Gesellschaft genießen. Es ist generell schön, dich wieder sehen zu können, selbst wenn ich nur ein stiller Beobachter sein darf. ~*~*~ Ich weiß nicht, wie oft ich dieser Straße jetzt schon entlang gegangen bin. Immer wieder sehe ich nach oben, sehe das Fenster, hinter dem sich mein ehemaliges Zimmer verbringt, und mir wird ganz schwer ums Herz. Wie oft hast du auf der Fensterbank gesessen und nach unten geblickt? Wie oft hatte ich das Selbe getan? Und nun ist es so, als bin ich hier nicht mehr erwünscht. Dieser Gedanke nagt immer wieder an mir, wenn ich gerade den Mut zusammengekratzt habe doch endlich den Weg zu dieser verdammten Tür zu gehen. Doch dann ist die Unsicherheit wieder da. Ich weiß schließlich, dass ich nicht hier sein dürfte und dennoch bin ich es, um meine egoistischen Belange endlich durchzusetzen. Anderenfalls könnte ich nicht weitermachen. Aber was werden sie wohl sagen? Werden sie mich verstehen können oder mich für mein Handeln verurteilen? Blut ist dicker als Wasser, sagt man immer, aber ich bin mir unsicher, ob das auf mich ebenso zutrifft oder ob es nur leere Worte sind. Es fühlt sich an, als bin ich mit Ketten an ein Kreuz gefesselt und ich versuche mich loszureißen. Doch immer dann ziehen sich die Ketten fester, je stärker ich versuche, wegzukommen. Es nimmt mir regelrecht die Luft zu atmen. Dass mir das so schwer fällt, hatte ich auch nicht erwartet. Wieder atme ich tief durch, um meine Fassung wiederzufinden, doch lediglich eine weitere Erinnerung sucht mich heim, schlägt über mir zusammen. Wie sich dieser normale Tag damals zu einem Martyrium entwickelte und ich in kaltes Wasser geschmissen wurde. Jegliche Entscheidung war bereits getroffen und ich nur eine Marionette, die mitzuspielen hatte. „Du musst weg…“, wiederhole ich wie von selbst die Worte, die mir mein Vater damals ganz ruhig zugesprochen hatte. Sein Blick war ernst und seine Hände legten sich wie Schraubstöcke auf meine Schultern. Ich wusste nicht was los war, aber ich wusste, dass es daran nichts mehr zu rütteln gab. Das war der Todesstoß und von da an ging alles ganz schnell. Ich sollte gar nicht hier sein und trotzdem verspüre ich den Wunsch, meine Eltern zu sehen. Schließlich weiß ich, dass es ihnen nur um mein Wohl ging, egal wie schwer die Entscheidung ihnen gefallen war. Natürlich habe ich rebelliert. Sie waren unfair, ich war damals auch unfair, hatte ihnen Worte an den Kopf geworfen, für die ich mich bisher noch nicht entschuldigt habe. Mit gewissem Abstand betrachtet verstehe ich ihr Handeln von damals. Doch mein pubertäres Ich ist nach wie vor sauer, dass ich die Fehler meiner Eltern ausbaden muss. Warum muss ich dafür zahlen und dich aufgeben? Ich will das alles nicht mehr. Heißt es nicht immer, man hat nur dieses eine Leben? Man soll Chancen nutzen? Tja… ich habe nun wohl schon mein zweites Leben und möchte gern mein erstes wiederhaben. Ob das verständlich ist für irgendjemand anderen als mich? Wahrscheinlich nicht… In den vergangenen Jahren habe ich mich definitiv verändert, bin reifer geworden, doch definitiv auch ein Sturkopf geblieben. Vielleicht noch schlimmer als vor fünf Jahren. