Schmerzhafte Erinnerungen von Mitsunari_Ishida ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Mittlerweile erschöpft und durchnässt kämpften sie sich ihren Weg durch den Regen. Der Boden war aufgeweicht und machte ihren Weg nicht gerade einfacher. Sie mussten ziemlich aufpassen, auf dem schlammigen Boden nicht auszurutschen. Jegliche Art von Behinderung oder Zwischenfall konnte sie wertvolle Zeit kosten. Die Schlacht, wenn man es denn noch so nennen konnte, war beschwerlich gewesen. Sie war mehr ein, mit der Zeit fast verzweifelter, Fluchtversuch als ein wirklicher Kampf geworden, bei dem es nur noch galt zu überleben. Doch jetzt da Cao Ren endlich unter der Klinge des Gott des Krieges, Guan Yu, zusammengebrochen war, erschien der erste Hoffnungsschimmer, doch noch entkommen zu können. Die Kinder von Guan Yu trauten sich schon langsam aufzuatmen, als eine weitere Stimme ertönte. Eine Stimme, die sie bis vor kurzem noch als jene eines Freundes identifiziert hätten. „Beeindrucken.“ Kurz darauf tauchte ein Pfeil fast lautlos aus dem Regen auf und traf ihren Vater in der Seite, wo er im Fleisch stecken blieb. Guan Yu gab nur einen leisen Laut von sich als er getroffen wurde, doch der Schmerz stand ihm für kurze Zeit ins Gesicht geschrieben. Schnell fing er sich jedoch wieder, der Kampf war noch nicht zu Ende. Solange gab es auch keine Zeit, den Schmerz zuzulassen. „Doch nun bist du erledigt.“ Wie aus dem Nichts tauchten aus dem Regen unzählige Soldaten auf. Ihre Rüstungen waren in rötlichen Farben gehalten, ganz eindeutig Soldaten von Wu. Als die vier in die Richtung sahen, aus der die Stimme erklungen war, sahen sie sich Lu Meng gegenüber. Sofort stellten sich die drei übrig gebliebenen Guan Kinder schützend um ihren Vater, welcher mit einem einzigen Ruck den Pfeil aus seiner Seite riss und zu Boden warf. Keiner von ihnen ergriff das Wort, also fuhr Lu Meng fort. „Dein Kopf ist sehr viel mehr wert als die Jing Provinz.“ Während er dies sagte, war sein Blick direkt auf Guan Yu gerichtet. Die Wu-Soldaten näherten sich unterdessen immer mehr den vier Shu-Kriegern. Es waren zu viele um sie bezwingen und siegen zu können, dazu waren sie bereits zu erschöpft und am mittlerweile schwereren Atmen des Gott des Krieges war zu hören, dass ihm die Wunde mehr zu schaffen machte als er zeigen wollte. Es sah aussichtslos aus. „Vater, überlass das mir.“ Suo zückte seinen Nunchaku und nahm seine Kampfposition ein. Xing warf einen überraschten und besorgten Blick zu seinem Bruder, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder den Soldaten widmete. Eine solche Aktion würde ihn mit Sicherheit ins Grab bringen. Einer alleine hatte keine Chance gegen so viele Soldaten, nicht mal annähernd. Und nicht nur das, auch zu viert würde es unter den gegebenen Umständen nicht gut für sie aussehen. Sein Vater schien ebenso zu denken. Mit einem kurzen, aber genau gezielten Schlag gegen den Hals nahm er wortlos seinem jüngsten Sohn das Bewusstsein, welcher sofort in sich zusammengesackt wäre, hätte sein Vater ihn nicht gefangen. „Verzeih mir“, sagte er zu ihm, auch wenn Suo das wohl nicht mehr hören konnte. Guan Yu warf seinen erschlafften Sohn in die Arme von dessen Schwester. Xing sah zu seinem Vater. Dieser sagte nichts, doch Worte brauchte es nicht, damit er seinen Vater verstand. Ihre Blicke sprachen mehr als tausend Worte. Sie wussten beide, dass es nur einen Weg gab, damit zumindest drei von ihnen eine Chance hatten zu überleben. Und Guan Yu würde nicht dazu gehören. Wie entschlossen er mit seiner stummen Entscheidung war, war