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Haifischherz

von

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Sharks will often give warning signs before they attack,

by arching their backs, raising their heads,

and pointing their pectoral fins down.
 

*
 

Rin atmete ein.

Ein kurzer Abriss der Geräusche, die über der Wasseroberfläche durch die Halle huschten, schwappte in seine Ohren, aber nicht ganz bis in sein Bewusstsein. Das Wasser umfloss ihn. Seine Arme gruben sich wieder hinein, schlugen Furchen, zogen ihn weiter voran. Eine Welle lief durch seine Muskeln, ließ ihn den Oberkörper senken und wieder anheben, wie eine sich windende Schlange. Dann folgten die Beinschläge, so kraftvoll, dass das Wasser sich fast schneidend anfühlte und als würde es unter seinem Tritt aufkreischen. Er liebte es, das Tempo zu spüren. Schmetterling klang wirklich zu träge dafür, auch wenn es rein optisch passte. Er fühlte sich nicht wie ein Schmetterling, wenn er schwamm.

»Gute Zeit!«, rief Ai ihm vom Beckenrand aus zu, als er sich das Wasser von der Stirn wischte und die Brille hoch schob. Er warf ihm ein kurzes Grinsen zu, ehe er den Kopf wandte und seinen Blick über die anderen Bahnen gleiten ließ. Seit der Schwimmclub der Iwatobi High School regelmäßig mit ihnen trainierte, war hier ganz schön was los. Ein paar Sekunden haftete seine Aufmerksamkeit an Haru, der wie ein Torpedo durchs Wasser schoss. Und am Ende des Beckens wartete schon jemand auf ihn… Makoto. Haru erreichte sein Ziel, schlug mit der Hand an und schnappte Luft. Makotos Lippen bewegten sich und selbst von hier konnte Rin erkennen, dass er das für ihn so typische Lächeln lächelte, als er Haruka die Hand anbot, um ihm herauszuhelfen.

Rin wandte sich ab und kletterte aus dem Becken. Jemand hielt ihm ein Handtuch hin. »Danke«, murmelte er und legte er sich um den Nacken. In fünf Minuten war das Training für heute vorbei. Rin seufzte leise und spürte bewusst die wohlige Erschöpfung und Schwere in seinen Muskeln. Ein gutes Gefühl. Er zog sich die Kappe vom Kopf und schüttelte seine Haare. Jetzt eine Dusche und dann nach Hause. Vielleicht konnte er-

»Matsuoka!« Das war Seijuros Stimme. Rin hob den Blick und erspähte den Captain am Rand der Halle. Wahrscheinlich wollte er noch irgendetwas organisatorisches klären. Solche Aufgaben übertrug er ihm in letzter Zeit immer öfter. Oder er wollte mal wieder etwas über Gou wissen… hoffentlich gab es einen anderen Grund.

»Nanase, Tachibana, Hazuki!«

»Hm?« Mit einem Stirnrunzeln kam er näher und schaute kurz über die Schulter. Tatsächlich trabten auch die drei anderen tropfend zu ihnen herüber. Es gab doch jetzt nicht etwa nochmal Anschiss wegen der Staffel? Das war inzwischen doch wohl schon zur Genüge ausdiskutiert worden.

»Was gibt es?«, gab er seiner Ungeduld nach, aber Seijuro warf ihm nur einen kurzen Blick zu und wartete mit der Antwort, bis auch die anderen in Hörweite waren.

»Tut mir leid, ich wollte den Reifen nicht kaputtmachen!«, sagte Nagisa und neigte den Oberkörper. »Entschuldigung!«

Seijuro schnaufte. »Ist gut, darum geht’s nicht. Ich hab euch was von höherer Stelle auszurichten. Ihr geht euch jetzt umziehen und kommt dann ins Besprechungszimmer, alles klar?«

In drei von vier Gesichtern stand Verwunderung. Rin wusste, dass es bei der Ansage keinen Sinn machte, den Captain nach mehr Details zu fragen, also ließ er es sein, auch wenn er sich darauf echt keinen Reim machen konnte. Warum sie vier? Hatte man sich nachträglich irgendeine Strafarbeit ausgedacht?

»Okay, verstanden!« Makoto lächelte und nahm die anderen beiden mit Richtung Umkleide. Rin wollte hinterhergehen, aber Seijuro hielt ihn auf. »Sag mal, was ist eigentlich Gous Lieblingsfarbe?«

Rin verzog das Gesicht. Das war jetzt doch nicht sein Ernst. »Ich… keine Ahnung. Frag sie am besten selbst.« Kopfschüttelnd zog er von dannen.
 

Ein dünner Nebel aus Wasserdampf umhüllte die Silhouetten der nackten Männerkörper, die in den weiß gekachelten Nischen standen und sich das Chlorwasser abwuschen. Rin blickte stur geradeaus und verbot es sich so gut wie möglich, genauer hinzusehen, während er selbst nach einer freien Dusche suchte. Erleichtert ließ er die Schultern sinken, als er eine fand, die letzte im Gang. Er hängte das Handtuch an den Haken, trat hinein und stellte das Wasser an. Heiß prasselte es auf seine Schulterblätter. Einen Moment lang genoss er einfach nur die Hitze und wie es sich anfühlte, als würde sie seine Muskeln aufweichen. Dann bückte er sich und pellte sich die Badehose von den Hüften. Irgendwo ein Stück entfernt hörte er Nagisas helle Stimme, aber das monotone Rauschen des Wassers ließ es nicht zu, dass er die Worte verstand. Es war nicht so, als hätten ihn die Weisheiten des kleinen Energiebündels besonders interessiert… es ging eher darum, mit wem er redete und was derjenige antwortete. Aber Haruka redete ohnehin nie besonders viel und Makoto… Makoto. Rin wusch sich mit fahrigen Handgriffen die Haare und neigte dann den Kopf, um den Schaum auszuspülen.
 

»Rin?«

Er drehte das Wasser ab und trat auf den Gang. Schnell griff er nach dem Handtuch, bevor er zu Makoto blickte, der bereits angezogen war und ein paar Meter entfernt von ihm stand. »Wir warten vor dem Besprechungszimmer auf dich, okay?«, fragte er. Rin spürte, wie sich seine Mundwinkel ganz automatisch hoben, als Makotos Lächeln ihm galt. Dabei waren die Worte so unheimlich belanglos. Es war ihm völlig egal, ob der Trupp auf ihn wartete, oder schon hinein ging. Er war kein kleines Kind, das an die Hand genommen werden musste.

»Alles klar… bin gleich so weit«, erwiderte er und begann dann, seine Haare trocken zu rubbeln.

Drei Minuten später, die Sporttasche lässig über die Schulter geworfen, stieß er zu den drei Iwatobis, die tatsächlich artig vor der Tür warteten. Oder sich nicht trauten. »Lasst uns reingehen, ich will’s hinter mich bringen«, murmelte er.

»Hast du eine Idee, wieso man uns hierher bestellt, Rin-chan?«

Er schoss ihm einen abschätzigen Blick zu. »Es kann nur um die Staffel gehen…«

»Dabei haben wir uns doch schon an allen Stellen dafür entschuldigt.« Haruka seufzte und schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, dass wir noch mehr Ärger bekommen. Vielleicht geht es um etwas ganz anderes.« Makoto hatte die Arme um seine beiden Mitschüler gelegt und schob sie langsam Richtung Tür. Rin grinste, drehte den Türknauf und trat als erster ein.

Drinnen saß eine Frau um die Dreißig, in einem schicken grauen Kostüm, die Rin noch nie gesehen hatte. Irgendwie hatte er mit jemandem von der Schulleitung gerechnet oder vielleicht mit dem Captain eines anderen Schwimmteams. Er blieb vor dem langen Besprechungstisch stehen und ließ sich erst zu einem ‘Guten Tag’ hinreißen, als die anderen sie grüßten.

»Setzt euch doch, Jungs.« Sie lächelte freundlich.

Zögerlich ließ er sich neben Makoto auf die Bank sinken. In der Mimik dieser jungen Frau lag etwas, das ihn irritierte. Eine Art… viel zu gute Laune und Feierlichkeit. Das passte nicht zu dem, was er erwartete. Augenblicklich schien der ganze Raum voll dampfender Anspannung zu sein, die aufgrund fehlender Fenster nicht entweichen konnte.

»Ich bin Sayuri Katsura, Vize-Präsidentin des Japanischen Schwimmsportverbandes.«

Rin schluckte. Was zum…? Aus dem Augenwinkel schaute er zu Makoto, der ähnlich überrascht aussah, wie er.

»Eure Staffel diesen Sommer beim Regionalwettbewerb hat mich sehr beeindruckt. Nicht nur wegen eurer Zeit, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, dass ihr eure Teams entgegen der Regeln vermischt habt und wie… ja, wie sehr euer Enthusiasmus für den gemeinsamen Sport aus euch gestrahlt hat. Ich habe daraufhin ein bisschen nachgeforscht und mit mehreren Leuten geredet, bis ich herausgefunden habe, dass ihr schon von Kindesbeinen an zusammen geschwommen seid. Eine wirklich süße Geschichte.« Sie lächelte und Rin verzog das Gesicht. Wohin führte diese Besprechung?