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum ich überhaupt hier bin und es einfach nicht schaffe, mit der Vergangenheit abzuschließen. Unsicher tappe ich von einem Bein auf das andere. Ich besinne mich nochmals und drücke dann doch den Klingelknopf. Gleichzeitig ziehe ich den Mundschutz von meinem Gesicht und stopfe ihn in meine Jackentasche zu der Tüte mit den Hundeleckerli, die ich seit neuesten immer für Koron dabei habe. Der denkt sich bestimmt auch seinen Teil. Wie doof ist der eigentlich und latscht mit mir andauernd ein und derselben Straße auf und ab. Wo der Kleine Recht hat… Aber das ist nun unwichtig, denn die Tür vor mir öffnet sich. Ich will gerade meinen Mund aufmachen, da sehe ich, wie sich die Augen meiner Mutter röten und von Tränen geflutet werden. Ihr kann ich anscheinend nichts vormachen. „Akira…“, flüstert sie lautlos und greift nach meiner Hand, zieht mich in den kleinen Vorraum. Unbewusst gebe ich der Tür einen Stups, sodass sie ins Schloss fällt. Viel mehr aber beansprucht der Kloß in meinem Hals seine Aufmerksamkeit für sich. Meine Brust schnürt sich zusammen und dann umarmt sie mich, drückt mich fest an sich und da ist es auch bei mir zu spät und die Tränen kullern mir über die Wangen. „Mama…“, flüsterte ich leise und nehme auch sie in den Arm. Boahr, ich bin so eine Heulsuse, aber gerade kann ich echt nicht anders. Bei der Mama ist man eben immer noch der kleine Junge, der sich das Knie aufgeschlagen hat und dann ein Pflaster draufgeklebt bekommt, damit alles wieder gut wird. Das hört nie auf, auch nicht, wenn man schon groß ist und eigentlich nicht mehr bemuttert werden sollte. „Junge, was machst du hier?“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme. Sie drückt mich von sich, um mich anzusehen und ich wischte mir hastig die Tränen von den Wangen. Es ist eben doch peinlich vor seiner Mama zu weinen. Vor allem als erwachsener Mann. Doch auf die Frage habe ich keine Antwort parat und das verrät mein Blick nur zu deutlich. Sie sieht mich liebevoll an, greift wieder nach meiner Hand. „Nun komm erstmal rein, Aki-chan. Du bist ganz dünn geworden. Isst du denn auch richtig?“, bekomme ich die üblichen Floskeln zu hören, die Mütter immer sagen, wenn das Kind länger außer Haus war. Das wiederum bringt mich zum lächeln. Es fühlt sich nicht so an, als wäre ich nicht willkommen und das beruhigt mich ungemein. Mami ist eben doch die Beste, auch wenn ich gegebenenfalls als Muttersöhnchen dastehe. „Ich ess vernünftig. Alle paar Tage Burger.“ „Hübsch bist du geworden. Du siehst deinem Vater immer ähnlicher!“, sagt sie richtig stolz und nimmt mir meine Jacke ab, damit sie diese an die Garderobe hängen kann. Ich schlüpfe derweil aus meinen Schuhen. Etwas Unbehagen schlummert in meiner Brust und ich fühle mich in meinem ehemaligen zu Hause verloren. Doch wahrscheinlich ist das immer so, wenn man an einen Ort zurückkehrt, an dem man so viel Zeit verbracht, aber zu dem man gar keine Verbindung mehr hat. „Ist Vater denn auch da?“, erkundige ich mich, aber sie schüttelt den Kopf, wendet ihren Blick gar nicht mehr von mir ab. „Er trifft sich mit einem Geschäftspartner. Aber in einer Stunde sollte er kommen. Möchtest du einen Kakao haben?“, umsorgt sie mich und ich muss doch schmunzeln, da man Gästen doch eigentlich Tee anbietet. Aber sie weiß eben doch, dass ich Kakao schon immer mochte. „Gern“, erwidere ich. „Und für Koron einen Schluck Wasser“, mache ich sie auf meinen Side-Kick aufmerksam und da fällt ihr Blick auf meinen Begleiter. „Oh… Du hast einen Hund? Wie kommt das denn?“, fragt sie erstaunt und sieht nach unten auf meinen neugieren Begleiter, der bereits alles inspiziert. Als wüsste Koron, dass es um ihn geht, sieht er mit seinen Kulleraugen nach oben. Das ist der Moment, an dem ich ihn auf den Arm nehme. „Verstrickung von unglücklichen Gegebenheiten. Aber… ich komm klar.