deutlich in seinen Augen zu lesen. Xing konnte nichts weiter tun als die Entscheidung seines Vaters widerstandslos zu akzeptieren. Er wusste, dass er und seine Geschwister das Wichtigste im Leben ihres Vaters waren, auch wenn er oft keine Zeit für sie gehabt hatte, und dass er alles dafür tun würde, damit sie leben konnten. Auch wenn er sein eigenes dafür opfern musste. Jetzt konnte Xing nichts anderes mehr für ihren Vater tun, als dessen letzten Wunsch nachzukommen, und zumindest seine Geschwister zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Xing presste seine Zähne aufeinander, als er einige Schritte zur Seite ging, sodass er nun seinem Vater den Rücken zukehrte. Der Gedanke daran, ihn nun zurücklassen zu müssen, schmerzte mehr als alles andere das er sich vorstellen konnte. Den eigenen Vater dem sicheren Tod überlassen… Alles in ihm sträubte sich, seinem Vater den Rücken zu kehren und davonzulaufen, im Wissen, dass sein Vater hier sterben würde. Doch er hatte keine Wahl. Es wäre auch sinnlos, hierbleiben zu wollen und ihn zu unterstützen, während seine jüngeren Geschwister bereits flohen. Sie würden es zu zweit bestimmt nicht schaffen, erst recht jetzt da Suo nicht mehr bei Bewusstsein war. „Das hier ist mein Abschied“, begann der Gott des Krieges an seinen Sohn gewandt, jedoch ohne den Blick von ihren Angreifern abzuwenden. „Ja“, antwortete Xing tonlos um zu zeigen, dass er verstanden hatte. „Sag meinem Bruder, dass es mir Leid tut.“ „Das werde ich.“ Seine Stimme zitterte leicht und er senkte den Kopf. Xing versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie er wirklich dazu stand. Er schluckte schwer und hatte das Gefühl, sein Herz würde sich verkrampfen. Aber er musste jetzt stark sein. Er und seine Geschwister mussten es hier wegschaffen und überleben. Ansonsten würde ihr Vater sein umsonst hier sein Leben lassen. „Vater, nicht!“, begann Yinping, die gerade realisiert hatte, was Guan Yu tun würde. „Sei stark, meine Tochter“, antwortete er ihr mit fester Stimme. „Geht jetzt!“ Auf dieses Stichwort hin stürmte Xing mit einem Kampfesschrei geradewegs auf den Ring aus Soldaten zu, in die entgegengesetzte Richtung, in die sein Vater stürmte. Yinping, die noch immer Suo in den Armen hielt, rannte ihrem älteren Bruder nach. Mit fliessenden Bewegungen streckte er die Soldaten nieder, die ihm oder seinen Geschwistern zu nahe kamen und sie damit aufhalten wollten. Mit gezielten Bewegungen führte er seine Flügelschwerter, und als sich endlich eine Lücke auftat, durchbrach er die Reihe der Soldaten und rannte in dieselbe Richtung weiter, seine Schwester war ihm dicht auf den Fersen, obwohl sie noch das zusätzliche Gewicht ihres Bruders trug. Xing zwang sich, keinen Blick zurückzuwerfen als er mit seinen jüngeren Geschwistern floh. Würde er es tun, könnte er sich vielleicht nicht zurückhalten und doch noch umkehren, um seinem Vater zu helfen. Er wusste im Moment nicht, wohin sie rannten, doch er wusste, dass sie jetzt erst einmal von hier weg mussten, so schnell wie möglich, damit ihnen auch niemand folgte. Xing zwang sich nicht über die heutige Schlacht nachzudenken. Nicht nur sein Vater hatte er zurücklassen müssen, sein älterer Bruder hatte es auch nicht geschafft. Als wäre es nicht schlimm genug, einen von beiden zu verlieren. Aber all diese schmerzlichen Gedanken durfte er jetzt nicht zulassen. Er brauchte seine übrig gebliebene Kraft zum Fliehen. Sie mussten es zurückschaffen. Das waren sie ihrem Vater schuldig. Ausserdem wollte er die letzten Worte seines Vaters an Liu Bei überbringen. Er hatte das Recht, zu erfahren, was geschehen war.   