Der Drache und die Nacht von Arianrhod- (OneShots) ================================================================================ [Januar | Weiches Fell] Finding Home ------------------------------------ Der Wind zerzauste Weißlogias Fell und fuhr durch seine Federn, als er mit weit ausgebreiteten Schwingen durch den abendlichen Himmel glitt. Die Thermik hielt ihn auch ohne viel Kraft und Bewegung in der Höhe, so dass er den ruhigen Flug genießen konnte. Unter ihm zog die weite Fläche des Wilden Waldes dahin, grün und braun und manchmal sogar rot oder weiß. Im Süden wurde er begrenzt durch das kultivierte Land Fiores, Ostnordost wuchs das Herzwindgebirge empor, ummantelt von grünen Wäldern, und fern im Norden erkannte man die Anfänge der Wilden Einöde. Direkt unter ihm schlängelte sich die Ferne Handelsstraße dahin, die die kürzeste Verbindung zwischen Fiore und Athosvea darstellte und hier die äußersten Ausläufer der Wildlande durchquerte. Sie zu umgehen wäre einfach zu weit gewesen, zu zeitraubend, weswegen man sich dazu entschlossen hatte, den Weg durch dieses gefährliche Gebiet führen zu lassen. Weißlogias Blick glitt aufmerksam über die Landschaft, doch das Blätterdach der Bäume war so dicht, dass es ihm keinen Blick auf den Boden gestattete. So boten ihm eigentlich nur die Lichtungen und die breite, gepflasterte Straße die Gelegenheit, die er brauchte, um Beute zu schlagen. Es würde ihm nicht viel Mühe bereiten, hinüber zur Einöde zu fliegen, wo das Land offen und weit war. Doch die Wahrheit war, dass Rentier ihm zum Hals heraushing. Hier im Wald war die Jagd mühsamer, doch er hatte die Hoffnung, eine andere Beute zu schlagen. Die andere Möglichkeit wäre natürlich, nach Süden zu fliegen und sein Glück dort zu versuchen, doch eine Kuh von einer Weide zu stehlen stellte keine Herausforderung dar. Außerdem hielt er nicht viel von solcherlei Diebstahl. Er drehte den gehörnten Kopf und sog tief die Luft ein, um vielleicht einen Hauch von einem Ort zu erhaschen, wo eine gute Gelegenheit zu Jagen war, doch das einzige, das ihm in die Nase steig, war der Gestank von Feuer. Überrascht horchte er auf und sein langer Körper schwang herum, als er die Flügel schräg stellte, während er den Blick aufmerksam über das Land gleiten ließ. Es dauerte bloß Augenblicke, bis er die schwarzen Rauchsäulen entdeckte, nur wenige Meilen von ihm entfernt und bei weitem zu groß, um von Kochfeuern oder Herdstellen zu rühren. Häuser vielleicht? Die Menschen der Wildländer waren harte, unabhängige und misstrauische Leute, doch Brände in solchem Ausmaß kamen selten vor. Unwillkürlich veränderte er seine Flugbahn und der kräftige Schlag seiner Schwingen ließ ihn über den Wald schießen, so dass er die Entfernung in nur wenigen Sekunden zurückgelegt hatte. Er mochte sich aus den Angelegenheiten der Menschen heraushalten, zu viel Leid und Unglück hatten sie ihm bereits gebracht, doch ein solches Unglück – oder eine solche Untat – würde er nicht unbeteiligt ignorieren. Aber es waren keine Häuser, die brannten, sondern Fuhrwerke. Die Handelsstraße kam in einem großen Bogen hierher zurück und sie war ein einziges Schlachtfeld. Leichen von Menschen und Pferden lagen verstreut auf den Pflastersteinen, gespenstig beleuchtet von den tanzenden Flammen. Fünf der sieben Wagen waren in Brand gesteckt worden, nachdem man sie geleert hatte, ein weiterer stand etwas abseits, die Pferde davor sinnlos erschlagen, so dass ihr Blut den Boden rot färbte. Der letzte war die edle Reisekutsche einer adeligen Dame, zu Kleinholz geschlagen. Das Fräulein entdeckte er nur einen Moment später, etwas entfernt auf der Straße liegend – die Bluse aufgerissen, die Röcke über die Hüfte hochgeschoben, das Gesicht in einem Ausdruck von Angst erstarrt und der Blick gebrochen in den Himmel gerichtet. Diese bedauernswerte, junge Frau hatte einen schrecklichen Tod gehabt. Doch auch ihre Krieger und Bediensteten waren ausnahmslos gefallen unter den Klingen der Feinde, vermutlich Banditen, wie sie hier zu hohen Zahlen ihr Unwesen trieben. Die Wegelagerer hatten keinen entkommen lassen, hatten sie abgeschlachtet wie Vieh, selbst die wehrlosen Diener, die Frauen und sogar die Kinder. Die Soldaten waren im Kampf gefallen, doch die Zivilisten hatten versucht zu fliehen, manche lagen im Gras, das die Straße links und rechts vom Wald trennte. Offensichtlich waren sie dabei gewesen, davonzurennen, nur um von Pfeilen und Speeren dahingerafft zu werden oder von Krieger eingeholt, die ihren Spaß daran gehabt hatten, sie zu jagen. Weißlogia verschloss einen Moment die Augen vor dem schrecklichen Bild und schüttelte den Kopf. Das war der Grund, warum er geschworen hatte, sich von ihnen fern zu halten. Menschen taten einander immer und immer wieder die schlimmsten Dinge an und sie lernten nicht aus vergangenen Taten. Verabscheuenswürdig. Doch hier gab es nichts mehr, was er tun konnte. Sollte sich die Natur um den Rest kümmern oder vielleicht Wanderer, die mehr Mitleid mit den Toten hatten. Er wandte sich ab und spannte die Muskeln, um sich wieder in höhere Ebenen zu befördern, als eine Bewegung seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Dort, nur wenige Meter von dem unbeschädigten Fuhrwerk entfernt, kauerte eine winzige Gestalt neben einer Leiche. Es war ein Kind, erkannte er nach einem Moment erstaunt, das neben einer toten Frau kauerte, eine ihrer Hände in seinen, den blonden Schopf ihr zugeneigt. „Wach endlich auf, Mama.“, sagte es und die helle, so junge Stimme bot einen verstörenden Kontrast zu dem Bild der Gewalt. „Wir müssen gehen, Mama.“ Weißlogia hielt inne – mit Menschen wollte er nichts zu tun haben, doch das war nur ein Kind. Und Kinder waren unschuldig. „Mama!“ Nach einem Augenblick der Stille stupste es die Leiche in die Seite und Resignation sprach aus der Geste. „Warum wachst du nicht auf?“ Die ganze Haltung wirkte unglücklich und niedergeschlagen; es wusste, dass etwas nicht stimmte, vielleicht sogar schon, was. Doch trotzdem versuchte es erneut, seine Mutter zu wecken, in dem es ihr gegen die Wange piekte. Der Kopf der Frau rollte schlaff zur Seite und das lange, blonde Haar fiel wie ein Vorhang über ihr Gesicht. Für einen beschämenden Moment dachte Weißlogia daran, einfach umzukehren und davonzufliegen. Er musste noch auf die Jagd. Er hatte einen Schwur zu halten. Er wollte nichts mit Menschen zu tun haben. Doch gleichzeitig wusste er, wenn er das tun würde, würde er dieses Kind zum Tode verurteilen. Die Wildländer waren gefährlich und einzig die Feuer hielten die Raubtiere noch fern. Nur am Rande des Schlachtfelds hatten die Krähen und Raben sich bereits über die ersten Leichen hergemacht. Und diesem Schicksal sollte er das Kind überlassen? So herzlos war er nicht. Immer kleinere Kreise ziehend senkte er sich nach unten. Der sanfte Schlag seiner Schwingen war so stark, dass die Flammen brüllend aufloderten, und die Aasfresser flogen kreischend und schimpfend auf. Dann landete er zwischen den Leichen auf der Straße, deren Steine unter seinem Gewicht sprangen oder sich verschoben. Das Kind blickte zu ihm auf, glänzendes Blut im Gesicht und einen verzweifelten Ausdruck, der sein Herz berührte. Eine tiefe Wunde spaltete seine Augenbraue, die noch immer nässte. „Sie wacht nicht auf.“, erklärte es ihm und hob die Hand seiner Mutter, die schon kalt sein musste. „Kannst du sie nicht aufwecken?“ In seiner Stimme lag keinerlei Spur an Erstaunen, als hätte er erwartet, dass ein Drache vom Himmel heruntersegelte. Auch fehlte jegliche Angst, die Menschen Freien Drachen wie ihm normalerweise entgegenbrachten. Es war ein Junge, dünn wie nur aktive Kinder es waren, aber gut genährt. Seine Kleidung war einmal anständig gewesen, nicht edel oder teuer, aber robust und zweckmäßig, doch jetzt war sie verschmutzt und hatte Risse. Einige der Flecken stammten eindeutig von Blut. Er schniefte. „Und mein Kopf tut weh.“ Das Gesicht des Jungen verzog sich, als wollte er anfangen zu weinen, doch stattdessen rieb er sich mit den Fäusten die Augen und zog geräuschvoll die Nase hoch. „Kannst du etwas tun für meine Mama?“ Vertrauensvoll blickte er zu der Kreatur auf, die ihn um ein Vielfaches überragte. Etwas irritiert senkte Weißlogia den Kopf, so dass er auf einer Höhe mit dem Knaben war. „Nein.“, erklärte er kurz angebunden. „Diese Macht besitzen nur die Götter.“ Die Frau war so tot wie alle anderen hier und das Blut, das ihr Kleid und den Boden um sie herum getränkt hatte, ließ keinen Zweifel daran, warum, auch wenn die Wunde nicht zu sehen war. „Oh…“ Jetzt fiel die tapfere Maske des Kindes doch in sich zusammen und die Tränen quollen ihm aus den Augen. Mit den Handballen rieb es sich über das Gesicht und heftige Schluchzer schüttelten den kleinen Körper. Weißlogia seufzte; das hier hatte er sich eigentlich nicht ausgemalt, als er losgeflogen war, um sich eine Mahlzeit zu suchen. Seine Magie sammelnd reckte er den langen Hals und blies dem Kind vorsichtig den heilenden Atem ins Gesicht, um ihm zumindest die körperlichen Schmerzen zu nehmen. Die Wunde auf seiner Stirn schloss sich innerhalb von Sekunden, doch es blieb eine deutliche Narbe zurück. Überrascht blickte es auf, den Mund offenstehend. „Mein Kopf tut nicht mehr weh!“, rief es erstaunt aus und das Erstaunen lenkte ihn so sehr ab, dass es vergaß zu weinen. Weißlogia stieß ein unbestimmtes Geräusch. „Nein.“, erklärte er und blähte die Nüstern, um den Geruch des Kindes aufzunehmen. Der Gestank von frischem Blut, der ihm dabei in die Nase stieß, brachte ihn zum Nießen, aber darunter lag der ganz eigene Geruch des Jungen. Dieser kicherte und rappelte sich auf, um auf ihn zuzukommen, zutraulich wie ein junger Welpe. Er streckte die Hände aus und tätschelte Weißlogias Nase und jetzt war der Drache es, der sich wie ein Hund fühlte. Schweigend ließ er die Herabsetzung einen Moment über sich ergehen, während kleine Hände über seine Schnauze streichelten. „So weiches Fell!“, begeisterte sich der Junge. Schließlich zog Weißlogia den Kopf zurück, jedoch vorsichtig genug, dass das Kind nicht unter seinem eigenen Schwung umkippte. „Deine Mutter ist tot“, erklärte er so ebenmäßig wie möglich „und sie kommt nicht mehr zurück.“ Der Junge runzelte verwirrt die Stirn. „Warum?“ Sein Mund verzog sich widerspenstig, als hätte Weißlogia dies bestimmt, anstatt dass es eine unumstößliche Wahrheit war. „Weil das die Gesetze des Universums brechen würde.“ Der bockige Gesichtsausdruck wurde abgelöst von weit aufgerissenen Augen. Vermutlich war ihm diese Erklärung etwas zu hoch, aber Weißlogia hatte keine Übung darin, die komplexen Regeln von Leben und Tod für einen Fünfjährigen aufzubrechen und auch keine Geduld dafür. Sollte das der Mensch machen, bei dem das Kind letzten Endes bleiben würde. „Du kannst nicht hierbleiben.“, erklärte er dem Jungen stattdessen. „Für heute werde ich dich mitnehmen.“ Der Junge legte den Kopf schief wie ein kleiner Vogel. „Warum?“ „Weil es hier Raubtiere gibt und sie dich fressen werden, wenn du alleine hierbleibst. Komm jetzt.“ Weißlogia streckte eine Klaue aus und versuchte dabei, so harmlos wie möglich zu erscheinen. Er wollte den Jungen nicht erschrecken. Wobei diese Maßnahme noch immer überflüssig zu sein schien, von Angst oder auch nur Furcht war noch immer nichts zu sehen. Das Kind erwog das Angebot ernsthaft, zwei Finger im Mund. Nach einigen Augenblicken nickte es ernsthaft. „Ich möchte nicht alleine bleiben.“ Doch statt zu dem Drachen zu gehen, drehte es sich um und rannte zu dem zerschmetterten Fuhrwerk um hineinzuklettern. Weißlogia blickte ihm verdutzt nach, zu überrascht um auf die Idee zu kommen, dass es vielleicht keine so gute Idee war, das Kind in den zerbrechlich wirkenden Wagen steigen zu lassen. Doch dann tauchte es auch schon wieder auf, einen kleinen Rucksack in der Hand und einen abgegriffenen Stoffhund unter dem Arm. „Was passiert mit Mama?“, wollte es wissen, als es wieder vor ihm ankam. Weißlogia folgte seinem Blick zu der Leiche hinüber. „Sie ist nicht mehr hier.“, erklärte er dem Jungen, der erwartungsvoll zu ihm aufblickte. Ihr Körper mochte es noch sein, aber das, was sie zu einer Person gemacht hatte, ihre Seele, war längst entschwunden. Doch statt sich in Erklärungen zu ergehen, die sowieso auf taube Ohren stoßen würden, nahm er den Jungen vorsichtig zwischen die Vorderklauen und entfaltete die Flügel. Mit einem kräftigen Stoß seiner Hinterbeine beförderte er sich in den Himmel, die Schwingen heftig schlagend, um an Höhe zu gewinnen. Zur Jagd würde er heute nicht mehr kommen; die Sonne entschwand gerade hinter dem Horizont, der Himmel rot und golden wie die langsam niederbrennenden Flammen. Also packte er mit der Hinterpfote eines der toten Pferde und schwang sich trotz der Last leicht in die Luft, die Hände vorsichtig um seinen kleinen Passagier geschlossen. ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Als Weißlogia Shiwyn Ehana das erste Mal gesehen hatte, war sie eine märchenhafte, verspielte Metropole voller Leben gewesen, eine wahre Ansiedlung der Alten. Er war noch jung gewesen damals, voller Zuversicht und Hoffnung und Träume. Bei seinem ersten Besuch nach dem Ersten Magierkrieg jedoch war die Stadt nur ein von Dämonen befallenes Loch gewesen, ein Anblick, der seinen schwelenden Zorn wieder wachgerufen hatte. Er war hinabgeflogen zu der ersten der ausgedehnten Terrassen, eine von fünf, die sich an die Flanke des Ehana schmiegten, angeordnet wie Stufen für Götter, überragt von den steilen Klippen des Berges. Eine einzelne, mächtige Mauer erhob sich am Rande der untersten Terrasse und ein einzelnes Tor, so gigantisch, dass selbst ein Drache es als groß empfand, bildete den einzigen Eingang zur Stadt. Es hing geborsten und aufgebrochen in den Angeln und Pflanzen wucherten durch den Torbogen. Die Häuser waren aus dem hellen Stein des Berges erbaut und auf jeder Terrasse wurden sie schöner, prächtiger und verzierter. Das ganze Stadtbild wurde dominiert von verspielten Elementen, schlanke Säulen, offene Bogengänge, kleine Brücken, die über schmale Gassen und teilweise noch funktionstüchtige Kanäle führten, Kuppeldächer, Wasser- und bunte Windräder. Doch die Zerstörung, der die Stadt anheimgefallen war, hervorgerufen durch Kriege und den Zahn der Zeit, war nicht zu übersehen. Ganze Bezirke lagen in Schutt und Asche, andere verfielen langsam und die Vegetation wucherte ungehindert in den ehemals gepflegten Straßen und Parks. Auf der obersten Terrasse erhoben sich weniger, aber weitaus größere Gebäude, darunter ein mächtiger Palast, der direkt aus dem Berg hinauszuwachsen schien, und, wie Weißlogia wusste, hineinführte in den lebenden Fels. Das größte Gebäude war gekrönt von einem Kuppeldach und das ganze Schloss war von einer weiteren Mauer umgeben, aus der schlanke Türme ragten wie die Zacken einer Krone. Vor dem ebenfalls aufgebrochenen Portal erhoben sich zwei mächtige Statuen, ein Mann und eine Frau in langen, fließenden Gewändern, die große Feuerschalen hielten. Hinter dem Palst stürzte ein mächtiger Wasserfall herunter, dessen Rauschen seltsam gedämpft über die Stadt scholl, kaum mehr als ein Hintergrundgeräusch. Sein Wasser speiste die Kanäle, auf denen in der Blütezeit Shiwyn Ehanas Boote gefahren waren. Jetzt waren sie teilweise nicht mehr intakt und der Fluss setzte ganze Partien der Stadt unter Wasser. Weißlogia war über die Dämonen hereingebrochen wie ein Sturm aus Glanz und Tod, angetrieben von seiner Wut und seinem Schmerz, die ihn seit der folgenschweren Auseinandersetzung begleitet hatten. Er hatte sie alle getötet, die sich ihm in den Weg gestellt hatten, ausgebrannt durch heiliges Licht. Diese Stadt der Alten, die um ihn herum langsam verfiel, mitsamt ihren Schätzen, ihrer großartigen Handwerkskunst und den verlassenen Hallen und Heimen gehörte jetzt ihm. Er hatte sie erwählt, da er sich noch gut daran erinnerte, wie sie einst ausgesehen hatte, als sie noch voller Leben und Farben gewesen war. Hierhin brachte er das kleine Menschenkind, das sich so vertrauensvoll an seine Finger klammerte und vorwitzig zwischen ihnen hindurchspähte. Sanft landete er auf dem großen Vorplatz des Palastes, der als die Häuser des Wissens bekannt geworden war und niemals Herrscher beherbergt hatte. Auch hier wucherten die Pflanzen wild und unberührt, kleine Bäume, die die Mauern säumten, Unterholz, das dichte Dornenhecken bildete, und Wildwiesen, die von den bunten Flecken der Blumen gesprenkelt war. Zuerst brachte er den Jungen zu dem kleinen Wildbach, der sich vorwitzig seinen Weg durch den Burghof suchte, um das Blut und den Dreck abzuwaschen. Der Junge realisierte dies kaum, sondern sah sich mit staunenden Augen um, wie gebannt von der wilden Schönheit des Ortes und dem Zusammenspiel von Natur und Ruinen. Shiwyn Ehana war eine echte Geisterstadt, uralt, abgeschieden, den Elementen ausgesetzt und überwachsen. Dadurch, dass so viele Kämpfe hier gewütet hatten, nicht nur zwischen einem Drachen und Dämonen, sondern schon viel früher, als die Stadt im Ersten Magierkrieg erobert worden war, war vieles zerstört worden. Wege endeten in zusammengefallenen Häusern, zerborstenen Brücken liefen ins Nichts und die Dächer von großartigen Hallen waren herabgestürzt. Neben den Pflanzen waren auch die Tiere zurückgekehrt und bevölkerten die Stadt auf ihre Weise. Ansonsten wagte sich niemand her – nicht mit dem Drachen, der Shiwyn Ehana als sein Heim auserkoren hatte. So hatte er wenigstens seine Ruhe. Weißlogia ging auf drei Beinen voran, darauf bedacht, das Kind in einer Klaue zu halten, das sich mit großen Augen neugierig umsah. Es drückte den Stoffhund fest gegen die Brust und staunte über die Größe der Dinge, die es hier zu sehen bekam. Dennoch konnte Weißlogia deutlich sehen, dass es keine Ahnung um die wahre Großartigkeit und Schönheit hatte, die es hier zu sehen bekam. Das alles überstieg noch seinen Verstand, der zu jung war, um wirklich zu begreifen. Sie kamen nur langsam voran, denn den Jungen zu tragen und gleichzeitig den Pferdekadaver mitzuschleifen stellte sich als schwierig heraus. Doch es war nicht unmöglich und bald erreichten sie die Halle, die Weißlogia als seinen Hort erwählt hatte. Der Grund war einfach gewesen – die Dämonen vor ihm hatten hier alles zusammengetragen, das sie als Schatz eingestuft hatten. Sie waren von den Alten in der Stadt zurückgelassen worden, als sie geflohen waren, und ihre Feinde hatten damals keine Verwendung dafür gehabt. Gold, Silber und Edelsteine, vereinzelte Artefakte… All das häufte sich zu Hügeln und Bergen von Kostbarkeiten und Kleinodien auf, ein wahrer Drachenhort, auch wenn nur wenige Menschen den Grund kannten, warum sich die mächtigen Kreaturen mit solcherlei Dingen umgaben. Der Junge wirkte nicht sehr beeindruckt davon. Stattdessen reckte er den Hals, um noch einen weiteren Blick in die Vorhalle zu werfen, durch die man noch nach draußen sehen konnte. Achtlos ließ Weißlogia den Pferdekadaver am Eingang der Halle zurück und ging tiefer hinein zu dem Lager aus Münzen und Juwelen, das er sich aufgeschichtet hatte, um darauf zu schlafen. Es lag in einer windgeschützten Ecke, eingegrenzt von Treppen, die zu der Galerie hinaufführten, und dem Säulengang unter eben jener. Hoch über ihnen unter der gewölbten Decke schwebte ein großes Lichtlacrima, das Weißlogia einige Mühen bereitet hatte, ehe er es gefunden hatte. Es strahlte einen sanften, hellen Schein aus, der alles zum Funkeln und Glitzern brachte. Vorsichtig setzt er das Kind vor seiner Lagerstatt ab und rollte sich darauf zusammen, während er seinen ungewöhnlichen – ersten und einzigen – Gast nicht aus den Augen ließ. Doch der Junge kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern sah sich schweigend um. Dann ging er zu den äußersten Ausläufern des Schatzes und hob eine Münze hoch. Sie war aus reinem Silber und so groß wie seine Hand. Nachdem er die detaillierte Prägung darauf genau studiert hatte, warf er sie unachtsam wieder weg und hob einen goldenen Kelch hoch, der so schwer war, dass er ihn kaum halten konnte. Aber auch daran verlor er bald das Interesse. Nach einer Weile kam er offensichtlich zu einem Urteil, denn er wandte sich zu dem Drachen um und erklärte ernsthaft: „Alles glitzert und ist hart.“ Weißlogia verspürte leisen Unmut, auch wenn er nicht genau wusste, worauf er diesen zurückführen konnte, und nickte. „In der Tat. Für heute Nacht kannst du hierbleiben. Morgen werde ich versuchen, einen Platz zu finden, wo du unterkommen kannst.“ Der Junge verzog das Gesicht. „Kann ich nicht hier bei dir bleiben?“ Die Überraschung über die Aussage erstickte jeglichen Widerspruch im Keim. Die Frage hatte er absolut nicht erwartet! Sowieso schien das Kind noch immer sehr wenig beeindruckt darüber zu sein, dass es mit einem Drachen sprach. Stattdessen gähnte es nur sehr weit und sehr ausgiebig und rieb sich müde die Augen. „Warum…?“, begann Weißlogia, doch dann unterbrach er sich. Das spielte keine Rolle, mit der Antwort konnte er sich am nächsten Tag auseinandersetzen. Es sah sowieso nicht aus, dass sein kleiner Gast viel davon aufnehmen konnte. Aber dass dieser nicht hierbleiben konnte, das war offensichtlich und stand außer Frage. So weit kam es noch! Stattdessen reckte der Drache den Kopf. „Mein Name ist Weißlogia. Und wie hat deine Mutter dich genannt?“ „Sting.“, erklärte er und dann deutet er auf den Stoffhund, den er noch immer im Arm hielt. „Das ist Jaro.“ Dann gähnte er erneut. „Es freut mich, … euch kennen zu lernen.“, spielte Weißlogia mit, auch wenn er sich lächerlich vorkam, mit einem Stofftier zu sprechen. Er wechselte das Thema. „Hast du eine Decke in deiner Tasche?“ Sting runzelte nachdenklich die Stirn und schlurfte dann zu seinem Rucksack hinüber, um hineinzuspähen. Nach einem Moment zog er einen bunten Quilt daraus hervor. „Schau.“ „Wo möchtest du schlafen?“ Nicht nur, dass der Kleine bereit war, im Stehen zu schlafen, auf diese Weise musste Weißlogia sich nicht viel um ihn kümmern. Für einen Moment sah der Junge sich ratlos um, dann ließ er die Decke auf den Boden fallen und setzte sich darauf. „Erzählst du mir eine Geschichte?“ Vertrauensselig blickte er über den Kopf seines Stoffhundes zu dem Drachen auf und lächelte hoffnungsvoll. „Eine Geschichte?“ Etwas verschnupft starrte der Drache auf ihn hinunter. Konnte er nicht einfach schlafen? Eine Geschichte. Auch das noch! „Meine Mama erzählt mir jeden Abend eine Geschichte, damit ich besser einschlafen kann.“ „Wenn ich das tue, suchst du dir dann einen Platz und schläfst?“ Sting nickte heftig, ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Dann beeilte er sich, den Quilt auf den Boden auszubreiten, während Weißlogia fieberhaft versuchte, sich an eine Erzählung zu erinnern, die er interessant finden könnte. Er wählte schließlich ein altes Märchen und räusperte sich, während Sting sich in seine Decke einrollte. Unruhig herumrutschend blickte der Junge erwartungsvoll zu ihm auf, also begann er zu erzählen. Es war eine sehr alte Sage und darin kamen eine wilde, rothaarige Prinzessin mit einem Schwert und diverse phantastische Kreaturen vor, die längst ausgestorben waren. Währenddessen zappelte Sting herum, rollte sich hierhin und dahin, setzte sich auf, zerrte an seinem Quilt und legte Jaro unter seinen Kopf, nur um ihn einen Moment später wieder in die Arme zu nehmen. Schließlich hielt Weißlogia inne und fragte: „Stimmt etwas nicht?“ „Es ist so hart.“, jammerte Sting unglücklich und blickte betrübt auf den polierten, geglätteten Fels hinab, aus dem der Boden bestand. „Wie kannst du nur so schlafen?!“ Er klang ausgesprochen entrüstet. Weißlogia stutzte, dann musste er zustimmen. Für ein Kind war das nicht der geeignete Platz zum Schlafen. Für so einen kleinen Menschen zu sorgen war weitaus komplizierter, als er gedacht hatte. „Willst du dir einen anderen Platz suchen? Du kannst dich hier überall hinlegen.“ Mit der Pfote machte er eine Bewegung, die die gesamte Halle einschloss. Das kleine Gesicht leuchtete auf. „Überall?“ „Solange es hier im Saal ist.“, schränkte der Drache sofort ein, aber das schien Sting nicht zu stören. Er sprang auf, raffte seine Decke hoch und rannte die wenigen Schritte auf ihn zu, um neben ihm stehen zu bleiben. Dann zerrte er erst seine Stiefel von den Füßen und zog dann auch noch die Hose aus, die er zu seinem Rucksack warf. Dann begann er, an Weißlogia hochzuklettern. „Und was soll das werden?“, fragte der Drache irritiert und rief sich in Erinnerung, dass er es hier mit einem Kind zu tun hatte. Ein Kind, das absolut keine Scheu vor ihm hatte. Dennoch konnte er den Unwillen nicht unterdrücken, der in ihm aufwallte. Er unterdrückte das Gefühl – es war immerhin nur eine Nacht! Morgen würde er einen Platz finden, wo er bleiben konnte. Er wandte den Kopf und sah pikiert zu, wie Sting seinen Rücken erreichte und es sich dort bequem machte. Mit beiden Händen fuhr der Junge durch den dichten, weißen Pelz. „Dein Fell ist so weich.“, erklärte er, als wäre es das offensichtlichste auf der Welt, und strahlte. Weißlogia wollte ihn schon darauf hinweisen, dass es trotzdem nicht sehr höflich war, es sich auf dem Rücken von anderen Leuten bequem zu machen, als er sich bereits zwischen den mächtigen Schwingen zusammenrollte und den Quilt über sich drapierte. Dann nahm er Jaro in die Arme und blickte den Drachen auffordernd an. „Und was hat Prinzessin Titania dann gemacht?“ Weißlogia öffnete den Mund um zu protestieren, aber dann schloss er ihn wieder. Der Junge hatte recht. Hier in der Halle gab es keinen anderen Platz, der weich genug für ihn war. Aber es war ja nur für eine Nacht, tröstete er sich erneut selbst und schüttelte nachsichtig den Kopf. Dann setzte seine Geschichte fort. Allerdings dauere es nicht sehr lange und Sting war eingeschlafen. Mit einem schweren Seufzen blickte er auf seinen Gast hinab, der dort mit einem kleinen Lächeln lag, struppige blonde Haare in der Stirn und ein Stoffhund im Arm. Damit musste er heute wohl leben. Vorsichtig um sich selbst herumgreifend packte er mit den Spitzen zweier Krallen die Decke und zog sie bis zum Hals hoch, damit der Junge nicht fror. Dann wandte er sich ab und sah sich in der leeren Halle um, ehe er das Lacrima verdunkelte, dass es nur noch ein sehr mattes Licht von sich gab. Nun denn… Weißlogia warf einen sehnsüchtigen Blick zu dem Pferdekadaver hinüber und seufzte schwer, während er den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Darauf musste er heute wohl verzichten, wenn er seine wertvolle Fracht nicht stören wollte. Zum Glück war es kühl genug hier drin. ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Ein Schlag auf die Stirn ließ Weißlogia heftig aus dem Schlaf auffahren und er riss den Kopf abrupt hoch. Ein spitzer Schrei ertönte, dann landete etwas neben ihm in den Münzen, die klirrend zu allen Seiten sprangen. Eine kleine Lawine aus Gold und Silber rutschte zu Boden, gemeinsam mit etwas Größerem. Oder besser mit jemandem, wie ein kurzer Blick auf den Störfaktor zeigte, denn Sting lag kopfüber zwischen Gold und Silber und fiel mit einem leisen Ächzen um. Etwas entfernt lang Jaro der Stoffhund und grinste ihn an. Weißlogia blinzelte und brauchte einen Moment um sich daran zu erinnern, warum ein kleiner Junge von seinem Rücken gefallen war. „Guten Morgen.“, murrte er, daran gewöhnt, von allein aufzuwachen und nicht, weil freche Kinder auf seinen Kopf fielen. Sting rappelte sich auf und riss strahlend die Arme hoch. „Guten Morgen!“, brüllte er gutgelaunt. „Ich habe Hunger!“ Der Drache starrte ihn nur einen Moment lang an, dann pflückte er die Decke von seinem Rücken und ließ sie auf den Jungen fallen, was einen empörten Schrei zur Folge hatte. Die einzige Nahrung, die er im Moment hier hatte, war das tote Pferd, und das schien ihm nicht ganz das richtige für ein Kind zu sein. Zumal Weißlogia mit Feuer nicht viel anfangen konnte – rohes Fleisch bekam Menschen nicht. Aber was konnte er seinem Gast sonst vorsetzen? „Zieh dich erstmal wieder richtig an.“, schlug er vor, um etwas Zeit zu schinden, während Sting sich aus seinem Quilt befreite. Es gab andere Sachen, die ein Mensch ungekocht essen konnte; Pilze, Beeren, Obst… Einige von den Dingen mussten in der Wildnis der Ruinenstadt zu finden sein. Einst hatte Shiwyn Ehana große Nutzgärten besessen, davon musste doch noch etwas übrig sein. Er warf einen Blick zu Sting, der jetzt mit seinen Hosenbeinen kämpfte und zwischendurch innehielt, um seinen Bauch zu reiben, in dem es leise grummelte. Kein Wunder, dass der Junge Hunger hatte, wer wusste, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Vielleicht am letzten Tag zu Mittag? Abends war das Thema jedenfalls nicht aufgekommen, aber jetzt gab es kein Drumherum mehr. Nachdem Sting seinen Gürtel umständlich festgezogen hatte, kämpfte er eine Weile mit seinen Stiefeln, bis er schlichtweg die Geduld verlor und sie davonschleuderte. „Die sind doof.“, erklärte er und starrte den Drachen herausfordernd an, als erwartete er auf Widerstand zu stoßen. Doch Weißlogia zuckte nur mit den Schultern. „Für jetzt kannst du sie hierlassen. Komm.“ Er erhob sich und stieg in einer fließenden Bewegung über das Kind hinweg. „Wir werden sehen, was wir für dich finden.“ „Gibt es Haferbrei? Mit Honig?“, wollte Sting mit leuchtenden Augen wissen. „Oder … Oder Brot! Mit echter Butter!“ Für einen Moment überlegte Weißlogia müßig, wo diese Ideen herkamen, aber vielleicht setzte der Junge den Reichtum, den er hier sah, mit der Möglichkeit gleich, sich solche Dinge zum Frühstück zu genehmigen, denn er klang ziemlich begeistert von den Ideen. „Damit kann ich dir leider nicht dienen.“, antwortete er bedauernd und das Kind zog enttäuscht ein langes Gesicht. „Komm.“, wiederholte der Drache und machte eine Kopfbewegung in die Richtung des Ausgangs. „Wir haben heute noch einiges vor.“ Dass diese Vorhaben darin bestanden, den Jungen in dem der Wildmenschendörfer abzusetzen, erläuterte er nicht. Nach kurzem Zögern stellte Sting seinen Hund neben den Rucksack und erklärte ihm: „Pass gut auf meine Sachen auf, Jaro. Wir sind bald wieder da und ich bring dir was zu Essen mit.“ Dann rannte er hinter seinem Gastgeber her, der sich langsam auf den Weg zur Pforte machte. Doch schon nach drei Schritten bemerkte der Drache, dass es trotzdem unmöglich war, dass Sting mit ihm mithalten würde, egal, wie sehr er sich anstrengte. Dafür waren seine Beine einfach zu kurz. Also pflückte er das Kind vom Boden auf und setzte es auf seinen Rücken. Auf ein paar Augenblicke mehr, die er Reitpferd spielte, kam es jetzt auch nicht mehr an, dachte er resigniert. Im Vorbeigehen nahm er den Pferdekadaver mit, so dass er selbst auch endlich etwas zu essen bekam. Vor den Palastmauern, die seitlich von der hellen Morgensonne angeleuchtet wurden, ließ er den schlafen Körper wieder fallen und streckte sich erstmal ausgiebig, während er sich umsah. „Dann wollen wir doch mal sehen, was wir für dich finden.“, erklärte er dann dem Jungen, der ein langes Gesicht zog und motzte, dass er jetzt Hunger hatte. Weißlogia konnte nichts tun, als die Schultern zu heben – es war einfach nichts da, was er essen konnte. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg in die Stadt, diesmal zu Fuß, wobei der Drache vage die Richtung einschlug, in der er einen alten Garten vermutete. Währenddessen plapperte Sting die ganze Zeit vor sich hin. Dabei schien ihn es nicht sonderlich zu stören, das niemand ihm zuhörte. Es stellte sich gleichzeitig als schwieriger und leichter heraus, als Weißlogia gedacht hatte, genug zu Essen zu finden. Sein Wissen über Pflanzen war umfangreich und ihm war auch bekannt, welche davon für Menschen bekömmlich waren und welche roh verspeist werden konnten. Doch sie in dem Gewirr der Ruinen zu finden, stellte sich als zeitraubend heraus. Nachdem sie aber erst einmal die richtigen Stellen gefunden hatten, gab es Essbares im Überfluss. Sting versuchte, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, zumal sie Essen versprach, stöberte aber schon bald aus schlichter Neugierde im Unterholz herum und ging mehrmals beinahe verloren. Jedes Mal musste der bald entnervte Drache den Knirps wieder einfangen. Doch bald verlor er auch daran das Interesse und weigerte sich kurz darauf, den Drachen weiter zu Fuß zu folgen. Der beförderte ihn danach wieder auf seinen Rücken zurück, wo er glücklich die Happen verspeiste, die der Drache ihm reichte – rotwangige Äpfel, Beeren in verschiedenen Farben, Pilze, die in dunklen Ecken den Boden bedeckten, die fleischigen Früchte des Fevobaumes, vorgeknackte Crenanüsse, nahrhaft und faustgroß, und was Weißlogia sonst für ihn fand. Nachdem der ärgste Hunger gestillt war, sammelte er die Ausbeute in seinem Schoß, während er wie ein kleiner König zwischen den mächtigen weißen Schwingen saß. Dass er wieder und wieder mit den Händen durch das Fell fuhr, offensichtlich begeistert von der Textur desselben, half Weißlogias Würde ebenfalls nicht. Doch der Drache sagte nichts – sein Gast war nur ein kleines Kind. Er wusste es nicht besser. Das war es, an das er sich immer wieder erinnerte, und etwas, das sein Gemüt auch tatsächlich beruhigte. Als sie endlich zum Tor zurückkehrten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und selbst Weißlogia spürte das Kneifen des Hungers in seinem Magen. Als Drache war regelmäßige Nahrung für ihn nicht so wichtig wie für Menschen, zumal das nur eine Art der Ernährung für ihn war, und die andere abgedeckt war. Vorsichtig setzte er Sting und ihre Ausbeute auf einen kleinen Sockel, der Rest, was von einer zerborstenen Säule von übrig war. „Iss.“, wies er das Kind an, das zögerlich einige Schalenstücke aus dem süßen Fleisch der Crena herauspickte. „Nach dem Essen werden wir sehen, ob wir nicht einen Platz in einem der Dörfer für dich finden.“ Das brachte ihm Stings volle Aufmerksamkeit ein. Der Junge starrte ihn aus großen Augen an und legte den Kopf schief, was ihm das Aussehen eines traurigen Vogels verlieh. „Willst du mich nicht haben?“ Für einen Moment starrte der Drache schweigend auf ihn hinunter. Früher, als er jung und dumm gewesen war, hatte er mit vielen Menschen Kontakt gehabt und Zwiesprache gehalten. Doch nach allem, was geschehen war, wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben. Er hatte geschworen, sich von ihnen fern zu halten. Die zweite Wahrheit war, dass Weißlogia seine Zurückgezogenheit selbst gewählt hatte. Dekaden waren vergangen und er hatte sich daran gewöhnt, dass nur er selbst sich Gesellschaft leistete, nur vorwitzige Tiere ihn besuchten und niemand ihn störte. Gewiss, manchmal war es sehr still um ihn herum, eine Tatsache, die Stings Anwesenheit nur noch hervorhob. Doch alles in allem genoss er die Einsamkeit und die Ruhe, die sie mit sich brachte. Aber wie konnte er einem kleinen Jungen wie Sting dies verständlich machen? Ein Kind, das keine Ahnung hatte von der gewalttätigen Geschichte seines Volkes und dem Genozid, der diese in Gang gesetzt hatte? „Dies ist kein Ort für ein Kind.