»Ich habe meinen Kollegen vom US-Verband davon erzählt und ihnen die Aufzeichnung gezeigt. Und jetzt… bin ich hier um euch zu sagen, dass ihr vier als Team eingeladen worden seid, um am Swimmer’s Passion Event in Kalifornien teilzunehmen.«

Rins Kiefer klappte ein paar Millimeter herunter. Am SPE nahmen normalerweise nur echte Größen teil, Ausnahmetalente und bekannte Namen. Es gab zwar keine Medaillen, aber alleine wegen des Austauschs mit Profis aus aller Welt, war das eine Riesensache. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Ihre popelige kleine Staffel hatte deren Aufmerksamkeit erregt?

»Swimmer’s Passion…«, wiederholte Haruka leise, aber es klang nicht wie eine Frage.

Nagisa hielt es nicht an seinem Platz. Er sprang jubelnd auf. »Das ist ja der Wahnsinn! Ist das wirklich wahr? Wir schwimmen in den Vereinigten Staaten?«

Frau Katsura lächelte und entblößte perfekt weiße Zähne. »Ja, so ist es. Wenn ihr die Einladung annehmt.«

»Natürlich nehmen wir die an!«, rief Nagisa, stockte dann aber und wandte sich ihnen zu. »Tun wir doch, oder?«

»Wann findet das statt?«, fragte Makoto.

»Es beginnt in zwei Wochen. Eure Flüge und Hotelzimmer sind bereits reserviert. Mit euren Schulleitern habe ich vorab schon gesprochen. Es liegt ganz an euch, aber ich hoffe doch, ihr sagt ja und zeigt allen, was der Kern des gemeinsamen Sports ist.«

»Ich würde sehr gern teilnehmen«, sagte Makoto. Man hörte ihm die Freude zwar an, aber auf eine viel ruhigere Art, als bei Nagisa. Haru wirkte immer noch ein bisschen erstarrt, bis Nagisa ihn in die Seite stieß. »Haru-chan, wir schwimmen unsere Staffel in Kalifornien! Hörst du?«

Schließlich nickte er und alle Köpfe drehten sich Rin zu.

Die ganze Situation wirkte immer noch verdammt skurril und die aufkeimende Freude war damit beschäftigt, sich durch eine zähe Masse aus Verwunderung und Unglaube zu kämpfen. Erst Makotos Hand, die sich warm und sanft auf seine Schulter legte und der fröhliche Blick aus den grünen Augen, ließen ihn die einzig angemessenen Worte finden.

»Klar, ich bin dabei.«
 

*
 

Rin blickte aus dem Fenster. Seine Augenlider fühlten sich träge an. Der Schlaf im Flugzeug war nicht der Beste. Draußen hellte ein feuriges Orange Stück für Stück das Blauschwarz des Nachthimmels auf. Noch zwei Stunden bis zur Landung. Er gähnte so herzhaft, dass sein Kiefer leise knackte, dann streckte er die Arme über den Kopf und die Beine und Füße so gut es eben ging, weckte seine Gelenke auf. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er sich von Gou verabschiedet hatte. Sie war bis zuletzt ein bisschen zickig darüber gewesen, dass sie als Coach nicht mitkommen konnte. Er hatte versprochen, ein paar Bizeps für sie zu fotografieren, aber es hatte nicht viel geholfen.

Haru neben ihm schlief noch. Oder wieder. In der Reihe vor ihnen saßen Makoto und Nagisa und spielten irgendein Kartenspiel. Rins Augen folgten dem leichten Wippen der Haarsträhnen, als Mako sich vorbeugte um einen Zug zu machen, dann glitt sein Blick über die Linie seines Kiefers, bis zum Kinn, hinauf zu den Lippen, die wie fast immer zu einem Lächeln verzogen waren. Früher war ihm das gar nicht so aufgefallen, aber Makotos Lächeln nutzte sich irgendwie überhaupt nicht ab. Im Gegenteil. Er konnte sich daran nicht satt sehen. Und da war es sogar egal, ob er ihn so wie jetzt einfach nur dämlich anstarrte.

»Rin? Alles klar?«

Er musste zweimal blinzeln, bevor sein Hirn sich wieder einschaltete und seinem Gesicht die Anweisung gab, auf der Stelle mehr Coolness auszustrahlen.

»Nur etwas müde… die Sitze sind verdammt unbequem.«

Makoto nickte verständnisvoll. »Ich bin auch noch nie so lange geflogen. Aber wir sind bald im Hotel.«

»Erst mal kommt noch die Landung«, meldete Nagisa sich und sein Gesicht tauchte in der Spalte zwischen den beiden Rückenlehnen auf. »Da kann ziemlich viel schief gehen. Wir könnten abstürzen. Habt ihr keine Angst?«

Rin schnaubte. Der Humor des Blondschopfs nahm manchmal seltsame Züge an. Bei Makoto schienen die Worte aber tatsächlich ein Unwohlsein heraufzubeschwören.

»Blödsinn, wir landen. Es wird rein gar nichts schiefgehen. Fliegen ist viel ungefährlicher als Autofahren.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich lässig zurück.

Haruka neben ihm gab ein mürrisches Brummen von sich. »Sind wir bald da?«

»Bald. Kannst ruhig nochmal die Augen zumachen«, grummelte er und drehte die Lautstärke seines iPods auf. Makoto hatte sich wieder Nagisa zugewandt. Sobald sie im Hotel ankamen, würde das gleiche Spielchen stattfinden, wie zu Beginn des Fluges bei den Sitzplätzen. Alle rissen sich um Makoto. Genervt drehte er die Augen zur Seite. Es gab zwei Doppelzimmer. Wenn er mit ihm aufs Zimmer wollte, musste er auf jeden Fall irgendwie eingreifen, und durfte nicht warten, dass sie es unter sich ausmachten. Er war noch nicht wieder ganz in dieser Clique angekommen. Vielleicht würde er es auch nicht mehr. Trotzdem… Er hob die Lider leicht an und schielte zu Haru herüber.
 

*
 

Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel auf die kleine Truppe herab, als sie ihr Gepäck in den Kofferraum des Taxis hievten. Die Türen knallten, dann startete der Motor. Rin stützte den Ellenbogen lässig auf den Rand des halb heruntergelassenen Fensters. Der aufkommende Fahrtwind strich ihm durchs Haar und trug den lebensnotwendigen Sauerstoff ins Auto, in dem schon nach wenigen Minuten alle vor sich hin brutzelten.

»Wollen wir gleich zum Strand, wenn wir eingecheckt haben?«, fragte Nagisa von vorn, wandte sich aber nicht zu ihnen um. Die Augen des jungen Mannes klebten förmlich an der Scheibe. Die Häuser der Großstadt wuchsen vor ihren Augen in die Höhe und verdichteten sich zu einem grauen Dschungel aus Beton, Glas und Metall.

»Es kann nicht schaden, sich gleich ein bisschen umzusehen. Dann treffen wir vielleicht auch schon ein paar von den anderen Schwimmern«, erwiderte Makoto, der in der Mitte zwischen Rin und Haru saß. Rin brummte nur zustimmend und ein wenig geistesabwesend. Ihm gefiel es viel zu gut, wie ihre Beine sich ganz zufällig durch den fehlenden Freiraum auf der Rückbank berührten. Bei jedem anderen hätte ihn das alles genervt… die engen Kurven, bei denen man halb aufeinander hockte, der Geruch des fremden Shampoos in der Nase, wenn man sich dadurch kurz näher kam,… aber jetzt gerade war es völlig in Ordnung. Kurz zog er gar in Erwägung, die Fliehkraft als Ausrede dafür zu benutzen, um die Hand auf sein Knie zu legen, oder auf seinen Oberschenkel, nur ganz kurz… aber er ließ den Gedanken wieder los und widmete sich lieber der Sache mit der Zimmerverteilung.

Betont beiläufig lehnte er sich zu Makoto herüber und sprach etwas leiser an seinem Ohr. »Ich hab gehört, du hast eine ziemlich gute Nackenmassage drauf.« Das stimmte zumindest so mehr oder weniger. Rin hatte vor ein paar Tagen gesehen, wie er Ai ein bisschen die Schultern massiert hatte. Aber das reichte als Aufhänger. Mako wandte ihm das Gesicht zu und hob ein wenig überrascht die markanten Augenbrauen, lächelte dann wieder. »Ich tue mein Bestes. Warum fragst du?«

Rin rieb sich etwas umständlich den Nacken und verzog überzeugend das Gesicht. »Ich glaube, ich habe mich beim Schlafen im Flieger irgendwie blöd verspannt. Vielleicht könntest du da nachher mal Hand anlegen?«

Makoto verzog einen Moment lang mitleidig den Mund und nickte dann. Eine Gelegenheit, jemandem zu helfen, konnte er einfach nicht ausschlagen. Makoto war ein guter Samariter und gleichzeitig hatte er definitiv was von einem Labrador, der selbst noch dem Einbrecher beim Taschentragen half. »Sicher.«

Rin grinste. »Perfekt.«

Während Nagisa immer wieder Vorschläge machte, wie sie die nächsten Tage verbringen würden, Harus Nachfragen über die anderen Schwimmer beantwortete wie ein wandelndes Lexikon und in holprigem Englisch versuchte, dem Fahrer ein paar Sightseeing-Infos zu entlocken, lehnte Rin sich wieder zurück, lauschte halbherzig und ließ seine Gedanken kreisen. Egal wo sie begannen, egal was ihn zum Nachdenken brachte - ein Straßenschild, auffällig gekleidete Menschen auf der Straße, ein Filmplakat - alles führte irgendwann zu dem jungen Mann neben ihm. Das ging jetzt schon über einen Monat so und es war… anstrengend. So anstrengend, dass es ihn während des Trainings ablenkte. Statt voranzukommen, weil er sich von Haru angespornt fühlte, machte er Rückschritte seit die vier Jungs bei ihnen trainierten.