Xing schreckte aus seinem unruhigen Schlaf hoch. Sein Puls raste und seine Hände zitterten. Er brauchte einen Moment um zu realisieren, wo er sich befand, denn die Dunkelheit um ihn herum gab ihm keinerlei Hinweise darauf. Die Erinnerung kam aber schnell zurück. Er befand sich im Zelt, welches er sich mit Bao auf dem Weg zur nächsten Schlacht teilte. Jetzt, da er sich wieder erinnerte, vernahm er auch das leise Atmen seines Freundes neben ihm an der anderen Zeltwand. Xing atmete ein paar Mal tief durch, um sich selbst zu beruhigen. Viel Erfolg hatte er damit allerdings nicht. Warum musste er bloss immer wieder den Moment durchleben, in dem er seinen Vater verloren hatte? Warum liess ihn sein Unterbewusstsein nicht wenigstens in seinen Träumen in Ruhe? Reichte es denn nicht, dass er sich dieser Tatsache jeden Tag stellen musste? Dass er jeden Tag daran erinnert wurde, dass er nun die Verantwortung hatte für seine jüngeren Geschwister. Er starrte in die Dunkelheit und versuchte an nichts zu denken, damit sich seine Gefühle beruhigen und er selbst wieder etwas zur Ruhe kommen konnte. Nach ein paar Minuten, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen waren, war er der Meinung, dass er sich gut genug beruhigt hatte und wieder einschlafen konnte. Sein Puls hatte sich wieder etwas verlangsamt und nahm nach und nach einen ruhigeren Rhythmus ein. Xing legte sich wieder bequemer hin und zog die Decke so weit wie möglich hoch. Er wusste, dass er den Schlaf brauchen würde, die nächsten Tage würden äusserst anstrengend werden. Und Schlafmangel konnte er auf der Reise wirklich nicht gebrauchen. Doch so sehr er sich auch bemühte, der Schlaf wollte nicht kommen. Einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, aufzustehen und eine Runde durchs Camp zu laufen, da ihm die frische Luft vielleicht gut tun würde. Aber andererseits würde ihn die kühle Nachtluft vielleicht auch noch wacher machen, womit er das genaue Gegenteil von dem Erzeugen würde, was er eigentlich wollte. Ausserdem würde er Gefahr laufen, irgendjemandem über den Weg zu laufen, den er etwas besser kannte, und nach einem Gespräch war ihm wirklich nicht zu mute. Früher, als er noch jünger gewesen war und nicht hatte einschlafen können oder sich vor etwas gefürchtet hatte, war er manchmal zu seinem Vater oder seinem älteren Bruder ins Bett gekrochen. Damals hatte es dann nicht lange gedauert, bis er seinen Schlaf wieder gefunden hatte. Doch ganz abgesehen davon, dass er aus diesem Alter schon lange raus war, war auch keiner der beiden mehr da. Xing seufzte und fuhr sich durch die Haare. Mit Gedanken von Früher würde er auch nicht besser einschlafen können. Aber er hatte sich noch nie so sehr nach einer Umarmung gesehnt wie jetzt in diesem Moment. Kurz liess er seinen Blick zu der Seite des Zeltes wandern, wo Bao nach wie vor seelenruhig schlief, verwarf den Gedanken aber so schnell wieder, wie er ihm gekommen war. Er liess Bao lieber schlafen, anstatt ihn auch noch um den Schlaf zu bringen. Unruhig drehte er sich ein paar Mal hin und her, um eine bessere Schlafposition zu finden. Doch er bekam mehr und mehr das Gefühl, dass je mehr Mühe er sich gab um einzuschlafen, die Chance immer kleiner wurde, dass es tatsächlich noch geschah. Dass er sich langsam auch über sich selbst ärgerte, half ihm leider auch nichts. Genervt seufzte er. Er war einfach zu unruhig um zu schlafen. Langsam hoffte er, dass es wenigstens nicht mehr allzu lange bis zum Sonnenaufgang dauerte, dann hätte er wenigstens einen Grund aufzustehen. Als er sich gerade zum gefühlten tausendsten Mal wieder drehte, dieses Mal auf die Seite, hörte er wie sich sein Freund im anderen Bett ebenfalls regte, ob im Schlaf oder ob es ein Zeichen war, dass er ebenfalls erwacht war, konnte er daraus nicht schliessen. „Xing?