“, erklärte er schließlich bedächtig und auch das stimmte. Sting konnte innerhalb eines Augenblicks verloren gehen und wer wusste schon, welche Gefahren hier für ihn warteten? „Du hast gesehen, wie lange wir gebraucht haben, bis du genug zu essen hattest.“ „Aber jetzt wissen wir, wo alles ist!“, triumphierte Sting und hielt seine Crenanuss hoch. „Da ist noch mehr!“ „Und im Winter?“, wehrte der Drache ab. „Dann tragen die Bäume keine Früchte mehr und auch in meinem Hort wird es kalt.“ „Aber du bist ganz warm!“ „Ich kann nicht immer bei dir sein.“, tadelte Weißlogia. „Außerdem ist es besser, wenn du unter deinesgleichen bist. Wir sind, wer wir sind.“ „Oh…“ Niedergeschlagen senkte Sting den Blick auf die Nuss in seinen Händen und zog die Nase hoch. Weißlogia fühlte sich schuldig. Er hatte nicht vorgehabt, das Kind traurig zu machen. Er hatte gedacht, es wäre froh, wieder unter seine eigenen Leute zu kommen. In ihm erwachte der unsinnige Wunsch, es zu trösten, obwohl es dadurch nur noch anhänglicher werden würde. Etwas, dass er sicher nicht wollte. Darum wandte er sich ab und ging endlich zu dem toten Pferd hinüber, um seinen rumorenden Magen zu beruhigen. Dabei bemühte er sich krampfhaft, nicht zu seinem kleinen Gast hinüberzublicken. Das schlechte Gewissen nagte an ihm und er konnte die Mahlzeit nicht so recht genießen, auch wenn er sich immer wieder sagte, dass es besser so war. Er war nicht in die Lage, sich um einen kleinen Jungen zu kümmern und er hatte auch gar kein Interesse daran. Außerdem blieb die einfache Wahrheit, dass er ein Drache war und Sting ein Mensch. Und mit Menschen wollte er nichts mehr zu tun haben. Aber dennoch… Hinter ihm blieb es verdächtig still, doch da er auch keine Schritte hören konnte, fühlte er sich sicher genug um zu sagen, dass Sting noch nicht weggelaufen war, sondern noch immer auf dem Sockel saß. Als Weißlogia sich schließlich wieder umdrehte, erkannte er auch, warum es so ruhig geblieben war: das Kind hatte sich an Ort und Stelle zusammengerollt, den Kopf auf die Arme gelegt und war eingeschlafen. Für einen Moment blickte er es schweigend an. Sting sah sehr ruhig aus, wie er da lag, doch nicht sehr zufrieden. Statt des kleinen Lächelns, das er gestern getragen hatte, trug er ein Stirnrunzeln und seine Mundwinkel waren leicht nach unten gezogen. Seine Haare und Kleider wirkten in dem unerbittlichen Licht der Mittagssonne verschmutzt, und er hatte ein wieder paar Dreckflecken im Gesicht. Nein, dieses Kind gehörte nicht hierher. So war es besser für ihn. Für sie beide. Vorsichtig nahm er den Jungen mit den verbleibenden Vorräten auf und trug ihn behutsam zurück in den Hort, wo er ihn auf seinem Quilt ablegte. Das Essen schichtete er neben dem Rucksack auf, neben dem noch immer Jaro der Stoffhund lag. Vorsichtig, um das innig geliebte Spielzeug nicht zu zerstören, hob er es hoch und drückte es Sting in den Arm, der sich sofort daran schmiegte. Mit einem letzten Blick auf seinen Gast wandte er sich ab und verließ den alten Palast wieder. Es wurde Zeit, sich nach jemandem umzusehen, bei dem Sting gut aufgehoben war. ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Der Wind heulte laut um die Ruinen, als Weißlogia zurückkehrte. Selbst er hatte zu kämpfen gegen die mächtigen Böen, die abgerissenes Laub durch die Luft wirbelten. Es zog ein Sturm auf. Der Himmel war bereits verdunkelt von tiefhängenden Wolken und am Horizont ballten sich noch weitere zusammen, schwarz und schwer. Sein langer Flug über den Wald hatte viele Menschendörfer offenbart, mehr, als er gedacht hatte, doch keines schien ihm das richtige zu sein. Sie waren kleine Inseln inmitten der Wildnis, umgeben von Palisaden und Spießen wie die Stacheln eines Igels, wehrhaft und abweisend. Die Menschen hier waren so rau und hart und unnachgiebig wie das Land, dem sie jede kleine Notwendigkeit abringen mussten, ohne Herrscher, ohne Gesetz als das, das sie sich selbst schufen. Sie waren abweisend und unerbittlich und ihre eigene Familie, ihre eigene Sippe zählte über alles andere. Und zu ihnen sollte er Sting bringen? Wer würde ihm garantieren, dass man sich richtig um den kleinen Jungen kümmerte? Wer würde dafür sorgen, dass es ihm an nichts mangelte, dass er aufgenommen wurde? Aber war die Wahrscheinlichkeit, ein geeignetes Heim zu finden, höher, wenn er außerhalb der Wildländer danach suchte…? Vorerst jedoch hatte sich die Frage erübrigt. Der Orkan, so plötzlich aufgezogen, wie es nur ein Herbststurm tat, würde für ein paar Tage verhindern, dass sie sich aus dem geschützten Hort wagen konnten. Also würde er noch für diese Zeit Wirt für seinen winzigen Gast spielen und die leise Erleichterung, die er darüber verspürte, verwirrte ihn. Eigentlich wollte er das Kind so schnell wie möglich wieder loswerden. Die Luft hatte sich verändert, kurz nachdem er losgeflogen war, eine frühe, subtile Warnung von dem, was sie erwartete. Den Menschen war es nicht aufgefallen, aber er selbst hatte den Sturm gerochen, ehe er gekommen war. Also hatte er den Wind und den Horizont im Auge behalten und seine Pläne etwas geändert. Weißlogia war nicht stolz darauf, aber er hatte ein Kind durchzufüttern und nicht viel Nahrung dafür, also hatte er einige Vorräte und ein paar andere Dinge aus den Dörfern mitgenommen, die er jetzt in ein grobes Handtuch gewickelt bei sich trug. Er hatte einige Münzen aus seinem Hort zurückgelassen in der vagen Hoffnung, dass die Leute etwas damit anfangen konnten. Schwer kam er vor dem hohen Tor auf und keinen Moment zu früh. Eine Sturmböe donnerte mit solcher Stärke gegen ihn, dass sie beinahe seine Flügel wieder auseinanderriss. Er schüttelte sich und duckte sich durch den Eingang, doch hier war er nur minimal geschützter. Der Wind heulte durch die offenstehende Pforte, ein weiterer Grund, warum sich sein Lager in einer der inneren Hallen befand. Seine Beute sorgsam in der Pfote tragend steuerte er auf den Hort zu. Unter der Decke strahlte das Lacrima in einem sanften Licht und das Schreien des Windes klang nur gedämpft bis hier herüber. Doch kein aufgeregtes Kind stürzte sich ihm entgegen und der Quilt lag verlassen neben dem Rucksack, dessen Inhalt über den gesamten Boden darum herum verstreut lag. Sting jedoch war verschwunden. Weißlogia erstarrte abrupt und sein Herz machte einen Satz. Das Bündel fiel aus seinen plötzlich kraftlosen Händen. Mit einem einzigen Sprung brachte er den Rest des Weges hinter sich, doch auch das enthüllte keinen blonden Schopf und kein breites Grinsen. Wo war der Junge?! Und warum machte er sich solche Sorgen! „Sting?“, rief er fragend in die Halle, doch nur der heulende Wind antwortete ihm. „Sting!“ Seine von plötzlicher Panik durchzogene Stimme echote von den Wänden wieder und seine Gedanken überschlugen sich. Wo war der Junge? War er weggelaufen? Und wenn ja, wohin…? Wenn er bei diesem Wetter draußen war, würde er sterben. Aber nicht nur das… Weißlogia hatte alle Dämonen, die hier gehaust hatten, erschlagen oder vertrieben hatte, aber dennoch war die verlassene Stadt unglaublich gefährlich und für so ein kleines Kind, das sich nicht wehren konnte, das nicht einmal schnell rennen konnte und das seine Nase neugierig in allerlei Spalten steckte, war sie tödlich. Nicht nur, dass sie langsam zerfiel, der Erste Magierkrieg sowie Weißlogias eigener Eroberungskampf hatten auch tiefe Spuren der Zerstörung hinterlassen. Teilweise waren die tragenden Strukturen beschädigt oder sogar vollständig zertrümmert worden und die Gefahr, dass Bauten bei einer falschen Berührung zusammenstürzten, war hoch. Außerdem war Weißlogia trotz allem nicht der einzige Bewohner der alten Stadt. Wilde Tiere wagten immer wieder einen Vorstoß hier herein und einige davon würden ein so junges Kind wie Sting als Beute sehen. Es gab Bären hier, die sich für den Winterschlaf rüsteten, oder große Raubkatzen, für die Sting nur einen Happen für Zwischendurch darstellen würde. Was, wenn eines dieser Tiere über den Jungen hergefallen war? Was, wenn eines hier eingedrungen war, wenn eines sich herangepirscht hatte, gelockt durch die einfache, zarte Beute…? Nein, das war lächerlich, ermahnte er sich streng. Selbst das mutigste Tier würde sich nicht in die Höhle eines Drachen wagen, außerdem war hier zwar eine ziemliche Unordnung, aber kein Blut. Sting war von allein gegangen und er hatte sogar seinen Hund mitgenommen. Und warum geriet er so in Panik wegen eines einzelnen Menschen…? Jetzt war es an Weißlogia, ihn zu finden, ehe er sich in den Tiefen der Stadt in tödliche Gefahr begab. Der Drache blähte die Nüstern und sog tief die Luft ein, um die Spur des Jungen aufzunehmen. Sie führte schnurstracks zur Tür hinaus und dann scharf nach rechts in den hohen Flur, der sogar groß genug für ihn war. Zu seinem Glück blieb Sting in den geräumigen Gängen, die sogar dem großen Körper eines Drachen Platz genug boten. Rasch nahm Weißlogia die Verfolgung auf. Dabei hatte er kaum einen Blick übrig für die großartigen Zeugnisse der Kunst der Architekten, Steinmetze und Künstler, die Shiwyn Ehana seinerzeit errichtet hatten, sondern strebte rasch durch die weiten Flure. Wenn er sich dabei mehr beeilte als zu jeder anderen Gelegenheit, geradezu hastig, dann brauchte das niemand zu erfahren. Nur vor sich selbst konnte er es nicht rechtfertigen. Bald darauf konnte er Stings Stimme hören, die ihm in leisem Gemurmel entgegenkam, darunter das Plätschern von Wasser. Einige Augenblicke später kristallisierten sich erste Worte und dann Sätze aus dem undeutlichen Getuschel heraus und Weißlogia erkannte, dass er mit seinem Stofftier sprach. Es schien ihm gut zu gehen und der Drache atmete auf; wenigstens diese Sorge war ihm genommen. Einen Moment später erreichte er die Tür, die in eine hohe Halle führte. Die Hälfte der Decke war bereits eingebrochen und Geröll lag über dem Boden verteilt. Ein kleiner Bach aus klarem Wasser floss über die inzwischen glattgeschliffenen Steine herab und sammelte sich in einem Becken, das von einer herabgestürzten Säule geschaffen worden war. Sie war von oben herabgestürzt, hatte ein Loch in die hellen Fliesen gerissen und war von der Wucht des Aufpralls zur Seite geschleudert worden. Von dort suchte das Wasser sich einen Weg durch einen der langen Risse im Boden bis zu einem Loch, in dem es wieder verschwand. Sting hockte am Rande des Teichs und platschte mit der Hand darin herum. Jaro der Hund hockte neben ihm auf einem Stein und starrte mit Knopfaugen geradeaus. „…Fische fangen?“, sagte Sting gerade und blickte zu seinem Stofftier. „Hier sind keine drin.“ Der Anblick der kleinen Gestalt, wohlbehalten und guter Dinge, ließ einen Stein von Weißlogias Herzen fallen, den er vorher mit mäßigem Erfolg versucht hatte zu ignorieren. Er hatte sich Sorgen gemacht! Was hätte alles passieren können!? Und jetzt fand er den kleinen Racker hier, fröhlich und guter Dinge. Wenn er könnte, würde er ihn einfach packen und wieder mitnehmen, egal wie der Bengel protestierte. Nur – der Eingang war zu klein für ihn und der Teich zu weit weg, als dass er den Jungen einfach greifen konnte. „Sting.“, sagte er streng und seine tiefe Stimme rollte durch den zerstörten Saal. Der Junge sprang erschrocken in die Höhe, dann wirbelte er herum. „Du bist zurück!“ Freudestrahlend warf er die Arme hoch und stürmte auf den Drachen zu, um ihm um den Hals zu fallen, zumindest soweit ihm das möglich war. Seine kurzen Arme reichten nicht einmal, um seine Brust zu umspannen. „Wo warst du! Wir haben dich vermisst!“ Erschrocken blinzelnd fuhr Weißlogia zurück und hätte den Jungen dabei fast umgeworfen. Eine solche Begrüßung hatte er nicht erwartet! Und warum wurde sein Herz leichter dadurch? War es jetzt er, der dem Kind zugetan war? Das war nicht so geplant! „Wo warst du so lange und warum bist du einfach weggegangen?“ Mit vorwurfsvollen Augen starrte Sting zu ihm hoch. Doch daran, wie er die Augenbrauen zusammenzog und die Lippen aufeinanderpresste, konnte man sehen, dass er Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen. Der Drache räusperte sich verlegen. Er hätte daran denken sollen, dass sein Schützling Angst bekam, wenn er alleine aufwachte. „Ich habe einen Platz gesucht, an dem du bleiben kannst.“, erklärte er verspätet und beugte sich wieder zu dem Kind hinunter, das ein enttäuschtes Gesicht machte. „Ich will aber nicht weg.“, beklagte Sting sich kleinlaut und starrte auf seine noch immer nackten Füße. „Warum kann ich nicht bei dir bleiben?“ „Weil du ein kleiner Mensch bist. Außerdem ist es hier gefährlich. Du darfst nicht alleine durch die Stadt gehen. Hier gibt es wilde Tiere und manchmal fallen Steine herunter.“ Er deutete auf die Reste der Säule, die unweit von ihnen lagen. „Die machen dich platt.“ Damit knallte er die flache Hand auf den Boden und zermalmte dabei einige Kiesel, um deutlich zu machen, wie genau das aussehen würde. Doch Sting kicherte nur. „Wie eine Flunder?“ „Wie die platteste Flunder unter allen Flundern.“ Das schien Sting noch witziger zu finden, was der Drache mit seiner Demonstration nun wirklich nicht hatte erreichen wollen. Er drehte den Kopf, so dass er Sting besser ins Auge fassen konnte. „Darum darfst du nicht allein in die Stadt gehen!“, erklärte er nachdrücklich. Wenn der Junge sich nach allen Mühen unter seiner Aufsicht verletzte oder Schlimmeres… Das würde er sich nicht verzeihen. Auch Sting wurde wieder ernst und er verschränkte die Arme hinter dem Rücken. „Wir wollten dich nur suchen! Du warst einfach weg! Das war Jaros Idee.“ Verblüfft blickte Weißlogia auf ihn hinab. Auf was für Ideen so kleine Kinder kamen… „Das ist mir egal.“, erklärte er, nachdem er sich wieder gefangen hatte. „Du bist dafür verantwortlich, dass solche Ideen nicht einfach so ausgeführt werden.“ „In Ordnung…“, nuschelte Sting schuldbewusst und starrte auf seine nackten Füße. Doch noch etwas Anderes schien ihn zu bedrücken, also wartete Weißlogia schweigend ab, bis er den Mut fand. Flüsternd schob er schließlich nach. „Ich wollte nicht allein sein.“ Erneut eine Aussage, die den Drachen überraschte, der einen Moment zögerte. Dann berührte er das Kind sanft an der Schulter. „Ich passe auf dich auf und im Hort bist du sicher. Dort geht niemand hin ohne meine Erlaubnis hin.“ Er räusperte sich. „Und jetzt hol Jaro, damit wir dorthin zurückkehren können.“ Sofort rannte Sting zum Teich zurück, um sich den Hund zu schnappen, und ließ sich dann bereitwillig auf Weißlogias Rücken verfrachten. Er stützte die Hände in das weiche Fell um sich vorzubeugen, als der Drache sich wieder in Bewegung setzte. „Ich habe Hunger. Hast du was zum Essen mitgebracht?“ ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Ein leises Wimmern störte Weißlogias Schlaf, aber doch deutlich genug. Es war nicht der Wind, der noch um den Palast heulte. Nach einem kleinen Moment der Verwirrung richtete sich sein Blick sofort auf seinen Gast. Dieser lag, mit seinem Quilt zugedeckt, auf einem Nest aus Blättern, Kleidern und dem Tuch, in dem der Drache die Vorräte herbeigebracht hatte. Das kleine Bündel unter der bunten Decke zitterte und Weißlogia konnte den salzigen Geruch von Tränen riechen. Er hob überrascht den Kopf und schüttelte dann mit einer heftigen Bewegung den Schlaf ab. Warum weinte Sting? Tat ihm etwas weh? Über ihm wurde das Lacrima nach kurzer Anregung durch seine Magie heller, so dass er besser sehen konnte. Vorsicht den Hals reckend, um das Kind nicht zu erschrecken, fasste er es genauer ins Auge. Doch auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Gerade wollte er fragen, was das Problem war, als er bemerkte, dass Sting noch schlief. Unter seinen geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor und er hatte sich zu einem bebenden Ball zusammengerollt, den Stoffhund fest an sich gedrückt. Seine Augen bewegten sich heftig; er musste einen fürchterlichen Albtraum haben. Weißlogia fragte sich, wie oft Sting es noch schaffte, dass er sich einer Situation nicht gewachsen fühlte. Aber er konnte den Kleinen wohl kaum schlafen lassen, nicht in diesem Zustand. „Hey.“, flüsterte er leise, doch Sting bewegte sich nur leicht, also streckte er eine Klaue aus und stieß den Jungen vorsichtig an. „Sting, wach auf.“ Diesmal zuckte dieser zusammen und murmelte etwas, doch die Tränen ließen nicht nach. Es brach Weißlogia das Herz, ihn so zu sehen, also versuchte er es erneut, stärker diesmal. „Mein Kleiner, du hast einen Albtraum.“ Diesmal musste seine Stimme zu Sting hindurchgedrungen sein, denn der Knirps fuhr erschrocken auf, sich die Augen reibend. „Mama?“, wollte er wissen und seine Stimme war so hoffnungsvoll und voller Erwartung, dass Weißlogia einen Moment brauchte, um eine Antwort zu geben. „Deine Mutter ist nicht hier.“ Sting schaute ihn einen Moment stumm an, ehe er einen kurzen Blick auf die Umgebung warf. Dann brach er in Tränen aus. Erschrocken starrte der Drache ihn an. Was sollte er jetzt tun?! Die lauten Schluchzer erfüllten die Halle und unter jedem davon wurde Stings Körper erschüttert. Er presste Jaro an sich, als könnte er Halt an dem Stofftier finden, und presste sein Gesicht gegen den Hund. Trotzdem war ihm die Verzweiflung deutlich anzusehen und er wirkte sehr klein und sehr verlassen. „Sting, bitte nicht weinen.“, versuchte Weißlogia ihn zu trösten. „Du bist hier in Sicherheit.“ Natürlich wusste er, dass Stings Zustand und Kummer nichts damit zu tun hatten, aber all seine Macht verlieh ihm nicht die Fähigkeit die Mutter des Jungen ins Leben zurückzuholen. Was sollte er sonst sagen? Er versuchte, Sting mit Worten zu beruhigen, doch es wurde bald offensichtlich, dass das nichts bringen würde. Eine Pfote ausstreckend nahm er das Kind hoch, um ihm Kontakt zu geben, jemand, der da war, der ihm Trost spenden und helfen wollte. Er holte ihn näher zu sich und als Sting sich gegen seine Brust warf und das Gesicht in das weiße Fell presste, drückte er ihn vorsichtig an sich. Es gab nichts weiter, das er tun konnte, nichts, das er nicht sowieso schon tat. Er konnte nur abwarten und hoffen, dass es genug war, dass sein kleiner Freund sich irgendwann beruhigte. Doch in all seinem langen Leben, das wahrlich nicht friedlich gewesen war, hatte er sich noch sich so hilflos gefühlt und sich so sehr gewünscht, etwas tun zu können. Es tat ihm in der Seele weh, seinen jungen Schützling so zu sehen – traurig, verlassen und nicht verstehend. Es dauerte lange, ehe Sting sich endlich ausgeweint hatte. Schließlich wurden die Erschütterungen des Körpers, der sich so vertrauensvoll an ihn schmiegte, geringer, die Schluchzer leiser und nur hin und wieder erklang noch ein Schniefen. Dennoch ließ er nicht los, zog Trost und Ruhe aus der Nähe. Vorsichtig hob Weißlogia den Jungen hoch, so dass sie einander besser ansehen konnten. Stings Gesicht war vom Weinen rot und verquollen, verschmiert von Rotz und Tränen, so dass Weißlogia das alte Hemd benutzte, um ihn vorsichtig zu säubern. „Warum ist meine Mama weggegangen?“, jammerte Sting und neue Tränen schimmerten in seinen Augen. „Warum hat sie mich nicht mitgenommen?“ „Ich bin sicher, dass sie nicht weggehen wollte.“, antwortete der Drache leise. Er wusste, dass er jetzt gefährliches Gebiet betrat. Wie konnte er einem so jungen Kind den Tod erklären? Und nicht nur das, wie konnte er erklären, dass es Leute gab, die ihn absichtlich brachten? Aber lügen stand außer Frage – das hatte niemand verdient, nicht er, nicht Sting, nicht die tote Mutter. „Aber warum hat sie es dann getan?“ Das völlige Unverständnis in Stings Stimme war es, das Weißlogia zeigte, dass er nicht mit leeren Ausflüchten davonkommen würde – und auch nicht wollte. Vorsichtig setzte er Sting auf seinem Nest aus Stoff und Blättern ab und senkte den Kopf, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können. „Deine Mutter ist nicht mehr in dieser Welt. Sie hat die Grenze ins Totenreich überschritten und sie kann nie wieder zurückkommen. Es tut mir sehr leid, mein Kind, aber du wirst sie nicht wiedersehen und sie ist fort.“ „Aber warum?“ Sting hatte keine Ahnung, wie komplex die Antwort auf diese Frage tatsächlich war – eine Frage nach Moral, nach Menschlichkeit und Gnade, nach Brutalität, Grausamkeit und Willkür. Nach Gier und den Kämpfen der Menschen untereinander, nach Ungerechtigkeit und menschlicher Schwäche. Und danach, wie zerbrechlich ein Leben wirklich war. Aber das wollte Sting auch gar nicht wissen. Er wollte nur wissen, warum seine Mutter nicht mehr bei ihm war. „Weil die Welt sehr grausam sein kann.“, antwortete Weißlogia und seine Stimme klang schwer von der Wahrheit dahinter. In seinem langen Leben hatte er dies zu oft miterleben müssen und nicht zuletzt war dies ein Grund, warum er jetzt hier war, allein, unwillig, Menschen erneut in seine Nähe zu lassen, und fern seines eigenen Volkes, das so verstreut und zerstritten war. Sting senkte den Blick und drückte seinen Stoffhund enger an sich. Er schien die Worte gut zu überdenken und in seinem Kopf hin und her zu rollen. Weißlogia ließ ihm die Zeit, die er brauchte, und wartete geduldig ab, bis er zu einem Ergebnis gekommen war. „Es tut weh.“, erklärte er schließlich. „Es ist ganz leer.“ Der Drache legte den Kopf schief und musterte Sting aufmerksam. „Was denn?“ Leer? Sting zog unglücklich die Mundwinkel nach unten und deutete auf seine Brust. „Hier drin. Sie ist nicht da, aber ich will, dass sie wiederkommt.“ „Du vermisst sie.“, erklärte Weißlogia ihm, ohne wieder darauf einzugehen, dass die Frau schlichtweg weg war. Es gab keine Chance auf ein Wiedersehen und allein dieser Gedanke war grausam. Er hinterließ ein dumpfes Gefühl selbst bei dem Drachen. Sting schniefte erneut und wischte sich über die Augen, als neue Tränen kamen. „Was ist denn mit deinem Vater?“, wollte der Drache nach einem Moment wissen. Vielleicht lenkte das den Jungen einen Moment ab? Außerdem wollte er die Antwort auf diese Frage wissen – bei dem ganzen Gespräch war es immer nur um seine Mutter gegangen. Gab es noch einen Vater? Konnte er das Kind zu diesem zurückbringen, selbst wenn das einen Flug über fremdes Revier bedeuten sollte? Sting blickte zu ihm auf und seine Augen glänzten von nicht vergossenen Trägen, die jedoch nicht fielen. „Er war ein großer Held!“, erklärte er mit der Überzeugungskraft einer Person, die absolut an ihre Worte glaubte. „Mama sagt, er hat den Herrn gerettet und ist gefallen in der Schlacht von… von…“ Verwirrt runzelte er die Stirn, als ihm der Name nicht mehr einfiel, aber Weißlogia brauchte nicht mehr zu wissen. Es interessierte ihn auch nicht, welcher Krieg es genau gewesen war, der das Leben von Stings Vater gefordert hatte. Am Ende sahen sie alle gleich aus und es gab keinen Unterschied. Sie verwischten alle zusammen und selbst ihre Gründe änderten sich nicht. Die Geschichte, die hinter den Worten steckte, gesprochen von einem unschuldigen Kind, das sie offensichtlich noch weniger verstand als den Tod seiner Mutter, war uralt. Sie wiederholte sich ständig in immer neuen Varianten, doch letztendlich liefen sie immer darauf hinaus, dass Kinder ohne ihre Väter aufwuchsen, Frauen ihre Männer verloren und Blut die Erde tränkte, als hätte sie nicht schon längst genug davon gekostet. „Und darum darf Mama dem Fräulein dienen und wir wohnen im Schloss!“, verkündete Sting, als wäre das etwas Großartiges. Weißlogia nickte bedächtig. Er konnte sich jetzt zusammenreimen, wie Stings Leben bisher ausgesehen hatte – als der Sohn einer Dienstmagd und eines Soldaten war er schon immer Teil des Gefolges eines Adligen gewesen. Nachdem sein Vater in der Schlacht sein Leben gegeben hatte, um seinen Herrn zu schützen, hatte dieser dessen Frau einen Platz in der persönlichen Dienerschaft seiner Tochter verschafft. Diese Tochter musste das junge Fräulein sein, das der Drache auf der Straße gefunden hatte, geschändet und ermordet, erschlagen mit dem Rest ihres Gefolges. „Denkst du, du kannst jetzt wieder schlafen?“, wollte er ernsthaft von Sting wissen, der aus großen, kobaltblauen Augen zu ihm aufblickte. „Kann ich wieder bei dir schlafen?“ „Du schläfst do…“ Der Drache brach den Satz abrupt ab, als er den Sinn dahinter erkannte. Sting mochte seine Lagerstatt nur wenige Schritt entfernt von ihm haben, aber es ging nicht darum. Es ging um die körperliche Nähe, um den Trost, den er daraus ziehen konnte, und um das Wissen, dass er nicht alleine war. Diesmal fiel dem Drachen die Antwort leicht. „Natürlich.“ Das kleine, glückliche Lächeln, das über das Kindergesicht huschte, zeigte ihm, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Vorsichtig half er dem Jungen, auf seinen Rücken zu klettern, und reichte ihm den Quilt nach oben. Sting rollte sich wie in der letzten Nacht zwischen den mächtigen Schwingen ein, stopfte die Decke um seinen Körper fest und kuschelte den Hund unter sein Kinn. „Schlaf gut.“, flüsterte der Drache und legte seinerseits den Kopf auf seine Pfoten, um die Augen zu schließen. Über ihm verblasste das Lichtlacrima wieder, bis nur noch Dämmerlicht in der Halle herrschte. Es wurde still um sie herum, nur aus der Ferne drang das Heulen des Sturms zu ihnen herüber. „Weißlogia…“, erklang dann eine schläfrige Stimme von seinem Rücken und er hob wieder den Kopf, um den Jungen anzusehen. „Ja?“ Stings Augen glänzten selbst in dem Zwielicht und er kämpfte darum, sie offen zu halten. „Warum kann ich nicht bei dir bleiben?“ Er schnüffelte leise und schloss dann die Augen. Weißlogia schwieg, während er zusah, wie das Kind einschlief. Was konnte er darauf antworten? ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Der Sturm brauchte mehrere Tage, um wieder abzuklingen, Tage, die Weißlogia mit seinem Schützling in dem plötzlich nicht mehr stillen Palast verbrachte. Drei Tage lang, die Sting ihm Löcher in den Bauch fragte. Was ist dies, was ist jenes, erzählst du mir eine Geschichte, ich habe Hunger, warum machst du das, was haben die getan? Jede Antwort schien nur noch mehr Fragen aufzuwerfen und Weißlogias Achtung vor menschlichen Frauen stieg. Er war ein sehr geduldiger Drache, die langen Jahre seines Lebens hatten ihn Geduld gelehrt. Zudem erinnerte er sich noch gut daran, wie es war, wenig zu wissen und doch alles wissen zu wollen. Auch heute wusste er noch nicht genug, aber er hatte gelernt, dass er dies niemals tun würde. Doch Sting stellte ihn manchmal gehörig auf die Probe. Aber gleichzeitig war er erfreut und erstaunt über die Wissbegierde und Neugierde des Jungen und auch seine erstaunliche Intelligenz. Sting stellte niemals eine Frage doppelt und wenn er etwas nicht verstand, hakte er nach, oder er grub er weiter nach, wenn es in interessierte. Natürlich geschah dies alles durch die einzigartige Perspektive eines Kindes, die den Drachen manchmal ins Schleudern brachten. Sting hinterfragte simple Wahrheiten, die er einfach als gegeben hingenommen hatte und für die einen Moment brauchte, um sie zu erklären. Dabei kam er zu außergewöhnlichen Ergebnissen, die allerdings nicht falsch waren, nur … einmalig. Die einzige Frage, die wieder und wieder auftauchte, war „Wo ist meine Mama?“ in vielen verschiedenen Varianten. Und jedes Mal musste Weißlogia erneut erklären, dass seine Mutter nicht mehr zurückkommen würde. Zu Beginn weinte er jedes Mal, doch nach und nach ließen die Tränen nach und schließlich klang seine Stimme nur noch leise und hoffnungslos, als er die Frage stellte. Und irgendwann sagte er: „Mama kommt nicht zurück.“ Er hockte auf dem Boden, umgeben von Türmen aus Goldmünzen, mit denen er gespielt hatte. Jaro hockte neben ihm in einem silbernen Kelch, wie um alles zu überwachen. Die Worte, zu schwer für seine jungen Jahre, kamen aus dem Nichts. Weißlogia brummte und hob den Kopf von den Pfoten, wo er vor sich hingedöst hatte. Draußen heulte noch immer der Sturm, doch er wurde langsam schwächer und bald konnten sie wieder hinaus. Dann musste er sich wieder auf die Suche nach einem Zuhause für den Jungen machen. Warum war sein Herz so schwer bei dem Gedanken an die Trennung? Sting schaute über die Schulter zu ihm zurück. „Mama kommt nicht zurück.“, wiederholte er und seine Augen waren riesig und dunkel. Der Drache blickte ihn einen Moment nur schweigend an, ehe er den Kopf schüttelte. „Nein.“ Sting wandte sich wieder ab und schniefte leise, aber er sagte nichts weiter, auch nicht, als keine umfassendere Erklärung folgte. Nach einem Moment nickte er, dann stand er auf, nahm seinen Hund und kam zu Weißlogia hinüber, um sich vor ihn zu setzen und an ihn zu kuscheln. „Warum kann ich dann nicht bei dir bleiben?“ „Weil es hier zu gefährlich für dich ist.“, erklärte der Drache und hob automatisch eine Hand, um ihn vorsichtig an sich zu drücken. Es berührte ihn, dass Sting instinktiv Trost bei ihm suchte, und wühlte seine Gefühle auf, zog etwas Altes, lang Vergessenes aus den Tiefen seiner Seele empor. Etwas, das ihn mit Wärme erfüllte und den drängenden Wunsch, diesen kleinen Menschen, der ihm so viel Vertrauen entgegenbrachte, zu schützen und glücklich zu machen. Etwas, dass er trotz aller Vertrautheit nicht erkannte – so etwas hatte er noch nie zuvor gefühlt, nicht einmal in seinem langen Leben. „Aber ich will bei dir bleiben.“, nuschelte Sting in sein Fell. „Ich verspreche auch, nicht mehr wegzulaufen.“ Diese Aussage brachte den Drachen dazu, leise zu lachen. Egal, wie oft er den Jungen ermahnt hatte, dass der Palast und die Stadt gefährlich waren, er wanderte immer wieder davon. Er tat es nicht mit Absicht oder gar aus Trotz, aber immer wieder wurde er abgelenkt von etwas, das er als interessant einstufte, und überwältigt von seiner Neugierde, die ihn packte. Mehr als einmal war er schon diverse Gänge hinuntergelaufen, ehe sein Hüter gemerkt hatte, dass er verschwunden war. Schlimmer als ein Sack Flöhe und mit diesem Getier hatte Weißlogia so seine Erfahrungen gemacht. Zum Glück waren sie ebenso anfällig gegenüber Magie wie alle anderen auch. Ein oder zweimal hatte er mit dem Gedanken gespielt, das Kind anzubinden, aber bis jetzt war noch nichts Schlimmeres passiert, als das Sting sich die Knie und Hände aufgeschürft hatte, als er einen kleinen Absatz hinuntergefallen war. Das hatte ihn vorsichtiger gemacht, aber bei weitem nicht dafür gesorgt, dass er nicht mehr alleine auf Erkundungsreise ging. „Das würdest du doch sowieso nicht hinkriegen.“, erklärte Weißlogia ihm und hob ihn hoch. „Und kleine Kinder sollen neugierig sein, sonst lernen sie nichts.“ Sting grinste ihn an, als seien damit alle Probleme gelöst. Weißlogia wusste, dass er trotzdem gehen musste. Unter seinen eigenen Leuten war er einfach besser aufgehoben als bei einem einsamen, verbitterten Drachen, der keine Menschen in seiner Nähe wollte. „Mach nochmal die Leuchttiere!“, verlangte der Kleine stattdessen und Weißlogia seufzte. Seit er vor zwei Tagen auf die Idee gekommen war, dem Jungen diese Magie zu zeigen, fragte er immer wieder danach. Aber wenigstens hielt es ihn beschäftigt und für den Drachen selbst stellte es eine angenehme Abwechslung dar. Er setzte Sting vor sich auf den Boden und streckte eine Pfote mit umgedrehter Handfläche aus. Über ihm verdunkelte sich das Lacrima, so dass es nur einen schwachen Schein abgab. Sting rutschte aufgeregt herum und starrte gespannt in die Dunkelheit. Einen Moment später barsten Lichtgestalten aus der ausgestreckte Pfote hervor. Es waren Tiere, lebensgroß und golden leuchtend, deren sanfter Schein das Dämmerlicht um sie herum erhellte, umso stärker hervorstechend vor dem Dunkel. Es waren Rehe und Hasen, Füchse und Eichhörnchen, Wölfe und Säbelzahntiger, Hirsche und edle Pferde. Raben und Adler schwangen sich in die Lüfte, dazu Kraniche und der elegante Kondor. Zwischen ihnen allen sausten Finken und Spatzen dahin, kleine Gestalten, zu schnell, um sie zu sehen, bis sie irgendwo landeten, nur um wenige Augenblicke später wieder loszuflitzen. Es war ein staunenswertes Schauspiel, insbesondere für so einen kleinen Knirps, der noch nicht viele wahre Wunder des Lebens gesehen hatte. Weislogia hatte lange gebraucht, um diese feinsinnige Magie derartig zu perfektionieren, um mehr als nur ein Tier zu erschaffen und um sie beinahe lebensecht wirken zu lassen. Lange hielt es Sting nicht auf seinem Platz. Mit einem erfreuten Jauchzen sprang er auf und tanzte zwischen den Tieren herum, versuchte mal dieses zu fangen, mal jenes, während sie ihre Reigen zogen. Da sie alle nur Lichtgestalten waren, glitten sie durch seine Finger wie flüchtige Illusionen. Doch er ließ sich davon nicht entmutigen, für ihn war es die Jagd selbst, die Bedeutung hatte, und er stellte sich erstaunlich geschickt dabei an. Immer wieder fand er eine neue Beute, die er fangen wollte, ein anderes Tier, das ihn interessierte. Ein Vogel, der vor ihm durch die Luft flitzte, ein majestätisches Pferd, ein Wolf, der verspielt vor ihm herumsprang wie ein junger Hund… Als Weißlogia das Schauspiel schließlich einschränkte und die Tiere nach und nach verschwinden ließ, atmete Sting schwer, aber er strahlte über das ganze Gesicht. Er kam zu dem Drachen zurück und ließ sich vor ihm in die goldenen Münzen fallen. „Kann ich das auch lernen?“, wollte er begeistert wissen. „Ich will auch Tiere machen!“ „Das ist die Magie der Drachen.“, antwortete Weißlogia langsam, aber Sting ließ sich nicht davon beirren. Er setzte sich wieder auf und streckte die Arme aus. „Aber die Drachenlords können das! Mama sagt, sie sind wie die Kinder der Drachen von den Königen!“ Weißlogia drehte den Kopf und blickte ihn mit einem Auge fest an. Manchmal überraschte er mit Wissen über die Politik und Herrschaftsgefüge der menschlichen Reiche, die den Drachen erstaunten. Und manchmal waren sie mit seinen eigenen wilden Vorstellungen gemischt, wie auch jetzt. „Siehst du hier einen König?“, fragte er streng, um jegliche dumme Idee gleich im Keim zu ersticken. Sting runzelte die Stirn und blickte sich um, als ob er erwartete, dass sich plötzlich ein Monarch aus dem Schatz wühlen würde. Dann verzog er verwirrt das Gesicht; er sah aus, als wäre eine grundlegende Wahrheit der Welt plötzlich erschüttert worden, denn jeder Drache hatte einen König. Nur Weißlogia nicht. „Nein.“ Dann blinzelte er und blickte zu diesem auf. „Wie sieht denn ein König aus?“ Weißlogia verschluckte sich an seinem Lachen. „Das kann sehr unterschiedlich sein. Sie sind Menschen und viele von ihnen tragen Kronen.“ „Wie der Herr?“ „Hm-mh.“, machte der Drache unbestimmt. Viele Fürsten trugen herrschaftliche Stirnreifen, um ihren Stand zu verdeutlichen. Aber würde ein kleines Kind wie Sting tatsächlich den Unterschied verstehen? Vermutlich nicht und er würde das jetzt sicher nicht erklären! „Aber woran erkenne ich dann einen König?“, wollte Sting verwirrt wissen. „Du wirst es wissen, wenn du einem begegnest.“ „Oh…“ Sting blickte wieder nachdenklich auf den Boden. „Wann werde ich einem begegnen?“ „Wenn du Glück hast, dann nie.“, grollte Weißlogia, der zu viele schlechte Erfahrungen mit Königen gemacht hatte. „Oh…“ Sting kratzte sich am Kopf. „Aber dann weiß ich ja gar nicht, wie sie aussehen.“ „Das ist auch nicht wichtig.