Und das lag an Makoto.

Nein, eigentlich lag es an ihm. Er drehte irgendwie durch. Zuerst hatte er versucht, sich gedanklich auf die Finger zu hauen, wann immer er zu weit abdriftete, aber das hatte schlichtweg nicht funktioniert obwohl Disziplin sonst nie sein Problem war. Abgesehen davon… er wollte nicht wieder anfangen, Verdrängen und Weglaufen als Lösung für Probleme zu akzeptieren. Und das ließ nur noch den Weg nach vorn zu, den Weg auf ihn zu. Dieser Ausflug war perfekt dafür, ein bisschen Zeit mit Makoto allein zu verbringen, mit ihm zu reden, und sich selber klar zu werden, was er eigentlich von ihm wollte. Und was er bekommen konnte.
 

*
 

Das Taxi hielt und die weiße Hotelfassade leuchtete hinter riesigen Sträuchern und Palmen hervor. Rin beeilte sich mit dem Aussteigen und zerrte als Erster sein Gepäck aus dem Kofferraum des Taxis, damit er vorangehen konnte. Ein kurzer weißer Steinpfad führte zum Eingang des Hotels und Rin tat sein Bestes, um beim Tragen seiner Koffer ein wenig angeschlagen auszusehen: Den Rücken hatte er leicht gekrümmt, aber so dass es so aussehen musste, als würde er angestrengt zu verbergen versuchen, dass ihm die Muskeln wehtaten. Grinsend warf er einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass die anderen ihm in kurzem Abstand folgten und dass Makoto nicht von irgendetwas abgelenkt war. Wenn er schon diese Show für ihn abzog…

Der Weg zum Check-In führte durch ein kleines aber edles Foyer. Dunkelblaue Teppiche bildeten Inseln auf einem See aus hellem Marmor und hinter den riesigen Fenstern sah man wieder den Dschungel, der das ganze Gebäude einzurahmen schien. Aber Rin gönnte dem Genuss dieses Anblicks nur wenige Sekunden. Er musste sich auf sein Schauspiel konzentrieren. An der Theke angekommen, schwang er den Arm, mit dem er den Koffern lässig auf dem Rücken hängend getragen hatte, nach vorne und gönnte sich dabei ein kleines Zusammenzucken. Hoffentlich hatte Makoto das gesehen.

Um die Sache nicht zu verkomplizieren, übernahm er die Kommunikation. Die Reservierung war schnell gefunden und die junge Frau schob zwei Magnetkarten über das blanke Holz des Tresens. Hastig griff Rin sich beide und warf einen davon Nagisa zu. »Auf geht’s, zweiter Stock«, teilte er den anderen mit und fasste nach dem Handgriff seines Koffers. Seine Finger schlossen sich um den Kunststoff, dann wollte er den Oberkörper aufrichten, stockte aber in der Bewegung. Ein scharfes Schnauben ausstoßend verengte er die Augen. Die Schultern wurden einmal nach hinten gerollt. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Makoto zu ihm schaute. Es konnte ja nur noch eine Sekunde dauern bis…

»Rin?«

Angebissen.

Ohne von seinem vermeintlichen Versuch, den Koffer anheben zu wollen, abzulassen, rollte Rin die Augen nach oben um Makotos Blick zu treffen.

»Alles okay«, sagte er. Ein erneuter Ruck. Dieses Mal gelang es ihm natürlich, das Gepäckstück zu heben. Er grinste seinem Gegenüber dabei lässig ins Gesicht und wollte sich den Koffer wieder mit einem genau berechneten Schwung auf den Rücken werfen, sodass er an seiner Hand über die Schulter baumeln würde wie vorhin. Doch Makotos Hand hielt ihn ab. Aus dem Augenwinkel sah Rin zu den anderen beiden und versuchte zu ignorieren, dass die Berührung der fremden Finger sein Handgelenk glühen ließ.

»Geht schon mal vor, wir kommen gleich nach«, rief Makoto den Jungs zu und aus dem freundlichen Lächeln wurde ein verständnisvolles. »Gönn dir die kleine Schwäche. Ich verrate dich nicht.«

So wie sein Herz gerade sprintete, war die Schwäche wohl größer, als er selber geahnt hatte.

When on the hunt,

sharks stalk their victims,

staying far enough away to be hidden,

but close enough to strike when the opportunity arises.
 

*
 

Die Vormittagssonne fiel direkt auf die beiden Betten, die nur durch einen kleinen Nachtschrank getrennt dastanden, ließ das Rotorange der feinen Bezüge warm und einladend leuchten. Keine nackten Metallrahmen fassten die blütenweißen Laken ein, sondern dunkles Holz.

Rin ging vorbei an dem dunklen Kleiderschrank, an einem hohen Spiegel und einem blank polierten Schreibtisch, blieb vor den wandhohen Fenstern stehen und checkte die Aussicht. Nicht nur, um sich an dem goldenen Schimmern des Strandes zu erfreuen, der hinter ein paar kleineren Häusern lag, sondern auch damit Makoto sein triumphierendes Grinsen nicht sah. Er hörte, wie er die Koffer abstellte und leise seufzte.

»Wer hätte gedacht, dass unsere Staffel uns nach Kalifornien bringen würde… und in so ein Hotel.« Er hörte das Lächeln in Makotos Stimme. Es war allgegenwärtig, selbst wenn er ihn nicht ansah. Es füllte den Raum wie der Geruch eines Parfüms, das man gerne ständig inhalieren würde, aber im Geschäft niemals finden konnte. Nein, kein Parfüm. Ein Lockduft. Pheromone. Der Tropfen Blut im Wasser, der den Haifisch anlockte. Gott, seit wann klang er denn wie seine Schwester?

Makoto tauchte neben ihm auf und schaute ebenfalls nach draußen.

»Es ist wirklich schön hier. Ich muss unbedingt ein paar Postkarten kaufen.«

»Lass uns am Strand joggen gehen, wenn es kühler geworden ist. Wir sind ja nicht zum Urlaubmachen hier.« Nicht nur jedenfalls.

Makoto nickte. Aus dem Augenwinkel konnte Rin erkennen, dass das Schmunzeln etwas ausdrückte, das er nicht aussprach. Es sah aus wie ein Typisch für dich, Rin.

»Ich kümmere mich am besten gleich um deinen Rücken, oder? Bevor sich die Verspannung noch weiter verhärtet.«

»Ja.« Mit gezielten Schritten steuerte er das nächstliegende Bett an und setzte sich leicht seitlich auf den Rand. In einer fließenden Bewegung zog er sich das Shirt über den Kopf und blickte über die Schulter als die Matratze sich neben ihm etwas absenkte. Am liebsten hätte er noch ein Massage-Öl aus der Tasche gezaubert aber das hätte dann vielleicht doch etwas zu geplant gewirkt; so gab er sich mit puren warmen Berührungen von Fingern und Handflächen auf seinen Schultern zufrieden. Sein Kopf sank ein wenig nach vorne, als Makoto begann.

»Sag mir, wenn der Druck zu fest ist.«

Rin brummte zustimmend und atmete durch. Am Anfang noch etwas zu vorsichtig, als würden sie erst noch ausprobieren und erkunden, massierten die fremden Hände seine obere Rückenpartie bis hinauf zum Nacken. Er musste nichts sagen, Makoto entschied sich von selber dazu, etwas fester zuzufassen und zwar genau an den Stellen, die tatsächlich ein bisschen Lockerung vertragen konnten. Für eine Weile gestattete Rin es sich, die Augen zu schließen und es einfach zu genießen. Aber es gelang ihm nicht, dabei auch den Kopf zu entspannen… Unruhig kneteten seine eigenen Finger den Stoff des Shirts. Geradewegs auf das Problem zugehen und es angreifen war das hier nicht, musste er vor sich selbst zugeben. Er hatte sich den Weg hierher ertrickst. Aber er hatte sich dennoch genähert, nicht entfernt. Der Angriff kam erst, wenn er die Situation und den vermeintlichen Gegner richtig einschätzen konnte. Das war nicht feige, sondern klug. Und was hätte er jetzt auch sagen sollen? Ich will in deiner Nähe sein, um zu wissen wie es ist, in deiner Nähe zu sein? Klang doch bescheuert.