“, ertönte Baos Stimme verschlafen aus der Dunkelheit. „Was ist denn los?“ Für einen Moment spielte Xing mit dem Gedanken, sich schlafend zu stellen damit Bao davon ausging, dass er sich getäuscht hatte und sich wieder schlafen legte. Er entschied sich dann aber anders. „Ach nichts, ich finde nur keine bequeme Schlafposition mehr“, antwortete er in einem beiläufigen Tonfall und hoffte, dass ihm Bao diesen kleinen Schwindel glaubte. Er wollte nicht, dass sich Bao um ihn sorgte, das tat er ohnehin viel zu oft. „Also mir brauchst du nichts vorzumachen“, gähnte Bao. Das Rascheln der Decke liess vermuten, dass sich dieser aufgesetzt hatte. „Warum kannst du nicht schlafen? Hast du schlecht geträumt?“ Xing seufzte kaum merklich. Warum kannte ihn Bao bloss so gut? „Nein, alles in Ordnung“, murmelte er und zog sich die Decke etwas höher. Er wollte nicht, dass auch noch Bao um seinen Schlaf gebracht wurde bloss weil er sich sorgte oder ihm zumindest Gesellschaft leisten wollte. Ein schweres Seufzen kam von der anderen Seite des Zeltes, ansonsten kam keine Antwort. Erst dachte Xing schon, Bao hätte aufgegeben und sich wieder schlafen gelegt, doch da irrte er sich. Wenig später vernahm er erneut das Rascheln der Decke des anderen. Kurz darauf spürte er, wie etwas an seiner eigenen Decke, etwa auf Hüfthöhe, zog. Kaum hatte Bao die Decke gefunden, hob er sie an und schlüpfte zu Xing unter die Decke, noch bevor dieser in irgendeiner Weise hätte etwas unternehmen können. Nicht das er das wirklich gewollt hätte. Unter der Decke schlang Bao seine Arme um seinen Freund und zog ihn an sich. „Bist du sicher, dass du mir nicht sagen willst was los ist?“, murmelte er ihm ins Ohr und schmuste sich etwas näher an ihn. Xing, überrascht von der plötzlichen Nähe, verkrampfte sich erst, entspannte sich aber kurz darauf etwas als sich Bao an ihn schmiegte. Er seufzte leise, gab ihm aber keine Antwort. Er wusste nicht was er ihm sagen sollte. Natürlich hätte er ihm einfach sagen können, was ihm auf der Seele lag. Dass er seinen Vater und seinen Bruder schmerzlich vermisste und wünschte sie wieder bei sich zu haben. Dass er sich um seine noch lebenden Geschwister sorgte und Angst hatte, sie auch noch zu verlieren. Dass ihn die Erinnerungen an den Tod seines Vaters nachts wachhielten und nur schlecht schlafen liessen. Dass es ihm immer schwerer fiel, sich nichts von alle dem anmerken zu lassen… Aber er wollte es ihm nicht sagen und er konnte es auch nicht. Bao hatte selbst auch genug durchmachen müssen, schliesslich hatte dieser seinen Vater auch erst vor kurzem verloren und hatte nun nur noch seine Schwester. Xing biss sich auf die Unterlippe. Nach kurzem Zögern drehte er sich in Baos Armen, schlang seine Arme nun ebenfalls um seinen Freund und vergrub wortlos sein Gesicht in dessen Brust. Bao war erstaunt über die unerwartete Handlung seines Freundes, drückte ihn nach einem Moment dann aber fester an sich und strich ihm liebevoll durch die Haare. Es war das erste Mal seit längerer Zeit, dass sie sich so nahe waren und Xing konnte nicht abstreiten wie sehr er den Moment genoss, auch wenn es ihm gerade nicht gut ging. Vielleicht auch gerade deswegen, denn Baos Umarmung hatte etwas Tröstendes an sich. Sie hatten ja ohnehin kaum Zeit, sich nahe zu sein. Nicht nur, weil sie