“, versicherte der Drache ihm wegwerfend und Sting nickte, die Aussage einfach so akzeptierend. Erneut verfiel er in nachdenkliches Schweigen. „Weißlogia…“, begann er dann wieder. Seine Stimme war erst ruhig und bedächtig, aber seine Idee begeisterte ihn und er wurde rasch schneller und begeisterter. „Wenn du mir zeigst, wie ich Leuchttiere machen kann, dann bin ich dein Kind! Und dann kann ich hier bei dir bleiben!“ Der Drache ließ geschlagen den Kopf auf sein Bett fallen, dass die Münzen zur Seite sprangen. Wieso hatte die Mutter des Jungen ihm in den Kopf gesetzt, dass die Drachenlords und -ladys die Kinder ihrer Drachen waren? Noch nie hatte er diese Bezeichnung für diese wichtigen Krieger gehört, die die Magie der Drachen lernten und ihren Königen als Erste Ritter oder Erste Damen dienten, als Kämpfer, Ratgeber, Magier und wenn es sein musste auch Richter. Sie waren Fürsten und Krieger und Gelehrte. Aber sie waren keine Kinder. Weißlogia blickte auf den Jungen hinunter, der mit strahlenden, hoffnungsvollen Augen zu ihm hinüberblickte und dessen Lächeln langsam aus seinem Gesicht verschwand. Seine Hände sanken wieder an seine Seiten zurück und seine ganze Haltung sackte in sich zusammen. „Nein…?“, fragte er enttäuscht und die Niedergeschlagenheit in seiner Stimme war schwer mitanzuhören. „Wir werden sehen.“, antwortete Weißlogia darum unbestimmt und wünschte sich auf einmal, er könnte es einfach tun. Aber dann erinnerte er sich an seinen Schwur und den Grund, warum er ihn geleistet hatte, und unterdrückte den Gedanken wieder. Bald würde der Sturm nachlassen. ~~*~~☽⚪☾~~*~~ Durch die schmale Gruppe von Bäumen, die das kleine Feld von dem Dorf trennte, hatten der Drache und der Junge einen guten Blick auf die hölzernen Palisaden und das offenstehende Tor. Links und rechts davon erhoben sich sorgfältig errichtete Wachtürme und unter einem der Dächer, die über die Baumwipfel herausragten, hing sogar eine bronzene Glocke. Festgestampfte Wege führten um die Palisaden herum und zu den Bäumen, die auf hundert Meter vom Dorf entfernt gehalten wurden, um eine freie Fläche darum herum zu schaffen, über die man ungehindert blicken konnte. Auf den Wiesen, die dadurch entstanden waren, weideten eine Gruppe Ziegen, Schweine und sogar ein paar Ponys. Menschen tummelten sich dazwischen, gut genährt und fröhlich, ein lebendiges Treiben, das zeigte, wie gut es dieser Ansiedlung ging. Wachposten standen auf den Türmen und vor dem Tor, das die einzige Lücke in der Palisade darstellte. Kinder spielten mit einem Ball und ein paar Hunden, die dazwischen herumwuselten. Andere Erwachsene gingen ihren täglichen Pflichten nach. Es herrschte geschäftiges Treiben. Weißlogia hatte keine Illusionen darüber, dass das Leben dort tatsächlich so einfach war, wie es im ersten Moment erschien. Er wusste, dass jeden Augenblick eine tödliche Gefahr aus dem Wald brechen konnte und dass diese Menschen von einer Sekunde auf die andere zu gefährlichen Kämpfern werden konnten. Aber sie würden genug entbehren können, um ein weiteres Kind durchzufüttern. Das war es, auf das es ihm ankam, danach hatte er gesucht. Bei ihnen konnte Sting einen Platz finden und leben. Dort war er gut aufgehoben. Weißlogia würde hierbleiben und darüber wachen, dass sie Sting auch annahmen, wenn er aus dem Wald stolperte, und dann würde er zurück nach Shiwyn Ehana fliegen, das er jetzt wieder für sich allein haben würde. Sein Hort würde wieder still und friedlich sein, niemand, der ihm Löcher in den Bauch fragte oder Leuchttiere verlangte oder davonlief und sich in Gefahr brachte und seinem Hüter beinahe einen Herzinfarkt bescherte. Niemand, der sich vertrauensvoll an ihn kuschelte und Trost bei ihm suchte, Geschichten hören wollte und… Er brach den Gedanken abrupt ab und blickte auf den kleinen Störenfried herunter, der seinen Lebensrhythmus gestört hatte. Sting stand ein paar Schritte vor ihm, die Schultern hochgezogen und den Kopf leicht nach vorne geneigt. Seine Haare waren das einzige, das sich an ihm bewegte, wenn der kühle Herbstwind leicht hindurchfuhr. Er trug den Rucksack auf dem Rücken, der jetzt viel zu groß für ihn wirkte. Einzig Jaro hielt er im Arm, fest an sich gedrückt, als ob er etwas bräuchte, an dem er sich festhalten konnte. Ansonsten stand er still wie eine Statue und starrte zu dem Dorf hinüber. Weißlogia seufzte und gab ihm einen leichten Stoß, der ihn jedoch nicht vom Fleck bewegen konnte. Er wankte nur ein bisschen. „Nun geh schon. Sie werden dir ein Heim bieten können. Dort bist du sicher.“ Sting zog geräuschvoll die Nase hoch und presste das Gesicht gegen den Stoffhund. Seine Hände zitterten leicht und es war offensichtlich, dass er nicht gehen wollte. Aber er hatte keine Wahl. „Du wirst dort gut aufgehoben sein.“, versuchte der Drache es erneut. „Dort sind andere Kinder, mit denen du spielen kannst. Männer und Frauen, von denen du lernen kannst. Das sind deine Leute. Dort gehörst du hin.“ Ein Schniefen war die Antwort und Sting blinzelte zu ihm hoch, die Augen hell glänzend von Tränen. „Aber warum kann ich nicht bei dir bleiben?!“, platzte es aus ihm heraus. „Ich will nicht dahin! Ich will bei dir bleiben!“ Er warf sich gegen Weißlogias Brust und klammerte sich in das weiße Fell. „Bitte! Ich will nicht weggehen!“ Automatisch legte der Drache ihm tröstend eine Klaue auf den Rücken. Wie konnte es sein, dass der Junge sich schon so sehr an ihn gewöhnt hatte? Wie konnte es sein, dass er nach den paar Tagen, die sie gemeinsam verbracht hatten, schon so anhänglich geworden war? Wie war es überhaupt gekommen, dass Sting sich von Anfang an so wohl bei ihm gefühlt hatte? Weißlogia dachte an die erste Begegnung zurück, an die selbstverständliche Art, mit der Sting ihn behandelt hatte, als hätte er erwartet, dass er auftauchte. Als wäre es ganz normal, dass ein Drache vom Himmel heruntersank und sich um ihn kümmerte. Andere Leute wären in Panik ausgebrochen, aber der Junge hatte lediglich gefragt, warum seine Mutter nicht mehr erwachte. Aber es war nicht nur Sting, dem dieser Abschied schwerfiel. Dieses Gefühl der Vertrautheit, der Zusammengehörigkeit… Der Wunsch, zusammenzubleiben und sich nicht zu trennen. Beruhte das nicht auf Gegenseitigkeit…? Weißlogia verbot sich den Gedanken und zog Sting vorsichtig von sich weg, um ihn wieder auf die Wiese zu stellen, knapp hinter der magischen Barriere, die das Licht um sie herumlenkte und so für jemanden außerhalb unsichtbar machte. Er wollte keine Panik unter den Dorfleuten auslösen, das würde Sting nicht helfen. „Du musst jetzt gehen.“, erklärte er leise und seine Stimme klang rau und belegt. „Aber…“, begann Sting und biss sich auf die Lippen, als der Drache ihn streng anblickte. Trotzdem sprach er nach einem Moment trotzig weiter: „Ich kenne die nicht!“ Er machte eine heftige Handbewegung in Richtung des Dorfes hinüber. „Ich will die nicht kennen!“ „Das wird sich bald legen.“, antwortete Weißlogia ihm vernünftig. „Außerdem kennst du mich auch nicht.“ „Natürlich kenne ich dich!“, protestierte der Junge beleidigt und machte Anstalten, sich wieder nach vorne zu werfen. Der Drache fing ihn auf, also umarmte er nur seine Pfote, aber das schien ihn nicht zu stören. „Du bist mein Weißlogia!“ Starrköpfig klammerte er sich fest, als würde das die Meinung des Drachen ändern. „Und ich will nicht weg, nein, nein, nein!“ Er schluchzte auf, verzweifelt und verbittert, und Weißlogia konnte das Salz seiner Tränen riechen. „Bittebitte. Schick mich nicht weg.“ Der Drache seufzte. „Siehst du nicht, dass das besser ist für dich?“, wollte er wissen und löste die Umklammerung des Jungen sanft. „Unter deinesgleichen bist du besser aufgehoben als bei einem alten, verbitterten Drachen.“ Er stellte den Jungen wieder vor die Barriere und drehte ihn um, um ihn wieder in die Richtung des Dorfes zu deuten. Sting ließ die Schultern und Arme hängen und bot ein Bild der Freudlosigkeit. Vorsichtig hob Weißlogia den Stoffhund auf, der bei all dem ins Gras gefallen war, und drückte ihn dem Jungen in die Arme, der eine Weile brauchte, um die fürsorgliche Geste anzunehmen. „Pass gut darauf auf. Und jetzt geh.“ Weißlogia setzte sich hoch auf, um streng auf sein Menschenkind hinunterzusehen. Er musste sich zusammenreißen, um seine Schwäche nicht zu zeigen und dem Jungen noch mehr Anlass zu Protesten zu geben. Es war besser so, beharrte er starrköpfig. Was wollte er mit einem Kind? Das rührte sich erst nicht, aber es machte auch keine Anstalten, weiter zu protestieren. Stattdessen stand es einfach nur da, bedrückt und traurig, und Weißlogia verspürte das irrationale Bedürfnis, ihn zu nehmen und davonzufliegen und zu behalten. Aber was hatte ausgerechnet er dem Jungen zu bieten? Sting warf ihm einen letzten, flehenden Blick über die Schulter zu, offensichtlich nur einen Moment davon entfernt, in Tränen auszubrechen. Seine Unterlippe zitterte, aber er zog nur die Nase hoch, einen trotzigen Ausdruck im Gesicht. Offensichtlich wollte er nicht in Tränen ausbrechen. Als der Drache sich nicht rührte, wandte er sich ab und stolperte langsam voran. Er bewegte sich, als würde er nicht erkennen, wohin er trat, und das Zittern seiner Schultern zeigte, dass er den Kampf gegen die Tränen erneut verloren hatte. Das Widerstreben war in jedem Schritt zu erkennen. Der Drache starrte ihm hinterher, die winzige Gestalt, die hoffnungslose Haltung und der Geruch der Tränen… Sting war noch so jung und er hatte schon so viel durchgemacht in seinem jungen Leben und jetzt bürdete Weißlogia ihm noch mehr auf. Den Kleinen gehen zu sehen war das Schwerste, was er jemals getan hatte, und sein Entschluss wankte. Was hielt ihn auf? Warum änderte er nicht seinen Entschluss…? Es waren nicht Menschen, die er in sein Leben ließ, es war nur Sting… Er war sein eigener Herr und alte Schwüre waren ohne Bedeutung. Er würde auf diesen Jungen achtgeben und ihn aufziehen wie einen Sohn. Er würde ihn Magie lehren und lesen, die Geschichte ihrer beider Völker und jener, die vorher gekommen waren, und alles andere, was er wusste. Sie würden gemeinsam essen und Sting konnte in dem weichen Fell auf seinem Rücken schlafen, zwischen den Schwingen, wann immer er wollte. Zusammen konnten sie den Palast und die Stadt erkunden, selbst die Orte, die Weißlogia aufgrund seiner Größe nicht betreten konnte. Sie würden gemeinsam ein Leben aufbauen. Sie konnten gemeinsam ein Leben aufbauen. Irgendwie würde es gelingen und Weißlogia war zu alt für solche impulsiven Entscheidungen, verdammt noch mal! Trotzdem löste er sich aus seiner hochaufgerichtete Haltung und griff zu, nahm den Jungen auf und zog ihn wieder zurück, um den größten Fehler zu verhindern, den er in seinem Leben begehen konnte. „Nein.“, sagte er und seine Stimme schwankte für einen Moment, ehe er sich wieder unter Kontrolle bekam. „Verzeih mir. Du kannst bei mir bleiben, wenn du willst.“ Sting starrte ihn einen Moment stumm an und er hatte für einen flüchtigen Atemzug die Befürchtung, dass dieser wunderbare kleine Mensch sich jetzt doch abwenden würde, ihm den Rücken zukehren und gehen würde. Für einen Augenblick wurde sein Herz schwer. Doch dann jauchzte der Junge vor Freude und warf sich ihm entgegen, um ihn zu umarmen und Weißlogia lächelte und ließ das erste Mal richtig zu, diese liebevolle Geste zu genießen. Von Anfang an hatte Sting ihm nichts als Zuneigung entgegengebracht, aber er war zu stur gewesen, sie zu akzeptieren. Jetzt nicht mehr. „Darf ich wirklich?! Wirklich in echt?!“ Stings Stimme war so voller Hoffnung, dass Weißlogias Lächeln unwillkürlich breiter wurde. „Natürlich.“, erklärte er ernsthaft und blickte dem Jungen fest in die Augen. Sting stieß erneut einen Freudenschrei aus, warf seine Arme um Weißlogias Schnauze und presste einen Kuss darauf. „Und können wir für immer zusammenbleiben, wie eine Familie?“ Unwillkürlich veränderte sich das Lächeln auf Weißlogias Gesicht, wurde sanft und zärtlich und liebevoll, beinahe ungewollt. „Natürlich.“, wiederholte er, auch wenn seine Stimme gedämpft klang, weil er den Mund nicht richtig öffnen konnte. Vorsichtig löste er den euphorischen Jungen von seinem Gesicht und hielt ihn in den Händen. Stings glückliche Miene ließ keinen Zweifel in ihm, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wie hatte er jemals etwas anderes denken können? „Lass uns nach Shiwyn Ehana zurückkehren.“, schlug er vor und Sting ließ sich bereitwillig auf seinen Rücken setzen. Wie gewohnt griff er in das dichte, weiße Fell, um sich festzuhalten, während der Drache die Flügel ausbreitete. Dann stieß Weißlogia sich vom Boden ab und die Wipfel der Bäume bogen sich unter dem Wind, den die mächtigen Schwingen erzeugten, als er mit seinem kleinen Menschenkind nach Hause flog. [Februar | Unwetter] Nighttime Dialogue --------------------------------------- Der Regen prasselte so laut gegen die Fensterscheiben, dass er selbst das Radio übertönte, das hinter der Bar leise vor sich hin dudelte. Darunter war gut das Heulen des Sturms zu hören, der um die Häuser pfiff, an den Bäumen riss und immer wieder schwere Gegenstände durch die Straßen schleuderte. Das laute Krachen, das letzteres stets begleitete, ließ Juvia jedes Mal zusammenzuckten. Ansonsten war es still und wann immer sie einen Blick aus den Fenstern warf, offenbarten sich ihr nur menschenleere Straßen. Doch das war kein Wunder bei dem Wetter und der Uhrzeit. Wer jetzt freiwillig noch vor die Tür trat, war verrückt oder verzweifelt. Sie zog fröstelnd die Schultern hoch und war froh, nicht mehr hinaus zu müssen. Es hatte doch etwas für sich, direkt über dem Arbeitsplatz zu wohnen, und sie dankte ihrer Chefin im Stillen dafür. Nach einem letzten, prüfenden Rundumblick durch den edel-gemütlichen Barraum mit seinen Holzvertäfelungen, den eingerahmten, alten Showpostern an den Wänden und der zusammengewürfelten Ansammlung an Möbeln kippte sie ihr Putzwasser in den Abfluss und wischte kurz das Becken sauber. Zufrieden sah sie sich in dem hell beleuchteten Raum um; alles war aufgeräumt und ordentlich, die wenigen Spuren des Abends beseitigt. Auf einer kleinen Bühne im hinteren Teil standen einige Instrumente; eine freie Fläche davor war für Tanzende vorbehalten worden und direkt daneben führte eine unauffällige Tür, halb verborgen hinter den schweren Samtvorhängen, in die Hinterzimmer. Die hohe Bar bestand aus edlem, rötlichem Holz und an der Backsteinmauer hinter Juvia hingen schmiedeeiserne Regale, in denen Seite an Seite eine ganze Armada von Flaschen stand. Auf den ersten Blick wirkte die Bar düster, vor allem, wenn das Licht stimmungsvoll gedimmt war, und ein bisschen eng. Trotzdem war sie einladend und gefällig, sie hatte ihre eigene einnehmende, ja verführerische Atmosphäre. Juvia fühlte sich immer ein wenig an das Film Noir-Genre erinnert, was ihr romantisch und aufregend vorkam, auch wenn sie nur die Barkeeperin war. Ein letztes Mal wischte sie über die bereits blitzblanke Oberfläche des Tresens, ehe sie den Lappen in die Spüle warf und den Eimer darunter in den Schrank räumte. Ein Blick auf die große, mechanische Uhr hinter der Bühne, deren Mechanik freilag, zeigte, dass es bereits kurz nach vier war. Zeit, endlich Schluss zu machen. Tatsächlich war die Bar regulär schon seit zwei Stunden geschlossen und heute hatte sie sogar noch früher dicht gemacht. Nachdem am Abend sowieso tote Hose geherrscht hatte und nur eine Handvoll Gäste hereingetröpfelt war, hatte Juvia erst ihre Helfer und dann die Musiker schon lange vor der offiziell letzten Runde nach Hause geschickt. Sie hatte lange genug Erfahrung im Geschäft um zu wissen, dass der weitere Andrang nicht groß sein würde – tatsächlich war danach nur noch eine einsame Gestalt hereingewandert, aber wieder verschwunden. Bei diesem Wetter zogen selbst die feierlustigsten Leute es vor, Zuhause zu blieben. Vielleicht mochte in den großen Clubs in der Innenstadt mehr Betrieb herrschen, selbst jetzt noch, aber das Alegria Soul war eher ein Geheimtipp. Sie konnten sich nicht über zu wenig Kundschaft beklagen, an nicht wenigen Abenden war teilweise sogar jeder Platz besetzt, doch sie waren keiner der Schuppen, die gerade absolut in waren. Nachdem sie das Radio ausgeschaltet hatte, ging Juvia zum Klavier hinüber, dessen Klappe noch offenstand. Vorhin hatte sie damit eine Weile den stetigen Regen aus ihren Gedanken verdrängt und als sie jetzt mit einem feinen Lächeln erneut ein paar Tasten anschlug, war es ihr beinahe, als würde sie im Rhythmus mit den Tropfen spielen, die gegen die Scheibe schlugen. Erneut ließ sie sich auf den Hocker hinter dem Flügel gleiten, ein altes, aber wunderschönes Piano, das hervorragend in Schuss gehalten wurde. Eine Weile ließ sie selbstvergessen die Finger über die Tasten gleiten, bis plötzliche Helligkeit und rollender Donner sie zusammenzucken ließ. Die Lampen über ihr knisterten und flackerten nervös und Juvia starrte mit aufgerissenem Mund nach oben. Der Regen entwickelte sich zu einem richtigen Gewitter. Auch das noch! Hastig sprang sie auf und schloss die Klappe des Pianos, ehe sie einen besorgten Blick aus dem Fenster warf. Sie konnte kaum die Tropfen sehen, die gegen die Scheibe trommelten, geschweige denn irgendetwas in der Schwärze dahinter. Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen, plötzlich war ihr unwohl zumute. Sie wusste, dass es nur ihre Einbildung war, aber davon hatte sie seit jeher genug gehabt. Trotzdem war es Zeit, sich jetzt zurückzuziehen. Oben in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung würde die Welt anders aussehen. Rasch trat sie zu den Schaltern, die neben der unauffälligen Tür in die Wand eingelassen waren, um alle Lichter zu löschen bis auf die gläsernen Lampen, die über der Bar in einer Reihe hingen. Die würden ihr reichen, die letzten Handgriffe zu tun. Mit hastigen Schritten eilte Juvia noch einmal zur Eingangstür, um zu überprüfen, ob sie geschlossen war. Hinten raus hatte sie das bereits erledigt, als sie den Müll hinausgebracht hatte, und auch diese war bereits verschlossen, wie sie gleich darauf feststellte. Sie drehte den Schlüssel noch einmal um und zog ihn dann ab. Durch das Fenster drang undeutlich der ferne Lichtschimmer der Straßenlaternen herein, die die Bordsteine säumten, auch sie matt bei dem Unwetter, das draußen herrschte. Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel, Donner zerriss die Stille und Juvia riss erschrocken die Augen auf, einen leisen Schrei ausstoßend. Draußen hatte sich für den Bruchteil einer Sekunde die deutliche Silhouette eines hünenhaften Mannes abgezeichnet. Für einen Moment überschlugen sich ihre Gedanken. Wer war das, was wollte er, was war das…? Ihr Herz schlug doppelt so schnell wie vorher und für einen Moment übertönte ihr gehetzter Atem selbst das Geräusch des Regens. Am liebsten wäre sie davongelaufen, einfach hinauf in ihre Wohnung, ihr sicheres Reich. Dann schalt sie sich energisch. Sie machte sich hier selbst zur Närrin…! Es war ziemlich schwer, in das Alegria Soul einzubrechen und viel zu holen gab es hier eh nicht. Außerdem war sie nicht so wehrlos, wie sie aussah. Dort draußen stand nur eine arme Sau, die versuchte, das kleine Vordach als Schutz vor dem Regen zu benutzen, als würde der Wind ihn nicht in alle Richtungen treiben. Die Schultern straffend überlegte sie, ob es sich lohnte die Person zu fragen, ob sie ihr nicht ein Taxi rufen sollte, aber dann schüttelte sie den Kopf. Vermutlich war der Fremde bereits weg, weitergeeilt durch den Regen und den Wind, in der Hoffnung auf sein gemütliches Zuhause, vielleicht ein warmes Bad und ein Bett… Ein weiterer Blitz tauchte die Welt für einen Moment in scharfe Helligkeit und noch immer war die Person draußen vor der Tür, den Rücken zur Bar gekehrt. Doch diesmal war sie nicht überrascht, dass dort jemand war, und konnte mehr Details aufnehmen. Die defensive Haltung, die vertraute Linie der Schultern, das markante Profil… Sie kannte diesen Mann dort draußen. Verwirrt hielt sie mitten in der Bewegung inne. Das machte keinen Sinn! Was tat er hier? Er war Stammgast hier, er wusste ganz genau, dass die Bar um diese Uhrzeit eigentlich geschlossen war und selbst Juvia meistens schon ins Bett gekrochen war. Eigentlich wusste er noch nicht einmal, dass sie in eines der Apartments im oberen Stockwerk gezogen war. Es gab einfach keinen Grund für ihn, jetzt hier zu sein. Zögerlich schob sie den Schlüssel erneut in das Schloss und drehte ihn in die andere Richtung herum, um sie zu öffnen. Sofort schlug ihr Regen ins Gesicht, eiskalt und hart, geradezu schmerzhaft. Gemeinsam mit dem scharfen Wind brachte er Juvia dazu, die Arme um sich zu schlingen und jeden zu bedauern, der sich jetzt noch draußen aufhalten musste. Der Mann stand nur wenige Schritte von ihr entfernt, die Schultern hochgezogen und die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben, die ihm klatschnass an den muskulösen Beinen klebte. Er war sehr viel größer als sie und selbst in dieser in sich gekehrten, niedergeschlagenen Haltung und bei dem wenigen Licht eine beeindruckende, massive Gestalt. Sein langes Haar klebte ihm im Gesicht und unter dem einfachen T-Shirt zeichneten sich deutlich seine Muskeln ab, als wäre es nur aufgemalt. Sie war regelrecht erschrocken über den Anblick und gleichzeitig spürte sie die Sorge aufsteigen. Wie lange stand er schon dort draußen?! Wenn er so weitermachte, würde ihn selbst seine besondere Natur nicht davor bewahren, ernsthaft krank zu werden! „Wenn Juvia dich reinlässt, bringst du sie dann um?“, fragte sie durch den Spalt der offenen Tür, laut genug, damit er sie verstehen konnte. Ihr leichter Tonfall zeigte, dass sie die Worte nicht ernst meinte. Tatsächlich waren sie ein Echo aus der Vergangenheit, eines, das sie Mal um Mal wiederholte und ihm stets ein kleines Grinsen damit entlockte. Doch jetzt wandte er sich ihr nur zu, just in dem Augenblick, in dem ein weitere Blitz den Himmel zerriss, so dass sie ihn gut sehen konnte. Seine Züge waren verschlossen, geradezu steinern, und in seinen Augen flackerte etwas. Dann war der Moment vorbei und die Dunkelheit umfing sie wieder. „Du musst es wohl drauf ankommen lassen.“, war seine Antwort, die Worte vertraut, doch seine Stimme war rauer als sonst und ebenso emotionslos wie sein Gesicht. Besorgt runzelte Juvia die Stirn und öffnete die Tür einladend weiter, so dass er an ihr vorbeigehen konnte. Er tat es, aber erst nach einem sichtbaren Zögern, das ihm so gar nicht ähnlich sah. Rasch zog sie hinter ihm die Tür wieder zu und drehte den Schlüssel dreimal um, während sie ihn von oben bis unten musterte. Wasser lief aus seiner völlig durchnässten Kleidung und seiner schwarzen Mähne, die ihm bis zu den schmalen Hüften hing. Seine Stiefel quietschten bei jedem Schritt und noch mehr Wasser quoll daraus hervor. Er schien das nicht einmal zu bemerken, auch wenn ihm fürchterlich kalt sein musste. Noch dazu waren nasse Kleider sehr unbequem, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Doch er tat, als wäre alles normal, steuerte auf direktem Wege die Bar an, um sich auf einen der hohen Hocker davor gleiten zu lassen. Missbilligend folgte Juvia der Spur aus nassen Flecken auf den hölzernen Bohlen, doch sie sagte nichts, sondern trat nur hinter die Theke. „Whisky, pur.“, verlangte er und schlug mit der flachen Hand auf den Tresen, als wäre er zu regulären Öffnungszeiten hier und nicht mitten in der Nacht, wenn normale Menschen in ihren Betten lagen und schliefen. Sie zögerte einen Moment, dann stellte sie ein Glas vor ihn und zog eine der weniger benutzten Flaschen aus einem der Schränke unter der Theke hervor, um ihm einen Daumenbreit einzuschenken. Nach einem Blick auf sein finsteres Gesicht verdoppelte sie die Portion und schob es ihm hin. Er stierte einen Moment darauf, als hätte er vergessen, was man damit tat, während Wasser aus seinen Haaren auf die Baroberfläche tropfte. Sein Gesicht war hart und kantig, doch auf eine raue Art dennoch sehr gutaussehend war. Die Piercings in seinen Brauen, seiner Nase und den Ohren trugen nur noch zu diesem Eindruck bei. Gerade, als sie etwas sagen wollte, nahm er das Glas auf und kippte den Inhalt in einem Zug hinunter. Der Alkohol musste in seiner Kehle brennen, doch er verzog nicht einmal das Gesicht. Mit einem Knall stellte er das Gefäß wieder vor sie auf die Bar und nach kurzem Zögern und einer ungeduldigen Geste seinerseits füllte sie es wieder auf. „Das ist zum Genießen da.“, stellte sie klar. „Wenn du das weiter so runterkippst, holt Juvia den billigen Fusel.“ „Jaja, mach mich nicht an, Weib.“, raunzte er zurück, doch er nahm ihre Drohung ernst und nippte diesmal nur an der goldenen Flüssigkeit. „Juvia versucht nur, Gajeel beizubringen, die schönen Dinge im Leben zu schätzen.“, belehrte sie ihn und er stieß ein Schnauben aus, das zumindest belustigt klingen sollte. Nach was es tatsächlich klang, konnte sie nicht bestimmen. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper über ihre fremdartige Sprechweise wie alle anderen, hatte er nie getan, nicht einmal zu Beginn. Er hatte sie immer so akzeptiert, wie sie war, mit all ihren Makeln und Unzulänglichkeiten. Manchmal fühlte sie sich, als könnte sie nur bei ihm wirklich sie selbst sein, auch wenn sie hier in Magnolia doch die Familie gefunden hatte, nach der sie sich immer gesehnt hatte. Aber er hatte sie niemals in Frage gestellt. Manch einer würde argumentieren, dies war, weil er sich nicht genug für sie interessierte, aber sie wusste es besser. Er war nur … ein sehr verschossener, komplizierter Mann, der sich lieber die Arme abhacken würde, als zuzugeben, dass ihm jemand etwas bedeutete. Und in der Lage, in der er steckte, war das vielleicht keine schlechte Eigenschaft… Missbilligend runzelte sie die Stirn, als sie daran dachte. Eigentlich redeten sie nie über dieses Thema, da es doch zu nichts führen würde außer zu Streit, aber er wirkte so aufgewühlt, dass es nur damit zusammenhängen konnte. Sollte sie es doch wagen zu fragen? „Ich dachte, das hier ist eine Jazzbar!“, raunzte er plötzlich los und sah sich demonstrativ um. „Wo ist die Musik?! Was ein Saftladen hier! Muss ich mich selbst darum kümmern?!“ Juvia zuckte zusammen. So gern sie ihn auch hatte, wenn er sang, klang er wie eine Katze, der man gerade den Hals umdrehte, während jemand mit Nägeln über eine Tafel kratzte. „Wenn Gajeel das tut, wirft Juvia ihn wieder hinaus.“, warnte sie ihn und ging zu dem Radio hinüber, um es wieder anzuschalten. Er wandte sich widerspruchslos seinem Glas zu und leerte es erneut, wenn auch langsam genug, dass sie nicht protestierte. „Mehr.“, verlangte er und Juvia warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie wusste, dass er viel vertrug, mehr noch als ein normaler Mensch, aber drei Gläser Whisky so schnell hintereinander war doch etwas viel, selbst für ihn. Trotzdem kam sie der Aufforderung nach einem Moment schweigend nach und reichte ihm dann das Glas. Doch als er es an sich nehmen wollte, hielt sie es weiterhin fest. „Will Gajeel darüber reden?“, wollte sie wissen und er warf ihr einen so scharfen Blick zu, dass sie beinahe zurückgewichen wäre. Doch sie hielt ihm stand, was seine Miene nur noch finsterer werden ließ. „Nein.“, raunzte er dann und riss an dem Glas, so dass es aus ihren Fingern glitt und die kostbare Flüssigkeit über den Rand schwappte. „Du solltest nicht immer so grob sein.“, belehrte sie ihn. „Ein einfaches ‚Bitte‘ würde auch genügen.“ Sie leckte sich die Tropfen von den Fingern, Bewegungen, die seine rubinroten Augen mitverfolgten. Bildete sie sich das nur ein oder glomm ein Funke tief in ihnen? „Wenn Gajeel nicht reden will, warum ist er dann hierhergekommen?“ Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck, während er vom Hocker rutschte und sich wegdrehte, um sich lässig an die Bar zu lehnen. Sie konnte sehen, wie eines seiner Beine unruhig zuckte. „Halt so.“, war die knappe Antwort und offensichtlich musste er sich Mut antrinken, denn ehe er fortfuhr, leerte er sein Glas erneut. Sie beschäftigte sich inzwischen damit, die bereits blitzblanke Bar erneut abzuwischen. Die Flasche stellte sie demonstrativ auf eine Serviette; ihr war klar, dass er noch nicht fertig war. Sie hoffte nur, dass er irgendwann während der Nacht die Zähne auseinanderkriegen würde, um sich von der Seele zu reden, was ihn offensichtlich so bedrückte. Aber sie kannte ihn besser. „Ich kann jetzt nicht alleine sein.“ Seine Stimme war so leise, dass sie beinahe in der Musik unterging, und sie blickte überrascht auf. „Ga-Gajeel?“ Es sah ihm gar nicht ähnlich, solche Zugeständnisse zu machen. „Ich will nicht darüber reden, okay! Ich will nur einen kippen.” Sie blinzelte überrascht, konnte aber das kleine Lächeln nicht unterdrücken. Dass er in dieser Situation, wie auch immer diese aussah, zu ihr gekommen war, sprach Bände. Doch da er ihr noch immer den Rücken zugewandt hatte, konnte er es nicht sehen. Ihren Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle bringend, legte sie ihr Handtuch weg, holte ein zweites Glas aus dem Regal und griff erneut nach der Flasche. „Dann solltest du nicht alleine trinken.“ Überrascht blickte er sie an, wohl wissend, dass sie Alkohol verabscheute – eine Ironie, wenn man bedachte, dass sie als Barkeeperin arbeitete und wie gut sie in ihrem Job war. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieses Hobby ihres Ex ihr jetzt so viel half? Ohne ihn hätte sie nie diesen Job bekommen. Um Gajeel nicht ansehen zu müssen, konzentrierte sie sich darauf, ihr Glas zu füllen. Wie beiläufig fragte sie: „Ist etwas mit deinen Geschwistern passiert?“ Für einen Moment blieb es still, dann stellte er sein Glas etwas zu heftig ab. „Nein! Und ich sagte doch, ich will nicht darüber reden!“ Seine Stimme sackte während des Satzes zu einem gefährlichen Knurren ab, was Juvia erschrocken aufblicken ließ. Er fixierte sie aus verengten Augen, die leicht in dem Zwielicht leuchteten, das in der Bar herrschte, wie rote Glut. Seine Kiefer waren derartig fest aufeinandergepresst, dass die Muskeln deutlich hervortraten, und seine Finger ballten sich zu Fäusten, die Arme so angespannt, dass sie zitterten. „Sch-schau Juvia nicht so an.“, verlangte sie und ihre Stimme schwankte. Tief im Inneren wusste sie, dass er ihr niemals etwas antun würde, doch manchmal wirkte er so bedrohlich, dass er selbst in ihr Urängste wachrief. „Dann hör auf, so blöde Fragen zu stellen!“, fauchte er und sie zuckte zusammen. „Juvia wird nichts mehr sagen.“, antwortete sie nach einem Moment, in dem sie sich sammeln konnte. „Sie macht sich nur Sorgen um dich!“ „Die kannst du dir in den Arsch schieben!“ Juvia kniff die Lippen zusammen und schwieg. Er war in einer seiner Launen; in dem Zustand konnte man nicht mit ihm reden. Stattdessen griff sie nach ihrem Glas und leerte es. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, damit umzugehen. Mit einem Knall stellte sie das Glas auf den Tresen zurück und funkelte Gajeel einen Moment lang an. Dann griff sie erneut nach der Flasche und füllte ihre Tumbler wieder. Sie hatte gesagt, sie würde nicht mehr über das Thema sprechen, also hielt sie den Mund, auch wenn sie eigentlich noch viel zu sagen hatte. Am nächsten Glas nippte sie nur, während sie auf dem Tresen lehnte und an ihm vorbei zu den Fenstern starrte. Stille senkte sich über sie, so dass sie sich der Geräusche des Regens, der nicht nachgelassen hatte, plötzlich wieder voll bewusst war. Das Gedudel des Radios ging beinahe darin unter und wann immer ein Blitz über den Himmel zuckte und der Donner rollte, konnte sie nichts anderes vernehmen als das himmlische Getöse. Neben ihr leerte Gajeel erst ein, dann zwei und schließlich drei Gläser und griff immer wieder nach der Flasche. Zum Glück verhinderte sein rascher Stoffwechsel, dass er so schnell betrunken wurde wie ein normaler Mensch, doch langsam musste die Auswirkungen des Hochprozentigen trotzdem spüren. Langsam verschwand die gereizte Stimmung und machte etwas ruhigerem, kameradschaftlicherem Platz. Die Anspannung wich aus ihrem Körper, als sie sich wieder daran erinnerte, warum sie sich in seiner Gegenwart wohl und behütet fühlte, obwohl sie sich eigentlich weder lang noch gut kannten. In seiner Gesellschaft schmeckte sogar der Alkohol nicht so schlimm. „Hast du jemals jemanden getötet?“, durchbrach er schließlich sein Schweigen und ihr Kopf zuckte so schnell herum, dass einige blaue Strähnen sie im Gesicht trafen. Sein Glas stand vor ihm auf der Theke und er hatte die Finger darum geschlossen, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Kopf war gesenkt, so dass sein noch immer nasses Haar sein Gesicht verdeckte und sie nicht einmal versuchen konnte, in seiner Mimik zu lesen. Er versuchte, beiläufig zu klingen, so, als würde ihn das alles nicht interessieren, aber seine Schultern waren angespannt. „Jemanden, der es nicht verdient hat?“ Ihre Gedanken überschlugen sich und Wörter drängten sich in ihren Mund, die aus ihr herausplatzen wollten – wen hast du getötet? Warum? Wer hat dich dazu gebracht? Geht es dir gut? Hat dich jemand gesehen? Was ist passiert? Warum hast du das getan?! Sie biss sich auf die Zunge, um nichts Unüberlegtes zu sagen, das ihn in die Flucht schlagen würde. Vielleicht mochte es nicht richtig sein, aber er war ihr wichtiger als eine hypothetische Person, der er etwas angetan haben mochte, ob nun freiwillig oder unter Zwang. „Juvia hat noch nie jemanden getötet.“, antwortete sie schließlich langsam. Jetzt hob er doch den Kopf und warf ihr einen langen Blick zu, den sie nicht deute konnte. Sie lächelte unsicher und spielte nervös mit ihrem Glas. Was genau…? Sie schluckte. Was genau wollte er von ihr? „Tu es niemals.“, sagte er dann und kippte den Rest seines Whiskys herunter. Doch diesmal griff er nicht sofort wieder nach der Flasche, sondern stellte den Tumbler beinahe bedächtig auf der Bar ab. „Falls du es doch mal tun musst, komm lieber zuerst zu mir.“ Sie blinzelte heftig. Hatte er ihr eben angeboten, einen Mord für sie zu begehen…? „Ga-Gajeel…“, begann sie, doch sie bewegte nur hilflos die Lippen, ohne dass ein Laut aus ihrem Mund drang. Es gab keine Worte für die Situation. Sie wusste einfach nicht, was sie sagen sollte. Dass schon alles wieder gut wurde? Er wusste genau, dass das in seiner Situation nur eine leere Phrase war. Dass sie hinter ihm stand? Sie hatte ja nur den Schimmer einer Ahnung, was geschehen war. Dass es nicht seine Schuld war? Das waren leere Worte ohne Bedeutung. Sie schluckte erneut und fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockenen Lippen, während sie den Blick nicht von ihm nehmen konnte. Er sah fürchterlich aus, wie er da stand, seine Kleidung noch immer nass und höchstwahrscheinlich eiskalt, Wasser in den Stiefeln und einen Kratzer im Gesicht, den sie erst jetzt bemerkte. Seine Mimik war verschlossen und abweisend, aber unter dieser kaltblütigen Maske konnte sie einen Mann erkennen, der kurz davor stand, endgültig in einen Abgrund zu stürzen, aus dem er nicht mehr herauskam. Schließlich öffnete sie den Mund erneut und sagte das erste, das ihr in den Sinn kam: „Will Gajeel mit nach oben kommen?