Es klopfte eilig an der Tür.

»Wie weit seid ihr?«, fragte Nagisa von draußen. »Wir wollen uns den Pool ansehen und dann runter zum Strand!«

»Geht schon vor, wir finden euch schon«, antwortete Rin und konnte ein klein wenig Genervtheit nicht aus seiner Stimme heraushalten. Klar, sie waren wegen ihrer Staffel hier, aber mussten sie denn jede einzelne Minute zu viert aneinander kleben? Er jedenfalls wollte unbedingt die anderen Schwimmer kennenlernen und von ihnen wahrgenommen werden. Als Rin Matsuoka, nicht als Teil einer kleinen Gruppe Halbstarker.

»Am Samstag schwimmen wir unsere Staffel vor den Profis«, sinnierte Makoto, als hätte er das Thema direkt aus seiner Haut gesogen, während er ihn massierte. »Vielleicht schaffe ich es, mir vorher noch ein paar Tipps bei ihnen zu holen. Wir werden alle unser Bestes geben. Vielleicht sind wir sogar noch schneller, als beim letzten Mal…«

Es war süß, dass Makoto gerade vorsichtig vorzufühlen versuchte, wie es mit seinem Ehrgeiz aussah. Er konnte ihm anhören, dass er eine Enttäuschung vermeiden wollte. Dabei war ihm doch vollkommen klar, dass sie keinen Stich gegen internationale Spitzenschwimmer landen konnten.

»Es reicht mir, wenn wir uns nicht blamieren. Sie sollen mein Potenzial sehen«, murmelte er leise.

»Was sie auf jeden Fall sehen werden, ist, dass wir mit dem Herzen dabei sind. Deswegen wurden wir ausgesucht. Und deswegen finde ich, du solltest dir auch ein bisschen Spaß und Entspannung gönnen…«

»Oh ja… Massagen und… wie wäre es mit Wakeboarden? Ich habe vorhin welche gesehen. Sah definitiv nach Spaß aus.«

Hoffentlich sah Makoto nicht den Hauch von Gänsehaut, der sich gerade auf seinen Oberarmen ausbreitete.

»Wakeboarden?« Er lachte. »Das ist das mit den Drachen, oder?«

»Ich würde dich gerne auf so einem Brett sehen.«

»Wenn wir das machen, muss es jemand filmen. Ren und Ran würden sicher gerne sehen, wie ich surfe... oder vom Brett falle.«

»Lässt sich einrichten.«
 

*
 

Unter der Mittagssonne am Strand entlang zu joggen wäre keine gute Entscheidung gewesen. Die kalifornische Sonne brannte heiß und es war selbst unter den großen weißen Schirmen, die die Hotelterrasse rund um den Pool säumten wie riesige Blütenstände, noch reichlich warm. Rin löffelte gemächlich an seinem Erdbeer-Eis herum und beobachtete einen der anderen Schwimmer, den er gleich erkannt hatte. Samuel Oaks war ein Ausnahmetalent, das alle vier Stile auf hohem Niveau verfolgte, ein Promi unter Promis. Der Kerl war eine Ein-Mann-Staffel. Er wollte ihm unbedingt beim Training zusehen und sich Tipps von ihm holen, wie er am besten einen zweiten und einen dritten Stil fest in seinen eigenen Plan integrieren konnte.

»Die Halle, in der wir uns vorbereiten dürfen und wo wir auch am Samstag schwimmen ist zwanzig Minuten die Straße runter, ich hab’ an der Rezeption gefragt«, erzählte Nagisa gerade. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns jeder einen von den großen Schwimmern als eine Art … Paten suchen?«

Rin tauschte einen Blick mit Haruka.

»Oaks gehört mir«, stellte er gleich mal klar.

Haru zuckte mit den Schultern. »Ich brauche keinen Paten. Ich bin nur hier um nochmal die Staffel mit euch zu schwimmen.«

»Doch, doch Haru-chan. Wir brauchen alle einen.«

»Kannst du mir jemanden empfehlen?«, fragte Makoto aber Rin war nicht in der Lage, sofort zu antworten. Er hatte den Fehler gemacht, ihm einen Moment zu lange dabei zuzusehen, wie er den Eislöffel ableckte. Vanille. Eigentlich überhaupt nicht sein Fall. Aber da hing dieser kleine, unschuldige weiße Rest an Makotos Mundwinkel.

»Rin?«

»Piérre Rousseau«, hörte er sich antworten. Makotos Lippen verzogen sich zu einem dankbaren Lächeln. »Seine Armtechnik ist besonders ausgefeilt.«

»Glaubt ihr, die haben Lust, sich mit uns zu befassen?«, fragte Haru und rührte in der Eispfütze herum, die sich seinem Becher gebildet hatte.

»Werden sie…« Rin riss sich von Makotos Anblick los und fixierte ein anderes Ziel: den blonden Schopf von Oaks. Besser er stellte gleich am ersten Tag klar, dass er kein schwimmendes Schulkind war, sondern ein ernsthafter Sportler.

Er stand auf. Mit lässig in den Hosentaschen vergrabenen Händen und selbstbewusst angehobenem Kinn marschierte er auf ihn zu. Auf seinen Lippen lag die Andeutung eines Grinsens. Sie waren alle aus einem Grund hier. Sie liebten das Schwimmen. Außerdem war er definitiv jemand, den man im Auge behalten musste, auch wenn man sich auf einem Sockel aus Medaillen und Talent stehen sah.

»Hi«, sagte er, als er bei ihm ankam. Oaks lehnte an einem der terrakottafarbenen Pfeiler unter dem Vordach der Terrasse. Seine Augen wurden von den dunklen Gläsern einer Sonnenbrille verborgen. »Rin Matsuoka.«

Sein Gegenüber regte sich nicht sichtbar. »Und?«

»Bist du morgen drüben in der Halle? Ich würde gerne noch an meiner Schmetterlings-Technik feilen und ich brauche jemanden, der einen guten Blick dafür hat, woran ich noch arbeiten kann.«

Irgendwelche Bittgesänge oder anbiedernde Floskeln ließ er gleich bleiben. Wenn man respektiert werden wollte, musste man den Leuten auf Augenhöhe begegnen.

Oaks’ Augenbrauen erhoben sich ein kleines Stück über die Brillengläser. Es war irritierend, seine Augen nicht sehen zu können, aber Rin starrte dennoch eindringlich dorthin, wo er sie vermutete.

»Rin Matsuoka«, wiederholte der Amerikaner dann und klang dabei so, als spräche er den Namen eines exotischen Gewürzes aus, von dem er sich nicht mal sicher war, wie man es buchstabierte. »Glaubst du, ich hätte noch Zeit für mein eigenes Ding, wenn ich jeden Teenager coachen würde, der mich darum bittet?«

»Ich bin nicht-« »Jeder Teenager? Oh, ich wollte deine Gefühle nicht verletzen. Frag doch lieber deine Freunde, die stehen gerne neben dir am Beckenrand und suchen deine Fehler.«

Kälte schoss in seine Augen. Er konnte es so genau fühlen, wie die Wärme der Sonne auf seinen nackten Schultern. Den Impuls, Oaks am Kragen seines Hawaiihemds zu packen und Klartext zu reden, unterdrückte er. Die Fassung zu verlieren würde ihn nur noch mehr in die Schublade pressen, in die Oaks ihn stecken wollte. So blieb es bei einem hörbaren Durchatmen.

»Danke für den Tipp.« Hoffentlich hatte Oaks gute Freunde, die ihm dabei halfen, seine Potenziale zu finden, wenn er von einem nachrückenden japanischen Schwimmer überholt wurde, dessen Freundschaft er dämlicherweise ausgeschlagen hatte.
 

*
 

Seine Schuhsohlen gruben sich bei jedem Schritt tiefer in den feuchten Sand. Das Blut rauschte laut in seinen Ohren, aber er war sich nicht sicher, ob es vielleicht doch eher die Wellen waren, was er da hörte. Nur das harte Klopfen seines Herzens, das direkt gegen seine Rippen zu schlagen schien, war eindeutig. Rin rannte. So schnell, dass die Rufe seiner Freunde kaum bis an seine Ohren drangen. Aber einer von ihnen war lauter, intensiver. Wie immer.

»Rin!«

Er blieb stehen. Seine Schultern hoben und senkten sich bei jedem Atemzug. Es fühlte sich gut an. Makoto kam neben ihm zum Stehen, stützte die Hände für einen Moment auf die Knie, nach vorn gelehnt, den Kopf leicht gesenkt. Die Haare klebten an seiner Stirn, als er sich nach ein paar Sekunden aufrichtete und ihn anschaute. Schief lächelnd und noch immer außer Puste, schwitzend,… viel zu sexy. Makoto wischte sich mit dem Saum seines Shirts die Stirn ab. Das machte es absolut kein Stück besser.

Rin grinste gequält.