ihren Aufgaben gewissenhaft nachkommen und regelmässig trainieren mussten und deswegen keine Zeit hatte, sie waren am Abend dann auch meist ziemlich müde. Und wenn sie unterwegs waren, war an Zärtlichkeiten ohnehin nicht zu denken. Hinzu kam noch der Streit, den sie vor nicht allzu langer Zeit gehabt hatten und sogar von Zhao Yun hatte geschlichtet werden müssen. Xing hatte einfach genug davon gehabt, dass Bao ihn immer noch wie ein kleines Kind behandelt hatte, selbst jetzt, da Xing das Familienoberhaupt war und so viel Verantwortung trug wie kaum jemand in seinem Alter. Von da an war Xing etwas distanzierter gewesen, was er mittlerweile jedoch sehr bereute. Besonders wenn er an den enttäuschten Gesichtsausdruck von Bao dachte, wenn er sich einer liebevoll gemeinten Umarmung einfach entzogen hatte und davongelaufen war. Natürlich war er zurecht wütend darüber gewesen, dass Bao ihn immer noch wie ein Kind behandelt hatte, denn dieser wusste eigentlich sehr genau, dass er dies überhaupt nicht ausstehen konnte. Aber mittlerweile wusste Xing, dass er auch Baos Angst, ihn auf dem Schlachtfeld zu verlieren, hätte verstehen müssen, schliesslich sorgte er selbst sich auch immer um Baos wohlergehen. Insbesondere weil Bao dazu neigte, hin und wieder zuerst zu handeln und erst dann nachzudenken. „Es ist wegen deinem Vater, nicht wahr?“, durchdrang Baos Stimme plötzlich die Stille zwischen ihnen. Xing wusste nicht was er darauf antworten sollte. Natürlich hatte sein Freund den Nagel auf den Kopf getroffen, aber er wollte nicht wegen etwas jammern, das Bao auch aushalten musste. Auch wenn er ihn verstehen würde. „Ich bin vielleicht nicht so intelligent wie du, aber blöd bin ich trotzdem nicht. Ich merke doch, wenn es dir schlecht geht“, fuhr er fort als keine Antwort kam. Er drückte Xing einen kurzen Kuss auf die Wange. Dabei musste er unweigerlich gemerkt haben, dass dessen Wangen von feuchten Striemen überzogen waren. Bao richtete sich etwas auf „Xing, weinst du etwa?“, fragte er erschrocken. Für eine Weile schwieg Xing einfach. Er hatte seine Gefühle gerade überhaupt nicht mehr im Griff. Wie sollte er denn auch? Auch wenn es vielleicht eine natürliche Reaktion war nach allem was passiert war, schämte er sich trotzdem, dass er seine Tränen nicht mehr hatte zurückhalten können. Er weinte äusserst selten, und wenn, dann eigentlich auch nur, wenn er alleine war. Da er nichts antwortete, schien Bao wohl der Meinung zu sein, dass er einfach Trost brauchte, denn er zog den Jüngern so nahe an sich wie es ging und fing wieder an, liebevoll durch dessen Haare zu streichen. Xing liess es einfach geschehen, denn er war wirklich dankbar für die Zuneigung, die er erhielt. Ihm wurde gerade bewusst, dass er seit dem Tod seines Vaters nie wirklich die Möglichkeit gehabt hatte, sich von jemandem trösten zu lassen. Er hatte immer das Gefühl gehabt, stark sein zu müssen für seine Geschwister. Hinzu kam, dass er seine Gefühle ohnehin schon schlecht zeigen konnte und sich deswegen mehr zurückgezogen hatte anstatt darüber zu reden. Und da Bao ja in derselben Situation war wie er selbst, hatte er es nicht über sich gebracht, sich mit seinem Freund auszutauschen. „Danke“, murmelte er nach einer Weile als er sich wieder etwas beruhigt hatte. „Dafür musst du mir doch nicht danken“, antwortete Bao und strich ihm die Tränen aus dem Gesicht. Kaum hatte er dies getan, lehnte er sich näher, um Xing einen liebevollen Kuss auf die Lippen zu drücken, den Xing widerstandslos erwiderte. „Ich weiss, dass es schwer ist, aber wir schaffen das. Wir haben doch