“ [Valentinstag | OTP + Geschenk] Double Surprise ----------------------------------------------- Mit Schwung lenkte Juvia ihr kleines Auto in die großzügige Parklücke vor dem adretten, etwas älteren Haus. Es stand ganz am Ende in der Reihe und war als einziges von einem richtigen Garten umgeben. Ein hoher Lattenzaun grenzte das Grundstück von der Straße und den Nachbarn ab. Identisch aussehende, moderne Einfamilienhäuser reihten sich entlang der Straße aneinander und hoben dieses letzte Haus noch mehr hervor, denn es sah ganz anders aus und war eindeutig älter. Es gab ein paar Gerüchte darüber, dass es darin spuken sollte, doch Juvia fühlte, wie ihr Lächeln bei dem Anblick des ein wenig wüst aussehenden Gebäudes unwillkürlich breiter wurde. Dabei grinste sie schon den ganzen Weg voller Vorfreude vor sich hin; endlich war der große Tag gekommen! Sie konnte endlich ihr Valentinsgeschenk für ihren geliebten Gray-sama abholen! Allein bei dem Gedanken daran hüpfte sie aufgeregt auf der Stelle auf und nieder. Sie freute sich schon auf seine Reaktion. Da dieser ‚Feier’tag eigentlich nur vorgeschoben war, um einen langen Wunsch von ihnen beiden zu erfüllen, war alles perfekt und das Geschenk konnte nur mit Begeisterung empfangen werden. Eine andere Möglichkeit kam für sie gar nicht in Frage. Dabei wusste sie aus Erfahrung, wie leicht man bei einem Präsent für ihren Freund danebengreifen konnte. Ihr Leben schien im Moment von Glück gesegnet zu sein. Seit ein paar Monaten wohnten sie zusammen, sie hatte das Gefühl, dass Gray schon unterwegs war, um Ringe anzuschauen, Grays Business boomte, vor allem seit Gajeel mit eingestiegen war, Juvias eigene Karriere hatte eine unerwartete, aber nicht unwillkommene Wendung bekommen und vor ein paar Tagen hatte sie sogar das Thema ‚Kinder‘ vorsichtig anbringen können, ohne dass ihr Freund sofort abgeblockt hatte. Und dieses neue Detail würde ihr Leben vollkommen machen. Nichts konnte ihre gute Laune trüben, nicht einmal das triste Wetter. Sie warf einen skeptischen Blick aus dem Fenster und runzelte die Stirn. Hoffentlich hatte Gray nichts im Freien geplant für ihren Abend! Aber da er viel vorausschauender war als sie, brauchte sie sich darüber wohl keine Sorgen zu machen… Der Himmel war von tiefhängenden Wolken verhangen und Schneematsch verunstaltete die bemitleidenswerten Vorgärten und Wegränder. Einige armselige, kleine Bäume reckten ihre kahlen Äste dem Himmel entgegen und die Krähen, die in dem alten Apfelbaum vor dem Haus hockten, das ihr Ziel war, vervollständigten das Bild der Horrorkulisse. Was es allerdings störte, war der große Hund, der vor der kleinen Treppe lag. Er war eigentlich weiß, wie sie von ihren früheren Besuchen wusste, aber das Wetter hatte sein Fell eher hellgrau werden lassen. Doch die leichte Verfärbung nahm ihm nichts von dem wuscheligen Wattebauschaussehen. Das Tier starrte ihr aufmerksam entgegen, ein Hundegrinsen auf dem freundlichen Gesicht und die Rute klopfte in rhythmischen Abständen auf den Boden. Juvias Lächeln wurde noch breiter und sie schnappte sich ihre Tasche vom Beifahrersitz, ehe sie aus dem Auto sprang. Gajeel, bei dem sie einige Dinge abgeholt hatte, die sie bei ihm zwischengelagert, damit Gray sie nicht fand, hatte sie so schnell wie möglich wieder loswerden wollen. Er hatte ihr kaum Zeit gegeben, sich richtig zu verabschieden, denn „es ist unmöglich, ein vernünftiges Wort aus dir herauszubringen, wenn du in diesem verliebten Zustand bist. Zieh Leine.“ Für einen Moment war sie beleidigt gewesen, dass ihr Ziehbruder sie einfach so wieder rausgeworfen hatte. Aber nicht einmal Gajeel hatte ihr die Laune vermiesen können, zumal er es ja sowieso nicht ernst gemeint hatte. Der war ja nur neidisch, weil er niemanden hatte, mit dem er den Valentinstag verbringen konnte. Irgendwann würde er schon noch die Richtig finden, die mit seinen Marotten und dem grantigen Benehmen umgehen konnte, da war sie sich sicher. Der Hund dagegen war begeistert, sie zu sehen. Als sie zum Tor trat, sprang er auf und stürzte entzückt bellend auf sie, als wollte er sie umwerfen wie eine Bowlingkugel. Sie begrüßte ihn mit einem fröhlichen „Hallo du!“ und wuschelte ihm einige Augenblicke durch das Fell, was mit überschäumender Freude und lautem Gebell aufgenommen wurde. Er tanzte immer wieder vor und zurück, zu glücklich, um still zu sitzen, aber doch immer wieder mehr Streicheleinheiten verlangend. „Ich hab schon geglaubt, es wäre etwas passiert.“, begrüßte eine tiefe Stimme sie von der Seite. „Weil du noch nicht aufgetaucht bist.“ „Hallo, Totomaru!“ Juvia blickte lächelnd von dem begeisterten Hund auf und zu dessen Besitzer hinüber, der gerade hinter der Hausecke aufgetaucht war. Er war einer der wenigen Leute, die es geschafft hatten, ihr schon nach wenigen Stunden das Du aufzuschwatzen, auch wenn sie Fremden gegenüber stets ein wenig reserviert war. Aber dieser Moment lag schon Wochen zurück. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit halb schwarzem und halb weißem Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden trug. Er war ein paar Jahre älter als sie, mit einem attraktiven Gesicht, das von einem Dreitagebart geziert wurde, der ihm einen rauen Touch verpasste, und einem athletischen Körperbau, der von den Jeans und dem einfachen T-Shirt noch unterstrichen wurde. Weiße Hundehaare hoben sich gut sichtbar von dem dunklen Stoff ab. Waagrecht über seine Wangen und den Nasenrücken zog sich eine Tätowierung, ein einfacher Strich, der an einer Stelle unterbrochen war, ein deutlicher Hinweis auf sein pergrandische Herkunft. Juvia, deren Eltern selbst aus diesem Land stammten und die in der gleichen Kultur aufgewachsen war, hatte sofort gewusst, dass sie bei der richtigen Person angekommen war. Vielleicht hatte das dazu beigetragen, dass sie sich sofort so wohl gefühlt hatte. Einzig Gray und Gajeel waren ihr von Anfang an vertrauter gewesen. „Ich hab dich schon früher erwartet.“, fügte er jetzt hinzu. „Juvia wurde auf der Arbeit aufgehalten.“, erklärte sie und schnaufte empört. Als ob heute nicht ein äußerst wichtiger Tag wäre! „Sie konnte sich gerade noch loseisen, bevor sie schon wieder in etwas eingespannt wurde.“ Sie blies entrüstet die Wangen auf – seit Wochen plante sie all das hier und dann wollte ihr Chef ihr einen Strich durch die Rechnung machen? Nicht mit ihr! „Das wäre schade gewesen.“, stimmte Totomaru zu und grub seine Finger in das dichte Nackenfell des Hundes, der zu ihm getanzt war und jetzt himmelnd zu ihm aufblickte. „Dabei wartet Winter schon auf dich.“ Unwillkürlich breitete sich ein erwartungsvolles Lächeln über ihr Gesicht aus. „Juvia freut sich auch schon darauf, ihn endlich mit nach Hause nehmen zu können! Gray-sama wird sich so freuen, ihn kennenlernen zu können!“ Während der letzten Wochen war sie alle paar Tage vorbeigeschneit und jedes Mal hatte es sie mehr in den Fingern gejuckt, den Welpen sofort mitzunehmen. Sie hatte sich beherrschen können, aber nur gerade so und auch nur, weil sie daran gedacht hatte, wie Grays Gesicht aussehen würde, wenn er sein Valentinsgeschenk das erste Mal zu sehen bekam. Zu Beginn war Totomaru nicht sehr begeistert von der Idee gewesen, ihr einen seiner wertvollen Welpen zu überlassen, vor allem nicht, nachdem er erfahren hatte, dass dieser als Valentinsgeschenk herhalten musste. Erst, nachdem sie ihm begeistert davon erzählt hatte, dass Gray und sie sich schon das letzte Jahr überlegt hatten, einen Hund zu holen und sich sogar auf die Rasse geeinigt hatten, war er etwas aufgetaut. Und heute war der vierzehnte Februar und sie konnte Winter endlich mit nach Hause nehmen. Wie lange hatte sie diesen Tag ersehnt! Sie folgte Totomaru in das Haus durch einen kleinen Flur, wo ihnen ein zweiter erwachsener Hund entgegenkam, der Juvia freundlich begrüßte und dann die Treppe hinauf verschwand. Die beiden Menschen betraten das große, etwas spartanisch eingerichtete Wohnzimmer, in dessen hinterster Ecke die Welpen ihren Platz gehabt hatten. Inzwischen war sie leer, da die meisten der jungen Hunde bereits vor zwei, drei Wochen abgeholt worden waren. Ein einzelner davon war übrig. Er sah noch mehr als die Eltern aus wie ein sehr lebendiger, flauschiger Wattebausch, die Öhrchen noch nach vorne geknickt, die schwarzen Augen groß und seelenvoll. Um den Hals trug er ein einfaches, blaues Halsband, das sich deutlich von dem schneeweißen Fell abhob. Im Moment lag er auf einem Quilt aus blauen und weißen Quadraten, den Juvia in mühevoller Arbeit genäht hatte – mühevoll vor allem deswegen, weil Gray nichts hatte davon mitbekommen sollen. Ein paar Spielzeuge waren um ihn herum verteilt, aber nichts davon schien ihn groß zu interessieren, was ihn sehr traurig wirken ließ. Als sie jetzt eintraten, hob er den Kopf und man erkannte sofort den Moment, an dem er sie erkannte. Er sprang auf die noch kurzen Beine und sein Schwänzchen wedelte wie verrückt, während er bellend auf sie zu gerannt kam. Jetzt wirkte er äußerst glücklich und Juvia ging das Herz auf, dass sie der Grund dafür war. Sie ging in die Hocke, wie immer selbst begeistert von dem Wiedersehen. „Hallo, mein Kleiner.“, säuselte sie und versuchte, ihn zu streicheln. Da er sich immer wieder drehte und vor lauter Fröhlichkeit und Glück nicht stillstehen konnte und aus ihren Händen glitt, stellte sich das kein leichtes Unterfangen heraus. Er war noch wuseliger und ungeduldiger als sein Vater! „Na, wie geht’s dir, mein Süßer? Heute geht’s nach Hause!“ Eine Weile plapperte sie so vor sich hin, während der kleine Hund sich nur langsam beruhigte. Endlich warf er sich auf den Rücken, so dass sie sein kleines Bäuchlein kraulen konnte. Totomaru räusperte sich schließlich. „Ihr solltet vielleicht bald aufbrechen.“, warf er freundlich ein. „Du willst ja nicht zu spät kommen.“ „Oh.“, machte sie und blickte auf. „Natürlich nicht!“ Sie ergriff den Hund, so dass sie ihn hochheben konnte und zog ihn an sich, um ihn zu umarmen. Er zappelte ein wenig und reckte den Kopf, um ihr Gesicht abzulecken, die Rute noch immer wild wedelnd. „Wollen wir jetzt nach Hause gehen?“, fragte sie und der Hund bellte wie als Antwort und wand sich so sehr, dass er aus ihren Händen glitt. Also zog sie eine einfache, blaue Leine aus der Jackentasche und hakte sie in die dafür vorgesehene Öse im Halsband ein, ehe sie aufstand. Der Hund starrte zu ihr hoch, noch immer glücklich, auch wenn er natürlich keine Ahnung hatte, was ihn erwartete. Aber sie würden ihm ein wundervolles Zuhause bieten! Und sie würden Totomaru und die Elterntiere ganz sicher besuchen kommen! Totomaru hatte währenddessen bereits den Quilt und zwei, drei Spielzeuge zusammengepackt, die sie ebenfalls mitgebracht hatte, und reichte ihr das Bündel. „Wir haben ja schon alles besprochen, was den Kleinen angeht.“, erklärte er ihr. Dazu war sie ja auch wirklich oft genug da gewesen. „Falls es Probleme gibt, weißt du ja, wie du mich erreichst. Scheu dich auch nicht zu fragen, ob er für ein, zwei Wochen hierbleiben kann, wenn ihr mal ohne Hund in den Urlaub wollt oder so etwas. Und lass dich auch einfach so mal blicken.“ Juvia scheute sich nicht, ihm kurz um den Hals zu fallen. „Natürlich, Totomaru! Aber das gilt auch für dich. Juvia hat dir nicht umsonst ihre Telefonnummer gegeben!“ Sie warf einen Blick auf den Hund, der sich inzwischen hingesetzt hatte und sich hinter dem Ohr kratzte. „Und wir gehen jetzt nach Hause. Gray-sama wird so glücklich sein!“ ~~❣~~ღ~~❣~~ Juvia spähte gewissenhaft aus dem Fenster zu ihrem Haus hinüber um zu sehen, ob Gray sie bemerkt hatte. Er sollte sein Geschenk auf keinen Fall zu früh sehen und sich so die Überraschung verderben. Das wäre doch schön blöd, nach all der Mühe, die sie sich gemacht hatte, damit eben das nicht geschah. Das Haus war schon älter, was man ihm auch ansah, und besaß ein dunkel gedecktes Dach, weiße Holzwände und eine Rundumveranda. Dazu wirkte es ein wenig heruntergekommen und verlottert, ein paar der Fenster waren sogar noch zugenagelt. Der große Garten war von wuchernden Hecken umgeben und völlig verwahrlost, aber die ehemalige Grundstruktur darin konnte man noch erkennen. Sie hatten es erst vor kurzem gekauft, ein Glücksgriff, wegen dem die Sache mit dem Hund etwas in den Hintergrund getreten war, und eigentlich noch gar nicht dieses Jahr geplant gewesen. Aber bei dem Angebot hatten sie nicht Nein sagen können. Gray und Gajeel waren schon eifrig dabei, es zu renovieren, und Juvia packte an, wo sie konnte, auch wenn es manchmal nur darin bestand, Essen für ihre beiden ‚Jungs‘ zu machen. Aber dieses Haus war ihr Traumhaus und Platz genug für eine große Familie und einen Hund gab es auch. Gray hatte zwar ein wenig gegrummelt, als sie ihm davon vorgeschwärmt hatte, ganz in ihrer eigenen Welt, aber er hatte nicht rundheraus widersprochen. Es gab zwar noch einiges bis dahin zu tun, aber das würde sich schon geben. Vorerst würde ja jemand anderes einziehen. Sie drehte sich um und warf einen Blick über ihre Schulter. Winter auf dem Rücksitz sah ein wenig verschüchtert aus, vermutlich, weil das seine erste, längere Reise war, auch wenn er ihr Auto bereits kannte, seine Decke hatte und sie äußerst langsam und vorsichtig gefahren war. „Okay, die Luft scheint rein zu sein.“, erklärte sie dem Welpen, der jetzt aufmerksam den Kopf hob und schon wieder viel fröhlicher wirkte. Sie schlüpfte aus dem Auto und spähte noch einmal zum Haus hinüber, doch dort rührte sich weiterhin nichts. Dabei wusste sie, dass ihr Freund Zuhause war. Gray, vollkommen wie er war, hatte versprochen, er würde sich um alles kümmern, da er mit der Arbeit Schluss machen konnte, wann er wollte. Es hatte doch einen Vorteil, sein eigener Chef zu sein. Er wollte sogar kochen und hatte ihr nicht einmal verraten, was es geben würde. Einzig den Schokoladenkuchen zum Nachtisch hatte sie vorbereiten müssen. Zuerst räumte Juvia den vollgepackten Kofferraum leer, in dem sie alles Zubehör für den Hund untergebracht hatte – Bett, eine Kiste voller Kleinkram wie einen Kamm und eine längere Leine, eine Kiste voller Spielzeug, die Boxen mit dem Futter… Es hatte mehr gekostet, als sie gedacht hatte, unter anderem, weil sie unbedingt genau das oder dies haben musste anstatt die günstigere Variante, und an diesem oder jenem Teil nicht hatte vorbeilaufen können. Zuletzt holte sie den Hund, der ihr die ganze Zeit aufmerksam durch das Fenster zugesehen hatte, die Pfötchen an die Scheibe gepresst wie ein neugieriges Kind. In der Garage hatte sie extra einen Platz freigeräumt, wo er vorübergehend bleiben konnte – immerhin musste sie noch die richtige Gelegenheit finden, Gray sein Geschenk zu präsentieren. Nachdem sie den Hund mit seinem Körbchen vertraut gemacht, angebunden und ein wenig bespaßt hatte, versprach sie ihm, bald wiederzukommen und verließ die Garage wieder, um endlich ins Haus hinüber zu gehen. Gemeinsam mit herrlichem Essensduft kam ihr rockige Musik entgegen – keine romantischen oder kitschigen Liebeslieder, denn Gray würde eher sterben, als sowas zu hören. Aber er hatte sich anscheinend auf einen Kompromiss eingelassen, denn die vertrauten Klänge von I was made for loving you drangen aus dem Wohnzimmer. „Gray-sama?“, rief sie fragend den langen Flur hinunter. „Juvia ist Zuhause!“ Einen Moment später tauchte er im Türrahmen auf und bei seinem Anblick schlug ihr Herz unwillkürlich schneller. Sie waren jetzt schon über drei Jahre zusammen, aber sie konnte es immer noch nicht glauben, dass Gray ihr Freund war. Nach der Anfangszeit, in der er so abweisend gewesen war, und all den Mühen, die sie hineingesteckt hatte, um ihn von sich zu überzeugen… Sein gutgeschnittenes Gesicht wurde von einem winzigen, aber so, so warmen Lächeln geziert, das er einzig ihr schenkte. Er trug eine schwarze Jeans, die praktisch an seinen Oberschenkeln haftete wie eine zweite Haut, und ein einfaches, weißes Hemd, das seine breiten Schultern betonte. Seine schwarzen Haare fielen ihm wie immer ungebändigt in die Stirn und seine dunklen Augen leuchteten unwillkürlich auf, als er sie sah. „Schöner Valentinstag!“, posaunte sie ihm entgegen, nachdem sie sich wieder gefangen hatte, und fiel ihm überschwänglich um den Hals um ihn einen liebevollen, aber kurzen Kuss auf die Lippen zu drücken. Gray räusperte sich verlegen und antwortete: „Schön, dass du es noch geschafft hast.“ „Juvia würde niemals ein Date mit dir verpa-“ Ihre Worte wurden abgewürgt, als Gray sie erneut küsste, länger und tiefer diesmal. Sie bewegten nur die Lippen gegeneinander, langsam und zärtlich, und Juvia schloss genussvoll die Augen, um in den Kuss zu seufzten und sich näher an ihn zu drücken. Manchmal konnte sie es noch immer nicht glauben, dass sie diesen Mann küssen durfte, in den Armen halten und bei ihm sein durfte. Dass er sie gewählt hatte. In anderen Momenten war er, waren sie gemeinsam so real, dass ihr ganz schwindelig vor Glück wurde und wie jetzt nur seine Hände sie aufrecht hielten. Wie konnte man einen Menschen nur so sehr lieben? Als sie sich schließlich voneinander lösten, hatte sie längst vergessen, wie viel Zeit bereits verstrichen war, aber im Hintergrund erklangen längst die vertrauten Gitarrenriffe von Bed of Nails. Ihre Augenlider flatterten wieder auf und sie lächelte ihn verliebt an. Ihre Finger spielten mit den Haaren in seinem Nacken und sie konnte fühlen, wie er unter der Berührung erschauderte. Seine Hände lagen warm und fest auf ihren Hüften. „Danke, dass du an meiner Seite bist.“, wisperte er mit belegter Stimme und sein Tonfall war bedeutungsschwer und gewichtig. Die Worte entlockten ihr ein einfaches Lächeln. Er hatte sich schon immer schwer damit getan direkt Ich liebe dich zu sagen, aber Juvia konnte diese drei Worte inzwischen hören, wenn er sie ihr lautlos schwor. In seinen liebevollen Küssen, in dem Kakao, den er für sie richtete, weil sie keinen Kaffee mochte, und der zärtlichen Geste, mit der er ihr die Haare hinter die Ohren strich. In den abendlichen Stunden, wenn sie sich gemeinsam unter eine Decke kuschelten, um einen Film anzusehen oder gemeinsam ein Buch zu lesen, wenn er beim morgendlichen Joggen auf sie wartete, weil er so viel schneller war als sie, oder sie zur Arbeit oder zum Schwimmbad fuhr, wenn es in Strömen regnete. Zugegeben, es hatte eine Weile gebraucht, ehe sie seine ganz eigene Sprache erkannt und überhaupt verstanden hatte, dass er solche Dinge anders kommunizierte. Doch jetzt war es nur noch selten, dass es dadurch einem Missverständnis kam und sie war ihm dankbar um die Geduld, die er mit ihr gehabt hatte. „Juvia wird dich niemals verlassen.“, erklärte sie felsenfest davon überzeugt und eigentlich waren die Worte viel zu feierlich, darum fügte sie in leichterem Tonfall hinzu: „Das riecht gut. Was ist es?“ Gray grinste und erklärte geheimnisvoll: „Das wirst du gleich sehen. Ich hoffe, es ist geworden, wie es sollte – ich hatte ein paar Probleme in der Küche.“ „Juvia ist sicher, es wird himmlisch schmecken.“ Sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen, aber so leicht ließ er sie nicht so einfach gehen. Stattdessen presste er ihr kurze Küsse auf die Wangen und die Nase und schließlich die Lippen, als könnte er nicht genug von ihr bekommen. „Juvia muss sich noch umziehen.“, versuchte sie es erneut. Sie hatte zum Glück ihr Make-up bereits erneuert, noch bevor sie zu Totomaru gegangen war, um sich nicht auch noch damit aufhalten zu müssen, sorgfältig abgestimmt auf beide Outfits für diesen Tag. Gray verdrehte die Augen. „Du bist schön genug.“, erklärte er, was bedeutete, dass sie sich für ihn nicht in Schale zu werfen brauchte, weil sie für ihn immer attraktiv und bildschön war. Es war ihm schlichtweg egal, ob sie nun eine schlabbrige Jogginghose trug oder ein hübsches Kleid, auch wenn er letzteres durchaus zu würdigen wusste. „Aber Juvia möchte. Sie wird sich beeilen.“ Mit diesem Versprechen schlüpfte sie endgültig aus seinen Armen und verschwand die Treppe hinauf. Für ihr Selbstbewusstsein wirkte ein tolles Outfit jedoch Wunder und darauf wollte sie nicht verzichten. Außerdem hatte sie extra neue Dessous gekauft und den Blick wollte sie nicht verpassen, wenn er nachher ihre Kleidung von ihrem Körper streifte. Tatsächlich brauchte sie nur eine Viertelstunde, ehe sie wieder nach unten huschte, strumpfsockig in dunkelblauen Overknees und in einem süßen, gleichfarbigen, weiß karierten Latzkleid, in dem sie sehr niedlich aussah. Jetzt musste sie Gray nur noch dazu bringen, die Geschenkübergabe vor dem Essen zu machen, damit Winter nicht so lange allein in der Garage sitzen musste. Er wartete im Wohnzimmer auf sie, in den Sessel gelümmelt und den Blick gelangweilt in die Ferne gerichtet. Als sie eintrat, setzte er sich unwillkürlich gerader hin. Trotz seiner vorherigen Worte leuchteten seine Augen bewundernd auf, als er sie sah, und die subtile Veränderung seines Gesichtsausdrucks, die damit einherging, trieb ihr das Blut in die Wangen. Sie spürte, wie ihre Lippen sich zu einem schüchternen Lächeln verzogen; immer noch nahm er ihr mit solchen versteckten Blicken den Wind aus den Segeln. Ein Blick, als wäre sie das einzige, das zählte, ein wertvoller Schatz, den es zu beschützen galt und den man so zart in den Händen halten musste wie eine winzige Glasfigurine, um ihn nicht zu zerbrechen. Als er jetzt aufstand und ihre Hände nahm, vertiefte sich die Röte, aber ließ sich davon nicht stören, sondern küsste sie erneut, leidenschaftlich und wild diesmal, mit tastenden Zungen und knabbernden Zähnen, ein heißes Versprechen auf später. Denn auch wenn er sie manchmal ansah, als wäre sie zerbrechlich, so wusste er doch ganz genau, dass sie es eben nicht war. „Ich muss etwas gestehen.“, erklärte er, kaum dass er sich wieder von ihr gelöst hatte. Verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel – warum hatte er aufgehört! Der Kuss hatte ihr den Verstand geraubt, ihn zu dem Mittelpunkt ihres Universums gemacht, sie so völlig mitgerissen in einem Strudel von Gefühlen, dass sie nichts anderes tun konnte als zu fühlen und zu reagieren auf ihn – starrte sie ihn nur aus großen Augen an. Seine Hände, die noch immer auf ihrem Hintern lagen und sie an sich drückten, halfen ihr nicht, ihr Hirn wieder zum Laufen zu bringen. „Ich hab das Fleisch noch nicht auf dem Grill.“ Er machte eine Kopfbewegung zur Küche hinüber, die durch einen offenen Durchgang beinahe gänzlich zu sehen war, und sie folgte der Geste unwillkürlich mit dem Blick. Die Küche war einer der ersten Räume gewesen, die sie renoviert hatten, noch vor dem Schlafzimmer. Ganz in weißem Landhausstil gehalten, auf den Juvia bestanden hatte, gab sie ein tolles Bild ab, wenn im Moment auch etwas dreckig durch Grays Kochexperimente. Auf dem Herd standen ein paar Töpfe und der kleine Tisch für zwei unter dem Fenster, dem man sein Alter ansah, war liebevoll gedeckt. Ein wunderschöner, erstaunlich großer Strauß roter Rosen stand auf dem Fensterbrett und sogar an eine Kerze hatte er gedacht. Auch wenn er immer so tat, als hätte er keine Ahnung von Romantik, so schaffte er es doch Mal um Mal, dass sie ins Schwärmen geriet. Gab es einen perfekteren Mann als ihren Gray-sama? Neben dem Tisch führte es eine einfache Tür auf die Veranda hinaus. Durch die darin eingelassenen sechs kleinen Fenster konnte sie besagten Grill erkennen, neben dem auf einem kleinen Tisch alles angerichtet war, was er brauchen würde. Die Glut darin war deutlich zu erkennen und anscheinend konnte er sofort loslegen. „Warum?“, wollte sie verwirrt wissen. Nicht, dass ihr das ungelegen kommen würde… Sie hatte sowieso den Verdacht, dass sich das Essen etwas nach hinten hinaus verschieben würde. „Ich hab da noch eine Kleinigkeit für dich.“, gestand er. „Und ich würde dir das gerne geben, ehe wir mit den anderen Sachen anfangen.“ Juvias Gesicht hellte sich auf und Aufregung kribbelte in ihrem Bauch. Nicht nur die Frage, was er sich für sie ausgedacht hatte – als wäre das Essen allein nicht schon genug gewesen! –, auch ihre Vorfreude auf sein Gesicht, wenn er Winter sah, ließen sie aufgeregt auf und nieder wippen. „Wird es so schnell schlecht?“, entfuhr es ihr neugierig. Gray schnaubte amüsiert. „So kann man es auch nennen. Ich hole es schnell.“ „Okay! Und Juvia holt deines!“ Während er durch die Tür auf die Veranda trat, wirbelte sie herum und huschte durch die Verbindungstür in die Garage. Winter wartete brav in seinem Körbchen, als könnte ihn kein Wässerchen trüben und als läge nicht eines der so liebevoll ausgesuchten Spielzeuge zerfetzt um ihn herum verstreut. Als er sie sah, sprang er aufgeregt auf und bellte, seine Rute aufgeregt hin und her witschend, so dass sie es nicht übers Herz brachte, ihn zu schelten. „Ja, jetzt musst du nicht mehr allein sein.“, versuchte sie den wuselnden Hund zu beruhigen und in die Arme zu nehmen. „Juvia tut es so leid, dass du hier alleine warten musstest! Aber jetzt kommst du mit mir und darfst endlich Gray-sama kennenlernen! Du wirst ihn lieben!“ Sie hakte die Leine aus dem Halsband und nahm das begeisterte Tier hoch, das versuche, ihr Gesicht abzulecken, während sie es vorsichtig wie einen Schatz Richtung Wohnzimmer trug. Dem Hund durch das weiche Fell streichelnd und leise vor sich hin summend tänzelte sie durch die Tür. Ihr Blick fand sofort Gray, der bereits auf sie wartete, und sie erstarrte abrupt. Der unglaublich verdutzte Ausdruck auf seinem Gesicht musste sich auf ihrem widerspiegeln und war eigentlich ziemlich drollig. Allerdings konnte sie nicht die Augen von dem flauschigen, wuscheligen, schneeweißen Welpen lösen, den er in den Armen hielt, so dass die Komik der ganzen Situation ihr für den Moment entkam. Der andere Hund hatte die spitzen Öhrchen aufgestellt, sein Schwanz wedelte wie verrückt und seine großen, schwarzen Augen waren aufmerksam auf sie gerichtet. Winter bellte und riss sie damit aus ihrer Überraschung. Der kleine Hund in Grays Armen tat es ihm nach und wand sich so sehr, dass ihr Freund keine andere Wahl hatte, als ihn fallen zu lassen. Winter landete nur einen Moment später auf den hölzernen Dielen und die beiden stürmten sofort aufeinander los. Sie hielten sich nur einen winzigen Augenblick damit auf, sich zu beschnuppern, dann kullerten sie schon gemeinsam über den Boden. Die Welpen kannten sich offensichtlich und Juvia brauchte nicht lange, um daraus zu schließen, dass sie Wurfgeschwister sein mussten. Aber es gab auch nicht allzu viele vertrauenswürdige Samojedenzüchter in der Gegend, kein Wunder, dass sie bei dem gleichen gelandet waren… Dann lachte Gray laut los. „Sag bloß wir hatten die gleiche Idee.“ Juvia kicherte erheitert, die Hände vor den Mund gepresst, und konnte den Blick kaum von dem süßen Bild lösen, das die spielenden Welpen boten. „Juvia möchte das fast meinen.“ Wie verrückt war das denn! Okay, vielleicht war es nicht ganz so verrückt, da sie die Entscheidung ja schon vor einiger Zeit getroffen hatten, aber trotzdem…! Zufälle gab’s… Sie sah auf im gleichen Moment, an dem auch er es tat. Erneut laut loskichernd ging sie zu ihm hinüber und schmiegte sich an ihn, die Arme um seine Hüften gleiten lassend. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und musste sich ganz schön recken, um zumindest fast auf Augenhöhe mit ihm zu kommen. „Juvia … findet … dein … Geschenk … wundervoll.“, erklärte sie und küsste ihn nach jedem Wort kurz auf die Lippen. Seine Arme lagen auf ihren Schultern und er zog sie im Anschluss noch einmal zu einem längeren Kuss heran. Schmunzelnd löste er sich nach einigen Augenblicken wieder von ihr und sah über ihren Kopf hinweg zu den beiden Welpen. „Was sollen wir denn mit zwei Hunden anfangen? So war das eigentlich nicht gedacht.“ Juvia folgte seinem Blick und boxte ihm gespielt empört gegen die Rippen. „Aber du willst sie jetzt doch nicht mehr trennen! Schau sie dir an! So süß wie sie sind!“ Als wüssten sie, dass über sie gesprochen wurde, entwirrten sich die Welpen und setzten sich nebeneinander auf ihre felligen Hintern, um aufmerksam zu ihren Menschen hochzublicken. Juvias Herz schmolz dahin. „Du würdest mir vermutlich ewig in den Ohren liegen, wenn ich das auch nur vorschlagen würde.“ Sein leichter Tonfall sagte ihr, dass es nicht für einen Moment in Erwägung zog. Trotzdem quietschte sie erfreut auf und fiel ihm noch einmal um den Hals. Gray erwiderte die Umarmung ergeben, murmelte aber: „Zum Glück haben wir hier genug Platz…“ Juvia wusste natürlich, dass es ein gewisser Mehraufwand war, nicht nur einen Hund, sondern gleich zwei im Haus zu haben. Auf der anderen Seite – hätte es noch perfekter laufen können! Totomaru würde sich totlachen, wenn sie ihm das erzählten! „Komm, ich muss dich vorstellen.“ Ein wenig bedauernd löste sie sich von ihm, tröstete sich aber damit, dass sie ihn heute noch oft umarmen und küssen konnte. Also warf sie sich vor den Hunden auf den Boden und griff nach dem mit dem blauen Halsband, der willig zu ihr kam. „Das ist Winter!“, machte sie ihn bekannt und hob ihn hoch. Der Hund, der seinen Namen schon kannte, bellte und der zweite Welpe mischte sich eifersüchtig ein und drängte sich gegen ihre Knie, um ebenfalls gestreichelt zu werden. Gray nahm ihr Winter ab, so dass sie den anderen hochnehmen konnte. Sofort wandte sie sich diesem süßen, flauschigen Wattebausch zu, streichelte und knuddelte ihn, ließ sich von ihm das Gesicht ablecken und drückte ihn an sich. „Du musst ihr noch einen Namen geben.“, erklärte Gray von der Seite, Winter am Nacken kraulend, der genüsslich die Augen geschlossen hatte. Noch konnte er den Hund in einem Arm halten, aber bald würde er zu groß dafür sein, und Juvia würde bei dem Anblick am liebsten in Begeisterungsstürme ausbrechen oder in Ohnmacht fallen. Zwischen diesen Möglichkeiten hin und her gerissen tat sie nichts davon, sondern hob nur ihre kleine Hündin hoch und erklärte überzeugt: „Dein Name ist natürlich Summer!“ Gray verdrehte die Augen, als hätte er genau das erwartet, aber das liebevolle Lächeln auf seinem Gesicht strafte der Geste Lügen. „Winter und Summer!“ Juvia seufzte glücklich auf und fühlte sich, als wäre ihr Leben vollkommen. Und zumindest im Moment war es das auch. Das Essen verschob sich tatsächlich nach hinten, nachdem sie ausgiebig mit den Welpen gespielt, ihnen zu Fressen gegeben und noch eine Runde mit ihnen im Garten gedreht hatten. Die Bohnen waren dadurch etwas matschig und die Kartoffeln mussten sie noch einmal aufwärmen, aber das Fleisch kam direkt vom Grill und war vollkommen, zusammen mit ein paar kleinen Häppchen. Ein Wein rundete alles perfekt ab und zum Nachtisch gab es den Schokoladenkuchen. Es war schon weit nach Mitternacht, als sie die Welpen noch einmal nach draußen brachten, dass über die Nacht auch kein Malheur geschah, ehe sie sich ins Bett begaben, noch gar nicht müde. Zum Glück konnten sie am nächsten Tag ausschlafen! Und Juvia hatte natürlich Recht gehabt – der Blick, den Gray ihr schenkte, als sie die Hüllen fallen ließ, war die teuren Dessous eindeutig wert! [Valentinstag | OTP² + Geschenk] The Teddy Incident --------------------------------------------------- Yukino stellte ein großes, liebevoll mit einer roten Schleife verziertes Glas auf den Tisch und ließ sich auf die Bank fallen. Es war eines von diesen großen Einmachgläsern mit der Erdbeere an der Seite und war mit winzigen, dunkelroten Briefumschlägen gefüllt. Die breite Schleife war über und über mit weißen Herzchen bedruckt und ein Schildchen hing davon herunter, auf dem groß You are my Love stand, abscheulich mit noch mehr Herzchen verziert. Sting starrte diese Kitschigkeit einen Moment lang dumpf an und in seinem Hinterkopf regte sich vage ein Gedanke, als sollte er sich an etwas erinnern. Nur kam er beim besten Willen nicht darauf, was es sein könnte. Nach einem Augenblick sah er von dem Glas auf und richtete den Blick auf Yukinos süßes Gesicht, die mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen auf ihrem Handy herumtippte. Ihr kurzes, weißes Haar bewegte sich leicht in dem scharfen Wind und ihre sonst eher blassen Wangen waren von der Kälte gerötet, obwohl sie den Schal bis über das Kinn hochgezogen hatte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sich hier zu treffen, immerhin gab es an der Uni sowas wie Cafeterien oder einfach nur Eingangshallen, in denen Bänke standen. Dort würde ihnen zumindest kein kalter Wind um die Ohren pfeifen. Sting jedenfalls fror sich inzwischen schon den Arsch ab, weil Yukino ihn so lange hatte warten lassen. „Was soll die Flaschenpost?“, wollte er nach einem Moment wissen, da sie seinen Blick anscheinend nicht registrieren wollte. Sie blickte überrascht von ihrem Handy auf, die großen, braunen Augen weit aufgerissen. „Das ist mein Valentinsgeschenk für Loke.“, erklärte sie ahnungslos, dass sie ihm mit nur so wenigen Worten den Boden unter den Füßen wegziehen konnte. „Hast du vergessen, welcher Tag heute ist?“ Sting starrte sie mit weit aufgerissenem Mund an. Er hatte ja gewusst, dass ihm etwas durch die Lappen gegangen war…! Und das an seinem ersten Valentinstag, seit er mit Rogue zusammen war! Rogue, der perfekt und wundervoll und großartig war, und so etwas nicht verdiente! Bis jetzt hatte Sting dieser Tag nie sonderlich interessiert. Kitschig, kommerzgeil, unnötig. Aber bis jetzt war er auch noch nie so ... so … so verliebt gewesen. Ein Gedanke an seinen Freund reichte und er hatte ein dümmliches Lächeln im Gesicht. Allein die Idee, den Schwarzhaarigen zu treffen, ließ ihn aufgeregt und hibbelig werden und sein Bauch kribbelte dann immer vor Vorfreude. Schon bei Rogues Anblick wurden ihm die Knie weich und er wollte sich in dessen Arme werfen, um ihn nie wieder loszulassen. Und wenn dabei ein paar Küsse raussprangen, dann würde er sich nicht beschweren und stattdessen zufrieden grinsen wie die Katze, die den Kanarienvogel gegessen und die Sahne noch in Aussicht hatte. Sting ließ den Kopf nach vorne auf den Tisch fallen, so dass er auf die Tischplatte krachte, laut. „Au!“, jammerte er und rieb sich die Stirn. „Blute ich jetzt?“ Dann hätte er wenigstens eine Ausrede, warum er kein Geschenk für Rogue hatte und sich vor diesem verkroch. Allerdings würde er Rogue dann auch nicht sehen, was eindeutig ein Nachteil in diesem Plan war. Und vielleicht würde ihm eine blutende Wunde ein paar Mitleidsküsse einbringen…? Yukino griff über den Tisch und tätschelte seine Schulter. „Du hast nicht einmal eine Beule.“ Sting seufzte theatralisch auf und ließ wieder den Kopf auf die Tischplatte fallen, auch wenn er diesmal aufpasste, nicht zu hart aufzukommen. Also kein Mitleid? „Sei nicht immer so dramatisch.“, befahl sie ihm gutmütig und ein einsichtsvoller Ausdruck schlich sich auf ihr Gesicht. Auf sie und ihr weiches Herz konnte er eben doch immer zählen! „Hast du nichts für Rogue?“ Er schüttelte den Kopf, den Blick auf seine Stiefel gerichtet. Die müssten mal wieder geputzt werden… „Ich war voll in dieses Projekt vergraben.“, gab er nach einem Moment nuschelnd zu und drehte den Kopf, um sie ansehen zu können. „Und ich hab’s voll vergessen!“ Er warf die Arme hoch und fasste sich an den Kopf. Wie konnte er nur so blöd sein?! „Oh…“, machte Yukino und ihr Blick huschte an ihm vorbei. Vielleicht hatte sie eine Idee für ihn? Immerhin war sie der Liebesguru unter seinen Freunden! Wenn sie keine Lösung wusste, wer dann? „Ich… Hm…“ Sie verstummte, den Mund nachdenklich verzogen. „Ja…?