»Du musst echt was für deine Ausdauer tun.«

»Ich dachte eigentlich, ich wäre ganz gut in Form. Aber scheinbar lag ich falsch.« Makoto schmunzelte und wandte dann den Kopf. Eine kühle Brise wehte vom Meer heran und strich ihnen sanft und angenehm über die warmen Gesichter.

»Na, so schlecht bist du nicht… die anderen sind irgendwo auf der Strecke verloren gegangen. Du bist leistungstechnisch also in der oberen Hälfte unseres Teams.«

Makoto lachte leise. »Aber nur weil ich dich die ganze Zeit als Motivation vor mir hatte.«

Einen Moment schwiegen beide. Rin schaute dem Heranrollen der Wellen zu und wie sie den Sand dunkler färbten, wo sie den Strand berührten, bevor sie sich wieder zurückzogen, und die Farbe verblasste, damit es von neuem losgehen konnte. Er war Makotos Motivation?

»Worauf läufst du zu, Rin?«

Die Worte kamen leise und ohne das typische Lachen in der Stimme.

Ich laufe, um zu sehen, ob du mir folgst. Rin wischte sich über die Stirn. »Dieser Oaks… ich will’s ihm zeigen.« Auch das war ein Teil der Wahrheit. Die Herablassung, mit der der Kerl ihn behandelt hatte, hatte ihn den ganzen Tag verfolgt. Dass er jetzt noch nicht an ihn heranreichte, war klar. Aber wenn er jeden Tag hart trainierte und sein Ziel weiter verfolgte, würde er ihn einholen. Und dann würde er ihn überholen. Sie alle.

»Verstehe. Aber der kalte Wind auf der schwitzenden Haut wird uns neue Verspannungen verschaffen, wenn wir Pech haben. Wollen wir langsam zurück?«

»Zum Glück hab’ ich ja dich dafür.« Er nickte. »Na los.«
 

*
 

Der Bezug des Hotelbetts fühlte sich gut auf der frisch abgetrockneten Haut an. Rins Blick folgte Makotos Bewegungen, als er mit einem Handtuch um die Hüften an ihm vorbei zu dem zweiten Bett ging und sich mit dem Rücken zu ihm darauf niederließ um das Handtuch gegen eine Shorts für die Nacht zu tauschen. Rin war sich nicht sicher, ob Makoto vielleicht in der Spiegelung des Fensters sehen können würde, dass er ihm zuschaute, dass er seinen nackten Rücken anstarrte und den einzelnen Tropfen verfolgte, der vom Haaransatz aus an seiner Wirbelsäule entlangperlte, bis hinunter zu seinem knackigen… Rin biss sich auf die Unterlippe. Hoffte er, dass Makoto es bemerkte?

Er seufzte tonlos und zog sich die dünne Bettdecke bis über die Hüften, während er so tat, als würde er ganz entspannt und in Gedanken versunken dasitzen.

»Ich bin echt ausgepowert«, meinte Makoto als er sich das Kissen zurechtklopfte und unter die Decke schlüpfte.

Rin schaltete das Licht aus und schaute zu dem anderen Bett. Draußen waren die Temperaturen zwar abgekühlt, aber hier drin war es so warm, dass man eigentlich gar keine Decke brauchte, dennoch mochte er das Gefühl des Stoffs wenn er sich um seinen Körper schlang. So rollte er sich auf die Seite, während er sich einwickelte und musterte dann seinen Freund. Er hätte müde sein sollen, ja, sein Körper fühlte sich auch so an, aber gleichzeitig wusste er, dass er die Augen noch eine ganze Weile nicht schließen können würde.

»Wir haben die Vorhänge vergessen«, kam es halb gegähnt von drüben.

Das Mondlicht schien auf Makotos Bett und überzog seine nur halb zugedeckte Silhouette mit einem silbrigen Schimmer.

»Stört es dich, wenn wir sie offen lassen?«, fragte Rin leise. »Mir gefällt es irgendwie.«

Makotos silbernes Lächeln verfolgte ihn bis in seine Träume. In denen schob er die Decke von sich und stieg zu ihm ins Bett. Und dann lagen sie dort, schauten sich an, oder gemeinsam nach draußen, ohne dass es sich seltsam anfühlte.
 

*
 

In den nächsten Tagen trainierten sie in der Halle. Nagisa hatte es geschafft, einen netten Brustschwimmprofi für sich aufzutreiben und auch Haru war wohl irgendwie zu einem Mentor gekommen, ohne es unbedingt herausgefordert zu haben. Der Typ stand einfach neben ihm am Beckenrand, als er schwamm und fing an, ihm ganz von selbst Tipps zu geben. Diese Logik schien auf einem Naturgesetz zu beruhen: Wenn Haruka schwamm, dann wurden andere magisch davon angezogen. Sie spürten irgendwie, dass er besonders war. Es war faszinierend, aber gleichzeitig ärgerlich. Scheinbar war Oaks der einzige arrogante Idiot hier.

Rins Kinn ruhte auf seinen Armen, die er auf dem Beckenrand abgelegt hatte. In seine Gedanken vertieft starrte er auf die anderen Schwimmer, die draußen umherliefen, sich unterhielten, sich abtrockneten oder Getränke aus den Automaten zogen. Als Makoto in sein Blickfeld kam, hefteten sich seine Augen automatisch an ihn.

»Such dir doch jemand anderen.«

Er hatte Nagisa bis eben gar nicht bemerkt. Rin schnaubte und wandte sich ihm ein wenig unwillig zu. »Nein.«

»Dann bist du der einzige ohne Mentor.«

»Und? Ich bin ja auch der einzige, der nach der Schule ernsthaft mit dem Schwimmen weitermachen will.« Welche Ironie.

»Gerade deswegen solltest du andere Chancen nutzen. Oder sind die restlichen Profis deiner nicht würdig?« Er stupste ihn mit der Schulter an und grinste.

Aus dem Augenwinkel sah Rin, wie Haru sich zu Makoto gesellte und dieser seine Limo mit ihm teilte.

»Vielleicht ist es andersrum«, murmelte er.

»Was hast du gesagt?«

»Ich werde ihn noch rumkriegen. Das Event ist erst am Samstag.«

»Jason hat erzählt, dass heute Abend ein Barbeque im Hotel stattfindet. Wir sollen uns zu ihm setzen. Wird auf jeden Fall cool, und vielleicht kannst du da noch mal mit Oaks reden. Wenn er ein paar Drinks hatte, stehen deine Chancen vielleicht besser.«

»Ja und vielleicht gebe ich ihm auch noch einen Lapdance, damit er bessere Laune hat«, erwiderte er sarkastisch.

»Sag Bescheid, wenn’s losgeht, damit ich es für Youtube aufnehmen kann.«
 

*
 

Die bunten Lichter der Partylaternen schwammen im Wasser des Pools wie hunderte kleine Fische. Eine Band spielte Musik und wechselte sich mit Zauberkünstlern und Akrobaten bei der Unterhaltung des Publikums ab. Alle waren gut gelaunt, nippten an ihren Drinks, holten sich eine zweite oder dritte Runde vom Buffet oder vom Grill, oder wagten sich gar in den kleinen Bereich, der zum Tanzen vorgesehen war.

Rin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und nippte an seinem Cuba Libre. Sein Blick glitt betont lässig zwischen den Schwimmern hin und her. Jason Fawkes, Nagisas Bekanntschaft, erzählte eine Anekdote nach der anderen und schien immer mehr zu reden, je mehr Alkohol er in sich reinkippte. Neben ihm saß Antonio Perez, Harukas neuster Fan, der im Gegensatz dazu eher der schweigsame Typ war, die Zaubereinlagen allerdings hibbelig wie ein kleines Kind verfolgte.

Und dann war da noch…

»Hey Makoto, mir kam vorhin eine super Idee, wie wir deine Technik bis Samstag noch verbessern können.« Rosseau stand hinter den Stühlen, hatte den Arm über Makotos Lehne gelegt und beugte sich zu ihm herunter, um direkt in sein Ohr zu sprechen. Rin zog die Augenbrauen zusammen und beugte sich unwillkürlich ein Stück nach vorne, stellte das Glas auf dem Tisch ab. Sein Blick klebte an Rosseaus Lippen, die so verboten nahe an Makotos Ohren Worte sprachen, die er nicht hören konnte. Geheime, intime Worte die nur den beiden gehörten, die ihn ausschlossen. Eins wurde Rin in diesem Moment klar: Er hasste den Typen. Er war an Oaks vorbei auf Platz Eins der Liste von Schwimmern geschossen, denen er unbedingt zeigen musste, wer er war.

Das Blut in seinen Adern schien sich um einige Grad erhitzt zu haben und erst als Rosseau sich wieder aufrichtete und der Sicherheitsabstand zwischen ihm und Makoto wieder hergestellt war, konnte er wieder richtig einatmen.

»Die Staffel am Samstag einfach nur so zu schwimmen ist doch langweilig oder?«, fragte er unvermittelt in die Runde.

Natürlich, schwimmen war nett und so, aber ohne Gegner würde sich keiner von ihnen richtig Mühe geben und vor allem würden sie so auch keinen Eindruck hinterlassen.