schliesslich noch uns, und Suo, und Yinping, und Xingcai. Unsere Väter hätten bestimmt nicht gewollt, das wir jetzt so traurig sind“, murmelte Bao ihm zu, nachdem sie den Kuss gelöst hatten. Sein Freund versuchte immer das Beste aus der Situation zu machen, mochte sie auch noch so schlimm oder deprimierend sein. Xing konnte sich wirklich glücklich schätzen, ihn an seiner Seite zu haben, denn manchmal war alles, was man brauchte, jemand, der in der Dunkelheit wieder ein Licht anzündet. „Du hast recht“, pflichtete Xing ihm bei als er sich wieder mehr an seinen Freund schmiegte. Es stimmte wirklich, auch wenn sie ihre Väter und Ping verloren hatten, so waren ihnen zumindest ihre anderen Geschwister geblieben. Zudem hatte sie Liu Bei wie seine eigenen Kinder aufgenommen und fortan so behandelt. Eine Familie waren sie noch immer, trotz der schweren Verluste. Ausserdem hätte sein Vater diese schwere Entscheidung, zurückzubleiben in dem Versuch, seine Kinder zu retten, nicht getroffen, wenn er nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Xing seine Geschwister würde beschützen können und der Aufgabe, die er ihm damit übertragen hatte, gewachsen war. Dieses Wissen löschte den Schmerz zwar nicht aus, doch es half wenigstens, ihn erträglicher zu machen. Und Bao trug natürlich mit seinen liebevollen Streicheleinheiten auch massgeblich dazu bei, dass er sich wieder etwas besser fühlte. Eine Weile herrschte Stille zwischen den beiden, und Xing merkte, dass er langsam doch wieder schläfrig wurde. Baos Nähe hatte einfach immer eine beruhigende Wirkung auf ihn. Das war schon so seit sie Kinder waren. „Darf ich jetzt bei dir schlafen?“, murmelte Bao irgendwann, und man konnte deutlich in seiner Stimme hören, dass er wieder müde wurde. Normalerweise war Xing dagegen, dass Bao bei ihm schlief, oder umgekehrt, da unterwegs einfach immer die Gefahr bestand, dass es jemand sehen würde. Schliesslich war hier die Privatsphäre um einiges kleiner als wenn sie zu Hause waren, da man ein Zelt nunmal nicht richtig abschliessen konnte. Es war besser, wenn sonst niemand wusste, dass sie mittlerweile mehr als nur beste Freunde waren. Zwar hatte er den Verdacht, dass es Xingcai mittlerweile gemerkt haben könnte, doch so lange sie sie nicht darauf ansprach, würden sie es auch nicht ansprechen. „Na gut, aber nur ausnahmsweise“, willigte Xing schliesslich ein, da auch er nur ungern alleine einschlafen wollte, gerade jetzt wo er ein solches tief hatte und Bao der einzige war, der im Moment für ihn da sein konnte. Seine Antwort schien Bao unglaublich zu freuen, denn er zog seinen Freund etwas näher an sich und brachte sich in eine bequemere Position. „Ausnahmsweise ist besser als gar nie“, murmelte Bao und seufzte zufrieden. Ein sanftes Lächeln schlich sich auf Guan Xings Lippen, als er sich an seinen Freund lehnte und sich etwas mehr entspannte. „Xing?“, erklang nach einer Weile dann doch nochmal Baos Stimme. „Hm?“, kam die verschlafene Antwort des Angesprochenen, der schon fast ganz in den Schlaf abgedriftet war. „Ich werde dich niemals alleine lassen, versprochen“, sagte Bao, offensichtlich überzeugt von seinen eigenen Worten. Xing antwortete nichts darauf. Ihm war klar, dass sie beide nicht wissen konnten, ob Bao dieses Versprechen würde einhalten können. In Zeiten wie diesen war nichts sicher, erst recht nicht wie lange sie noch lebten. Jede Schlacht konnte die letzte sein. Doch jetzt, in diesem Moment, war Xing einfach dankbar darüber, dass es Bao zumindest versuchen würde, für ihn. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)