“ Er beugte sich vor. „Du könntest…“ „Jaaaa…?“ Er rutschte auf der Bank nach vorne, bis er auf der Kante saß. „Wie wäre es mit…?“ „Jaaaaaah…?“ Er griff über den Tisch nach ihren Händen. „Du bist meine einzige Chance! Bitte rette mich!“ „Dramaqueen.“ Sie grinste, befreite ihre Finger aber nicht aus seine Griff, sondern erwiderte den Händedruck. „Du hast jetzt zwei Möglichkeiten.“ Sting starrte sie konzentriert an und wagte es kaum zu atmen. Seine Professoren würden jauchzen, wenn er in ihrem Unterricht auch so aufmerksam wäre. „Erstens, du stehst dazu, dass du es vergeigt hast und sagst ihm dazu. Ich bezweifle, dass Rogue dir deswegen die Hölle heiß macht.“ „Aber er ist immer perfekt.“, antwortete Sting, wenig überzeugt von der Idee. „Ich will auch perfekt für ihn sein.“ Jetzt nahm sie ihm doch eine ihrer Hände weg und zog ihm eins über den Kopf. Empört starrte Sting sie an und rieb sich die Stelle, wo sie ihn getroffen hatte. „Er liebt dich so, wie du bist.“, versicherte sie ihm, ihr Tonfall streng. „Versuch nicht, dich zu verdrehen.“ Sting verzog das Gesicht. „Und die andere Möglichkeit?“ „Zweitens, du geht jetzt los und besorgst ein Geschenk für ihn. Er hat doch noch ein Seminar oder so?“ Sting nickte. „Und danach muss er arbeiten.“, murmelte er und seine Gedanken überschlugen sich. Eigentlich hatte er auch noch eine Vorlesung. Aber die war eh langweilig und einmal konnte er sie auch sausen lassen. Irgendeinen Kommilitonen konnte er schon dazu überreden, dass er die Notizen bekam. Jetzt hatten sie erst kurz nach eins, wie ein kurzer Blick auf seine Uhr zeigte. Also hatte er noch ein paar Stunden, bevor er Rogue überhaupt treffen konnte. Bis dahin würde er schon etwas finden! Und ihm würde vorher irgendetwas einfallen! „Worauf wartest du dann noch?“, wollte Yukino wissen und machte eine scheuchende Bewegung mit der Hand. „Ich muss jetzt langsam eh zu Lokes Wohnung und mit dem Kochen anfangen.“ Sting sprang von seinem Platz auf. „Du bist die Beste!“ Er stolperte beinahe über die Bank in seiner Hast und bemerkte gar nicht mehr, wie seine beste Freundin nachsichtig lächelnd den Kopf schüttelte, während sie ihm hinterher sah. ~~❣~~ღ~~❣~~ Mit hängenden Schultern starrte Sting durch das Schaufenster auf die dahinter kunstvoll angerichtete Auslage. Schokoladenherzen, -schleifen, -tafeln und was man sonst noch so alles aus der leckeren Süßigkeit herstellen konnte, schienen ihn von ihren kleinen Podesten aus anzulachen. Handgeschriebene Kärtchen aus schwarzem Karton, verziert mit Gold und Silber, zeigten die Preise an – hoch, aber durchaus angemessen für die Produkte. Alles wirkte sehr edel und erstklassig, die Schrift elegant und geschwungen, die Süßigkeiten in dunkelblaues Papier geschlagen oder edle Boxen aus Karton verpackt. Auch der Laden, der im Hintergrund zu sehen war, sah ähnlich aus. Sting lief allein bei dem Anblick das Wasser im Mund zusammen. Er hätte keine Probleme, alles dort zu verspeisen und zwar in einer Sitzung. Echt absolut kein Problem. Außer die mit Fruchtgelatine, widerlich, wie konnte man sich solche Abscheulichkeiten nur antun?! Es gab in der Auslage natürlich einen ganzen Abschnitt, der extra den Valentinstagpräsenten vorbehalten war, die teilweise sogar in ein für ihn bezahlbares Preissegment fielen. Und davon würde sicher etwas für den Schenkenden abfallen. Der Haken? Im Gegensatz zu seinem Freund aß Rogue vielleicht alle Jubeljahre mal ein Stück Schokolade oder eine Praline. Damit konnte man ihm also keine große Freude machen. Nur mit Mühe riss Sting sich von dem Schaufenster los. So nett die Geste auch wäre, sie ginge an die falsche Person. Nett und vor allem einfach und jetzt noch machbar. Im Gegensatz zu anderen Sachen… Er hatte einfach keine Idee und mit den typischen Geschenken wollte er auch nicht einfach ankommen! Zuerst hatte er einen Blumenladen angestrebt. Eine Weile war er um die doch eher magere, weil halb ausverkaufte Auswahl herumgeschlichen, während eine übereifrige Verkäuferin ihm gefolgt war. Sie war zur Hälfte damit beschäftigt gewesen, ihm hässliche Gestecke aufzuschwatzen, halb damit, ihm auf den Arsch zu starren. Also hatte er das Geschäft ohne Ausbeute wieder verlassen. Rogue würde mit einem Blumenstrauß nicht viel anfangen können und Sting konnte das durchaus nachvollziehen. Mit einer Topfpflanze wäre er besser bedient, wenn er nicht ganz genau wüsste, dass Rogue jede Blume nach spätestens einem Monat zugrunde richten würde. Das war nicht der Sinn der Sache. Irgendeine dumme Karte wollte er nicht besorgen und sich so einen Aufwand machen wie Yukino, die ihr Geschenk von Hand selbst hergestellt hatte, das war ihm zu viel. Für solche Sachen wie ein Foto mit ihm und seinem Freund, irgendein personalisiertes Schmuckstück oder Klimbim hätte er schon früher daran denken müssen und auch eine selbstgemachte Torte fiel in diese Sparte – nicht dass er überhaupt backen konnte. Außerdem war da wieder das Problem, dass sein Freund nicht auf Süßigkeiten stand. Kitschigen Blödsinn wie ‚Schlüssel zu meinem Herzen‘, Schlüsselanhängern mit Aufschriften wie ‚Be My Valentine‘ oder noch schlimmer, kleine Pfeile mit demselben Schriftzug waren auch nicht gerade so sein Ding. Andere Sachen fielen für ihn eh von vorn herein weg – sie konnten nichts mit einem Set von zwei Tassen anfangen, auf denen ‚Mr. Right‘ und ‚Mrs. Right‘ stand, verdammt noch mal! Selbst Ausstecherformen in Form von vögelnden Leuten oder Nudeln, die wie … ähem … gewisse männliche Körperteile geformt waren, waren jetzt nicht wirklich das Richtige, auch wenn sie ihn zum Lachen gebracht hatten. Aber Rogue hatte viel mehr Klasse als das. Warum genau hatte Rogue noch einmal zugestimmt, auf ein Date zu gehen…? Und danach auch noch damit weiter zu machen? So wirklich hatte Sting sich das noch nicht erschlossen, aber er würde jetzt sicher nicht anfangen, irgendwelche blöden Fragen zu stellen! Aber das half ihm bei seinem aktuellen Problem auch nicht weiter. Er wollte Rogue ja eine Freude machen… Aber er hatte nur noch wenig Zeit, nachdem er die meiste davon damit vergeudet hatte, durch Geschäfte zu streifen und sich selbst abzulenken. Ein Blick auf die Turmuhr zeigte, dass es keine zwei Stunden mehr waren und er musste auch noch zur Wohnung rausfahren. Aber wirklich eine Idee hatte er immer noch keine. Vielleicht sollte er einfach hingehen und sich selbst eine Schleife um den Hals binden. Das wäre zumindest ein Geschenk, das Rogue gefallen würde. Hoffte er zumindest. Lustlos schob er seine Hände in die Hosentaschen und stapfte weiter. Warum musste er sich über so einen Mist überhaupt Gedanken machen? Früher hatte der alberne Tag ihn auch nie interessiert und er hatte immer über die Leute gelacht, die so einen Aufwand dafür betrieben. Ach ja… Weil Rogue es ihm wert war. Mehr als das. Mit einem lauten Seufzen steuerte er das nächste Schaufenster an und setzte seine Suche fort. In allen Auslagen gab es im Moment kleine Valentinstagecken, vielleicht bekam er ja so eine Idee? Aber es gab nichts, das ihm zusagte, obwohl das Angebot so groß und weit gefächert war. Dessous waren nicht so wirklich das Richtige für ihn – ach nee! Diese kitschigen Teddys mit ihren Herzen auch nicht so das Wahre, zumal sie nicht einmal eine substantielle Größe hatten, außerdem befanden sich nur noch ein paar recht traurig aussehende Exemplare in den Regalen. Aftershave und Co fielen auch flach, außerdem mochte er den Geruch von dem, den Rogue im Moment benutzte, ganz gern. Eine Packung Kondome erschien ihm zu vulgär. Auf seiner Suche nach dem passenden Geschenk wanderte er Straßen hinunter, die ihm vorher noch nie aufgefallen waren. Rogue kannte sie vermutlich alle auswendig – er liebte die adretten, schmalen Gassen des mittelalterlichen Viertels, die teilweise nicht einmal groß genug für Autos waren und in denen sich obskure Läden, kleine Cafés und Bistros aneinanderreihten, unterbrochen von Privatwohnungen und Torbögen, die in Hinterhöfe führten. Vielleicht sollte er einfach etwas besorgen, das Rogue gefallen würde, unabhängig von dem Tag und seinem Thema. Dummerweise wusste er nicht, was sein Freund alles schon für Bücher besaß, das erweiterte sich ständig, Filme kaufte er sich selber und Musik sowieso… Was war mit einem Gutschein zum Essen? Aber Gutscheine waren die Lösungen für Verzweifelte, die keine anderen Ideen hatten. So tief war er noch nicht gesunken! Außerdem waren sie immer arschteuer, zumindest, wenn man eine angemessene Mahlzeit damit bezahlen wollte – drei Gänge, mindestens, und für zwei. Keine Chance, dass Sting sich das leisten konnte! Er seufzte tief und starrte auf eine Auslage eines Pfandleihers slash Antiquariats. Selbst hier gab es ein paar kleine Valentinstipps – einige Schmuckstücke, ein altes Buch mit Liebesgedichten (ugh!), echte Schallplatten mit bekannten Liebesliedern… „Du bist reichlich spät, wenn du deinem besonderen Mädchen noch eine kleine Aufmerksamkeit besorgen willst.“, bemerkte eine freundliche Stimme neben ihm. Sting fuhr herum, automatisch in Defensivstellung. „Ich habe an einem wichtigen Projekt gearbeitet!“, verteidigte er sich heftig. „Und was geht Sie das überhaupt an!“ Neben ihm stand ein winziger, alter Mann mit einem schütteren, grauweißen Haarkranz um den ansonsten kahlen Schädel und einem gutmütigen, runzligen Gesicht. Er trug einen langen Mantel mit Pelzbesatz, der eine Spezialanfertigung sein musste, denn wo gab es solche Kleidungsstücke in Miniaturausfertigung? Der Knirps musste ja in der Kinderabteilung einkaufen! Jetzt zuckte er mit den Schultern und hob die Hände. „Du siehst ziemlich verzweifelt aus und ich dachte, ich könnte vielleicht helfen.“ Seine Stimme war nicht urteilend und schon gar nicht abschätzend; sein Gegenüber zählte einfach Fakten auf. Und irgendwie hatte der freche, alte Kerl ja recht… Aber er musste es ihm trotzdem nicht so unter die Nase reiben! Sting sackte zusammen und verzog beleidigt das Gesicht. Machte er wirklich so einen mitleiderregenden Eindruck, dass Fremde ihn auf der Straße ansprachen? Wo kam er denn da hin?! „Na, komm mal mit rein und wir sehen, was wir für dich finden…“ Der Alte schob die hölzerne Tür zum Geschäft auf, auf deren Schreibe mit verschnörkelten Buchstaben Fairy Tail stand, und hielt sie ihm einladend auf. Sting folgte ihm nur zögernd. Wiese sollte er einem Typen trauen, der nicht einmal den Namen seines Ladens richtig schreiben konnte? Muffige Luft drang ihm entgegen und der hintere Teil des verwinkelten Verkaufsraumes wirkte ziemlich düster. Die hohen, mit allem möglichen Klimbim vollgestopften Regale machten ihn noch unübersichtlicher und formten eine Art Labyrinth. Tische, Kommoden, Sofas und andere Möbelstücke, die zum Verkauf standen, sorgten für noch mehr Verwirrung und diverser Kram, der auf dem Boden herumstand oder -lag – Statuen, Bücherstapel, hohe Kerzenständer, Blumentöpfe, was auch immer – vervollständigten das Chaos. Wie fand sich hier überhaupt jemand zurecht?! Vielleicht war das doch keine so gute Idee gewesen… Sting erschauderte und wartete beinahe darauf, dass ein maskierter Axtmörder hinter einem der Regale hervorsprang, während er dem Alten zum Verkaufstresen folgte. Das wäre ein tolles Valentinstagsgeschenk für Rogue… Die Theke war verglast, so dass man einen Blick auf die Schmuckauslage darin sehen konnte, und verschlossen. Es waren ein paar wirklich schöne Stücke darunter, manche offensichtlich auch alt genug, um aus Urgroßmutters Schmuckkiste zu stammen, selbst für einen Laien wie Sting. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass das nicht so das Richtige für Rogue war. Hinter dem Tresen gab es offensichtlich eine Erhöhung, denn plötzlich befand er sich mit dem winzigen Ladenbesitzer beinahe auf Augenhöhe. „Also.“, begann der Mann, nachdem er seinen Mantel von den Schultern gestreift und einen altmodischen, aber schicken Anzug darunter zum Vorschein gebracht hatte. „Was mag deine Liebste denn so? Eine solche Kette kommt immer gut an oder vielleicht lieber ein Paar Ohrringe? Aber du wirkst nicht sehr interessiert daran…“ Der Alte schaute an Sting vorbei und ließ den Blick durch seinen Laden schweifen. „Etwas Praktisches vielleicht, je nachdem, wie weit ihr schon in der Beziehung vorangeschritten seid? Oder wie wäre es mit einem Bild oder vielleicht eine edle Vase aus Übersee? Darin würde sich ein schöner Strauß gut machen und es gibt nur wenige Frauen, die so etwas widerstehen können.“ „Er mag Bücher.“, murmelte Sting und sah sich um. Tatsächlich studierte Rogue Altfiorianisch, vielleicht fand er hier tatsächlich etwas? Außer, der Alte schmiss ihn jetzt hochkant raus, nachdem der schon die ganze Zeit von der ‚Liebsten‘ gefaselt hatte und Sting jetzt das korrekte Geschlecht angab…? Doch der Ladenbesitzer überging seinen eigenen Faux Pas mit einer Nonchalance, als wäre er nie passiert. „Bücher also! Damit kann ich natürlich dienen. Hier entlang.“ Der Alte führte ihn noch tiefer in den Laden, bis sie zu einem Abschnitt kamen, an dem die Regale so dicht standen, dass es sicher einige Leute gab, die darin stecken blieben würden. In jede freie Lücke waren Bücher gestopft, alte, in Leder gebundene Wälzer, Bildbände, Paperbacks, gebundene Literatur… Sie waren in keiner erkennbaren Reihenfolge geordnet, sondern wirkten eher, als wären sie so untergebracht worden, um jeden Millimeter optimal auszunutzen. Gigantische Bücherstapel lehnten an den Frontseiten, die diese Theorie nur noch unterstützten. „Welches Genre darf es denn sein? Klassische Liebespoesie? Oder doch lieber schlüpfrigere Geschichten?“ Der Mann wackelte mit den Augenbrauen und Sting wäre am liebsten zurückgewichen. In Gegenwart dieses alten Knackers wollte er nicht einmal an dieses Thema denken! Da verging es doch jedem! Doch ehe er antworten konnte, fiel sein Blick auf einen anderen Gegenstand, der auf einem antiken Stuhl lag, und unwillkürlich breitete sich ein Lächeln über sein Gesicht aus. „Ich nehme das da.“ ~~❣~~ღ~~❣~~ Das Geschenk die Treppen der drei Stockwerke hochzuschleppen war definitiv anstrengender, als Sting es sich vorgestellt hatte. Warum lebte Rogue in einem Haus, in dem es keinen verdammten Fahrstuhl gab?! Oh ja, weil es bezahlbar war. Wenigstens war seine Last für die doch beachtliche Größe – immerhin war Sting selbst nur wenig größer – doch relativ leicht, wenn auch ein wenig unhandlich und sperrig. Es tendierte außerdem dazu, an Ecken und Geländern hängen zu bleiben, als würde es sich festklammern. In der Straßenbahn hatte er einige seltsame oder sogar pikierte Blicke bekommen, weil er es neben sich auf den Platz gesetzt hatte. Keuchend kam er endlich auf dem gewünschten Treppenabsatz an und lehnte sich einen Moment an die Wand, das Geschenk auf seinen Füßen abgestellt. Die alte Hexe, die neben Rogue wohnte, starrte erst es, dann ihn an, als hätte er sie persönlich beleidigt. Sting schenkte ihr sein liebenswürdigstes Lächeln, während sie sich mit einem Schnaufen an ihm vorbeischob. Er sammelte seine Last wieder ein und schleppte sie nach hinten vor Rogues Tür. Sie noch etwas höher hievend, betätigte er mit einer Hand die Klingel und trat dann einen Schritt zurück um zu warten. Einen Moment später hörte er Schritte und dann wurde die Tür geöffnet und- „Was zum Teufel…?!“, hörte er Rogues fassungslose Stimme. „Wa…“ Offensichtlich fehlten ihm die Worte. Sting streckte den Kopf hinter seinem Geschenk hervor und grinste seinen Freund, der strumpfsockig in der Tür stand, in Jeans und einem einfachen Sweatshirt einfach umwerfend gutaussehend. Das halblange schwarze Haar trug er zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, so dass nur eine Ponysträhne in sein attraktives Gesicht fiel, und das eine rubinrote Auge, das zu sehen war, war weit aufgerissen. „Schöner Valentinstag!“, posaunte Sting triumphierend heraus. Rogue brauchte einen Moment, um den überwältigten Blick von dem präsentierten Geschenk loszureißen und seinen Freund anzusehen. Sein Mund bewegte sich, als wollte er etwas sagen, nur das kein Ton über seine Lippen drang, offensichtlich überwältigt von der Überraschung. Stings Grinsen wurde breiter. Bis dahin hatte er doch ein wenig gezweifelt, ob er wirklich das Passende gefunden hatte. Aber wer wollte denn keinen Riesenteddy haben?! Er hatte doch gewusst, dass es das Richtige war! Doch seine Freude wurde schon einen Moment später gedämpft, als sich Rogues vermeintliche Freude als verblüffte Verständnislosigkeit herausstellte, denn er murmelte: „Oh richtig…“ Er rieb sich die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen, als Minerva mit der Schokolade kam.“ Sting blinzelte verwirrt. „Warum schenkt Minerva dir Schokolade?“ Dann hellte sich sein Gesicht auf. „Isst du sie alleine? Sicher nicht, oder?“ Er versuchte seinen unschuldigsten Augenaufschlag. Rogue zog eine Augenbraue hoch und ein feines Lächeln umspielte seine Lippen. „Das ist da erste, woran du denkst…? Minerva macht jedes Jahr für diesen Tag Schokolade, daran hätte ich denken können, als sie heute Morgen damit ankam.“ Es dauerte einen weiteren Moment, ehe der Sinn der Worte bei Sting ankam. Dann klappte seine Kinnlade herunter. „Wa…?“, begann er dann entsetzt. Rogue hatte es vergessen?! Sogar noch mehr als er selbst?! Obwohl er tatsächlich schon Schokolade bekommen hatte? „Warum hab ich mir die Mühe gemacht?!“, jammerte er los. „Ich habe Kälte und unzählige kitschige Ideen und nervige Verkäufer, die mir allen möglichen Scheiß aufschwatzen und mich fast angefallen hätten, auf mich genommen! Und das nur, um dir ein perfektes Geschenk zu bringen! Und du hast es vergessen?!“ Dass er selbst von Yukino darauf aufmerksam gemacht worden war, ließ er weise unter den Tisch fallen. „Und dein Ergebnis war ein riesiger Teddy? Ein ziemlich verunglückt aussehender Teddy, möchte ich hinzufügen.“ Die Worte klangen ziemlich zweifelnd an Stings Verstand. Aber da der noch immer versuchte, wieder auf den richtigen Weg zu kommen, bemerkte er das nicht einmal. „Vergessen?!“, wiederholte er weinerlich. Warum hatte er bloß Yukino getroffen? Er hätte in unschuldiger Unwissenheit hierherkommen, ohne eine Odyssee durch die Innenstadt anzutreten, und den Abend in glückseliger Ahnungslosigkeit mit seinem Freund verbringen können, mit ihnen beiden so klug wie zuvor. „Ich bin nicht so der Fan davon…“, gab Rogue zu und trat endlich einen Schritt zurück um ihn hereinzuwinken. Sting konnte allerdings nur dastehen und nach richtigen Worten suchen. Sein Verstand war ziemlich leer, was allerdings öfter der Fall war, wenn er Rogue gegenüberstand, also hatte er genug Übung damit, um zumindest eine zusammenhängende Antwort hervorzubringen: „Aber er ist so toll!“ Um seinen Punkt zu unterstreichen hob er den Teddy hoch und schüttelte ihn einen Moment. Der Kopf schlenkerte ziemlich bedenklich herum und sein Gesicht war etwas platt und eingedrückt, weil ihm Füllung fehlte, und die einzelnen Züge waren nicht ganz am richtigen Platz, sondern alle um ein paar Millimeter verschoben. Eines der Augen aus riesigen, schwarzen Knöpfen fehlte und das hellbraune Fell war an einigen Stellen bereits ein bisschen kahl, an anderen hatte er Flicken aus einem komplett anderen Material – ein rosa Stoff mit Blümchen hier und ein schwarzer mit weißen Totenköpfen da und dort himmelblaue Karos… Ein Teil von dem rechten Ohr fehlte, das trotzdem rücksichtslos geflickt worden war, so dass das Organ jetzt ziemlich krumm und verkrüppelt aussah. Sting hatte sogar einige Minuten damit verbracht, ihn auszuklopfen, so dass der Staub größtenteils weg war. Zudem war er fast so groß wie er. Rogue jedenfalls überzeugte dieses einleuchtende Argument nicht. „Und was soll ich denn damit anstellen?“ „Jeder will einen Riesenteddy!“, erklärte Sting überzeugt und ein wenig enttäuscht, dass seine Idee nicht so gut ankam wie erhofft. „Aber…“ Rogue unterbrach sich und atmete tief ein. Er wirkte ziemlich überfordert, aber dann kam er zu einer Entscheidung. „Jetzt komm erstmal rein.“ Sting folgte der Aufforderung und sein Freund schloss die Tür hinter ihm. Im Vorbeigehen streifte er sich die Schuhe von den Füßen und ließ umständlich Rucksack und Jacke fallen, ohne den Bären aus der Hand zu geben, während er fieberhaft versuchte, Rogue doch noch von seinem Geschenk zu überzeugen. Eigentlich war Valentinstag ihm egal. Aber jetzt hatte er so viel Mühe damit gehabt, jetzt wollte er doch, dass seinem Freund etwas davon hatte, verdammt noch mal! „Ich meine, okay, er sieht ein wenig mitgenommen aus, aber das zeigt nur, dass er ein aufregendes Leben hatte und große Schlachten geschlagen hat! Seine Narben berichten noch davon! Ein richtiger Lebemann!“ Rogue schenkte ihm einen amüsierten Blick, sagte aber nur: „Setz ihn erstmal irgendwohin.“ Mit einem tiefen, dramatischen Seufzen kam Sting der Antwort nach und platzierte den Bären auf einem der beiden Stühle, die in der engen Küche standen. Der Kopf des Teddys sackte niedergeschlagen nach vorne und Sting tätschelte ihn zwischen den Ohren, was ihn ein wenig gerader aufrichtete. „Keine Sorge, Kumpel, er wird lernen, dich mit all deinen Fehlern und Unvollkommenheiten zu akzeptieren. Du musst ihm nur ein wenig Zeit lassen. Ich verspreche dir, früher oder später wirst du die richtige Person treffen, die dich trotzdem oder genau deswegen lieben wird.“ Rogue hinter ihm stieß ein abgehaktes Husten aus, das verdächtig nach unter unterdrücktem Kichern klang. Sting drehte sich zu ihm um und deutete anklagend auf den Teddy. „Du hast ihn traurig gemacht. Ich finde, du solltest dich entschuldigen.“ Statt einer Antwort überquerte Rogue den Abstand zwischen ihnen mit zwei Schritten, nahm sein Gesicht in beide Hände und presste ihm die Lippen auf den Mund. Stings Verstand gab endgültig auf, als würde er kurzschließen. Dann hob er automatisch den Kopf, um sich Rogue entgegen zu recken, und ließ die Hände um die Hüften seines Freundes gleiten, um sich näher an ihn zu pressen. Rogues Wärme sickerte durch seine Kleidung hindurch, um die Kälte zu verbreiben, die sich während des langen Nachmittags im Freien in Stings Knochen festgesetzt hatte. Er seufzte genüsslich auf und bewegte die Lippen gegen die des anderen, ein langsamer, sinnlicher Tanz. Rogues Hände glitten in seinen Nacken und der Schwarzhaarige knabberte zärtlich an der Unterlippe seines Partners, ehe er mit der Zunge über die Stelle strich und dann tiefer in seine Mundhöhle vordrang. Sting merkte erst, dass er langsam zurückgedrängt wurde, als er mit den Schultern gegen die Wand stieß. Nicht, dass ihn das störte… Rogues muskulöser Körper presste sich verlangend und fordernd gegen seinen und er stöhnte in den Kuss, während die Lippen des anderen sich von seinen lösten und einen heißen Pfad über seine Wange und zu seinem Hals zog. Stings Blick irrte haltlos durch die Küche, zu gefangen von den Zärtlichkeiten und den wilden Gefühlen, die sie in ihm auslösten – Liebe, Leidenschaft, Erregung, wie immer gemischt mit dem Unglauben, dass es wirklich und echt Rogue war – um sich auf etwas konzentrieren zu können. Dann glitt sein Blick an dem braunen, etwas unförmigen Gesicht vorbei und blieb an dem schwarzen Knopfauge hängen. „Hey, Mann, schau uns nicht so an. Spannen ist unhöflich.“, erklärte er dem Teddy über Rogues Kopf hinweg. Der hielt inne, die Lippen noch immer auf Stings Haut und warum hatte er aufgehört? Seine Finger krallten sich um Stings Hüften und einen Moment später zuckten seine Schultern unter lautlosem Gelächter, das er ohne viel Erfolg zu unterdrücken versuchte. Sting fuhr ein Schauer über den Rücken von dem Gefühl, das Amüsement seines Partners so direkt zu spüren. „Ist doch wahr.“, erklärte er und machte eine Handbewegung in Richtung des Teddys. „Der schaut, als könnte er nicht genug von der Show kriegen.“ Rogues Schultern zuckten noch heftiger und er löste sich jetzt endgültig von seinem Freund. Der verzog beleidigt das Gesicht bei dem Verlust des Körperkontaktes, aber Rogue lehnte sich lachend neben ihm an die Wand und ihre Schultern pressten sich gegeneinander. „Manchmal frage ich mich, was in deinem Kopf vor sich geht.“, erklärte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du das für eine gute Idee gehalten hast.“ „Jeder will einen Riesenteddy.“, wiederholte Sting seine Überzeugung zuversichtlich. „Ich meine… wie kann man ihn nicht lieben?“ Er machte eine Bewegung mit beiden Händen, die den gesamten Wunderbären einfassen sollte. „Er ist ein riesiger Staubfänger, der im Weg herumgeht.“, antwortete Rogue praktisch und offensichtlich noch immer nicht überzeugt. „Hör nicht auf ihn!“, erklärte Sting dem Bären sofort dramatisch. „Er braucht nur etwas, um sich für jemanden zu erwärmen. Mach dir mal darum keine Sorgen.“ Rogue brach wieder in hilfloses Gekicher aus und ließ sich schwer auf den zweiten Stuhl fallen. Wenigstens fand er die ganze Sache lustig – oder wohl eher die damit zusammenhängenden Possen seines Freundes. Sting folgte ihm langsamer, die Hände in die Hosentaschen geschoben. Etwas enttäusch war er schon, das musste er zugeben. Aber was hatte er erwartet bei seiner überstürzten, verspäteten Suche nach einem passenden Geschenk? Aber auch wenn es seinem Freund letztendlich doch nicht gefiel, zumindest einen guten Lacher hatte er davon. Das war doch auch schon etwas wert. Doch seine Aufmerksamkeit wurde bald abgelenkt, denn auf dem Tisch stand eine flache metallene Dose in Herzform, deren Deckel zur Seite geschoben war, so dass der Inhalt deutlich zu sehen war. Es waren Süßigkeiten, größtenteils Bruchschokolade mit Smarties, Nuss- und Keksstücken darin, eingeteilt in schwarze, weiße und braune, und ein paar äußerst professionell aussehende Pralinen. „Hey, ist das die Schokolade, die Minerva dir gegeben hat?“, wollte er wissen und blickte seinen Freund, der sich inzwischen wieder beruhigt hatte, aufgeregt an. „Kann ich sie haben? Du magst sie ja eh nicht.“ Rogue starrte ihn für einen Moment ungläubig an und zuckte dann mit den Schultern, ehe er nachsichtig den Kopf schüttelte. „Weißt du, du bist der einzige, den ich kenne, dessen Reaktion darauf, dass dein Partner zum Valentinstag Schokolade von jemand anderem bekommt, fragt, ob er sie essen kann, anstatt sich sorgen um seine Beziehung zu machen.“ „Du würdest niemals Minerva daten.“, erklärte Sting überzeugt und Rogue zog eine Augenbraue hoch, doch sein Schmunzeln zeigte, dass er es nicht ernst meinte. „Ach ja?“ „Natürlich nicht! Erstens würde niemand Minerva daten, der noch einen Funken Verstand übrig hat. Und du hast davon mehr als die meisten.“ Rogue wurde leicht rot unter dem Kompliment, fiel aber nicht aus der Rolle, sondern wiegte nur den Kopf, als würde er über die Worte nachdenken, aber noch nicht ganz überzeugt sein. „Und zweitens, du bist mit mir zusammen.“ Sting breitete die Arme aus, als wäre das alle Erklärung, die man brauchte. Tatsächlich hatte er sich noch nie so unsicher in eine Beziehung gefühlt. Gerade weil sie ihm so wichtig war, weil Rogue mehr war, als er je erwartet hatte, und besser und perfekter und alles, was er wollte und brauchte. Gerade weil er ihn so verdammt liebte und sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Und Rogue sah äußerst süß aus, wie er sich auf seinem Stuhl noch etwas dunkler verfärbte und dann eine verlegene Handbewegung zu der Schokolade machte. „Lass mir was von der schwarzen übrig, okay?“ Sting grinste ihn erfreut an und realisierte kaum den atemlosen Ausdruck auf Rogues Gesicht, während er sich schon bediente und ein Stück der weißen Bruchschokolade aus der Box fischte. Er stieß ein genüssliches Stöhnen aus, als er hineinbiss. Sie zerging geradezu auf der Zunge, einfach himmlisch. Warum studierte Minerva eigentlich, statt eine eigene Patisserie zu eröffnen? Verschwendetes Talent… Eine Weile knabberte er an dieser göttlichen Süßigkeit, jeden Bissen genießend, ehe er sich räusperte und erklärte: „Ich wollte dir nur eine Freude machen.“ Den Blick noch immer auf die Tischplatte gerichtet wagte er es nicht, Rogue anzusehen. Er hatte noch nie mit dem anderen darüber gesprochen; tatsächlich fand er, dass er seine Unsicherheit, was ihre Beziehung anging, ganz gut überspielt hatte. „Du bist immer so perfekt und … und … perfekt und ich wollte das auch mal für dich sein und…“ Er verstummte und nagte an seiner Unterlippe. Wie konnte er das alles nur in Worte fassen? Mit sowas hatte er nicht viel Erfahrung, bevorzugte er es doch, eine selbstbewusste Fassade zu wahren. Finger umschlossen sein Handgelenk und er wandte sich dem anderen unwillkürlich zu. „Hey… Du musst dich nicht überschlagen, um mich irgendwie … glücklich zu machen oder so. Du machst überhaupt nichts falsch. Und ich bin nicht perfekt.“ Stirnrunzelnd sah Rogue ihn an, Verwirrung im Blick. „Irgendwie schon.“, verteidigte Sting sich. „Du weißt immer genau, was los ist und was ich brauche, genau wenn ich es brauche. Und du versuchst, es mir zu geben. Du bist immer auf alles vorbereitet, deine Noten sind perfekt und du hast dein Leben schon komplett durchgeplant und weißt genau, was du dafür tun musst und du tust das auch. Ich bin Chaos personifiziert, vor allem neben dir, und im Moment bete ich nur, dass ich die nächste Prüfung nicht in den Sand setze und ich habe noch keine Ahnung, was ich nach der Uni mal tun will, und…“ „Sei still.“ Rogues Hände glitten um seine Hüften und er zog ihn zu sich herüber und herunter, so dass Sting schließlich auf seinem Schoß saß. Sich bereits vorbeugend nahm Rogue ihm blind die Schokolade aus der Hand, um sie auf den Tisch fallen zu lassen, während er die Lippen seines Partners erneut mit den eigenen einfing. Der Kuss war so unglaublich zärtlich und sanft, dass Sting nichts tun konnte, als seine Lider zufallen zu lassen und ihn zu genießen. Darin lagen alle Gefühle, die Rogue sonst nie aussprach, so klar und deutlich übermittelt, als würde er sie in Blockbuchstaben aufschreiben. Und Sting wusste nicht, was er mit dieser zielstrebigen, nachdrücklichen Intensität anfangen sollte, so sehr überwältigt war er davon. Doch Rogue ließ nicht wieder von ihm ab und seine Bewegungen wurden fordernder, leidenschaftlicher, aber nicht weniger liebevoll. Unsicher ließ Sting sich auf den Kuss ein, noch immer erschüttert davon, die Arme auf Rogues Schultern abgelegt. Er wagte es kaum, etwas anderes zu tun, aus Angst, den Zauber zu brechen, diese Zärtlichkeiten zu verlieren, wenn er nur eine heftige Bewegung tat. Doch Rogue schien auf der gleichen Wellenlänge wie er zu sein, denn seine Hände glitten in Stings Gesäßtaschen, um ihn festzuhalten, doch auch er vertiefte den zarten Kuss nicht. Es schien ihm zu reichen, einfach in Stings Nähe zu sein, die zaghaften Erwiderungen zu spüren und zu wissen, dass seine Gefühl erwidert wurden. Es dauerte eine Weile, ehe sie sich voneinander lösten, und er lehnte die Stirn gegen die seines Freundes und sein Atem fächerte über dessen Haut. „Ich liebe dich.“, flüsterte Rogue gegen seine Lippen und Sting fühlte die Worte bis in sein tiefstes Innerstes. Das war das erste Mal, dass Rogue sie so direkt aussprach, und Sting konnte seinen Herzschlag im ganzen Körper spüren, wie eine Antwort auf die Worte. „Chaos personifiziert und alles. Gerade… gerade weil du so wild und ungezügelt und lebensfroh bist, weil du einfach für den Moment lebst ohne dir Sorgen um die Zukunft zu machen und… all das.“ Das Lächeln, das sein ganzes Gesicht zu verändern schien, war sanft und wunderschön und voller Liebe. Sting brauchte nicht mehr Worte um zu verstehen, dass sie zusammengehörten, die zwei Gegensätze, die sich so perfekt ergänzten. Er konnte nicht anders, er grinste breit und beugte sich für einen weiteren Kuss vor, wilder diesmal und tiefer. Rogue keuchte unwillkürlich in seinen Mund und krallte die Hände in seinen Hintern, wie um ihn noch näher zu sich zu ziehen, und Sting konnte ein lautes Stöhnen nicht unterdrücken. Nach einem letzten, sachten Biss löste er sich von seinem Partner und warf einen kurzen Blick zu dem Teddy hinüber. „Ich bin dafür, dass wir in dein Schlafzimmer umziehen, wo wir unsere Ruhe haben.“ Rogue warf ihn beinahe auf den Boden in seiner Hast aufzustehen, und ließ ihn nicht einmal los. „Aber können wir die Schokolade mitnehmen?“ ~~❣~~ღ~~❣~~ Sting packte gerade seine Bücher ein, als sein Handy vibrierte und anzeigte, dass er eine neue Nachricht bekommen hatte. Weil er nach diesem Seminar heute sonst nichts mehr hatte und eh noch eine Stunde Zeit, ehe er im Café zum täglichen Spießrutenlauf – auch bekannt als Arbeit – antreten musste, nahm er es hoch. Unwillkürlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als er erkannte, dass es eine Nachricht von Rogue war und er öffnete sie. Frosch liebt ihn, stand da nur und für einen Moment fragte er sich, worum es hier ging. Ihn? Das konnte alles bedeuten, angefangen bei einem hypothetischen, von Rogue selbstgemachten Kuchen, über einem angenommenen Lurch, den sie im Garten gefangen hatte, bis hin zu dem Alien, den sie aus dem Teich gerettet haben könnte. Letzteres würde ihn gar nicht wundern, Frosch machte lauter so verrückte Sachen und tat dann so, als wären sie ganz normal. Zumal es äußerst leicht war, Rogues kleine Schwester von irgendetwas zu begeistern, das schränkte das Gebiet also auch nicht sonderlich ein. Einen Augenblick später trudelte ein Foto ein und Sting klickte drauf, um es zu vergrößern. Darauf war der Teddy mit einem neunjährigen Mädchen zu sehen, das ein ganzes Stück kleiner war als das Plüschtier. Sie hatte ein süßes, rundes Gesicht, das grüne Haar zu zwei Rattenschwänzchen gebunden und strahle. Ihre Arme hatte sie fest um den Bären geschlungen, dessen Pranke über ihre Schulter drapiert war und ihr glücklich-herausforderndes Gesicht war mit einem triumphierenden Ausdruck auf die Kamera gerichtet. Sieh, das ist mein neuer Freund und wenn du ihn haben willst, musst du es mit meiner Armee von lebenden Amphibien und Stofftieren aufnehmen, du Spitzbube! (Es war eine traurige Tatsache, dass dies schlimmste Schimpfwort war, das Frosch kannte oder zumindest benutzte. Irgendwann würde er ihr schon noch die Kunst Des Anständigen Fluchens beibringen, auch wenn Rogue ihn dafür umbringen würde.) Eine weitere Nachricht kam an. Ich hab gesagt, sie kann ihn haben. Mein Vater hätte mich fast mit seinen Blicken erdolcht. Sting grinste. Siehst du, ich sagte doch, jeder will einen Riesenteddy. Nur du bist ein Kunstbanause. [April | Alpenrose] The Damsel's Secret --------------------------------------- „Ich gehe dann schon einmal vor.