Noch bevor irgendeiner seiner Freunde etwas dazu sagen konnte, stand Rin so schwungvoll auf, dass der Stuhl fast hinter ihm wegkippte. Er hatte einen Entschluss gefasst und der strahlte jetzt aus jeder seiner Bewegungen, aus jedem Schritt den er auf Oaks’ Tisch zu tat. Mit seinem halbvollen Drink in der Hand bückte Rin sich zu Oaks herunter, wie es zuvor Rosseau bei Makoto getan hatte. Nur waren ihm bei dieser Aktion deutlich mehr Augen sicher - alle schienen ihn zu beobachten und es war ein rasend gutes Gefühl, ihre Blicke zu spüren.

Rin blieb cool, obwohl noch immer eine gewisse Wut durch seine Adern schwappte. Ein Schluck Cuba Libre spülte das Gefühl zuverlässig fort und ließ nur Selbstbewusstsein in seiner Stimme zurück.

»Schwimmst du am Samstag die Staffel gegen mich und meine Freunde, oder hast du Angst, von ein paar Teenagern geschlagen zu werden?«

Shark skin is incredibly tough, which is important because

they must bite their partner’s back, flanks and fins

to get into the proper mating position.
 

*
 

»Du hast Nagisa mit deiner Idee richtig in Brand gesetzt.« Makoto lachte während er langsam durchs Zimmer in Richtung Bad wankte und sich dabei umständlich das T-Shirt vom Leib pellte. Klatschnass landete der Stoff auf dem Fliesenboden.

Rin lachte ebenfalls. Nach seiner Aktion hatten sie alle darauf getrunken, dass Oaks zugestimmt hatte und ihnen nun ein Wettkampf gegen einen Weltstar bevorstand. Ihm war heiß und der Alkohol ließ seine Sicht ein bisschen flirren,… es war, wie in eine Flamme zu sehen. Und Makoto schien nicht besser dran zu sein.

»Warte… willst du zuerst?«

»Wenn du jetzt Mutter Theresa spielst und mich vorlässt, hast du morgen eine fette Erkältung, Makoto.« Mit einem schiefen Grinsen zog Rin sich ebenfalls aus. Das Hemd klatschte neben Makotos T-Shirt auf den Boden und seine Hände machten einfach bei der Jeans weiter. »Wir teilen uns die heiße Dusche. Sollte doch kein Problem sein, oder?«

»Ich hätte auch warten können«, beharrte sein Freund und zögerte noch mit der Hose.

»Und ich sage dir, du kommst mit. Wenn einer von uns am Samstag nicht in Topform ist, können wir es gleich vergessen. Los jetzt, raus aus der nassen Hose.«

Rin hatte sich die Jeans gleich mitsamt seinen Shorts von den Hüften geschoben und legte die Hände nun forsch an Makotos Bund, um ihm zu helfen.

»Ist gut, ist ja gut!« Makoto lachte wieder und wich ein kleines Stück zurück. Das Rot auf seinen Wangen war noch intensiver geworden. Die kräftigen Hände öffneten den Verschluss der Jeans und schoben sie langsam über die Haut. Schwarze Shorts mit der weißen Silhouette eines Orcas kamen zum Vorschein. Irgendwie war das süß. Rin schmunzelte. Er machte einen Schritt an Makoto vorbei und stieg in die Dusche um das Wasser schon mal anzustellen. Die klamme Kälte des plötzlichen Wolkenbruchs kroch ihm bereits unter die Haut, die gleichzeitig auf eine unterschwellige Weise zu glühen schien.

Der Regen prasselte auf seine Schultern. »Das tut echt gut…«, seufzte er und schloss für einen Moment die Augen. Dann hörte er, wie die Tür der Duschkabine geschlossen wurde. Makoto stand dicht neben ihm. Die Dusche war groß genug, dass zwei Leute relativ bequem miteinander duschen konnten, ohne dass man sich gegenseitig mit dem Ellenbogen K.O. schlug. Dennoch fühlte sie sich gerade wahnsinnig klein an.

Das Wasser regnete auf Makotos Haare, lief in kleinen Perlen über seine Kieferlinie, den Hals entlang und über seine perfekten Brustmuskeln.

»Wird dir schon wärmer?«

»Mir ist ein bisschen schwindelig…«

Rin lachte leise. »Das ist der Alkohol. Du bist nichts gewöhnt. Bleib einfach ruhig stehen, nicht dass du mir hier ausrutschst. Ich kümmere mich um den Rest, okay?«

Oh ja, was für ein selbstloses Angebot. Er bückte sich nach dem Duschgel. Die Bewegung kam ihm vor, als liefe sie in Zeitlupe ab. Seine Augen achteten nicht darauf, was seine Hände taten, sondern folgten den kleinen nassen Spuren der Tropfen, die sich an Makotos Körper hinabschlängelten. Er war seinem so ähnlich und dennoch fand er ihn wahnsinnig spannend und viel schöner, als gut für ihn war. Die Konturen seiner Muskeln… wie bei einer dieser griechischen Statuen, aber viel lebendiger als kalter Marmor. Er wollte ihn anfassen.

Rin griff das Duschgel und richtete sich wieder auf. Ihm war selber ein bisschen schwindelig, aber ob vom Alkohol oder von der Hitze, die er selber in sich heraufbeschworen hatte, war nicht sicher. Kurz stützte er sich an der Wand ab und stieß einen Schwall heißer Luft aus.

»Ist alles okay, Rin?« Wieder diese besorgte Stimme.

»Besser als okay. Ich habe uns immerhin ein echtes Rennen organisiert.«

Der Verschluss knackte laut, als Rin ihn öffnete und sich etwas von der gelartigen Flüssigkeit in die Handfläche laufen ließ. Seine Augen streiften die von Makoto. Er sah angespannt aus, starrte auf die Hand, mit der er ihm näher kam, aber er wich ihm nicht aus. Makotos Haut war warm und weich unter seinen Fingern. Sanft reibend verteilte er das Duschgel auf seiner Schulter, ließ seine Hand langsam tiefer gleiten und seinen Oberkörper einreiben. Eine Spur aus Schaum folgte seinen Bewegungen, wie versprengte Wolken, die sich auf stillem Wasser spiegelten.

»Ich bin schlecht im massieren, aber waschen kann ich gut.« Er verbarg das Herzklopfen und das Prickeln, das von seinen Fingern aus direkt in seine Brust und seinen Magen schoss, hinter einem Grinsen und einer gespielten Selbstsicherheit. Es fühlte sich wie ein kleiner Sieg an, dass er hier mit ihm stehen konnte, dass er ihn anfassen konnte, zum ersten Mal… aber er spürte auch, dass er sich an einer Grenze entlangtastete, die er nicht zu weit überschreiten durfte.

»Glaubst du, wir haben eine reelle Chance?«

Rin bedeutete ihm mit einer kleinen Geste, dass er sich umdrehen sollte, damit er ihm den Rücken waschen konnte.

»Er ist zwar ein Spitzenschwimmer, aber vier Bahnen nacheinander auf Hochleistung… da kann er nicht die ganze Zeit sein Niveau halten.« Er schäumte mit beiden Händen Makotos Nacken ein, spürte ganz bewusst die Linien seiner Schulterblätter. Der fruchtige Geruch des Duschgels schmiegte sich in seine Nase.

»Er hat den Vorteil, dass er keine Zeit durch verzögerte Wechsel verliert, aber wir starten alle mit voller Kraft, während er bei jedem neuen Stil umschalten und auf seine Reserven zurückgreifen muss.«

»Du hast dir das gut überlegt, hm? Einfach nur so zu schwimmen, wäre zu wenig für jemanden, wie dich.«

»Ich will besser werden. Von ‘einfach nur so’ wird man das nicht. Man muss sich Herausforderungen suchen und sich ihnen stellen.«

Makoto brummte leise und schien über seine Worte nachzudenken.

»Solche Herausforderungen wie Haru?«

Rin stockte kurz in seinen Bewegungen. »Ja…«

Als er aus Australien zurückgekommen war, hatte er nur an ihn denken können. Nicht an Makoto, nicht an die großartige Zeit im Iwatobi Schwimmclub. Er hatte sich mit ihm messen und gewinnen wollen. Die erste Begegnung nach so langer Zeit und dann…

»Makoto…«

»Hm?«

»Als ich damals an eure Schule kam, warst du mein erster richtiger Freund.« Er sah sich vor der Klasse stehen, hört seine eigene Kinderstimme, die ihn mit seinem mädchenhaften Namen allen vorstellte. Es war nicht so gewesen, als hätte er Schwierigkeiten gehabt, Anschluss zu finden. Aber er hatte sich gar nicht bemühen müssen, denn er war mit einem offenen Lächeln empfangen worden. Er hatte Freunde gefunden, Jungs die ihm ähnlich waren und mit denen er seine Liebe zum Wasser teilen konnte. Mehr als das. Jungs, die ihm seinen Traum zeigten.

Haru war immer so still gewesen und ohne Makoto als Bindeglied hätte er vielleicht nie diese Verbindung zu ihm aufbauen können, die ihn so motiviert hatte, sein Ziel zu verfolgen. Aber als er dann so frustriert heimgekehrt war, hatte er das alles vergessen.