“ Na ja… so mehr oder weniger. Wie man eben mit einem Hund klar kommt. Essen rein, Gassi gehen, Trinken rein, spielen und kuscheln. Jedenfalls kommt mir das aktuell so vor. Es ist unglaublich, wie schnell man sich an so einen kleinen Begleiter doch gewöhnt. Lieb gewonnen habe ich ihn auf jeden Fall, vor allem, da er eine Beschäftigung darstellt, während ich endlos lange Stunden darauf warten muss, bis ich dich wiedersehen kann. So bin ich zumindest nicht ganz allein und gebe eine allzu erbärmliche Erscheinung ab. „Sieht dir gar nicht ähnlich.“ Wo sie Recht hat. Trotzdem betreten wir nun die Küche und sie beginnt sofort damit, uns zu versorgen. Ich sehe mich unsicher um, lasse Koron auch wieder runter, da die neuen Eindrücke hier viel zu interessant für ihn sind, als dass er bei mir auf dem Arm bleiben möchte. Genau wie er lasse ich meinen Blick durch den Raum wandern. Viel hat sich hier nicht verändert. Das beruhigt mich irgendwie. Aber andererseits eben auch nicht. Trotzdem gehe ich nach ein paar Sekunden zu dem Platz, auf dem ich damals immer saß. Koron hat unterdessen das Schälchen mit dem Wasser entdeckt, welches meine Mutter ihm auf den Boden gestellt hat, und beginnt munter dieses zu trinken. Dann bin auch ich dran. „Hier, bitte!“ Mama sieht unglaublich zufrieden aus, als sie mir den Kakao vor die Nase stellt. „Danke…“, murmel ich und trinke sofort einen Schluck. Sie sieht mich weiterhin ununterbrochen an, mustert mich. Dann greift sie wieder nach meiner Hand und drückt sie. „Nun erzähl schon. Wie ist es dir ergangen? Haben sie sich gut um dich gekümmert?“, will sie wissen. In diesem Moment fällt mir auf, wie alt sie geworden ist. Sie hat Augenringe und die Fältchen um ihre Augen sind tiefer geworden. Auch durchziehen ihre Haare hier und da vereinzelte Graue. Sicherlich hat sie nie aufgehört, sich Sorgen zu machen. Ob ich wohl der Grund war? „Alle sind lieb zu mir. Das ist schon in Ordnung. Sie haben sich damals ja auch immer um mich gekümmert.“ Das stand außer Frage und das wussten meine Eltern ebenfalls. „Noah ist schon cool. Der hat voll durchgestartet nach der Uni und eifert seinem neuen Daddy nach. Ich hatte Glück und konnte direkt in die Firma mit einsteigen. Er hat mich regelrecht an die Hand genommen und mich in den Arsch getreten, dass ich auch ordentlich Geld verdiene. Nun ja, hat geklappt. Aber das hab ich wohl echt ihm zu verdanken. Wir sind vor 2 Jahren dann nach San Francisco in eine Villa nah am Strand gezogen. Also Noah und ich. Und seine Freundin und na ja…“ Ich kratze mich unsicher am Hinterkopf. Diese Familienverhältnisse waren doch sehr verquer. Meine Mutter kann mir aber immer noch folgen. „War halt auf Dauer zu eng. Die Zwillinge sind geboren und Liam hat ja noch 2 Söhne. Also… auf Dauer war das dann einfach zu stressig und zu laut. Nie hatte man seine Ruhe, andauernd stand irgendwas anderes an. Da war konzentriert arbeiten ein Ding der Unmöglichkeit. Noah und ich haben uns dann doch eher ums Geschäft gekümmert und da war San Francisco einfach der bessere Standort. Bessere Verbindung und ja…“ Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Ist nicht so, dass ich den Trubel irgendwie vermissen würde. Ich schätze meine Ruhe sehr, wobei mir die dank meiner Mitbewohner und Besuchern oft nicht gegönnt wird. „Das freut mich, dass du deinen Platz dort gefunden hast. Ich hab oft an dich gedacht, weißt du?“ „Mama… Sag das nicht so!“, schmolle ich und lächle sie an. Der traurige Tonfall in ihrer Stimme war mir nicht entgangen. „Ich komm klar, wirklich. Nur… es gibt hier eben noch Dinge, die ich zurücklassen musste und da läuft es nicht so, wie es soll. Ich muss da dringend was klären. Und bevor du schimpfst: Ja, ich habe mir das gründlich überlegt und ja, ich bin mir tausendprozentig sicher, okay? Das… also… die Sache von damals… nun… das hat sich erledigt!