“ Meredy deutete zum Stall hinüber, ein weiß verputztes Gebäude mit Giebeldach und hoch angebrachten Fenstern, und machte zwei Schritte zur Seite. Wenn sie eine Antwort erwartet hätte, wäre sie enttäuscht worden, denn Juvia schien sie nicht einmal gehört zu haben. Die Blauhaarige stand mit verschränkten Fingern am Gatter und starrte mit verträumten Gesicht zu dem jungen Reiter hinüber, der in der Mitte des Korrals mit einer nervösen Falbstute arbeitete, die offensichtlich erst eingeritten wurde. Sie tänzelte und bockte leicht unter der kundigen Führung. Meredy warf ihm einen säuerlichen Blick zu und wandte sich endgültig ab. Zu Zeiten wie diesen war Juvia nicht als Hofjungfer zu gebrauchen und Zeiten wie diese waren, wann immer Gray in der Nähe war. Es reichte schon, dass er in Sichtweite war, irgendwo am Horizont. Und als eines der beiden Mündel ihrer Großmutter war das öfter der Fall, dass sie ihn zu Gesicht bekamen. Meredy seufzte. Eigentlich hatten sie vorgehabt, einen Ausritt zu machen, aber dann hatte Juvia Gray bemerkt und war schnurstracks auf den Korral zumarschiert, um sich davor aufzubauen. So bald würde niemand sie von dort wegbewegen können. Meredy verzog erneut das Gesicht und beschloss, sich nicht den Ausritt verderben zu lassen, nur weil Juvia ihre Pflichten als ihre Hofjungfer vergessen hatte. Sie duckte sich in den Stall, in dem im Moment nur eine Handvoll Pferde untergebracht war. Es war hell und roch nach Heu und Pferd und die vertrauten Geräusche der Tiere drangen ihr entgegen. Ein Apfelschimmel streckte den Kopf über seine Boxentür und schnaubte. Seine samtige Nase tätschelnd sah sie sich nach einem Stallburschen um, aber keiner war zu sehen. Sie runzelte die Stirn und stemmte die Hände in die Hüften. Sollte sie es wagen, sich selbst ein Pferd bereitzumachen? Aber wenn ihre Mutter davon erfuhr, würde es wieder Ärger geben und die Wahrscheinlichkeit dafür war recht hoch. Lady Urtear schien ihre Augen und Ohren überall zu haben. Aber was sollte ein armes adliges Fräulein tun, wenn niemand zur Hand war, der diese Aufgabe für sie übernahm? Meredy öffnete den Mund, um nach dem Verantwortlichen zu rufen, als eine tiefe, angenehme Stimme hinter ihr fragte: „Soll ich Euch ein Pferd aufzäumen, Fräulein?“ Erschrocken zuckte sie zusammen und fuhr zu dem jungen Mann herum, der so unverhofft hinter ihr aufgetaucht war, ihre Hand auf dem Griff ihres Dolches, den sie stets am Gürtel trug. Er hob beide Hände und lächelte sie entschuldigend an. „Ich wollte Euch nicht erschrecken.“ Meredy brauchte einen Moment, um sich wieder zusammen zu reißen. Sie benötigte dafür länger, als ihr lieb war, was jedoch nicht an dem Schrecken hing, den er ihr eingejagt hatte. Es war er selbst. Sein edles, schmales Gesicht mit den schmalen, onyxfarbenen Augen, in das einige Strähnen des kurzen, schneeweißen Haares fielen, brachte ihr Herz stets dazu, schneller zu schlagen und trieb eine leichte Röte in ihre Wangen. Ihr Gegenüber war hochgewachsen und muskulös und über seinen breiten Schultern spannte das schlichte, aber qualitativ hochwertige Hemd. Dazu trug er ein dunkelblaues Wams, einfache Lederhosen und hohe Reitstiefel, die alle ähnlich gut gearbeitet waren. Er war das zweite Mündel ihrer Großmutter, Lyon. Wie Gray stammte er aus einer einfachen Familie und war früh verwaist worden, ehe Ur von Milkovich sich seiner angenommen hatte. Jetzt bereitete er sich darauf vor, ein Ritter zu werden und damit offiziell in den Adelsstand einzutreten. Meredy blinzelte heftig und richtete sich gerader auf. Jetzt und vor ihm durfte sie sich keine Blöße geben! „Vielleicht solltet Ihr Euch bemerkbar machen, ehe Ihr Euch einer Dame nähert.“, erklärte sie spitz. „Und eine höfliche Begrüßung wäre ebenfalls angebracht.“ Lyon nahm ihr den Tonfall offensichtlich nicht übel, denn seine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, das ihr die Hitze in die Wangen trieb. Dann nahm er ihre Finger mit einer formvollendeten Bewegung und beugte sich darüber, um einen galanten Kuss auf den Handrücken zu hauchen. Meredy erschauderte bei der leichten Berührung. Am liebsten würde sie ihn gegen den nächsten hölzernen Pfeiler drücken, um ihm für einen richtigen Kuss die Lippen auf den Mund zu pressen. Wie sehr sehnte sie sich danach, in seinen Armen zu liegen, von ihm gehalten zu werden und ihm einfach nahe zu sein. „Verzieht mir, mein Fräulein.“, antwortete er neckend, ohne ihre Gedanken zu erahnen, und blickte sie von unten her an. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut spüren. „Und seid willkommen in den Ställen. Darf ich Euch Euer Pferd aufzäumen?“ „Ihr dürft.“, antwortete Meredy hoheitsvoll, konnte aber ein Lächeln nicht unterdrücken. Leicht bedauernd entzog sie ihm ihre Hand und er richtete sich endlich wieder auf. Auf der einen Seite bedauerte sie dies, da sie den Kontakt zu ihm verlor, auf der anderen machte seine Nähe sie fahrig und wie berauscht. Aber vielleicht war es besser so, ehe jemand sie in dieser beinahe verfänglichen Situation bemerkte. Gemeinsam gingen sie die Stallgasse hinunter, um ein passendes Pferd für sie zu finden. „Wird Juvia Euch nicht begleiten? Ich dachte, ich hätte sie vorhin gesehen?“, wollte er wissen, während er auf eine schöne Fuchsstute mit schmaler Blässe zusteuerte. „Sie hat auch jemanden gesehen.“, murrte Meredy und sah zu, wie er das Pferd aus seiner Box holte. Die Stute schnaubte erfreut, die Ohren waren gespitzt und sie tänzelte leicht auf der Stelle. „Also reite ich allein aus.“ Lyon warf ihr einen Blick zu. „Wenn Ihr das für eine gute Idee haltet…“ Er runzelte die Stirn. „Versucht nicht, mich aufzuhalten. Was soll schon passieren?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wandte sich ab. Hinter sich hörte sie sein Seufzen und dann das Klappern der Hufe, als er die Stute wegführte. Sie wandte den Blick wieder zu ihm und sah ihm nach. „Ich bringe sie zu Euch raus.“, warf er über die Schulter zurück. „Ihr solltet Juvia zumindest Bescheid sagen, ansonsten wird sie sich noch Sorgen machen.“ Damit führte er das Pferd durch den steinernen Torbogen zu dem Unterstand, wo die Tiere vorbereitet wurden. „Das habe ich schon gemacht.“, grummelte Meredy, auch wenn das nicht ganz die Wahrheit war und er sie nicht einmal hören konnte. Sie hatte ihrer Hofjungfer nicht gesagt, dass sie alleine losziehen würde, ansonsten hätte Juvia sich doch losgerissen. Aber so sehr Meredy sich auch immer in Gedanken über darüber lustig machte oder ärgerte, wenn Juvia wieder einmal Gray anhimmelte, so missgönnte sie ihrer Freundin es doch nicht. Juvia hatte das Glück, ihre Liebe offen zeigen zu dürfen, und wie Meredy inzwischen schmerzlich wusste, war dies nicht jedem vergönnt. Sie seufzte und warf einen Blick zu dem Apfelschimmel, der sie noch immer interessiert anblickte. Seine sanften Augen wirkten verständnisvoll und seine Ohren zuckten aufmerksam. „Du hoffst wohl, dass ich dich mitnehme, was?“, sagte sie und streichelte sein langes Gesicht. „Es tut mir leid, aber das ist leider nicht möglich.“ Wie so vieles andere auch nicht möglich war. Sie warf einen Blick über ihre Schulter zu dem Durchgang, durch den Lyon verschwunden war, aber natürlich war ihm nichts mehr zu sehen. Sie konnte allerdings seine tiefe Stimme hören, jedoch zu leise, als dass sie die Worte verstehen konnte. Aber allein der angenehme Klang löste eine unstillbare Sehnsucht in ihr aus. Mit einer heftigen Bewegung wandte sie sich wieder dem Apfelschimmel zu. „Deine Probleme lassen sich wenigstens leichter aus der Welt schaffen.“, erklärte sie ihm, als er suchend seine Nüstern gegen ihre Hand presste. „Etwas zu Essen habe ich dir auch nicht mitgebracht.“, bemerkte sie amüsiert. Eine Weile blieb sie noch bei ihm stehen, ehe sie sich doch losriss und endlich den Stall verließ. Der warme Schein der Frühlingssonne begrüßte sie, so dass ihr das schwere Reitkleid beinahe zu mollig wurde. Aber draußen, wenn sie erst einmal unterwegs war, würde es gerade das Richtige sein. Überall um sie herum sprossen die Pflanzen in die Höhe und reckten ihre bunten Blüten dem Himmel entgegen, die Bäume waren frisch in grün gekleidet und die Vögel zwitscherten laut. Frühling war ihr die liebste Zeit im Jahr, wenn nach einem langen Winter alles erwachte und wieder lebendig und warm wurde. Ein sanfter Wind strich ihr durch die langen, dunkelrosa Haare, die Juvia ihr vorhin kunstvoll nach hinten geflochten hatte, und die beiden Haarsträhnen, die ihr auf die Brust fielen. Mit geschlossenen Augen reckte sie ihr Gesicht der Sonne entgegen und genoss einfach den Moment. Sie musste nicht lange warten, da hörte sie Lyon schon mit dem Pferd um die Ecke kommen. Nach einigen Augenblicken drehte sie sich zu ihm um, um das Tier in Empfang zu nehmen. Auf Lyons Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, den sie nur schwer deuten konnte, doch in seinen dunklen Augen glomm ein Funke. „Hier ist Euer Pferd, mein Fräulein.“, bot er ihr die Zügel an und seine Stimme klang belegt. „Vielen Dank.“, antwortete sie spröde und wartete, bis er zurückgetreten war, ehe sie sich mit einer geübten Bewegung in den Sattel schwang. Es mochte nicht sehr schicklich sein, aber sie hielt nichts vom Damensitz, also bestand sie auf einen normalen Sattel, egal, wie sehr ihre Mutter protestierte. Die Füße in die Steigbügel schiebend nahm sie die Zügel auf und- Verwirrt hielt sie in der Bewegung inne und blinzelte überrascht, als sie die Beigabe bemerkte, die nicht zum Zaum gehörte. In dem metallenen Ring des Halfters, direkt unter dem rechten Ohr der Stute steckte ein kleiner Ast mit einigen dunkelgrünen, ovalen Blättern und einer eng stehenden Gruppe von länglichen Blüten, die dieselbe Farbe wie ihre Haare hatten. Sie warf einen Blick zu Lyon hinüber, doch der tat so, als wäre alles so, als wäre nichts Ungewöhnliches an einer Blume im Halfter ihres Pferdes. Meredys Blick wanderte wieder zu der Pflanze und nach einem Moment zog sie sie zögerlich aus dem Halfter. Mit den Fingerspitzen strich sie vorsichtig über die zarten Blätter. Es war eine Alpenrose, erkannte sie, und dank Juvia und ihren romantischen Anwandlungen wusste sie auch um die Bedeutung dahinter. Wann werden wir uns wieder sehen? Sie konnte das feine Lächeln nicht unterdrücken, aber eigentlich wollte sie es gar nicht. Er konnte und sollte sehen, wie sehr sie diese Geste berührte. Natürlich, Lyon und sie sahen sich Tag für Tag, spätestens zum Abendmahl, da Großmutter Ur darauf bestand, dass die ganze Familie diese Mahlzeit gemeinsam einnahm. Da sie ihre beiden Mündel dazuzählte, waren sie natürlich auch anwesend, ebenso wie Juvia als Meredys Hofjungfer. Aber das war nicht das, was er meinte. Nach einer kurzen Überlegung zog sie ihren Zopf über die Schulter und schob die Pflanze durch das Flechtwerk, bis sie nicht mehr befürchtete, dass sie wieder herausrutschte. Dann nahm sie die Zügel auf und wendete die Stute, so dass sie zum Stahl hinübersehen konnte. Von hier aus konnte sie den hellgrauen Pferdekopf sehen, der ihr sehnsüchtig entgegenblickte. Zumindest bildete sie sich das ein. „Der da.“, sagte sie und deutete auf den Apfelschimmel. „Der braucht auch noch Bewegung. Warum kümmert Ihr Euch nicht darum?“ Lyon blickte überrascht zu ihr auf. „Ich habe noch einiges zu tun.“, wandte er ein, doch sie grinste nur herausfordernd zu ihm hinunter. „Ich finde, Ihr solltet mindestens zum Maguilty Stein reiten.“ Das war ein einzelner Menhir, der größte in der Gegend, der auch noch ziemlich abseits lag. Zu Pferd war er von der Burg aus jedoch gut zu erreichen. Die Bauern mieden ihn in ihrem Aberglauben, doch Meredy liebte ihn und seine Abgeschiedenheit. Dort konnte man ungestört sein. Sie warf Lyon ihr schönstes Lächeln zu, wendete ihre Stute und ritt vom Hof. ~~*~~❀~~*~~ Ungeduldig hockte Meredy auf einem der niedrigen Felsbrocken, die hier überall aus der Erde ragten, und stützte missmutig die Ellbogen auf die Knie, den Kopf auf den Händen abgestützt. Von hier aus hatte sie einen hervorragenden Blick über die herrliche, wilde Landschaft ihrer Heimat. Rollende Hügel, die mit saftig grünem Gras und Heidekraut bewachsen waren, erstreckten sich bis zum Horizont. Über dem Land erstreckte sich der weite Himmel, der sich heute in strahlendem Blau und nur von wenigen Wolken bedeckt zeigte. In der Ferne konnte sie einen Schäfer mit einer Herde Schnucken erkennen und hoch über ihr zog ein Adler seine Kreise. Doch Meredy hatte keinen Blick übrig für diese wilde Schönheit des Landes, sondern wippte nur ungeduldig mit dem Fuß. Hoffentlich hatte Lyon ihre Botschaft verstanden! Oder war sie doch zu ungenau gewesen? Er ließ jedenfalls schon einige Zeit auf sich warten! Oder war er aufgehalten worden? Ganz in der Nähe erhob sich der Maguilty Stein, dessen scharfe Kanten von Wind und Regen abgeschliffen worden waren, eine weithin sichtbare Landmarke, die sich scharf vom Himmel abhob. Im oberen Drittel des Menhirs befand sich ein großes, beinahe perfekt rundes Loch, um das sich viele Legenden und Geschichten rankten. Feen sollten es gemacht haben oder Trolle. Ein Gott oder ein Dämon. Niemand wusste es genau, aber manchmal blies der Wind genau so hindurch, dass ein lauter, heulender Ton entstand, der wirklich schaurig war. Im Moment jedoch war es still um sie herum, so dass sie den Schrei des Adlers über sich hören konnte und das Krächzen der Raben, die ganz in der Nähe in einem Busch hockten. Ihre Stute graste friedlich ein kleines Stück entfernt, nur hin und wieder hob sie den Kopf. Meredy überlegte, ob sie doch wieder aufbrechen sollte. Wenn Lyon schon nicht kam, wollte sie wenigstens einen langen Ritt genießen. Das hatte sie immerhin ursprünglich vorgehabt, denn mit Juvia im Schlepptau konnte sie sich kaum mit ihrem heimlichen Geliebten treffen. Doch ehe sie zu einem Entschluss kommen konnte, hörte sie den vertrauen Klang von Hufschlägen. Sich aufsetzend drehte sie sich in die Richtung, wo der Weg sich zwischen den Hügeln hindurchschlängelte, und nach einem Moment tauchte er auch schon in ihrem Sichtfeld auf. Er ritt tatsächlich den Apfelschimmel, dessen lange Mähne im Wind wehte, als sein Reiter ihn mit sicherer Hand den Hügel hinauflenkte. Meredy sprang auf und ihr Herz schlug plötzlich schneller, während sie den Blick nicht von ihm lösen konnte. Er sah so stattlich und eindrucksvoll aus! Als Lyon sie entdeckte, hellte sich sein Gesicht auf und unwillkürlich breitete sich ein Lächeln darüber aus, das eine wohlige Wärme in ihr aufsteigen ließ. Dieses Lächeln schenkte er nur ihr und in ihm lag alles, was er nicht aussprechen durfte – Liebe und Hoffnung und Sehnsucht. Er zügelte sein Pferd und rutschte schon aus dem Sattel, ehe es überhaupt vollständig zum Stehen gekommen war, um ihr entgegenzueilen. Mit einem Ruck löste sie sich aus ihrer verzauberten Starre und rannte ihm entgegen, um die Arme um seinen Hals zu werfen. „Endlich bist du da!“ Er stolperte unter ihrem Schwung, aber er fing sie auf, und endlich konnte sie ihn küssen. [April | Kornblume] The Maiden's Favour --------------------------------------- Es war bereits dunkel, als Juvia das Haus verließ, obwohl sie sich eigentlich mit Meredy zurückziehen sollte. Der Himmel war sternenklar und es roch nach Schnee. Ob es bald noch einmal schneien würde? Dabei hatten sie gedacht, den Winter endlich überstanden zu haben… Ein kalter Wind schlug ihr ins Gesicht und sie zog mit einer Hand ihren Umhang enger um sich, während sie über den Burghof eilte. Es war ruhig um sie herum, da die meisten Leute sich in ihre Gemächer und Häuser zurückgezogen hatten. Nur aus der Ferne drangen die Stimmen der Wachen zu ihr herüber, doch die Worte waren verwischt und undeutlich. Mit raschen Schritten steuerte sie auf den Stall zu, über dessen Eingang noch eine Laterne brannte. Als sie vorsichtig das Tor aufschob, klangen ihr die vertrauten Geräusche entgegen, das Stampfen von Hufen, das Mahlen der Zähne, hin und wieder in Schnauben oder sogar ein Wiehern. Anscheinend waren sie gerade gefüttert worden. Nur wenige der Pferde reagierten auf sie, als sie sich durch den Spalt schob und das Tor mit Mühe wieder schloss. Nur mit einer Hand zu agieren war mühsamer, als sie gedacht hatte, aber sie weigerte sich, den Gegenstand wegzulegen, den sie so fest umklammert hielt, dass die Kanten ihr in die Finger schnitten. Als sie sich umsah, ihr kleines, in weiches Stoff gewickeltes Bündel an sich gepresst, bemerkte sie, dass sie die einzige im Stall zu sein schien. Die Stallburschen und ihr Meister mussten sich ebenfalls zur Nachtruhe zurückgezogen haben. Sie hoffte, dass sie nicht falsch geraten hatte und die von ihr gesuchte Person tatsächlich hier war. In jede Box spähend ging sie voran, doch sie fand nur Pferde. „Herr Gray?“, rief sie zaghaft in den großen Raum hinein. „Bist du hier?“ Ihre Schuhe machten leise Geräusche auf dem steinernen Boden, obwohl sie sich um Stille bemühte, um keines der Tiere unnötig aufzuschrecken. „Herr Gray?“ Sie streckte den Kopf um die Ecke und spähte die abzweigende Stallgasse hinunter, doch auch dort fiel ihr niemand auf. Enttäuscht verzog sie das Gesicht und wandte sich wieder ab. „Juvia…“ Bei dem Klang seiner Stimme schlich sich unwillkürlich ein Lächeln auf ihre Lippen und sie drehte sich rasch zu ihm um. Er stand unweit halb in einer offenen Box und starrte sie mit undurchdringlichem Blick an. In dem dimmen Licht des Stalls wirkten seine Augen unergründlich. Sein dunkles Haar fiel ihm unordentlich in das attraktive Gesicht, das einen verschlossenen Ausdruck trug, und unter seiner einfachen Kleidung zeichnete sich ein athletischer Körper ab. Wie jedes Mal wenn sie ihn sah, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer und Hitze schoss in ihre Wangen. Ein schweres, schwarzes Pferd, das selbst neben ihm groß wirkte, blickte ihm einen Moment über die Schulter, ehe es sich desinteressiert wieder seiner Futterkiste zuwandte. „Was tust du denn hier?“, wollte Gray nach einem Moment wissen. „Solltest du nicht bei Meredy sein?“ Juvia schluckte, plötzlich war ihr Mund trocken. Sie hatte sich ihre Sätze alle schon vorher zurechtgelegt, hatte sie sogar geübt, damit sie auch keinen Fehler machte und ihre Worte und vor allem ihre Gefühle so bei ihm ankamen, wie sie sie meinte. Aber jetzt war die vorbereitete Rede wie weggewischt. „Me-Meredy hat Juvia entschuldigt.“, stammelte sie schließlich. „Sie wollte mit Herrn Gray sprechen. Sie… Juvia…“ Gray seufzte und fuhr sich durch die Haare, ehe er ganz aus der Box trat und die Tür sorgfältig hinter sich verschloss. Der Rappe schnaubte leise und machte eine kurze Bewegung in seine Richtung, ehe er sich entschied, dass das Essen doch wichtiger war als sein Reiter. „Juvia, du…“ Gray seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Dann blickte er sie entschlossen an. „Bitte, mach es nicht noch schwerer, als es sowieso schon ist, und geh einfach wieder.“ Juvia ließ unglücklich den Kopf hängen. Was hatte sie erwartet? Sie wussten beide, wie es um sie stand, aber Gray hielt sie Mal um Mal auf Abstand. „Ju-Juvia wollte dich nur noch einmal alleine treffen, bevor ihr aufbrecht.“, erklärte sie betrübt. „Bitte schick sie nicht so schnell weg.“ Es würde schon schwer genug werden, ihn nicht jeden Tag sehen zu können. Er würde ihr fehlen; bereits jetzt fühlte sie sich, als würde ihr das Herz herausgerissen werden. Aber gleichzeitig war sie auch stolz auf ihn. Endlich war er so weit, an den Königshof reiten und sich der Ritterprüfung stellen zu können! Gemeinsam mit Lyon würde er in drei Tagen aufbrechen für die lange Reise nach Crocus. Juvia hatte keinen Zweifel daran, dass er die Prüfung mit Bravour bestehen und zum Ritter geschlagen werden würde. Doch das, was danach folgen würde, bereitete ihr Sorgen… Der Gegenstand in ihren Händen erinnerte sie wieder daran, warum sie ihn eigentlich aufgesucht hatte, und sie streckte die Hände aus, um ihm das Bündel anzubieten. „Juvia hat ein Geschenk für dich.“ Sie hatte dafür gespart und darüber gegrübelt und schließlich den gutmütigen Schmied mit süßen Kuchen bestochen, dass er es ihr fertigte. Was, wenn es ihm nicht gefiel? Flehend blickte sie zu ihm auf. Grays dunkle Augen ruhten einen Moment auf der in dunkelblaues Tuch gewickelten Gabe, ehe sein Blick wieder zu ihrem Gesicht huschte. Sie konnte den Schmerz darin erkennen und die Sehnsucht, aber er machte keine Anstalten, nach dem Bündel zu greifen. „Du solltest aufhören, all deine Hoffnungen in mich zu setzen.“, erklärte er dann und sie meinte, Verzweiflung in seinem Unterton zu hören. „Ich bin nicht der Richtige für dich.“ Enttäuscht ließ Juvia ihre Arme wieder sinken. „Aber Herr Gray wird bald ein Ritter“, versicherte sie ihm eifrig. „Und dann wird Lady Ur nichts mehr gegen unsere Verbindung einzuwenden haben.“ Für einen Moment blieb es still, dann- „Du verstehst es einfach nicht!“, fuhr er auf und raufte sich die Haare. Er wirkte so verzweifelt, dass sie ihn in die Arme nehmen und trösten wollte, aber sie wusste, dass er sie nur davon gestoßen hätte. Seine Stimme wurde lauter, als er weitersprach: „Ein Ritter? Na und? Das hat überhaupt nichts zu bedeuten! Es ist nur ein leerer Titel, der kaum etwas zu bedeuten hat. Er bringt mir kein Geld und kein Land und ich habe immer noch nur ein Pferd, eine Rüstung und ein Schwert auf meinen Namen! Wie kann ich dir damit das bieten, das du verdienst?! Und außerdem… Wer weiß, was sonst noch geschieht? Du weißt, wo wir wirklich hingehen!“ Irgendwo im Stall wieherte ein Pferd aufgebracht und der Rappe streckte seinen Kopf über die Boxentür und scharrte unruhig mit den Hufen. Seine Ohren zuckten nervös und er schnaubte. Juvia runzelte halsstarrig die Stirn. „Lyon lässt sich auch nicht davon aufhalten.“ Entgegen dem, was alle Beteiligten und Eingeweihten dachten, wusste Juvia sehr wohl um die heimliche Liebschaft zwischen ihrer Herrin und Grays Waffenbruder Bescheid. Und diese Liebe war viel unmöglicher und unerreichbarerer als ihre eigene. Warum konnte Gray nicht einsehen, dass sie beide geschaffen füreinander waren? Dass es ihr egal war, was mit ihr geschah und ihr Leben nur mit ihm vollständig war? Sie konnte doch sehen, dass er sie ebenfalls liebte… Seine Worte mochten etwas anderes behaupten, aber seine Gesten und seine Blicke sagten genug. Doch ihr Gegenüber verschränkte die Arme vor der Brust und drehte den Kopf weg. „Lyon ist ein romantischer Idiot und Meredy ist auch nicht besser.“ „Sie werden einen Weg finden und es schaffen.“, beteuerte Juvia ihm. „Sie sind beide starke Menschen, die Dinge nach ihrem Willen formen werden. Warum will Herr Gray nicht daran glauben, dass wir das auch können?“ Er wandte sich mit einer heftigen Bewegung ab und griff nach seinem Pferd, um es zu beruhigen. Aber der Rappe riss ihm nur nervös seinen Kopf aus den Händen und tänzelte auf der Stelle. „Du solltest einfach gehen und Boras Werben nachgeben.“, erklärte Gray dann und holte tief Luft, um sich selbst wieder zu beruhigen. So aufgewühlt konnte er kein Pferd beruhigen, nicht einmal eines, mit dem er so vertraut war wie sein eigener Rappe. Juvia verzog unwillig das Gesicht, als sie an den jungen Grafen dachte, der ihr seit dem letzten Herbst den Hof machte. Sie wusste, dass von ihr erwartet wurde, dass sie ihm nachgab – Bora war eine großartige Partie für eine Hofjungfer wie sie, die kein eigenes Erbe vorzuweisen hatte. Aber sie hatte gesehen, wie grausam und nachlässig er die Dienstmädchen behandelte, wie er sein Pferd schlug, obwohl er den Fehler gemacht hatte, und Steine nach Hunden, Katzen und Bauernkindern warf. Nein, mit einem solchen Menschen wollte sie nichts zu tun haben. Und selbst wenn er der freundlichste, edelste Mann auf der Welt gewesen wäre, würde das auch nichts ändern, denn er war nicht Gray. „Juvia mag Bora nicht.“, antwortete sie ihm wahrheitsgemäß. „Und es ist ihr egal, was du besitzt.“ Und wenn er nur ein einfacher Jäger wäre, wie sein Vater es vor ihm gewesen war, sie hätte jeden reichen Prinzen mit Freuden davongeschickt, wenn es nur bedeutete, ihm nahe sein zu können. Warum konnte er das nicht begreifen? Juvias eigener Vater war ein landloser Ritter gewesen, der diesen Titel auf dem Schlachtfeld und fast durch Zufall erlangt hatte. Er war niemals reich gewesen, hatte kaum mehr besessen als sein Pferd und seine Ausrüstung, aber er war stets ein loyaler, geachteter Krieger in den Reihen Lady Urs gewesen. Selbst der verstorbene Lord Milkovich hatte große Stücke auf ihn gehalten. Was war so falsch daran? „Es ist noch nicht einmal klar, ob ich je zurückkehren werde!“, fuhr Gray auf. „Die Reise nach Crocus schön und gut, aber hast du vergessen, wohin sie uns danach schicken werden? Direkt nach Westen zur Front.“ Juvias Blick flackerte einen Moment und ihr Herz krampfte sich zusammen. Allein bei dem Gedanken daran, Gray in solcher Gefahr zu wissen, wurde ihr übel. Darum dachte sie so wenig wie möglich daran, aber jetzt kam sie nicht mehr umhin, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Der Krieg gegen Alvarez hatte letztes Jahr begonnen und wütete noch immer mit einer erbitterten Heftigkeit. Über den Winter waren die Kämpfe zum Erliegen gekommen, aber jetzt wurden sie wiederaufgenommen und jeder waffentragende junge Mann wurde an der Front gebraucht. Hier im Hinterland eines entlegenen Lehens hatten sie wenig davon mitgekriegt, nur Nachrichten aus dem Westen und Menschen, die vor Tod und Zerstörung flohen und ihren Weg hierher gefunden hatten. Und natürlich hatte Lady Ur ihren Teil zur Armee beitragen und Krieger schicken müssen. Gray und Lyon würden die nächste Heerschar anführen, nachdem sie ihren Ritterschlag empfangen hatten. Dieser war nur noch eine Formalität, denn sie waren mit der Aufgabe und den Männern bereits vertraut, da sie als einzige männliche Familienmitglieder des Hauses Milkovich seit Jahren die Banditen in der Gegend in Schach hielten. Im Herbst letzten Jahres hatten sie einen kleinen Feldzug gegen die Verbrecher geführt, damit die kleine Garnison, die Zuhause zurückblieb nicht allzu viel Ärger mit ihnen hatte. „Herr Gray wird nicht fallen.“, antwortete sie ihm endlich mit fester Stimme. Denn etwas anderes war für sie schlichtweg undenkbar. „Das kannst du nicht wissen.“, flüsterte er und seine Stimme klang gepresst. „Ich kann dich nicht zurücklassen mit einem leeren Versprechen.“ „Herr Gray…“ Sie hob die Hand, um sie ihm auf die Schulter legen, doch sie zögerte. Er war angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Schuss und die Muskeln in seinen Schultern verkrampft. Dann wandte er sich heftig von der Box ab. „Und selbst wenn, das ändert gar nichts. Du hast etwas Besseres verdient als einen landlosen Ritter, der dir absolut nichts geben kann! Wie soll ich mich anständig um dich kümmern? Um unsere Ki-“ Er brach abrupt ab und drehte sich von ihr weg, aber sie konnte sehen, dass er errötet war. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, seinen Satz in Gedanken zu Ende zu bringen, und unwillkürlich spürte sie Hitze in ihre Wangen steigen. Gray dachte an Kinder? An Kinder mit ihr? Plötzlich jagte ihr Puls wie unter einem Fieberanfall und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Gray hatte sich eine Zukunft mit ihr vorgestellt! Und er hatte beschlossen, dass er nicht gut genug dafür war, dass ihm etwas fehlte und die Frau, die er liebte, bei jemand anderem besser aufgehoben war, weil er befürchtete, ihr nicht gerecht werden zu können. „Aber Juvia ist genug, was sie jetzt hat.“, erklärte sie ihm mit fester Stimme. „Juvia braucht nicht viel und wenn sie nur deine Frau werden darf, Herr Gray, so würdest du sie zur glücklichsten Frau der Welt machen!“ Ihre Finger krallten sich wieder fest um den harten Gegenstand, den sie in den Händen hielt, und sie versuchte es noch einmal. Erneut streckte sie ihm das Geschenk entgegen. „Bitte, Herr Gray. Bitte, Juvia hat es extra für dich fertigen lassen. Niemand anderes kann etwas damit anfangen.“ Er drehte sich wieder ihr zu, sein nachdenklicher Blick auf die kleine Gabe gerichtet. Sie konnte immer noch den Rest der Röte in seinem Gesicht sehen und sie wollte dort seine Wangen küssen. Stattdessen streckte sie ihm das Bündel nachdrücklicher hin. „Wenn ich das nehme, gehst du dann wieder?“, wollte er nach einem Moment wissen und sein Blick wanderte nach oben, um ihren gefangen zu nehmen. Sie biss sich auf die Lippen und nickte nach kurzem Zögern. Sie konnte später noch einmal versichern, wie ernst sie es meinte, sie hatte noch ein paar Tage Zeit dafür. Zu sehr bedrängen wollte sie ihn nicht und wenn er ihr Geschenk trug, dann dachte er vielleicht an sie. Vielleicht dachte er an ihre Worte und ihre Hoffnung und vielleicht erkannte er, dass sie nicht mehr brauchte als ihn, keine Reichtümer, keinen eigenen Sitz, kein Land. Nur ihn. Er wusste, dass er nachgab, als er jetzt zu griff, denn seine Hand zitterte leicht, ehe er sie einen Moment zur Faust ballte. Dann nahm er ihr das Geschenk ab. „Vielen Dank.“, sagte er und seine Stimme war unbeholfen steif. „Ich…“ Er hielt ihrem Blick nicht mehr stand und sah auf seine Hände hinunter, die das Bündel hielten. Weitere Worte fand er nicht, aber das leichte, glückliche Lächeln, dass seine Mundwinkel allen Widerständen zum Trotz nach oben zogen, sagte ihr genug. Kleine Gesten hatten bei ihm schon immer mehr bedeutet als große Reden. Für einen Moment standen sie schweigend beisammen und Juvia fühlte sich für diesen winzigen Zeitpunkt geliebt und glücklich. Dann riss sie sich zusammen. „Juvia muss jetzt wieder gehen.“, erklärte sie ihm und fragte sich, ob sie ihm die Hand reichen sollte, damit er sie küssen konnte, oder ob sie einfach gehen sollte. Aber ersteres war ihr zu förmlich und letzteres zu taktlos. Dann warf sie einen verstohlenen Blick über die Schulter, doch außer den desinteressierten Pferden war sonst noch immer niemand anwesend. Ihren gesamten Mut zusammenraffend, trat sie einen Schritt auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen hauchzarten Kuss auf die Wange. Dann drehte sie sich um und rannte beinahe davon, so dass ihre Röcke um ihre Füße tanzten. Doch ehe sie durch die Stalltür schlüpfte, warf sie noch einen kurzen Blick zurück. Er stand auf der Abzweigung der Stallgasse und blickte ihr nach. Seine Hand lag an der Stelle, an der sie ihn geküsst hatte, und sie konnte nicht verhindern, dass ein strahlendes Lächeln sich auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Bitte denk an Juvia, Herr Gray.“ ~~*~~❀~~*~~ Juvia stand auf dem Absatz der großen Freitreppe, die zum offen stehenden Portal des Palais hochführte, und wartete geduldig. Um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Diener rannten wie aufgescheuchte Hühner herum, um die Wagen zu beladen. Soldaten trafen die letzten Vorbereitungen, prüften ihre Rüstungen, Waffen und Bündel. Stallburschen zäumten die Pferde auf, ungewöhnlich viele für so eine kleine Garnison, und ihr Schnauben, Wiehern und Trampeln trug noch mehr zu dem Lärm bei, der in der Luft hing. Es sah unglaublich chaotisch aus, doch Juvia wusste, dass hinter all dem ein ausgeklügeltes System steckte, denn fast niemand lief sich vor den Füßen herum und es kam nie zu Zusammenstößen. Sie selbst hätte bei diesem geordneten Durcheinander nur gestört, darum stand sie hier am Rand und ging niemandem im Weg herum, während sie auf Gray wartete. Er hatte zwar auch einiges genug zu tun, aber er würde ein paar Minuten für sie übrighaben. Heute war ihre letzte Gelegenheit, nachdem er ihr die letzten Tage vorsätzlich aus dem Weg gegangen war, und auch die beste. Sie wusste, dass Lyon mit ihm gesprochen hatte und der nahe Aufbruch würde das seinige tun. Schon mehrmals hatte sie ihn über den Hof eilen sehen, aber er hatte so beschäftigt gewirkt, dass sie ihn nicht hatte stören wollen. Doch jetzt neigten sich die Arbeiten dem Ende entgegen und jetzt blickte sie sich aufmerksamer um. „Juvia.“ Lyons angenehme, tiefe Stimme ließ sie aufschrecken und sich umdrehen. Der junge Krieger war eben aus dem hohen Tor getreten, das in den großen Eingangssaal führte. Er trug bereits seine Reiseaufmachung, komfortable Kleidung aus Leder und Wolle, dazu einen langen Umhang aus Filz und weichem Fell. Doch unter der Tunika mit dem Wappen der Milkovich blitzte das Kettenhemd hervor und er war gegürtet mit Schwert und Dolch. „Wie ich sehe, willst du uns verabschieden.“ Lyon lächelte, doch sie wussten beide ganz genau, dass sie nicht wegen ihm hier war. Trotzdem war er der erste, der auf sie zu trat, um Lebewohl zu sagen. Gray stand neben ihm und sah aus, als hätte er seine Zunge verschluckt. Er war ähnlich gekleidet wie Lyon, doch er trug zusätzlich seinen Bogen in der Hand. Sein eigener, dunkelblauer Umhang wurde an der Schulter gehalten von einer großen, runden Fibel mit feiner Nielloarbeit, die das helle Silber besonders gut hervorhob. Sie bestand aus zwei verschlungenen Wölfen, die auf die für ihre Heimat kennzeichnende Art gearbeitet waren und einen Kranz bildeten. Doch in der Mitte befand sich eine Blüte mit zahlreichen, gezackten Blättern, die leicht bläulich wirkte. Bei dem Anblick machte Juvias Herz einen Satz und sie fühlte ihre Wangen heiß werden. „Juvia wird euch vermissen.“, antwortete sie auf Lyons Frage und ließ sich von ihm die Hand küssen, ehe sie alle sittsame Wohlerzogenheit ignorierte und ihn umarmte. Überrascht, aber erfreut erwiderte er die Geste. „Juvia hofft, dass Meredy dir bereits anständig Lebewohl sagen konnte.“, flüsterte sie in sein Ohr, zu leise, als dass jemand anderes ihre Worte verstehen konnte. Trotzdem zuckte er leicht zusammen und schob sie nach einem weiteren Moment wieder von sich. Gray sah aus, als hätte er in einen sauren Apfel gebissen. „Ich habe bereits Abschied genommen.“, antwortete Lyon dann, ihre Hände in seinen. „Pass gut auf dich und deine Herrin auf, Juvia.“ Sie lächelte ihm nur zu und senkte den Blick – es waren weder sie noch Meredy, die in den Krieg ritten. Lyon nahm Gray Bogen und Köcher ab mit dem Versprechen, sie aufzuräumen, und ließ sie dann allein. Für einen Moment standen sie sich stumm und unbeholfen gegenüber und niemand wusste, wie er das Schweigen durchbrechen sollte. Schließlich gab Juvia sich einen Ruck. „Darf Juvia sich auch richtig von dir verabschieden?“, wollte sie dann von Gray wissen und ihr Blick huschte für einen Augenblick wieder zu der Brosche. Er schwieg und einen Moment befürchtete sie, dass er abwehren und einfach gehen würde. Doch dann nickte er abgehakt und ließ zu, dass sie seine Hand nahm. Sie führte ihn über den Hof, an Häusern vorbei und durch einen schmalen Torbogen auf einen kleinen Hinterhof. Hier waren sie ungestört und sie ließ ihn zögerlich wieder los, um sich zu ihm umzudrehen. „Juvia glaubt immer noch fest daran, dass Herr Gray zurückkehren wird.“, erklärte sie ihm. „Aber sie wünscht dir trotzdem viel Glück.“ Gray seufzte und fuhr sich durch die Haare. „Juvia, du kannst das nicht einfach bestimmen.“, erklärte er ihr. „Es kann alles Mögliche passieren und es ist ein Krieg und… Verdammt! Willst du einfach nicht verstehen?“ Seine Stimme klang jetzt verzweifelt und sie begriff sehr wohl. Er war es, der nicht verstand. „Nein, Herr Gray. Es geht nicht darum, was möglich ist. Aber Juvia kann sich nicht einmal ein Leben ohne dir vorstellen und freiheraus, sie will es auch gar nicht. Ohne Herr Gray…“ Sie verstummte und schaute weg, aber auch er sagte nichts mehr. Als sie nach ein paar Sekunden einen Blick zu ihm warf, kaute er auf seiner Unterlippe und schien nach Worten zu suchen. Ihre Augen huschten wieder zu der Umhangbrosche. Dass er sie trug, hatte etwas zu bedeuten. Sie streckte die Hand danach aus und berührte leicht das kühle Metall, strich den Stoff darum glatt. Diese Brosche war ihr Abschiedsgeschenk an ihn und sie hoffte, dass sie ihm gute Dienste leisten und ihn an sie denken ließ. „Hat sie Herr Gray gefallen?