»Und als ich aus Australien zurückkam, hab ich dich links liegen gelassen.« Er hatte ihm das nie vorgeworfen. Wieso nicht?

Er musste daran denken, was Makoto beim Joggen am Strand zu ihm gesagt hatte. Er hatte ihn immer vor Augen gehabt und war ihm hinterhergerannt, manchmal vielleicht auch nur einem Schatten oder einer Erinnerung. Dass sie heute noch Freunde waren, war Makotos Verdienst. Nicht seiner.

Er ließ die Hände sinken und blickte nachdenklich zur Seite. War es jetzt immer noch so? Hatte er sich zu sehr in etwas verbissen, in die Herausforderung, in sein Ziel? Wollte er so dringend diesem Drang nachgeben, Makoto nahezukommen, ihn für sich zu haben, dass er ihn als Freund ignorierte?

»Ich… das mit der Verspannung nach dem Flug…«, setzte er an, als Makoto sich gerade wieder zu ihm umdrehte. »War gar nicht so schlimm… ich wollte nur, dass du mit mir das Zimmer teilst.« Es war eine alberne Lüge gewesen. Ein Spiel für Grundschüler.

Rin atmete durch und sah ihn wieder an, wie er da im Regen der Duschbrause stand und lächelte. Immer noch wie früher. Makoto hatte für alles Verständnis und Nachsicht. Selbst dafür, dass man seine Gutgläubigkeit und seine Hilfsbereitschaft benutzte. »Sorry.«

Kräftige Arme schlossen sich um ihn, zogen ihn näher heran. Rins Augen weiteten sich für einen Moment, ehe die Lider langsam zusanken. Es war ein seltsames Gefühl. Feuchte Umarmungen hatte er ja schon einige erlebt, aber noch nie unter der Dusche. Nie so innig. Ihre Körper schmiegten sich warm und nass aneinander, sein Herz klopfte hitzig und laut und gleichzeitig unendlich erleichtert.
 

*
 

Die Halle war erfüllt von zahlreichen Stimmen. Die Schwimmer standen in kleinen Grüppchen am Beckenrand und unterhielten sich. Dazwischen mischten sich ein paar Journalisten mit Kameras und geschäftig kritzelnden Kugelschreibern. Wohin Rin auch blickte, sah er fröhliche Gesichter. Jeder hier wusste, was er konnte und warum er hier war. Niemand wirkte besonders nervös. Niemand bis auf seine Kumpels.

Nagisa stand zwei Schritte entfernt von ihm und gab ein Interview vor laufender Kamera. Er erzählte die ganze Geschichte vom Sandkasten bis zum aktuellen Zeitpunkt. Rin suchte mit den Augen nach Oaks. Er wollte sehen, ob der Kerl es ernst nahm, ob er wenigstens einen kleinen Funken Anspannung zeigte, oder ob er glaubte, sie mit halbem Einsatz schlagen zu können. Aber er konnte ihn nicht entdecken.

»Da seid ihr ja!« Die Stimme kam ihm bekannt vor. Rin wandte den Kopf. Es war Frau Katsura vom Japanischen Schwimmverband. Sie kam zu ihnen und legte je eine Hand auf seine und Makotos Schulter. Stolz lächelnd wie eine Mutter stand sie zwischen ihnen und blickte in die Kamera. Mehr als ein mechanisches Grinsen brachte Rin nicht zustande.

»Die Veranstaltung erschien euch wohl zu langweilig?«, fragte sie amüsiert und schaute zwischen ihnen hin und her. »Dass Samuel Oaks da überhaupt zugestimmt hat, wundert mich. Es ist schon schwierig, ihn zu einem Interview zu bekommen oder ihn auf so ein Event zu schaffen… aber dass er dann auch noch gegen unsere Nachwuchs-Staffel schwimmt… Ihr müsst ihn beeindruckt haben. Als er gebeten wurde, bei einem Trainingscamp für Nachwuchssportler mitzuwirken, hat er gesagt, dass es der Jugend an Biss fehlt.«

Makoto warf ihm einen Blick zu. »Das war Rins Verdienst.«

»Du bist vermutlich der bissigste hier, was?«

Rin grinste schief und blickte hilfesuchend zu der großen Uhr an der Hallenwand. Zum Glück würde es demnächst losgehen.

»Haben Sie Oaks heute schon gesehen?«, fragte er.

»Da drüben.« Er folgte dem Fingerzeig. Oaks stand bei den Bänken und machte einige Dehnübungen. Rins Grinsen wurde aufrichtiger.

Der Reporter der bis eben noch von Nagisa zugequatscht worden war, wandte sich an Frau Katsura, sodass sie sie beide entließ und sich auf ihre Arbeit konzentrierte, während Rin und Makoto sich unauffällig aus dem Bild stahlen.

»Seid ihr bereit?«
 

*
 

Rin ließ das Gummiband seiner Schwimmbrille schnepsen.

Er hockte vor dem Beckenrand, wo Makoto sich gerade in Startposition brachte. »Lasst euch nicht davon einschüchtern, dass er in der ersten Hälfte Vorsprung aufbaut… eins gegen eins kann ihm keiner von uns das Wasser reichen. Erst wenn Haru und ich dran kommen, wird er erschöpft genug sein, dass wir aufholen können.«

»Team Haifisch wird das Rennen machen«, kommentierte Nagisa.

»Wieso heißen wir jetzt Team Haifisch?«

Nagisa hob sein Smartphone hoch und tippte auf das Display. Reis Stimme ertönte. »Haie verfügen über mehrere Zahnreihen und ein schnelles Wachstum selbiger. Das macht sie zweifellos zu den Schwimmern mit dem meisten und ausdauerndsten Biss.« Rin schnaubte belustigt.

Von den Veranstaltern kam das Signal.

»Gebt euer Bestes!«, rief Frau Katsura. Die Jungs brachten sich in Position. Rin blickte zu Oaks. Ihre Augen trafen sich nur für das Hundertstel einer Sekunde, dann ertönte der Pfiff.

Makoto stieß sich kraftvoll ab. Angespannt zog Rin Luft in seine Lungen und hielt sie dort fest, während sein Blick den Bewegungen von Makotos gestreckten Armen folgte. Rin war sich nicht sicher, ob er sich das in der Hitze des Wettbewerbs nur einbildete, aber die Schulterrotation schien ihm etwas besser zu gelingen, als noch im Training in der Samezuka Halle. Sein Herz klopfte schnell und schien Makoto mit diesem Takt anfeuern zu wollen.

»Wie schnell er ist…«, hörte er Haru neben sich murmeln und er wusste, dass Oaks gemeint war. Rin presste die Kiefer stärker aufeinander, aber dann brach es aus ihm heraus. »Los Makoto!«, schallte sein Anfeuerungsruf durch die Halle. Für ein paar Minuten lagen alle Augen auf ihnen. Auf den vier Jungs, die verrückt genug waren, gegen einen Weltrang-Schwimmer anzutreten. Und zur Hölle, ja, er glaubte, dass sie gewinnen konnten!

Oaks kam wieder bei ihnen an und drehte sich elegant in die nächste Lage. Als Makoto den Block anschlug und Nagisa in den Pool hechtete, hatte er schon die halbe Bahn hinter sich gebracht. Rin riss sich für eine Sekunde von dem Wettstreit los, um seinen Kumpel anzusehen, der flach atmend aus dem Becken geklettert war. »Tut mir leid… das wird hart für euch…« Makoto rieb sich den Nacken und wandte den Kopf zu Oaks. »Erst ist schneller als Nagisa.«

»Aber er lässt nach, wenn ich dran bin, holen wir den Abstand auf«, knurrte er und kniff die Augen ein wenig zusammen, als könnte er Oaks damit beschwören.

»Vergiss nicht, weswegen wir hier sind.«

Rin ließ die Luft hörbar entweichen und schloss meditativ die Augen. Er hatte Recht…

»Um ihnen zu zeigen, wie Freunde schwimmen…«, sagte er leise. »Freunde mit Biss.« Nur weil sie keine olympischen Medaillen besaßen, sondern schwammen, weil sie es liebten, hieß das nicht, dass sie sich von jemandem wie Oaks einfach in die Tasche stecken ließen. Spaß an seinem Traum zu haben hieß nicht, dass man ihn nicht ernst nahm.

Rin stieg auf den Block. Direkt in seinem Herzen pulsierte mit jedem Schlag nicht nur das Blut, sondern auch der Siegeswille und die Entschlossenheit. Als Nagisa anschlug, sprang er ab, jeden Muskel in der Bereitschaft gespannt, alle Kraft zu mobilisieren, die er aufbieten konnte. Das kühle Wasser umarmte ihn, aber Rin verharrte nicht, ließ sich nicht sanft davon streicheln, sondern schlug seine Arme in die Oberfläche und peitschte mit den Beinen. Er war der Haifisch in diesem Team. Prickelnde Hitze schoss durch seine Venen und ließ ihn seinen Körper und die Bewegungen, die er machte, ganz anders spüren als sonst. Der Puls klopfte in seiner Kehle und in den Ohren, aber das einzig wirklich laute Geräusch, das immer wieder in seinen Ohren hallte, war das seiner eigenen Atemzüge.