“, versuche ich sie zu beruhigen, doch sie nickt mir nur zu. Das macht mich stutzig und auch, dass sie mich auf einmal nicht mehr ansieht. „Ihr wisst davon?“, will ich sofort wissen. „Ja. Dein Vater hat es mir erzählt…“ „Und ihr habt mich nicht informiert oder gar dran gedacht mich zurückzuholen?“, werde ich unbeabsichtigt etwas lauter, mäßige mich aber sofort wieder in meinem Ton. „Wir hielten es für besser, dich nicht zu informieren. Wir wollten dich nicht wieder aus deinem Leben reißen. Das konnten wir dir doch nicht ein zweites Mal antun.“ Ich atme tief durch. Wie verkorkst kann mein Leben denn noch sein? Mein schlechtes Gewissen wieder hier zu sein verpufft unmittelbar. Nun bin ich mir sicher, dass es die richtige Entscheidung war. „Auch egal“, tue ich es trotzig ab. Ich will darüber nicht diskutieren. „Ich bin trotzdem weiterhin vorsichtig und versuche keine Aufmerksamkeit zu erregen“, versichere ich ihr. „Das ist sicherlich das Beste. Es weiß niemand, ob es nicht vielleicht noch jemanden gibt, der im Untergrund agiert. Riskier bitte nichts, Akira!“ Ihr Blick ist voller Sorge und irgendwie kann ich es nachvollziehen. Nur andererseits bin ich pissed. Ich hätte schon viel früher wieder herkommen können und dann wären viele Dinge vielleicht gar nicht erst passiert. Aber nun gut. Mit einem kräftigen Zug trinke ich wieder von meinem Kakao. „Karten auf den Tisch! Darf ich dann wenigstens für die Zeit, in der ich hier bin wieder hier wohnen? Die im Hotel gucken Koron immer so missmutig an, als würde er dort alles kaputt machen!“, wage ich mich vor und erkundige mich, ob ich hier denn unterkommen kann. Klar, mein Zimmer gibt es nicht mehr, aber trotzdem. „Gut heiße ich das nicht unbedingt. Lass mich vorher bitte mit deinem Vater reden. Aber ich würde mich freuen.“ Sie hält sich wie immer neutral. Wenigstens heute hätte sie sich über das Wort meines Vaters stellen können. Immerhin bin ich ihr Sohn! Aber manche Dinge ändern sich wohl nie. „Es wäre wirklich cool. Also… dann könntest du mal wieder für mich kochen! Ich hab das japanische Essen wirklich vermisst.“ Ich will nicht böse auf sie sein und ich kann meine Mutter mittlerweile doch gut einschätzen. Mit diesem Hinweis jedenfalls habe ich sie. Ihre Züge hellen sich gleich wieder auf. „Aber natürlich, Schätzchen. Was möchtest du denn haben?“, fragt sie nach und steht sofort auf, um sich an die Arbeit zu machen. „Die selbstgemachten Reisbällchen waren immer sehr lecker. Mit Thunfisch-Mayo-Füllung!“, ist das erste, was mir einfällt und sie nickt mir zu. „Bekommst du!“, willigt sie ein. Hektisch schaut sie in den Schränken nach, ob alles Notwendige im Haus ist. Anschließend macht sie sich ans Werk. „Darf ich mich derweil etwas im Haus umsehen?“, frage ich unsicher nach. Ich weiß nicht, in wie weit es ihr denn recht ist. Aber ich möchte sehen, was sich alles verändert hat, während ich nicht hier war. „Nur zu“, fordert sie mich auf und ich lächle ihr zu. Dann setze ich mich in Bewegung und gehe nach oben in mein altes Zimmer. Als ich die Tür öffne, sehe ich, dass mein Bett noch dort steht, wo es immer stand. Nur eine furchtbar hässliche Bettwäsche mit Blümchenmuster ist aufgezogen. So typisch meine Mutter. Auch mein Schreibtisch steht noch hier und mein Schrank. An der Einrichtung an sich hat sich nicht viel verändert. Als ich die Schranktür jedoch auf mache, sehe ich einen mir vollkommen fremden Inhalt. Aber gut. Teilweise waren mir Sachen nach Amerika nachgeschickt worden, alles andere haben sie wohl wirklich weggeschmissen. Ich frage mich, ob ihnen das schwer gefallen war, denn hier erinnert kaum mehr etwas an mich. Auf dem Schreibtisch stehen noch alte Fotos von mir. Die Fußballmannschaft