“ Unwillkürlich senkte er den Blick auf ihre Finger und bildete sie sich das ein oder errötete er unter ihrer Berührung leicht? „Ansonsten würde ich sie nicht tragen.“, antwortete er schroff und unwillkürlich zogen sich ihre Mundwinkel leicht nach oben, während ihre Fingerspitzen über das Abbild der Blüte glitten. „Das ist eine Kornblume.“, erklärte sie ihm. „Sie sind blau, wie Juvias Augen, und sie bedeutet ich gebe die Hoffnung nicht auf.“ Er packte sie an den Handgelenken und drückte ihre Arme nach unten, aber er ließ sie nicht sofort wieder los. Seine Berührung schien auf ihrer Haut zu brennen und am liebsten würde sie einen Schritt nach vorne tun, die Arme um seinen Körper schlingen und sich an ihn schmiegen. „Es wäre besser für dich, wenn du es tun würdest.“, bemerkte er. Sie verzog unwillig das Gesicht. „Wenn Herr Gray das will, muss er es Juvia direkt sagen.“ Für einen Moment starrte er sie an, dann öffnete er den Mund um etwas zu sagen, doch kein Ton drang über seine Lippen. Er ließ sie abrupt wieder los, als hätte er sich verbrannt. Anscheinend brachte er diese Worte doch nicht so leicht heraus. Sie konnte ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. „Juvia wird niemals die Hoffnung aufgeben.“, erklärte sie ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Juvia liebt dich.“ „Also gut.“, sagte er plötzlich und seine Stimme klang entschlossen. Überrascht starrte sie ihn an. Die plötzliche Veränderung in seinem Verhalten verwirrte sie. Was war ihm nun in den Sinn gekommen? „Ich schlage dir einen Pakt vor.“, fuhr er ohne Umschweife fort. „Wenn ich nicht zurückkomme, wenn du die Nachricht von meinem Tod erhältst – nein, lass mich ausreden!“ Streng blickte er auf sie hinunter und sie klappte den Mund tonlos wieder zu. „Versprich mir, dass du mich dann vergessen und einen anderen auswählen wirst.“ Sie runzelte verärgert die Stirn. Ihr gefiel gar nicht, in welche Richtung das ging! „Und wenn Herr Gray zurückkommt?“ Zart, beinahe vorsichtig nahm er ihre Hände in seine, fest und sicher. Sein Blick schwankte nicht mehr und hielt ihren fest. Sie hätte sich keinen Schritt bewegen können, durch seine Augen effektiver an den Boden gebunden, als jede Fessel es vermocht hätte. „Dann verspreche ich, dass ich dich heiraten werde.“ Ihre Augen weiteten sich, fassungslos und erstaunt zugleich. Was hatte er gesagt?! Er wollte sie hei-hei… heiraten? Das war alles, was sie sich wünschte, aber es jetzt von ihm zu hören, nachdem er sich so lange gewehrt hatte, überforderte sie. Ihr wurde ganz schwach in den Knien, aber sein Händedruck half ihr, aufrecht stehen zu bleiben. „J-ja.“, brachte sie heraus und dann noch einmal, deutlicher: „Ja!“ Ihr war plötzlich heiß und am liebsten wäre sie durch den Hof getanzt und am liebsten hätte sie ihn umarmt. Aber sie konnte nur dastehen und zu ihm hochstarren und dann bewegte ihr Mund sich von allein. „Juvia wird auf dich warten!“ „Ich weiß.“, war seine einfache Antwort und dann beugte er sich vor und küsste sie auf den Mundwinkel, zart wie Schmetterlingsflügel. [April | Kirschblüte] Gently comes my night ------------------------------------------- Etwas stimmte nicht in Bellflower Village. Die Luft schien zu summen vor wispernden Stimmen, leise geflüsterten Vermutungen und gehässigen Bemerkungen. Die Gerüchteküche brodelte und jeder hatte etwas beizutragen zu den Geschehnissen, die den verschlafenen kleinen Ort vor fünf Tagen derartig aufgewühlt hatten. Das Ereignis war längst zu öffentlichem Besitz geworden. Er hat ihn kaltblütig erstochen. Er wollte sein Geld. Der Kerl ist wahnsinnig! Er ist geflohen, brauchst du mehr Beweise für seine Schuld? Es ging um eine Frau. Er hat es sich selbst zuzuschreiben. Geschieht ihm ganz recht, wenn du mich fragst. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe er jemanden zu weit getrieben hat. Soll er in der Hölle schmoren! Niemand wusste genaueres, aber alle hatten etwas zu sagen, und am Ende war die Wahrheit nicht mehr von der Lüge zu unterscheiden. Am Morgen nach den Ereignissen war der Täter noch unbewaffnet in den Raum getreten, in dem man ihn später über seinem Opfer gefunden hatte bei dem Versuch, nach dem Puls zu tasten. Nun hieß es, er wäre mit gezogenem Schwert und einer Steinschlosspistole in der Hand in das Gebäude gestürzt, hätte wild um sich geschossen und die Tat unter wildem Gelächter begannen. Anna hatte noch nie viel auf Gerüchte gegeben und sie hatte keine Zeit für solcherlei Kindereien. Sie musste sich um eine Apotheke kümmern, die ihr einzige Einkommensquelle war, um ihren großen Kräutergarten, der einen guten Teil der Rohstoffe für ihre Arzneien lieferte, und fünf Kinder, die sich vertrauensvoll auf sie verließen. Die wenige Zeit, die ihr für sich selbst dazwischen noch blieb, war ihr zu wertvoll, um sie mit Klatsch und Tratsch zu vergeuden. Auch jetzt war die Situation nicht anders und sie konnte nur kopfschüttelnd zusehen, wie die sensationsgierige Meute sich auf das Ereignis stürzte. Keiner von ihnen wusste Bescheid, aber jeder maßte sich an, Richter und Jury gleichzeitig zu sein. Aber keiner von ihnen würde ein Henker sein. Zwei Dinge wusste Anna: Erstens, Ivan Dreyar war tot. Zweitens, der Einzige, der wusste, was wirklich geschehen war, war sein potentieller Mörder und seit genau fünf Tagen nicht aufzufinden. Und selbst wenn, wer würde ihm jetzt noch glauben? Das Dorf hatte sein Urteil längst gefällt. Doch Anna berührte dies alles nicht. Sie hatte mit beiden Männern nichts zu tun, nicht mit dem brutalen Großhändler, in dessen Händen alle Fäden von Bellflower Village zusammenliefen, und nicht mit dem groben Soldaten, der vor ein paar Jahren einfach aufgetaucht war und sich in dem idyllischen Örtchen niedergelassen hatte, um fortan der Gerüchteküche immer neuen Stoff zu liefern. Es ging sie nichts an und es würde nichts in ihrem Leben ändern. Ihre Apotheke hatte nicht zu den Geschäften gehört, die sich in Ivan Dreyars Besitz befunden hatten. Dazu war sie eine ehrbare Frau, von der sich das Gesindel wie einem ehemaligen Soldaten fernhielt, denn jeder wusste um ihren Ruf, den sie sich ehrlich und anständig verdient hatte. Solche Männer standen unter ihr und sie der Vorfall berührte sie nicht. Nur … stimmte das nicht ganz. --- „…habe gehört, dass jemand ihn unten am Fluss gesehen hat.“, drang Sherrys Stimme zu Anna herüber und sie blickte auf. Einen Moment später trat die junge Frau schon um die Ecke des Hauses gegenüber in Begleitung von Mirajane und Ooba Babasaama, den dreijährigen Sohn an der Hand. „Er ist also noch in der Gegend.“ Ihr langes, pinkes Haar hing in einem dicken Zopf über ihre Schulter bis zu ihrem sich wölbenden Bauch hinunter. Wie die beiden anderen Frauen war sie eine von Annas Nachbarinnen und eigentlich eine vernünftige junge Frau. Mirajane dagegen, deren langes weißes Haar im Licht der Frühlingssonne schimmerte, war trotz aller Sanftheit und Freundlichkeit eines der größten Klatschmäuler im Ort. Und Ooba hatte wie viele alte Frauen zu jeder Kleinigkeit ihre Meinung zu verkünden. „Papperlapapp! Der ist längst auf und davon! Aber was soll man von so einem Tunichtgut auch erwarten?“ Ihre alternde Stimme klang verächtlich und wegwerfend. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass der nur Ärger bringen wird! Und schaut euch jetzt an, was passiert ist!“ Annas Hand schloss sich automatisch fester um ihre Schaufel und sie zog ärgerlich die Brauen zusammen. Diese alte Hexe wusste nicht, wovon – von wem – sie sprach! „Jaja, Ooba.“, murmelte Sherry und selbst in ihrer Tonlage war das Stirnrunzeln deutlich herauszuhören. „Also ich weiß nicht“, erklang Mirajanes sanfte Stimme „er wirkte immer etwas grob, aber doch nicht wie ein Mörder.“ „Ivan Dreyar weint jedenfalls kein Schwein nach.“, raunzte Sherry grob. Wie so viele andere Leute auch, hatte ihr Mann unter den harschen Bedingungen der dreyarschen Firmen zu leiden. Kein Wunder, dass sie kein Mitleid für den Mann übrig hatte, der über alles bestimmt hatte. „Meine Güte.“, meinte Mirajane gelassen. „Wenn du oft solche Ausdrücke benutzt, hilft es auch nicht mehr, dem Kind die Ohren zuzuhalten.“ „Es ist einfach nicht rechtens.“, begehrte Ooba wieder auf. „Niemand kann einfach in unseren schönen Ort antanzen und dann tun, wonach ihm der Sinn steht.“ Sie stemmte die Hände in die Hüften und die Geringschätzung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Schon gar nicht so ein dahergelaufener Nichtsnutz!“ „Sie werden ihn schon erwischen.“, bemerkte Sherry gleichgültig. „Ich sage nur, dass Dreyar es verdient hat, mehr nicht.“ Ooba stieß ein verächtliches Schnauben aus und Mirajane erklärte: „Hoffentlich kommt es nicht zu noch mehr Toten. Dieser Mann ist bewaffnet und gefährlich.“ Sie legte dabei eine Hand an die Wange. Anna rollte mit den Augen. Gefährlich war noch gar kein Ausdruck. Allerdings fiel er auch niemanden ohne Grund an… Sie klopfte die Erde um die eben eingepflanzten Kräuter fest und erhob sich mit einem leisen Ächzen aus ihrer kauernden Stellung. Ihre Beine waren verkrampft vom langen Sitzen und ihr Rücken schmerzte. Immer öfter wurde ihr klar, dass sie nicht mehr die Jüngste war und langsam in die Jahre kam. Alte Narben trugen das Ihrige zu ihrem körperlichen Zustand bei. „Anna!“, rief Sherry aus. „Ich habe dich da gar nicht gesehen.“ Die junge Frau kam herüber, ihr Kind inzwischen auf dem Arm, das der Nachbarin erfreut zuwinkte. Anna erwiderte die Geste mit einem kleinen Lächeln und warf einen kurzen Blick zu Mirajane und Ooba hinüber, die leise miteinander tuschelten. „Ich sehe, ihr habt ein wichtiges Thema zu besprechen.“, konnte sie sich nicht verkneifen zu sagen und Sherry verzog schuldbewusst das Gesicht. Mirajane dagegen lächelte nur sonnig. „Was ist schon ein bisschen Tratsch unter Freunden?“, wollte sie wissen. „Wie geht es deinen Pflanzen?“ „Gut.“, antwortete Anna etwas zu scharf, selbst ein wenig erstaunt darüber, wie persönlich sie das Gerede nahm. War er ihr doch schon so wichtig geworden? Sie dachte, sie hätte solche Regungen längst hinter sich gelassen… Um sich selbst von diesen verwirrenden und überraschenden Gedanken abzulenken, ließ sie den Blick über ihren gepflegten Garten schweifen. Die kleinen Beete mit den wuchernden Kräutern, die schmalen Trittsteine dazwischen, der hintere Teil, auf dem sie ihr Gemüse zog, der hohe Holzzaun, der ihn vom Rest des Hofes abtrennte und vor den Hühnern schützte. Dahinter erhob sich das Haus, das letzte in der Straße, wie alle anderen ein Schmuckstück aus Fachwerk und frisch geweißelten Wänden, dahinter ein paar Ställe und Schuppen. Der Kirschbaum vor dem Haus war schon von Weitem zu sehen. Er stand in voller Blüte, eine grandiose, blassrosa Pracht, die die Blicke auf sich zog. Sein knorriger, dunkler Stamm war so dick, dass ein Mann ihn nicht umfassen konnte, und seine Äste reckten sich ihn die Höhe, als wollten sie den Himmel erreichen. Tausende und abertausende von kleinen, rosa Blüten drängten sich eng aneinander und erzeugten ein Bild von zarter Schönheit, das Herzen bewegte. Selbst ein einzelner Baum wie jener stach heraus, aber er war nur ein Schatten jenes Anblicks, der die Alleen und Parks in Annas Heimat zierte. Hier im Hinterland von Magnolia hatten, wie der Name der Stadt versprach, Magnolien den Vorrang. Zwei der Ziegen grasten auf dem Rasenstück, über dem er sich erhob und das bedeckt war von gefallenen Blütenblättern. Wie kamen die schon wieder hierher? Auch der Hof war unter einer rosa Decke verschwunden und als der Wind zunahm, wurde sie aufgewirbelt und wie Schneegestöber durch die Luft getrieben. Heute Nacht würde es stürmen. „Aber ich habe noch einiges zu tun.“, schob sie jeder Einladung zum Tratsch den Riegel vor. „Der Frühling ist immer sehr geschäftig und ich habe keine Zeit für Vermutungen über dumme Streits.“ „Es ist immerhin jemand gestorben.“, bemerkte Mirajane sanft und Anna warf ihr einen Blick zu. „Das möchte man nicht meinen, so wie du darüber sprichst. Entschuldigt mich.“ Sie wandte sich ab, sammelte ihre Werkzeuge ein und ging davon. „Ich habe es von Anfang an gesagt, dass er nur Ärger bringen wird!“, empörte sich Ooba hinter ihr erneut. „Das hat man davon, wenn man Fremde in sein Dorf kommen lässt.“ Anna versteifte sich und warf einen kurzen Blick über ihre Schulter, aber die Alte blickte sie nicht einmal an. Wahrscheinlich hatte sie wie alle anderen hier vergessen, dass Anna ebenfalls eine Fremde war, zu unentbehrlich hatte sie sich bereits gemacht. Vor beinahe eineinhalb Jahren war sie nach dem Krieg an einem klischeehaft stürmischen Herbstabend nach Bellflower Village gekommen und war in dieses Haus eingezogen, gezeichnet von den Kämpfen und mit fünf Kriegswaisen in ihrer Obhut. Es zeigte nur einmal mehr, wie schnell Dinge vergessen wurden – und an welche man sich erinnerte. Denn anders als sie hatte er sich nie darum gekümmert, ob er akzeptiert wurde. Anna runzelte die Stirn und setzte ihren Weg fort. Sie deponierte ihr Werkzeug auf der Bank neben der Tür und scheuchte die beiden Ziegen auf ihre Weide hinter dem Haus zurück, wo sich die anderen drei zum Glück noch aufhielten, und verschloss das Gatter wieder. Um sie herum tanzten zarte, rosa Blütenblätter im Wind und sie blickte hinüber zu dem großen Baum mit seinen ausladenden Ästen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis er alle Blüten wieder verloren hatte. Das erste zarte Grün tauchte schon zwischen dem Rosa auf. Wie schnell manche Dinge zu Ende waren… Es erwischte sie doch jedes Jahr kalt, obwohl sie es erwarten sollte. Aber die Kirschblüte war nicht das einzige, von dessen Ende sie gewusst hatte, und trotzdem war sie nun erstaunt darüber, wie schnell es ging. Wie plötzlich es kam. Und auch wenn sie es erwartet hatte, es schmerzte sie. „Anna! Anna!“ Sie blickte sich um, als die aufgeregten Stimmen an ihr Ohr drangen, unwillkürlich ein erfreutes Lächeln auf den Lippen. Diese ihre Kinder schafften es immer nur durch ihre bloße Existenz, ihr Herz leichter werden zu lassen und ihre Laune zu heben. Mit einem Mal wog die Traurigkeit des Abschieds nicht mehr so schwer. Sie kamen über die Wiese auf sie zu gerannt, fünf kleine Gestalten in zu großen Kleidern, die jedoch gepflegt und sauber waren – oder zumindest sollten sie es sein, aber wie das bei Kindern nun mal so war, hielt dieser Zustand meistens nicht lange an. Auch jetzt zogen sich wieder Dreckstriemen über den Stoff. Natsu war der erste, der sie erreichte. „Schau mal, Anna!“, brüllte er und hielt ihr mit beiden Händen ein kleines, graublaues Kätzchen unter die Nase. Seine pinken Haare standen in alle Richtungen ab und er grinste über das ganze fröhliche Gesicht. Er wirkte, als würde er gleich vor Stolz explodieren, den nur ein Elfjähriger aufbringen konnte. Überrascht blinzelte sie das Tier an, das aus großen, gelben Augen zurückschaute und leise maunzte. „Wir haben sie gefunden!“, erklärte Gajeel und verzog den Mund zu dem Raubtierlächeln, das ihm eigen war. Er war der älteste unter ihren Kindern, bereits zwölf, und wirkte mit seiner schwarzen Mähne und den Piercings so wild, dass Sherrys kleiner Sohn Angst vor ihm hatte. Auch er hielt eine Katze im Arm, so kohlschwarz, dass die bernsteinfarbenen Augen hell aus dem Gesicht hervorstachen. Die anderen drei Kinder, deren Beine noch zu kurz waren, um mit den größeren Jungen mitzuhalten, kamen nun mit etwas Verspätung ebenfalls bei ihr an. Auch sie trugen kleine Fellbündel in den Armen. „Dürfen wir sie behalten?“, wollte Sting sofort wissen und seine kobaltblauen Augen starrten flehend zu ihr auf. Seine blonden Haare waren ebenfalls ein wilder Mopp ähnlich wie Natsus, eine schräge Narbe spaltete seine rechte Augenbraue und in den Armen hielt er ein rotgetigertes Kätzchen. Er bildete den Gegensatz zu dem schwarzhaarigen Jungen neben ihm, Rogue, der seine Narbe quer über dem Nasenrücken trug, und dessen rote Augen ein Spiegelbild Gajeels waren. Er trug sorgfältig ein kleines Schildplattkätzchen, das sich verwirrt umsah. Die letztes im Bunde war Wendy, ein kleines Mädchen mit langen, dunkelblauen Zöpfen und einem niedlichen Gesicht mit zwei riesigen, braunen Augen, die jetzt ebenfalls einen bittenden Ausdruck trugen. In den Armen hielt sie sicher eine weiße Katze, die hoheitsvoll über ihre Finger hinwegsah. Rogue und Sting waren beide sieben, während Wendy erst fünf Jahre alt war. „Wir passen auch auf sie auf!“, erklärte Natsu lautstark und drückte seine Katze an sich, als wollte er sie ersticken. Das bläulich graue Tier zirpte allerdings nur glücklich und rieb das Köpfchen an Natsus Gesicht. „Pass ein wenig auf, Natsu.“, mahnte Anna ihn trotzdem. „So junge Tiere ertragen deine Grobheiten nicht.“ Erschrocken lockerte er den Griff. „Dürfen wir?“, wollte Sting wissen und hüpfte aufgeregt auf und nieder und auch Rogue wirkte hoffnungsvoll und fügte „Bitte?“ hinzu. Anna seufzte. Sie rieb sich die Stirn; sie konnte jetzt kaum mehr Nein sagen, die Kinder hatten offensichtlich ihre Herzen bereits verloren. Allerdings… „Wo habt ihr sie her? Ihr wisst, dass ihr nicht einfach…“ „Sie saßen in einer Kiste im Wald!“, ereiferte sich Gajeel, ehe sie aussprechen konnte, und strich seinem Kätzchen über den Kopf, das daraufhin genüsslich die Augen schloss. Die Tiere hatten offensichtlich schon Vertrauen gefasst, sie jetzt noch zu trennen wäre grausam. Aber wer wusste, wo sie die Tiere gefunden hatten? Wo war die Mutter der Kleinen? Sie konnten höchstens sechs Wochen alt sein. „Jemand hat sie ausgesetzt!“, empörte sich Natsu. „Aber wir haben sie gerettet!“, bestätigte Sting und Rogue fügte hinzu: „Ohne uns sind sie ganz allein.“ Anna seufzte. Gegen eine solche Verschwörung kam sie nicht an. „Also gut…“, gab sie nach. Jetzt gab es keinen Grund mehr, abzulehnen, obwohl fünf Katzen ein ganz schöner Zuwachs für ihren Haushalt waren. „Aber ihr müsst euch um sie kümmern.“ Die Kinder brachen je nach Temperament in mehr oder weniger laute Jubelschreie aus. Natsu hob sein Kätzchen hoch und verkündete: „Ich nenne dich Happy!“ „Das ist fein, Natsu.“, stimmte Anna zu und sie fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Nach allem, was geschehen war, brauchte sie jetzt vielleicht doch ein paar Minuten Ruhe und keine aufgeregten Plappertaschen, deren Stimmen durcheinanderwirbelten, so dass man kein Wort mehr verstand. „Warum bist du traurig, Anna?“ Wendys unschuldige Stimme schnitt durch das allgemeine Gerede, obwohl sie niemals sehr laut sprach. „Traurig?“, wiederholte Anna langsam. Dabei hatte sie gedacht, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hatte. Dass sie nicht so schlimm waren, nicht so tief gingen… Sie hatte von Anfang an gewusst, dass es irgendwann zu Ende gehen würde, hatte gewusst, wie zerbrechlich diese Liebe war. „Ist es, weil Onkel Acno nicht mehr zu Besuch kommt?“, wollte Natsu vorlaut wissen und manchmal war selbst Anna erstaunt darüber, wie viel er trotz aller Gedankenlosigkeit mitbekam und verstand. Aber da war noch etwas anderes an seiner Aussage. Gajeel boxte ihm grob mit dem Ellbogen in die Seite. „Du sollst ihn doch nicht so nennen, hat Onkel Acno gesagt!“ Anna runzelte die Stirn. Zwei Fragen drängten sich in den Vordergrund: erstens, woher wussten sie von ihrer Verbindung zu dem rauen Soldaten, und zweitens, warum verdammt noch mal nannten sie ihn Onkel?! „Nicht einmal Anna darf es wissen!“, belehrte Sting inzwischen den Pinkhaarigen besserwisserisch und Rogue nickte bekräftigend. Natsu ließ die Schultern hängen. „Das wollte ich doch nicht! Das ist mir so rausgerutscht!“ „Jetzt ist es eh schon zu spät!“, raunzte Gajeel und ließ zu, dass die schwarze Katze auf seine Schulter kletterte. „Warum nennt ihr ihn Onkel?“, schaltete Anna sich schließlich ein und die fünf starrten sie schuldbewusst an. „Weil er lustig ist“, gab Natsu nach einem Moment des Herumdrucksens zu. „und mit uns fischen geht.“ „Er hat mir gezeigt, wie man ein Kaninchen ausnimmt.“, bot Gajeel an. „Und er erzählt Geschichten!“, fügte Sting hinzu. „Gruselige.“, ergänzte Rogue. „Und manchmal lustige.“ Wendy erklärte schließlich: „Er hat uns gezeigt, wo die Kätzchen sind.“ Wortlos schaute Anna auf die Kinder hinunter, die jetzt die Köpfe einzogen und schuldbewusst dreinblickten. Es schien ihnen langsam zu dämmern, dass sie diverse Regeln übertreten hatten. Ihre, indem sie mit jemandem gesprochen hatten, der eigentlich unter die Kategorie Fremder fiel, und die ihres ‚Onkels‘, der ihnen offensichtlich wohlweislich erklärt hatte, diese ungewöhnliche Freundschaft sei ein Geheimnis, selbst vor ihr. Vielleicht vor allem vor ihr. Sie holte tief Luft, aber sie war nicht einmal wütend. Es vertiefte nur die Traurigkeit, die sich immer schwerer über sie legte. Für die Kinder war er offensichtlich wichtig geworden und sie ahnten noch nicht, dass es nicht so weitergehen würde, außer vielleicht Gajeel. Natsu hatte eine Art, manche Dinge einfach nicht wahrzunehmen und die Anderen waren noch zu jung. Aber nicht nur für ihre Kinder würde sich einiges ändern, auch für sie… Statt sie zu ermahnen, nicht die Regeln zu übertreten, legte Anna die Arme um die Schultern von Natsu und Gajeel, die ihr am nächsten standen, warf den anderen drei ein Lächeln zu. „Lasst uns reingehen und sehen, ob wir nicht etwas zu Essen für die Kätzchen finden. Sie sehen hungrig aus.“ ~~*~~❀~~*~~ Der Wind heulte laut um die Gebäude und jagte Wolkenfetzen über den Himmel, so dass der beinahe volle Mond nur unregelmäßig zu sehen war. Ganze Wolken von Blütenblättern wurden über den Hof getrieben und außerhalb des Lichtkreises wirkten sie beinahe wie Silhouetten. Seltsame Kreaturen, die ihre Gestalt fließend veränderten… Die Gaslaterne über der Hintertür verbreitete einen hellen Schein, der auch noch über die Bank fiel, auf der Anna ihren Abend genoss. Sie hatte ihre Hände um ihren Teebecher geschlungen, aus dem es noch dampfte. Doch auch der Dunst wurde sofort vom Wind zerfasert, der an ihren Kleidern zog und ihre langen Haare durch die Luft wirbelte. Die Kinder schliefen friedlich, ein jeder mit einer kleinen, gepolsterten Kiste neben dem Bett, in der ein kleines Kätzchen lag, selbst Gajeel. Nachmittag und Abend waren aufregend für sie gewesen, die jungen Tiere, die mit der Zeit immer mutiger geworden waren, hatten sie beschäftigt gehalten. Anna hatte sich für einige Minuten zurückgezogen, ehe sie selbst ebenfalls zu Bett gehen wollte, um zur Ruhe zu kommen und die schweren Gedanken abzuschütteln, die sie schon ein paar Tage begleiteten. Sie hatte stets gewusst, dass es nicht für immer war. Aber das machte es für sie jetzt nicht leichter, die Ereignisse zu akzeptieren. Bedächtig hob sie ihren Becher und nippte an dem Tee, den Blick gen Himmel gerichtet, wo der Mond hinter einigen Wolken hervorschaute. Wäre es eine klare Nacht, könnte sie all die Sternbilder sehen, die sie seit ihrer Kindheit begleiteten. Von ihrer Mutter hatte sie alles über sie gelernt und an ihre eigene Tochter hatte sie die alten Geschichten und Weisheiten ebenso weitergegeben. Jetzt war ihre Mutter tot und ihre Tochter unerreichbar und wieder einmal wurde ihr bewusst, dass nichts blieb. Dass alles verging. So war der Lauf der Welt. Sie hatte ihn nicht erwartet, aber als sich seine muskulöse Silhouette aus dem Dunkel schälte, war sie nicht erstaunt. Er war ein großer Mann mit breiten Schultern, eine beeindruckende Gestalt, die sich mit raubtierhafter Anmut bewegte. Eine wahre Mähne von beinahe weißem Haar hing ihm wild zu den Hüften hinab und der Wind spielte mit den langen Strähnen. Seine dunklen Augen schienen bodenlose Gruben in seinem markanten Gesicht zu sein, das scharf von Schatten gezeichnet wurde. Er war kein sanfter Mann, er war nicht einmal ein besonders freundlicher Mann und man konnte es ihm ansehen. Die Art, wie er sich bewegte, sich hielt, selbst der scheinbar neutrale Gesichtsausdruck. All das sprach von Kraft und Stärke und Willen, aber nichts von Milde und Nachsicht. Und doch… Sie stellte ihren Becher auf der Bank ab und erhob sich. „Acnologia.“ Er ging noch zwei Schritte und Kies knirschte unter seinen schweren Stiefeln, ehe er stehenblieb. Für einige Momente verharrte er einfach nur und starrte sie stumm an, als würde er versuchen, sie sich einzuprägen. Sein Gesicht war schon immer schwer zu lesen gewesen. „Wie geht es den Kindern?“, wollte er dann übergangslos wissen und seine raue Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Seine Zähne blitzten hell auf, als er grinste. „Und den Katzen?“ Sie hob kurz die Schultern und ließ ihn nicht aus den Augen, als er langsam näherkam. „Gut, aber nicht dank dir.“ Er zuckte mit den Schultern und hielt inne, als er so nahe vor ihr stand, dass sie sich beinahe berührten und sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen. Sie konnte seine Wärme auch durch ihre Kleidung spüren und die Linien seiner Tätowierungen hoben sich dunkel von seinem Gesicht hab. Das war so ein seltsames Gefühl, das sie schon lange vergessen glaubte. „Um eines klarzustellen: Ich bin nicht sehr erfreut zu erfahren, dass du dich hinter meinem Rücken mit meinen Kindern herumtreibst.“ Er lachte leise, aber ihr Vorwurf schien ihm egal zu sein. „Das sind gute Kinder. Stark.“ Sie schnaufte. „Natürlich sind sie das. Sie haben den gleichen Krieg überlebt wie du und ich.“ Und sie musste ihn kaum daran erinnern, was das für eine Hölle gewesen war. Diese Leute in diesem ihren Dorf mit ihren ewigen Tratschereien und ihren kleinlichen Feindseligkeiten und ihren missgünstigen Anfeindungen konnten sich das nicht einmal im Ansatz vorstellen. Er sagte nicht darauf, sondern blickte ihr nur forschend in die Augen, als würde er etwas suchen. Ob er es in ihr fand? „Was ist passiert?“, wollte sie schließlich wissen. „Hast du Ivan Dreyar getötet?“ Mit den Schultern zuckend lachte er, verächtlich diesmal. „Wen interessiert es? Jeder hier glaubt zu wissen, was geschehen ist, und außer dir hat jeder hier sein Urteil über mich längst gefällt. Es spielt keine Rolle mehr, was tatsächlich passiert ist.“ Sie blickte weg, zur Seite und auf den Boden, als wären die vom Wind verwirbelten Kirschblüten interessanter als sein Gesicht. Er hatte Recht. Sie hörte, wie er ausspukte und etwas über kleingeistige, inzüchtige Dorftrottel vor sich hinmurmelte. Die Bemerkung, obwohl nur halb verstanden, brachte ein kleines Halblächeln auf ihre Lippen, und sie blickte wieder zu ihm auf. „Was hast du jetzt vor?“ Die Antwort darauf wusste sie eigentlich längst. Warum quälte sie sich selbst, indem sie nach ihr verlangte? Er zuckte mit den Schultern. „Weg. Frag nicht, wohin. Ich hätte schon längst verschwinden sollen.“ Mit einer Hand fuhr er sich durch die Haare und diesmal war es er, der ihren Blick nicht erwidern konnte. Für einen Moment lag sein sonst so verschlossener Gesichtsausdruck offen vor ihr, aber das was sie sah, konnte sie nicht deuten. Schmerz? Sehnsucht? Enttäuschung? Auf jeden Fall waren da Unzufriedenheit und Missmut, denn ihm gefiel der Verlauf der Dinge nicht. Sie brachte es kaum über sich, die Frage zu stellen, aber sie musste es wissen. „Und was willst du dann noch hier?“ Sie noch immer nicht ansehend zuckte er mit den Schultern. Vielleicht war er sich darüber selbst nicht ganz klar. Vielleicht wusste er einfach nicht, wie er seine Gefühle und Wünsche in Worte packen sollte. Für einige Augenblicke blieb es so still, dass der aufkeimende Sturm in ihren Ohren dröhnte. Dann versuchte sie es noch einmal und ihre Stimme war nur ein Wispern, das im Wind hätte untergehen müssen. „Acnologia?“ Trotzdem hörte er sie und er blickte sie noch einmal an und in seinen Augen offenbarte er Gefühle, deren Tiefe und Stärke sie erschreckte. „Ich musste noch einmal herkommen.“, antwortete er dann und seine Stimme klang rauer noch als vorher, als würde er zu viel damit übermitteln wollen. Für einen weiteren Moment starrten sie sich stumm an, dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Dies war nicht der Kuss, den sie von ihm gewohnt war. Er trug nicht das harte Verlangen oder die fordernde Gier, die sie von ihm kannte. Er war auch nicht sanft, nein, denn er war endgültig und grausam in seiner Sicherheit, der letzte zu sein. Ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Hemdes und sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich ihm entgegen zu drängen, als ihre eigene Hoffnungslosigkeit Überhand nahm. Seine Hände fuhren in ihr Haar, so dass ihr Pferdeschwand sich löste, und sie schmeckte ihre eigenen Tränen auf seinen Lippen. Sie hatte immer gewusst, dass es irgendwann vorbeigehen würde, dass nichts für die Ewigkeit war. Aber warum tat es dann jedes Mal erneut so weh? --- Am nächsten Tag, als sie erwachte, war er längst unerreichbar für sie und der Sturm hatte alle Kirschblüten vom Baum gerissen. [April | Zinnie] Erinnerungen und Fundamente -------------------------------------------- Der Himmel war in alle Richtungen hin grau und bedeckt von schweren Wolken. Vermutlich würde es bald regnen, doch noch war alles trocken und das Wetter würde hoffentlich auch noch etwas halten. Ein scharfer, kalter Wind pfiff von Osten heran und wirbelte das frische Herbstlaub durcheinander. Die Blumen neigten ihre bunten Köpfe unter den kräftigen Böen, doch alle Farben wirkten gedeckt und matt, da das richtige Licht fehlte, das diese Jahreszeit golden färbte. Juvia wüsste kein anderes Wetter, das ihre Stimmung so punktgenau wiederspiegeln würde als dieses. Trüb, aber nicht völlig verregnet, dass es depressiv wirkte, oder so eisig kalt, dass die Luft klirrte. Der wahre Schmerz war bereits abgeklungen, nur noch ein leises Pochen, wie ein Hintergrundrauschen, das jedoch niemals wirklich verschwinden würde. Sie verstärkte den Griff um den ovalen Korb mit den Zinnien darin, gelb und pink und rot, dazwischen das helle Grün der Blätter. Warum bringst du mir Blumen, Regenfrau? Was soll ich denn damit?!, konnte sie Gajeels Stimme in Gedanken hören. Ausgerechnet mir…! Sentimentales Weib. Unter der rauen Stimme und dem Hohn konnte sie jedoch die Zuneigung und das Grinsen heraushören. Die Blumen wären trotzdem innerhalb von einer Woche verblüht und vertrocknet. Juvia aber ließ sich nicht beirren, bei jedem Besuch brachte sie Blumen mit. Zinnien waren ihr dabei am liebsten. Sie mochte die Bedeutung dahinter – Gedanken an einen abwesenden Freund. Das passte perfekt und sie wusste jetzt schon, dass sie Zinnien nie wieder in einem anderen Kontext sehen konnte als in diesem. Vielleicht war sie tatsächlich zu sentimental. Aber wer wollte sich beschweren? Juvia hob den Kopf, als sie an der vertrauten Kreuzung ankam, und folgte dem gepflasterten Weg, der nach rechts abzweigte. Jetzt schlug der Wind ihr ins Gesicht und trieb ihre blauen Haare nach hinten. Sie zog ihre Baskenmütze tiefer in die Stirn und marschierte mit festen Schritten an der langen Reihe von Gräbern vorbei. Ihr warmer Rock, der ihr bis zu den Knien reichte, tanzte um ihre Beine und ihre Schritte klangen hell auf dem Stein. Dieser Weg war ihr wohl vertraut und sie fragte sich, was das aussagte über sie. Über Gajeel. Über Gajeel und sie. Sie wohnte nicht weit weg, hatte es nie über das Herz gebracht, die Stadt zu verlassen, da er hier war und nicht mehr wegkonnte. Die meisten ihrer Freunde hatten anderswo ihr Glück gesucht und meistens auch gefunden. Hin und wieder hörte sie von ihnen, Natsu und Lucy, die inzwischen ein Kind hatten, und Erza und Jellal, die sie zu ihrer Hochzeit eingeladen hatten, und Gray, der ein erfolgreicher Architekt geworden war, und Mirajane und Lisanna und Cana und allen anderen… Nur sie war noch hier, aber es gefiel ihr hier und sie wollte nicht gehen. Sie konnte das Grab ihres besten Freundes schon von weitem sehen, das unter den Ästen einer alten Eiche seinen Platz gefunden hatte. Gajeel würde darüber spotten, aber Juvia gefiel es, denn der große Baum mit seinem dicken Stamm und den schweren Ästen erschien ihr so verlässlich und stark wie er. Sie mochte es, Zeit unter ihm zu verbringen und mit ihm dort zu sitzen, einfach nur so oder mit etwas Musik oder einem Buch. Manchmal kam es ihr so vor, als sei ein Stück seiner Seele in den Baum übergegangen, durch die Wurzeln aufgesogen worden, die sich in den selben Boden gruben, in dem er auch lag. Der Gedanke spendete ihr Trost, dann fühlte sie sich nicht mehr so allein. Doch heute würde sie das nicht sein, stellte sie überrascht fest, und ihre Schritte wurden langsamer, als sie der schmalen Gestalt gewahr wurde. Sie brauchte nur einen Moment, um die Person zu erkennen, klein und zierlich wie sie war, und mit einem Mopp von wirrem, blauem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Vor ihr lag ein Juvia wohlbekannter Grabstein, eine einfache Platte aus schwarzem Marmor, auf der nur Gajeels Name und die beiden Daten zu lesen waren. Daneben stand ein Korb mit Vergissmeinnicht und Herbstzeitlosen, die schon ziemlich mitgenommen aussahen, ein schwarzer Drache aus Altmetall und eine Laterne, in der eine kleine Kerze brannte und die Juvia nicht kannte. Die andere Besucherin schien in einer eigenen Welt verloren zu sein, die Schultern hochgezogen, die Arme vor dem Körper verschränk und den Kopf gesenkt. Sie rührte sich nicht, auch nicht als Juvia nur noch zwei Meter entfernt war und sich endlich ein Herz fasste, die Stimme zu erheben. „Le-Levy…?“, stotterte sie und das andere Mädchen zuckte zusammen und wirbelte herum. Ihre braunen Augen waren riesig und feucht in ihrem zarten Antlitz, aber sie hatte nicht geweint. Ihr Haar fiel weich um ihr Gesicht und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, was einen scharfen Kontrast zu ihrer sonst herbstblassen Haut bildete. Sie sah jetzt viel besser und gesünder aus als das letzte Mal, als Juvia sie gesehen hatte, und allein das löste ein gutes Gefühl in ihr aus. Keine schwarzen Augenringe, keine graue Haut, kein mattes, kraftloses Haar mehr. Es hatte weh getan, jemanden, der Gajeel so wichtig gewesen war, der Juvia selbst ebenfalls am Herzen lag, so verkümmern zu sehen. Für einen Moment starrte Levy den Neuankömmling nur überrascht an, dann färbte sie sich noch dunkler. „Juvia… Ich…“ Sie räusperte sich. „Ich hätte mir denken sollen, dass du das warst.“ Sie machte eine Bewegung zu dem alten Blumenkorb. „Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich auch etwas mitgebracht habe.“ „Ne-nein, natürlich nicht, Levy!“, versicherte Juvia sofort und trat neben die andere Frau, um auf das Grab hinunterzublicken. Die Buchstaben seines Namens waren einfach und eckig gehalten, sie hatten nichts Elegantes oder gar Leichtes an sich, genauso wie Gajeel gewesen war. Wie immer, wenn sie hier stand, überkam Juvia eine tiefe Melancholie und manchmal erging sie sich in den Fragen nach dem Warum? und dem Was wäre wenn?. Doch heute war dafür kein Platz, nicht mit der jungen Frau neben ihr, die Gajeel so viel bedeutet hatte, mindestens ebenso viel wie Juvia, wenn nicht sogar mehr. Es war nur auf eine völlig andere Art gewesen und Juvia vergönnte es ihnen nicht. Sie hatte sich gefreut, dass er jemanden wie Levy gefunden hatte. Eine Weile standen sie schweigend beisammen, einträchtig und gemeinsam schwermütig. Dann riss Juvia sich aus der Lethargie und ging in die Hocke, um die Blumenkörbe auszutauschen. Sie schnippte ein paar rot und gelb gefärbte Blätter von dem Stein, die der Wind darauf geweht hatte, und riss eine Pflanze aus, die ihre Schlingen darüber ausgebreitet hatte. „Wie geht es dir?