Tropfen flogen, wann immer er sich über die Wasseroberfläche erhob. Sein Blick war stur geradeaus gerichtet und die Umgebung um ihn herum versickerte in vom Wasser verwischten Farben. Nur seinen Rivalen konnte er klar in diesem Bild erkennen. Und der Abstand wurde nicht mehr größer. Er holte auf. Die Erkenntnis zuckte wie ein elektrischer Impuls durch seinen Leib und setzte die letzten Reserven frei. Die Rufe seiner Freunde drangen fetzenhaft zerrissen an seine Ohren, ertränkt im Platschen und Rauschen des Wassers und dem lauten Sprint seines Herzens.

»Haru!«

Wie in Zeitlupe flog Haruka über ihn hinweg. Perfektes Timing. Schwer atmend hielt Rin sich am Rand fest und sah ihm nach. Er tauchte in das Wasser ein, als wäre er die ganze Zeit über schon ein Teil des Beckens gewesen, ein menschgewordener Tropfen. Es war immer ein bisschen… Ja, magisch war ein bescheuertes Wort, aber ihm fiel bei dem Pochen in seinem Kopf kein besserer Begriff ein. Er war unheimlich schnell und es sah unfassbar leicht aus, als würde das Wasser sich ihm nicht entgegenwerfen, sondern ihn von sich aus voranbringen, ihn auf nassen Händen tragen. Bei Oaks schienen die Bewegungen nicht weniger natürlich und präzise aber dennoch wirkte er neben Haru eben wie ein schwimmender Mensch im Vergleich zu einem Fisch…

Eilig kletterte Rin aus dem Becken und stand dann Seite an Seite mit Nagisa und Makoto am Rand. Fast gleichzeitig erreichten Oaks und Haru die gegenüberliegende Beckenwand und gingen in den Endspurt. Makoto und Nagisa feuerten ihn mit immer schriller klingenden Stimmen an, während Rin merkte, dass seine Lippen gar nicht mehr in der Lage waren, die Silben zu formen. Wie hypnotisiert starrte er die beiden Schwimmer an, die auf den letzten Metern um Sieg oder Niederlage kämpften.

Der Pfiff durchschnitt die Rufe, die inzwischen nicht mehr nur von seinen Teamkameraden kamen. Die ganze Halle hatte zu toben begonnen, ohne dass Rin hätte sagen können, wann genau das eingesetzt hatte.

»Die Nachwuchs-Staffel hat gewonnen!«, verkündete einer der Männer und hielt seine Stoppuhr hoch. »Vier hundertstel. Ein echtes Kopf-an-Kopf-Rennen!«

»Ein Hundertstel für jeden von uns«, lachte Makoto, dann folgte die zweite sehr nasse Umarmung in dieser Woche und Rin breitete seine Arme weit aus, um seine Freunde in selbige zu schließen und sich mit ihnen zu freuen wie ein Kind.
 

*
 

An Schlafen war nicht zu denken.

Trotz ausgiebigen Feierns im Kreis der anderen Schwimmer, trotz verrückter Herumtanzerei und Cocktails und einer Uhrzeit längst jenseits der Geisterstunde, blinkte das Display seines Smartphones alle paar Sekunden auf. Rei und Nagisa spammten die Chatgruppe des Teams mit Haifisch-Fakten zu, schickten Fotos hin und her, dazwischen fanden sich Fotos von den letzten Tagen und der erste kleine Bericht, den man im Internet zu ihrer Staffel finden konnte.

»Das Herz eines Makrelenhais hält eine Bluttemperatur von fünf Grad aus, ohne stehenzubleiben«, las Rin leise murmelnd vor.

»Hmm… Makrele…« Erschien prompt unter dem Text.

Er hörte Makoto leise lachen.

»Fünf Grad ist ganz schön eisig«, sagte Rin und legte das Handy auf den Nachtschrank.

»Sollten wir im Winter Eisbaden gehen, damit du testen kannst, wie viel Hai in dir steckt?«

Rin grinste. »Herausforderung angenommen.«

Sportlich war die zurückliegende Woche ein großer Erfolg gewesen. Technisch hatte er zwar nicht viel mitnehmen können, aber es fühlte sich dennoch so an, als wäre er irgendwie weitergekommen. Er wandte den Kopf und schaute zu Makoto, dessen Gesicht vom Licht des Handydisplays beschienen wurde. Er lächelte. Rin gestattete es sich, sich einen Moment in diesem Anblick zu verlieren. Er hatte Makoto gern. Verdammt gern.

»…Makoto?«

Die Hand, die das Telefon hielt, sank und fröhliche aber langsam doch müde wirkende Augen richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn.

»Hast du was dagegen, wenn ich… zu dir rüber komme?«

Sein Herz schlug laut. Lauter als bei fünf Grad Wassertemperatur. Aber er wusste, es würde nicht einfach stehen bleiben, selbst bei einer Abfuhr. Und wenn er sich die Zähne an ihm ausschlug, dann würden neue nachwachsen. Aber wenn er ihn auf ewig nur umkreiste, würde er ihn nicht bekommen.

Die Stille war beinahe unterträglich und dass das gewohnte, versichernde Lächeln sich nicht blicken ließ, bereitete ihm eine kalte Gänsehaut auf den Schultern. Schließlich aber legte Makoto das Handy ebenfalls weg und rutschte auf der Matratze etwas zur Seite, schlug die Decke zurück. Rin stand auf und ging zu ihm herüber. Der eine Schritt von Bett zu Bett fühlte sich an, als wäre da gar kein Boden unter ihm. Er setzte sich neben Makoto ins Bett, schlüpfte mit unter die Decke und drehte sich auf die Seite. Schweigend sahen sie einander in die Augen.

Zögern lag in der Bewegung, als Makoto die Hand nach ihm ausstreckte. Warme Fingerkuppen strichen über seine Schulter, dann seinen Hals hinauf. Es kribbelte heftig auf der Haut und Rin schloss für kurze Zeit die Augen, um zu genießen, wie sich das Gefühl ausbreitete. Als er sie wieder öffnete, zeichnete sich ein schüchternes Lächeln auf Makotos Gesicht ab und Rin erwiderte es. Die warme Hand verharrte an seiner Wange.

»Ich beiße nicht zu, keine Angst«, hörte er sich keck flüstern. Und zum ersten Mal sah er das Lächeln nicht nur von fern, sondern spürte es direkt auf den eigenen Lippen, als Makoto ihn küsste, warm und vertraut und jede bange Sekunde wert.



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von:  Missi
2017-02-11T18:47:33+00:00 11.02.2017 19:47
DAS war ganz große Liebe, Vidora <3

Ich finde den Wechsel zwischen Action und Zweisamkeit sehr unterhaltsam! Auch die Fakten über die Haifische (Mmmh, Makrele... XD) fand ich großartig und passend für Rin und die Story. Das Pairing Rin/Makoto hatte ich bisher noch nicht im Blick, möchte ihm aber definitiv eine Chance geben. Der arme Rin muss mehrmals kurz vor einem Herzinfarkt gestanden haben :D Das Ende lässt noch sehr viel Raum, vielleicht gibt es ja mal eine Fortsetzung? ;)
Von:  Naenia
2017-02-10T12:53:25+00:00 10.02.2017 13:53
Diese Geschichte ist dir so unfassbar gut gelungen. Ich mochte Free! immer, aber irgendwie hatte mich das Fieber nie so sehr gepackt, dass ich auf die Idee gekommen bin, Fanfiction dazu zu lesen. Du hast mich jetzt absolut davon überzeugt, der Sache eine Chance zu geben. Makoto war immer mein Lieblingscharakter. Gleich danach kommt Rin. Die beiden als Paar zu sehen, weckt also schon durch die Konstellation mein Interesse.

Du erzählst Rins Interesse an Makoto sehr authentisch. Es fügt sich alles in einem stimmigen Bild zusammen, was er sagt, was er fühlt, wie er handelt. Außerdem steht die Entwicklung ihrer Beziehung für mich in Einklang mit dem Canon – jedenfalls so, wie du ihn für diese Geschichte plausibel gemacht hast. Ich mag ihre Gespräche, ihre Gesten und dieses hoffnungsvolle Ende, das für mich absolut kein Ende ist, sondern der perfekte Anfang.
Ich musste die ganze Zeit vor mich hinlächeln – schon erstaunlich, gewisse... Dinge lese ich ohne rot zu werden und kaum ist irgendwas keusch und niedlich, kann ich nicht aufhören, wie blöd vor mich hinzugrinsen. ^.^"

Ich liebe auch die Haifisch-Fakten. Die sind jedes Mal ein passendes Motiv für den Inhalt des folgenden Kapitels und erhöhen die Spannung auf das, was dann tatsächlich kommt.

Ach ja, ich shippe jetzt Makoto und Rin – wegen dir – und fordere daher Satisfaktion. Du kennst meine Wünsche. <3


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