in der ich in der Mittelschule war, eine Porträtaufnahme von mir und dann noch ein Babyfoto. Neugierig öffne ich ebenso die Schubladen meines alten Schreibtisches, aber sie sind leer. Alles weg. Angestrengt versuche ich mich zu erinnern, was ich darin aufbewahrt hatte, doch außer Schulkram fällt mir nichts ein. Aber ich weiß, dass ich da noch so viel mehr reingestopft hatte. Wie sehr man doch an materiellen Dingen hängen kann. Für den Moment. Und dann sind die Sachen weg und man merkt, dass sie gar nicht wichtig waren. Eigentlich war in meinem Leben nichts wichtig, außer du. Auf alles andere könnte ich verzichten. Unnötiger Luxus, der einen für den Moment glücklich macht. Alles sinnlos ohne dich. Ich gehe zum Fenster und setze mich auf die Fensterbank. Die Aussicht nach draußen ist auch noch die Selbe. Wobei, im Garten fehlt ein Baum. Dort ist nun Wiese. Aber das fällt gar nicht auf, dass dort mal etwas anderes gestanden hatte. Der unliebsame Lauf der Zeit. Vielleicht bin ich ähnlich wie dieser Baum. Nach einer Zeit fällt es gar nicht mehr auf, dass ich mal hier war. Dann hätten sie ja erreicht, was sie wollten. Ein leises Seufzen kommt mir über die Lippen und ich lehne meine Stirn an die kühle Fensterscheibe. Ich kann nichts dafür, aber wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen. Ich hatte es niemals für möglich gehalten nochmals hier zu sein. So viele Erinnerungen, die hier entstanden sind und die so wertvoll für mich sind. Wir saßen auf meinem Bett, als wir uns zum ersten Mal geküsst haben. Wie oft lagen wir nebeneinander, genau dort und haben einfach nur geredet, Pläne geschmiedet, Eis gegessen, Manga gelesen, Blödsinn verbockt. Hektisch wische ich mir über die Augen. Dass der Tag mich so emotional mitnimmt, habe ich auch nicht für möglich gehalten. Es ist nicht so, dass ich dich nur wiederhaben möchte, weil ich dich liebe, ich möchte auch meinen besten Freund zurück. Selbst wenn ich Kumpels in Amerika habe, dich kann niemand ersetzen. Du warst einfach so lange bei mir, kennst mich in- und auswendig. Mit niemand anderen könnte ich so viel teilen wie mit dir. Ich brauche dich einfach, um glücklich zu sein. Ich leide wie ein Hund, wenn ich dich nicht um mich herum habe und dir kein Lächeln entlocken kann. Niemand kann von mir verlangen dich aufzugeben. Vielleicht war mein Körper am anderen Ende der Welt, aber meine Seele war stets an deiner Seite. Ich fühle mich nicht mehr vollständig. Es ist ernüchtern, wie wenn bei einer Praline die Füllung fehlt. Und die ist eben das Beste! „Taka…“, seufze ich leise und meine Brust bebt. Ich entscheide mich, wieder nach unten zu gehen. Es tut mir nicht gut, alleine zu sein. Doch kaum dass ich die untersten Stufen der Treppe erreicht habe, laufe ich meinem Vater direkt in die Arme. Er stutzt, mustert mich von oben bis unten. „Sohn?“ Ich kann seine Stimme so gar nicht einordnen. Er war schon immer eher der autoritäre Typ, der nie Emotionen zugelassen hat. Sein Wort war eben Gesetz. Doch dann merke ich, wie sein Blick nachsichtig wird. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund hier zu sein.“ „Den hab ich!“, sage ich sofort und es kommt mir zum ersten Mal vor, als würden wir von Mann zu Mann reden. „Manchmal muss ein Mann tun, was ein Mann tun muss, Akira.“ Auch seine Hand findet seinen Weg auf meine Schulter und er klopft darauf. Er scheint stolz zu sein und ich bin es in diesem Moment auch. Doch dann geht er ohne noch weiter mit mir zu reden in die Küche. Ich rieche, dass der Reis bereits kocht und es fühlt sich wirklich an, als bin ich wieder zu Hause. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)