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder erhob. Levy zuckte mit den Schultern. „Besser. Gut.“, erklärte sie ehrlich, aber in ihrer Stimme war zu hören, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. „Und dir? Ich habe gehört, dass dich alle hier sitzen gelassen haben, das tut mir leid…“ „Es war Juvias eigene Entscheidung. Sie haben Juvia mehrmals angeboten, nachzukommen, sogar ihr eine Wohnung und einen Job zu finden.“, wiegelte sie ab. Sie hatte diese so freundlichen Angebote niemals annehmen können, auch nicht nach über sechs Jahren, die inzwischen vergangen waren. „Außerdem ist ‚alle‘ übertrieben. Pantherlily ist auch noch da, wir treffen uns oft auf einen Drink, und Kinana.“ Sie holte tief Luft und schenkte Levy dann ein Lächeln, ein wenig zittrig, aber ehrlich. „Juvia geht es gut.“ Die Andere blickte sie für einen Moment lang forschend an, dann nickte sie. „Das ist schön.“ Wieder senkte sich Schweigen zwischen sie, aber wie vorhin auch war die Stille nicht unangenehm, eher kameradschaftlich. Sie hatten mit Gajeel beide jemanden verloren, der ihnen ungeheuer wichtig und unersetzbar war. Aber sie beide hatten die niederschmetternde Trauer überwunden und lebten weiter. Levy war es, die zuerst wieder die Stimme erhob. „Ich hätte auch bleiben sollen. Bei ihm und…“ Sie hielt inne und schniefte kurz, wischte sich mit einem Taschentuch die Nase ab. „Aber es war alles zu viel.“ Vorsichtig legte Juvia der anderen Frau eine Hand auf die Schulter. „Es ist okay. Juvia versteht das schon. Jeder muss mit so etwas auf seine eigene Weise fertig werden. Juvia wünschte nur, es wäre niemals nötig gewesen.“ „Und ich erst!“, seufzte Levy auf und schob ihre Hände in die Taschen ihres Mantels, den Blick weiterhin betrübt auf den Namen gerichtet. Dann schaute sie plötzlich wieder auf und ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich bin froh, dass ich dir begegnet bin.“, sagte sie. „Eigentlich wollte ich sofort wieder verschwinden, aber es war gut, dich wiederzusehen.“ Juvia erwiderte das Lächeln und schob den Korb, den sie auf ihrer Hüfte abgestellt hatte, höher, damit er nicht herunterfiel. „Fand Juvia auch.“ Sie leckte sich über die Lippen und überlegte, was sie noch sagen konnte, während sie der anderen ein beinahe schüchternes Lächeln schenkte. Es freute sie wirklich, Levy wiederzusehen, und sie wollte nicht so schnell schon wieder getrennter Wege gehen. Schließlich gab sie sich einen Ruck. „Hast du noch Zeit? Juvia kennt eine gute Bar in der Nähe…“ ~~*~~❀~~*~~ Das Sabertooth war ein kleiner, gemütlicher Pub, der etwas abseits der Hauptstraßen lag, mit einem authentischen Charme, in dem oft irgendwelche Veranstaltungen und Events stattfanden. Nachmittags an einem Wochentag war allerdings so gut wie nichts los und auch am Abend herrschte nicht übermäßig viel Betrieb. Die beiden jungen Frauen hatten sich dennoch einen Platz etwas abseits gesucht, der etwas versteckt im hinteren Bereich lag. Zuerst hatten sie sich eine Mahlzeit gegönnt, nichts Außergewöhnliches, aber erstaunlich gut für einen solchen Laden. Das war einer der Gründe, warum Juvia gerne hierher kam, entweder für einen Happen zu Essen, wenn ihr Zuhause die Decke auf den Kopf fiel, oder mit Pantherlily, wenn sie gemeinsam Gajeels Grab besuchten, oder einfach für einen Mädelsabend mit Kinana. Daher kannte sie die Belegschaft inzwischen recht gut und sie fühlte sich heimisch hier. Vor Gajeels Tod war es eine stinkende Kneipe gewesen, die für jeden in der näheren Umgebung ein echtes Ärgernis gewesen war. Aber nachdem die Tochter des damaligen Besitzers sie übernommen hatte, hatte sie sich zu einem beliebten Treffpunkt in der Nachbarschaft entwickelt und die Qualität von Essen, Getränken und Unterhaltung war erstaunlich hoch und das Personal zuvorkommend und freundschaftlich. Jetzt mit Levy ebenfalls herzukommen, fühlte sich richtig an, und es war befreiend, endlich wieder richtig zu lachen. Manchmal merkte man gar nicht, wenn man etwas vermisste, weil es sich so still und heimlich aus dem Leben geschlichen hatte, als wäre es nie da gewesen. Zuerst hatten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht, was die beiderseitigen Bekannten anging. Natürlich hatte Levy in diesem Bereich mehr zu erzählen, denn die letzten beiden Jahre hatte sie in der Stadt verbracht, in der auch die meisten ihrer anderen Freunde lebten, die irgendwie früher oder später alle dorthin gedriftet waren. Juvia konnte nur von Kinana berichten, die Levy allerdings kaum kannte, und natürlich Pantherlily, dessen Tochter nun schon in die dritte Klasse ging. Gajeel war noch ihr Patenonkel gewesen und hatte das kleine Mädchen regelrecht verhätschelt. Sie rang Levy das Versprechen ab, den alten Freund noch zu besuchen, ehe sie wieder nach Magnolia zurückkehrte. Nach dem Essen hatten sie einen Kaffee getrunken und dann einen zweiten und sich schließlich auch noch einen Nachtisch gegönnt, während sich das Gespräch immer weiter und weiter ausdehnte. Keine von ihnen wollte schon aufstehen und gehen, sich wieder trennen. Juvia wollte diese Vertrautheit zwischen ihnen noch ein wenig festhalten und bewahren und den wertvollen Augenblick nicht so schnell zwischen den Fingern davongleiten lassen. Inzwischen saßen sie nebeneinandergequetscht auf der hinteren Bank, um nicht so laut sprechen zu müssen. Auf diese Weise hatte sich der Tonfall zu einem vertrauensvollen Gemurmel gesenkt und sie teilten kurze Blicke, die nur für die andere bestimmt waren. Schließlich war das Gespräch zu der langen Reise umgeschwenkt, die Levy nach Gajeels Tod angetreten hatte – um Abstand zu kriegen, eine neue Perspektive zu gewinnen und dabei vielleicht zu lernen, mit seiner endgültigen Abwesenheit klarzukommen. Sie hatte es offensichtlich geschafft, doch nichts und niemand konnte ihr das kleine, traurige Lächeln nehmen, das sich auf ihr Gesicht legte, wenn sie von dieser Zeit berichtete, von den Erlebnissen, den Menschen, die sie getroffen hatte, und ihren langen Aufstieg aus der Trauer. Sie hatte sich an einem schlechten, finsteren Ort befunden, doch diese Reise hatte ihr geholfen, wieder zu sich selbst zurückzufinden. Also nahm Juvia nur ihre Hand und verschränkte Levys Finger mit ihren eigenen, um sie festzuhalten. Levy erwiderte den Druck dankbar, aber ihr Blick war starr auf das Weinglas gerichtet, das sie delikat zwischen den Fingern hielt. Danach änderte sie einfach das Thema. Nach dem Nachtisch waren sie zu Alkohol umgeschwenkt. Erst eine Flasche Wein, dann diverse Cocktails und inzwischen reihten sich mehrere Gläser vor ihnen auf und ihre Laune hatte sich wieder gehoben. Das Gespräch lag immer noch auf Gajeel, aber es waren Erinnerungen an ihn, die sie sich bewahrt hatten, Erlebnisse, die sie mit ihm geteilt hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nicht mehr die einzigen Gäste waren – Menschen tummelten sich in dem Barraum, ihr Gelächter und ihre Stimmen drangen zu ihnen herüber, es war warm und freundlich. Zwei Kellner flitzten zwischen ihnen herum und hinter dem Tresen stand ein Barkeeper, der kaum zur Ruhe kam. Trotzdem fühlte sich Juvia, als wären sie und Levy in ihrer eigenen Welt, getrennt von allen anderen wie durch eine Glasglocke, und sie wollte es auch gar nicht anders. Die Vertrautheit zwischen ihnen war seltsam intensiv, auch wenn sie früher kaum mehr als Gajeel verbunden hatte. Die Trauer um ihn brachte sie ironischerweise näher zusammen, ließ zu, dass sie sich besser verstanden, als jemand anderes dies hätte tun können. „…unseren ersten Jahrestag. Er hat mir schließlich das Päckchen in die Hand gedrückt und dann ist er davongestapft, als hätte ihn jemand tödlich beleidigt.“, erzählte Levy gerade und brach in mädchenhaftes Gekicher aus, als die an das Ereignis dachte. Juvia konnte sich die Szene gut vorstellen und gestattete sich ein Lächeln. Gajeel war schon immer etwas ruppig gewesen und zu stolz für sein eigenes Wohlergehen, darum war es ihm schwergefallen, einfach einmal nett und aufmerksam zu sein. Levy hatte sehr schnell begriffen, wie sie mit ihm umzugehen hatte, was Juvia ihr immer hoch angerechnet hatte. Es war schwer gewesen, ihn zu verstehen, aber sie beide hatten es irgendwie geschafft, seine Sprache zu sprechen. Levy lehnte sich zurück und kratzte sich an der Nase. „Ich frage mich immer noch, wie er wusste, dass ich genau dieses Buch wollte.“ Juvia versteckte ihr Lächeln hinter ihrem Glas. „Juvia hat es ihm gesagt.“, gab sie zu. Überrascht blickte die andere auf. Die Lampen zauberten Lichtblitze in ihre Rehaugen und sie zog die Brauen hoch. Für einen kurzen Schockmoment fragte Juvia sich, ob sie das lieber hätte für sich behalten sollen, um Levy diese geliebte Erinnerung an ihn nicht zu zerstören. Doch dann gestattete die Kleinere sich ein Halbgrinsen und wandte sich mit einem Kopfschütteln und einem leisen Lachen ab. „Das hätte ich mir denken können. Er hat sich immer auf dich verlassen.“ Juvia nippte nachdenklich an ihrem Glas und lehnte sich zurück. Ihre Schulter presste sich gegen Levys und ihre Hände lagen so eng nebeneinander auf der Bank, dass sie die Wärme der jeweils anderen spüren konnten. „Juvia hat sich auch immer auf ihn verlassen.“ Sie nickte bekräftigend und hob wieder das Glas an die Lippen. Levy gab ihr einen kleinen Schubs mit der Schulter. „Was meinst du? Das klang, als würdest du an etwas ganz Bestimmtes denken.“ Juvia lächelte wehmütig und streckte den Arm aus, um das Glas auf den Tisch stellen zu können, ohne sich ansonsten zu bewegen. Sie wollte diese Wärme nicht verlieren, die ihr bis in die Knochen sickerte. „Er hat Juvia immer beschützt, seit dem Waisenhaus. Auch dann noch, als sie es schon längst selbst konnte. Er hat immer so getan, als wäre es nur ein Zufall, oder als wollte er gerade in diesem Moment mit den Typen, die Juvia geärgert haben, Streit anfangen, aber Juvia wusste es besser.“ Sie blickte auf ihre Schuhe hinunter, tiefblaue Schnürstiefel. „Und später… Naja, er sagte einmal, dass er weiß, dass Juvia keinen Schutz braucht, aber das ist ja noch lange kein Grund, sie sich selbst zu überlassen.“ „Er hat immer ein großes Herz gehabt. Auch wenn er es immer versteckt hat, dieser Grummel.“, stimmte Levy zu und jetzt klang sie, als wäre ihr gerade wieder bewusst geworden, wie groß ihr Verlust tatsächlich war. Sie blinzelte hastig, aber Juvia konnte aus dieser Nähe trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse die Tränen in ihren Wimpern erkennen. Sie griff wieder nach ihrem Glas, stellte fest, dass es leer war, und winkte dem Kellner, während Levy sich wieder unter Kontrolle brachte. Unauffällig wischte die Kleinere sich die Feuchtigkeit aus den Augen. „Wu-wusstest du, dass ich am Anfang ein wenig eifersüchtig auf dich war?“, redete sie ein wenig zu schnell los, als könnte sie es nicht erwarten, das Thema zu wechseln. „Auf Juvia?!“, rief diese erstaunt aus und blinzelte verdutzt. „Aber…“ Sie verstummte und runzelte die Stirn. Das kam sehr überraschend für sie. Einen Grund für Eifersucht hatte es für Levy doch nie gegeben! Doch ehe sie etwas sagen konnte, stand der Kellner vor ihnen, ein hübscher junger Mann mit wildem, blondem Haar und funkelnden, blauen Augen. „Soll ich euch noch etwas bringen?“ Er warf einen vielsagenden Blick auf die Ansammlung an Gläsern vor ihnen. „Oder habt ihr schon genug?“ „Wir halten mehr aus, als es wirkt!“, belehrte Levy ihn streng und Juvia grinste. „Sting, wir erinnern uns an Gajeel. Da ist das erlaubt! Er würde das nicht anders wollen. Das ist seine Freundin, Levy!“, stellte sie etwas zu enthusiastisch vor. Die blauen Augen huschten von ihr zu ihrer Freundin und zurück. Dann zuckte er mit den Schultern. „Also schön, aber ich sammel alle eure Autoschlüssel ein. Ihr könnt sie morgen abholen.“ Er begann, die Gläser zusammenzuraffen und auf seinem Tablett zu deponieren. „Was wollt ihr?“ „Hmmm.“ Juvia legte nachdenklich den Finger auf das Kinn. „Etwas Süßes.“, warf Levy ein und Juvia stimmte zu: „Überrasch uns.“ Sie angelte ihren Autoschlüssel aus der Handtasche und überreichte ihn ohne weiteres Zögern, während Levy etwas zögerte. Juvia stieß sie an. „Levy kann bei Juvia übernachten, kein Problem.“ „Also gut…“ Auch die Kleinere gab nun ihren Schlüssel ab und drohte ihrer Freundin dann mit dem Finger. „Aber du wohnst besser in der Nähe.“ Sting sammelte die Schlüssel ein, nahm sein Tablett auf und verschwand mit einem kurzen „bis gleich“ wieder in der Menge. Juvia blickte ihm hinterher, bis Levy neben ihr unkontrolliert zu kichern begann. Sie boxte ihrer Banknachbarin mit einem spitzen Ellbogen gegen die Rippen. „Gajeel wäre schon hackedicht. Ich meine, wir sind auch nicht mehr ganz nüchtern, aber er hat einfach gar nichts vertragen.“ „Er mochte keinen Alkohol.“, stimmte Juvia mit einem leichten Lächeln zu. Dahinter lag natürlich ein tieferer Grund, über den sie beide Bescheid wussten und über den er nicht gerne gesprochen hatte. Aber er hatte es auch nie geschafft, irgendwie Toleranz aufzubauen, egal, wie sehr es ihn geärgert hatte, dass so gut wie jeder ihn unter den Tisch trinken konnte. „Absolut nicht.“ Levy kicherte wieder los und Juvia stimmte ein, als sie sich an diverse Situationen mit einem betrunkenen Gajeel erinnerte. „Einmal hat er Juvia auf die neuen Schuhe gekotzt.“ Damals hatte sie sich maßlos darüber aufgeregt, aber jetzt brachte sie es nur noch stärker zum Lachen. Levy fand es ebenfalls ungeheuer witzig. „Er hat mich auch mal angekotzt. Nicht wegen Alkohol, sondern weil er unbedingt den starken Mann markieren musste.“ Sie lächelte liebevoll und noch immer ein kleines bisschen verliebt. „Du weißt doch, was für Probleme er mit Achterbahnen hatte.“, gab sie einen Hinweis und Juvia riss erstaunt Augen und Mund auf. „Wie… Wie hast du es geschafft, ihn in eine hineinzukriegen?!“, entfuhr es ihr und sie schaffte es nur unter größten Mühen, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen. Levy breitete die Hände aus. „Wie gesagt, er wollte den starken Mann markieren. War eines unserer ersten Dates. Und als ich, unschuldig wie ich damals war, gesagt habe, ich wollte Achterbahn fahren. Er hat es einfach nicht zugeben können, dass das nichts für ihn ist.“ „Juvia kann sich das gut vorstellen…“, gab sie zu und ließ ihren Blick gedankenvoll zur Seite wandern. Das hatte ihm ähnlich gesehen! Sting war es, der sie unterbrach, als er ihr neuen Getränke brachte. Levys Gesicht hellte sich auf, als sie das bauchige Glas mit der bunten Flüssigkeit entgegennahm. Juvias Getränk war klar, mit einer Limette am Rand und echter Minze als Verzierung. „Ruft mich, falls ihr noch etwas braucht.“, verabschiedete er sich wieder und ging zu einem anderen Tisch hinüber. Juvia nahm ihr Getränk auf und rührte mit dem Strohhalm darin herum, ehe sie einen Schluck davon nahm. Es war stark und brannte in ihrer Kehle, doch das Gefühl konnte nicht den bitteren Geschmack überdecken, der auf ihrer Zunge zurückblieb. Nicht schlecht – Sting hatte wirklich eine Ahnung von Alkohol und seinen Gästen. „Ich dachte zuerst, meine Gefühle für ihn wären fruchtlos.“, sagte Levy auf einmal neben ihr und spielte mit ihrem Strohhalm. „Weil ich dachte, früher oder später würde er sich seine Gefühle dir gegenüber endlich eingestehen und ihr würdet ein Paar werden.“ Sie machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. „Wie aus einer von diesen romantischen Komödien, verstehst du? Der grobe Rüpel und das niedliche Mädchen, die ewig umeinander herumtanzen und sich dann doch irgendwie finden. Es war offensichtlich, wie viel ihr euch bedeutet habt, und es hat eine Weile gedauert, ehe ich bemerkt habe, dass das nur auf einer rein freundschaftlichen Ebene lief. Und, naja… Meine eigene Unsicherheit muss da auch mit reingespielt haben. Ich meine, du bist so schön, wie könnte ich mit jemandem wie dir konkurrieren?“ Levy seufzte, zuckte mit den Schultern und nahm endlich einen Schluck von ihrem Cocktail. Sie zog erfreut-erstaunt die Augenbrauen hoch und wollte etwas sagen, doch Juvia steckte immer noch bei ihrem letzten Satz fest. „Ju…Juvia ist nicht schön.“, winkte sie schließlich verlegen ab und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte, dass Levy es auf den Alkohol schieben würde, oder das Licht. „Lu-Lucy oder Mirajane, die sind es, aber doch nicht Juvia.“ Doch Levy warf ihr nur einen amüsierten Blick zu. „Hast du dich mal im Spiegel angeschaut.“, sagte sie trocken und es war nicht einmal eine Frage. „Ich weiß, wir sehen uns immer etwas anders als andere Menschen das tun, aber du bist echt schlimm. Du hast so tolle Augen und die blasse, zarte Haut, die jeder will. Weißt du, wie oft ich mir anhören musste, wie Lucy sich darüber in Neid ergangen ist?“ Sie lachte laut heraus. Juvia starrte sie an – das hatte sie nicht gewusst! Der Gedanke, dass ausgerechnet Lucy auf irgendetwas an ihr neidisch gewesen war, rief ein befriedigendes Gefühl in ihr wach, auch wenn sie sich selbst dafür schalt. Doch Levy wurde rasch wieder ernst. „Ich weiß, ich wollte Gajeel, aber ich bin bisexuell und habe Augen im Kopf und du brauchst dich echt nicht hinter Lucy oder Mira zu verstecken. Hab ein wenig mehr Selbstvertrauen.“ Juvia fühlte, wie noch mehr Blut in ihren Kopf schoss. Vermutlich glich sie inzwischen einer Tomate. „Ju-Juvia wusste das nicht.“, versuchte sie abzulenken. Levy schnaubte belustigt. „Das merke ich. Aber ich dachte nicht, dass du so eitel bist, um es nochmal zu hö-“ „Nei-nein“, unterbrach sie, weil Levy sie offensichtlich falsch verstanden hatte, und spezifizierte: „dass du bi bist.“ Erstaunt blickte Levy auf, ihre braunen Augen riesig in ihrem Gesicht. „Oh.“ Verlegen lachend fuhr sie sich durch die Haare. „I-ich hab eine Weile gebraucht, um das zu akzeptieren.“, gab sie zu. „Gajeel wusste es und Lucy, aber … ich hab es nicht mal meinen Eltern erzählt, es spielte so lange einfach keine Rolle.“ Juvia nickte. „Juvia versteht.“, gab sie zu und fügte in Gedanken an besser, als du wissen kannst. Sie blickte zur Seite und lenkte sich mit ihrem Glas ab. Schließlich stützte sie sich mit den Unterarmen auf den Tisch und erklärte verschmitzt: „Ab-aber der grobe Rüpel hat sein niedliches Mädchen trotzdem bekommen.“ Sie warf Levy einen Seitenblick zu und konnte den Moment sehen, an dem die Bedeutung der Worte bei ihr ankamen. Levys bereits zart gerötete Wangen wurden dunkler, ihr Blick huschte verlegen zur Seite und ihre Mundwinkel zuckten zu einem unwillkürlichen Lächeln nach oben. Aber sie sagte nichts dazu, sondern setzte sich nur gerade hin, dass sie ebenfalls in den Barraum blicken konnte. Doch ihr warmer Körper presste sich enger gegen Juvias, so dass sich nicht nur ihre Schultern berührten, sondern auch ihre Arme und Oberschenkel, und Juvia fragte sich, wo das hinführen würde. Seltsamerweise hatte sie keine Angst davor, keine Zweifel und auch keine Gewissensbisse. Das war nichts, dass sich ereignen würde, ereignet haben könnte, wenn Gajeel noch leben würde. Nicht, weil er zwischen ihnen gestanden hätte, sondern weil sein Tod sie beide verändert hatte. Der Schmerz seines Verlustes saß tief und er hatte etwas Grundlegendens in und zwischen ihnen umgewandelt. Vielleicht, weil die jeweils andere die Einzige war, die diesen Schmerz irgendwie hatte nachvollziehen können. Alle anderen hatten Verständnis gezeigt und sie behandelt wie rohe Eier, aber ihre Leben waren weitergegangen. Nur sie beide, Gajeels Mädels, waren auf der Stelle getreten. Juvia blickte auf, um etwas zu sagen, und sah direkt in Levys freundliche, tiefbraune Augen. Sie trug einen rosafarbenen Lipgloss, bemerkte Juvia, und alle Worte erstarben auf ihrer Zunge. Sie waren wie weggewischt aus ihrem Verstand und selbst als sie es versuchte, drang kein Ton über ihre Lippen. Doch das war auch nicht mehr nötig und plötzlich lag Levys Mund auf ihrem in dem süßesten, zartesten Kuss, den sie je bekommen hatte. Er schmeckte nach ihrem Cocktail und der leichten Vanillenote von Levys Lipgloss und er bestand nur aus zarten Bewegungen der Lippen gegeneinander. Levys Finger berührten leicht ihre Wange und der Daumen streichelte über ihren Wangenknochen. Das Glas war kühl in ihrer Hand und Levys Berührungen wie Glut auf ihrer Haut. Sie jagten einen Schauer über ihren Rücken und für einen Moment war sie gefangen. Levys Lider flatterten, als sie sie schloss, und ein leises Seufzen entschlüpfte ihr, das von Juvias Mund aufgefangen wurde, ehe jemand anderes es hören konnte. Dann ließ Juvia die Finger über Levys Nacken gleiten, bis sie die feinen Härchen dort spüren konnte, und schloss die Augen. Auf diese Weise waren die Gefühle noch intensiver, der Kuss zärtlicher und die Berührungen heißer und sie fühlte sich überwältigt. Sie ließ sich einfach fallen in diese Emotionen, die so befreiend wirkten. Nachher wusste sie nicht mehr, wie lange sie dort gesessen und sich geküsst hatten, doch als sie sich voneinander lösten, war es, als würden sie sich noch immer gegenseitig anziehen, denn der Abstand zwischen ihnen bestand nur aus Zentimetern. Juvia presste ihre Stirn gegen Levys und wagte kaum, unter ihren Wimpern aufzublicken in diese braunen Rehaugen, die sie verwirrt, verunsichert und kühn gleichzeitig anblickten. „Das ist verrückt.“, flüsterte Levy gegen ihre Lippen, doch sie wich nicht zurück, sondern küsste Juvia erneut. ~~*~~❀~~*~~ „Wann wirst du wieder nach Magnolia zurückgehen?“ „Ich weiß nicht… Ich… So-soll ich ehrlich sein?“ „Juvia hört dir zu.“ „Ich… ich weiß nicht, was wir hier haben… Aber ich bin willens, es auszuprobieren. … Wenn du mitmachst.“ „…“ „…“ „JA!“ [April | Schlüsselblume] Open your Heart ---------------------------------------- „Hey, Juvia. Du bist eine Frau.“, stellte Natsu fest und zuckte zusammen, als sie einen schrillen Schrei ausstieß. Sie sprang wie gestochen von ihrem Stuhl auf und wirbelte herum, um Natsu direkt anzusehen. Ihre Augen waren vor Schreck weit aufgerissen und sie atmete schwer. „Du musst mich nicht so erschrecken!“, maulte Natsu. „Warn mich, ehe du so losbrüllst.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte sein Gewicht, so dass er nicht von dem Ast fiel. „Er…erschrecken?“, stotterte Juvia, noch immer blass, die Hand auf ihr Herz gepresst. Sie war eine hübsche, junge Frau mit offenem, niedlichen Gesicht und mandelförmigen, blauen Augen. Ebenfalls blaue Locken fielen auf ihre schmalen Schultern und ringelten sich auf ihrem dünnen Pullover. Dann verfinsterte sich schlagartig ihr Gesicht. „Du hast Juvia erschreckt!“, warf sie ihm vor und ihre Stimme wurde mit jedem Wort lauter. Sie stemmte die Hände in die Hüften und Natsu zog erschrocken den Kopf ein. Juvia war eine sanfte Frau, die selten zornig wurde, aber wenn, dann sollte man sich in Acht nehmen. Auch jetzt war sie noch nicht fertig und zeterte los: „Du kannst nicht einfach so lautlos auftauchen und Leute ansprechen, die gar nicht wissen, dass du da bist! Oder auf Bäume klettern um zu Fenstern hochzukommen! Das ist gefährlich! Und niemand erwartet es und außerdem ist es unhöflich, durch Fenster zu schauen! Kein Wunder, dass Lucy sich immer beschwert!“ Natsu setzte sich so erschrocken auf, dass er bedenklich auf seinem schmalen Sitz wankte. „Lucy beschwert sich…?“ Aber warum sollte sie das tun? Er klopfte in der Regel sogar an, wenn er mit ihr sprechen wollte! Aber wenn er recht nachdachte, war sie nie sehr glücklich darüber, wenn er so unangemeldet vor ihrem Fenster auftauchte. Juvias Gesicht wurde wieder weicher und ihre Haltung lockerte sich. Dann trat sie nach vorn und nahm einen Stapel Bücher, eine Kiste voller bunter Garnrollen und eine handgemachte Gray-sama-Puppe von der Fensterbank. Wenig feierlich lud sie alles auf ihren Arbeitstisch ab, auf dem ihre Nähmaschine stand. Sie hatte dort konzentriert an etwas Kleinem gearbeitet, als Natsu dazugekommen war. Langsam begriff er, warum sie so überrascht über sein Auftauchen gewesen war. Doch sie schien ihm das nicht nachzutragen und hatte sich schon wieder beruhigt. Einladend hielt sie das Fenster auf und machte eine kleine Handbewegung in den Raum hinein. „Jetzt komm erstmal rein, Natsu.“ Sein Gesicht hellte sich auf und er kletterte von dem Ast in ihr Nähzimmer. Es war ein kleiner, gemütlicher Raum mit Holzboden und weißen Wänden und Decke, in dem es stets angenehm duftete, und der hell und freundlich war. Er war ganz in Weiß und Blau gehalten, nur vor einer der oberen Ecken hing ein rosa Sonnenschirm. Unter der Dachschräge hatte ein hohes Tagesbett mit Schubladen seinen Platz gefunden, als Sofa doppelte und mit einem Quilt abgedeckt war, den Juvia selbst gemacht hatte. Daneben standen ein kleiner Diwan und ein niedriger, antiker Holztisch mit Kerzen darauf. An der Wand gegenüber hingen zahlreiche Regalbretter, auf denen Kisten, Stoff, Wolle und andere Arbeitsmaterialen untergebracht war. Unter der breiten Fensterfront befand sich neben dem großen Arbeitstisch noch eine Kommode, auf der eine Parade von Stofftieren sich breitgemacht hatte. „Ha, ein Drache!“, freute Natsu sich, als er eine grüne, geflügelte Plüschechse unter ihnen entdeckte, und zog sie aus dem Gewühl von Kuscheltieren heraus. Ein kleines Pony segelte dabei auf den Boden, aber Natsu hielt den niedlichen Drachen hoch, damit er ihn genauer ansehen konnte. Ein Paar aufgenähter Augen blickte ihm freundlich entgegen und er hatte kleine Flügel und winzige, dicke Hörnchen auf dem Kopf. Sein Fell war kuschelig weich und sogar ein wenig fluffig. „Man, ist der cool!“ „Natsu kann ihn haben, wenn er will.“, bot Juvia mit einem kleinen Lächeln an und er sah sie kurz an, drauf und dran, das Angebot sofort anzunehmen. Dann wanderte sein Blick zu den anderen Tieren, die geduldig und offensichtlich neu auf der Kommode hockten. Neben der Nähmaschine wartete ein schwarzweißer Hund darauf, fertiggestellt und ausgepolstert zu werden. „Das sind so viele! Und sie sind alle so toll!“ Er schaute wieder zu ihr hinüber. „Wofür brauchst du diese Armee überhaupt?“ Verlegen strich Juvia sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Sie sind für Mister Makarovs Kindertombola. Bis zum Sommerfest braucht Juvia eine ganze Menge von ihnen!“ „Oh.“ Natsu zog ein enttäuschtes Gesicht. „Ich mochte dich wirklich“, sagte er zu dem Drachen und setzte ihn zu seinen Kameraden zurück. „aber bei einem Kind bist du besser aufgehoben.“ „Juvia kann dir auch einen machen, wenn das vorbei ist.“, bot die Frau ihm an und verschränkte die Finger ineinander. Natsus Augen leuchteten auf. „Einen Roten!“ „Einen Roten.“, stimmte sie zu und hob das Pony auf, um es zu den anderen Tieren zurückzusetzen. „Was willst du überhaupt von Juvia?“ „Oh…“ Für einen Moment starrte er sie verwirrt an, dann erinnerte er sich an den eigentlichen Grund, warum er überhaupt hergekommen war, und erklärte erneut überzeugt: „Du bist eine Frau!“ Sie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust. „Soll Juvia ärgerlich sein, weil du das noch nicht früher bemerkt hast?“ Natsu stutzte und dachte an seine Worte zurück. Jetzt im Nachhinein, nachdem sie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, konnte er sehen, dass seine Worte unglücklich gewählt waren. Lucy hätte ihn dafür vermutlich gehörig den Kopf gewaschen. Aber Lucy war ja auch der Grund für sein Problem. „Uh…“ Nervös rieb er sich den Hinterkopf. „Ich meine, natürlich bist du eine Frau! Ich wusste das schon! Theoretisch…! Ich meine, das hat noch nie eine Rolle gespielt? Und darum ist es mir noch nie aufgefallen und du bist halt einer meiner Kumpel und immer für jeden Blödsinn zu haben wie die anderen Jungs und… ich meine…“ Einen Blick auf ihr finsteres Gesicht zeigte, dass er sein Grab tiefer schaufelte, also lenkte er ein: „So hab ich das wirklich nicht gemeint…“ Warum waren Frauen immer so kompliziert! Aber war er nicht gerade darum hergekommen? Weil er dachte, dass eine Frau die kniffligen und unerforschlichen Gedanken einer anderen Frau eher nachvollziehen konnte…? Juvia wirkte noch immer nicht beruhigt und langsam bekam er es mit der Angst zu tun. Wer sollte ihm helfen, wenn nicht sie!? Er hatte alle Hoffnungen in sie gesetzt. Lucy kam nicht in Frage, weil sie ja der Grund für alles war, Levy war gar nicht da, Cana würde ihn gnadenlos aufziehen und so weit, sich an Erza zu wenden, war er dann doch nicht. Juvia, die freundliche, gutmütige, arglose Juvia, die doch irgendwie immer so viel Durchblick hatte, schien die perfekte Wahl gewesen zu sein. Wenn er nur nicht immer gleich in irgendein Fettnäpfchen treten würde, von dem er noch nicht mal wusste, dass es da war! Und jetzt hatte er sie verärgert! Außerdem sah ihr finsteres Gesicht wirklich furchterregend aus und… Zuckten da etwa ihre Mundwinkel? Einen Moment später kicherte sie los. „Du bist wirklich leicht an der Nase herumzuführen!“, triumphierte sie und brach in Gelächter aus. Erleichtert sackte Natsu in sich zusammen. Sie war nicht böse auf ihn! Sie hatte ihn nur aufgezogen. Kompliziert und fies! Frauen! „Ich bin zu dir gekommen, um um deinen Rat zu fragen, und du machst sowas mit mir! Unfair!“, beschwerte er sich und sie beruhigte sich wieder. „Du hast Juvia auch zu Tode erschreckt.“, verteidigte sie sich und ging um ihn herum, um auf das Tagesbett zu klettern. Auf halbem Wege fuhr sie allerdings noch einmal herum und deutete anklagend mit dem Finger auf ihn. „Komm nie wieder durch das Fenster!“ Er fuhr erschrocken zurück bei ihrer heftigen Bewegung, um nicht ihren Zeigefinger in die Nase zu kriegen. „Aber das ist einfacher so!“, beschwerte er sich und folgte ihr, um sich schwer auf den Diwan fallen zu lassen. Das Fenster war doch wirklich viel leichter zu erreichen als den ganzen Weg um das Haus zu gehen, sich den Blicken der zu neugierigen Nachbarin auszusetzen, die ihre krumme Nase in alles steckte, was sie nichts anging, an der Tür zu klingeln und dann darauf zu warten, bis jemand öffnete. „Du bist der einzige, der lieber über einen Baum in den zweiten Stock klettert als an der Tür zu warten. Aber jetzt raus mit der Sprache, worum geht es?“, unterbrach sie sein innerliches Lamentieren und er setzte sich gerader auf. „Du weißt, dass ich Lucy mag.“, fing er an. „Ich meine, mögen wie in wirklich richtig in echt mögen und…“ „Natsu, jeder weiß, dass du Lucy magst.“, unterbrach sie ihn sachlich und schlug die Beine unter, nachdem sie ihre Kätzchenhausschuhe von den Füßen gestreift hatte. Schmerzlich verzog er das Gesicht. Er wusste ja, dass er nicht sonderlich subtil war, aber so direkt brauchte sie ihm das auch nicht unter die Nase zu reiben! Aber wo sie recht hatte, hatte sie recht, also ließ er die Behauptung so stehen und fügte nur hinzu: „Außer Lucy.“ Juvia seufzte und ihr Gesicht war plötzlich ernst und jede Heiterkeit daraus verschwunden. „Lucy weiß es auch.“ Sie kratzte sich an der Nase. „Sie kennt dich viel zu gut, um es nicht zu wissen.“ Frustriert warf er die Arme hoch und ließ sich gegen die Lehen fallen. „Aber warum blockt sie dann immer ab, wenn ich versuche, es anzusprechen?“ An der Decke hing eine Lichterkette mit Blumen, bemerkte er beiläufig, das war ihm noch nie vorher aufgefallen. Der Raum hatte einen wirklich ausgesprochen femininen Touch. „Ich meine, sie mag mich auch, oder nicht?“ Abrupt setzte er sich auf. „Oder?“, wollte er misstrauisch wissen. Er hatte doch die Signale, die sie aussendete, nicht fehlinterpretiert, richtig? Blockte sie deswegen ab? Weil sie ihre Freundschaft nicht mit unerwiderten Liebesgeständnissen verkomplizieren wollte? „Lucy mag dich auch.“, beruhigte Juvia ihn. „Aber warum tut sie dann so, als wäre da nichts!“, jammerte Natsu und raufte sich dramatisch die Haare. „Sie tut einfach so, als wäre alles in Ordnung und wie früher, als wäre da nicht… nicht inzwischen mehr zwischen uns! Warum macht sie alles so kompliziert! Ist es etwas frauiges? Du bist auch eine Frau, Juvia! Sag mir, was das bedeuten soll.“ „Frauiges?“, wiederholte Juvia amüsiert und kicherte, ehe sie sich wieder fing. „Es bedeutet, dass sie sich selbst im Weg herumsteht, die Nudel.“ „Okay.“ Das half ihm jetzt auch nicht viel weiter. Die Antwort machte genauso wenig Sinn wie Lucys Verhalten! Er würde nie wieder daran zweifeln, dass Juvia auch weiblich war. „Aber wie kriege ich sie vom Weg geschafft? Oder besser, wie kriege ich sie dazu, auf mich zuzukommen? Und warum tut sie das überhaupt!“ Sie rollte mit den Augen, als würde sie an seinem Verstand zweifelnd. „Du weißt, was letztes Mal passiert ist.“, wies sie auf und er wusste genau, auf welche Ereignisse sie anspielte. „Ich meine, du bist es, der das alles hautnah miterlebt hat, vor allem das mit Dan.“ Natsu knurrte automatisch, als der Name fiel. Er erinnerte sich noch gut daran, wie alles rausgekommen war und welchen Stein das losgetreten hatte. Juvia unterschlug, wie groß ihre Rolle in dem Nachspiel dieses Debakels gewesen war, als es darum ging Lucy danach wieder aufzubauen. Er sank tiefer in die Kissen. „Aber ich bin nicht Dan. Ich bin nicht so ein Arsch und ich meine es ernst! Ich würde nie jemanden so betrügen und hintergehen!“ Juvia beugte sich vor und tätschelte sein Knie. „Juvia weiß das. Im Grunde ihres Herzens weiß Lucy es auch. Aber die Sache mit Hibiki hilft auch nicht gerade. Du bist nun mal ihr bester Freund und sie will das auf keinen Fall verlieren.“ Natsu grunzte unwillig. Lucy würde ihn niemals verlieren, ob das mit ihnen klappte oder nicht? Sie war seine Freundin, ein Teil seiner unkonventionellen Familie, und wenn er eines war, dann loyal zu dieser. Und Lucy wusste das ganz genau! Er verstand schon, dass es mit Lucys anderer gescheiteter Beziehung zusammenhing. Es gab nichts, dass man Hibiki vorwerfen konnte, nicht wie Dan, der sich irgendwie überall nach weiblicher Gesellschaft umgeschaut hatte. Lucy und Hibiki dagegen waren seit der Oberstufe Freunde gewesen – und genau das war das Problem. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit die Beziehung in die Brüche gegangen war, und Lucy vermisste ihn. Natsu verstand nicht wirklich, warum die beiden sich nicht einfach zusammensetzten und darüber redeten oder was auch immer intellektuelle Leute so taten, wenn sie Probleme hatten. Lisanna und er waren nach der Trennung noch immer gute Freunde. Dann hatte es halt mit ihnen als Paar nicht funktioniert, na und? Das hieß nicht, dass sie sich nicht mehr mochten! Sie hingen noch immer regelmäßig zusammen rum. „Juvia weiß, dass du niemals so handeln und allen Kontakt abbrechen würdest. Lucy weiß es eigentlich auch, aber sie hat etwas Angst vor einer neuen Beziehung und ihr Herz darum verschlossen. Du musst ihr einfach zeigen, dass deine Gefühle ehrlich sind, etwas tun, dass ihr sagt dein Herz ist bei mir sicher, du kannst mir den Schlüssel dazu geben.“ Natsus Gesicht wurde bei der kleinen Rede immer länger. Juvia hatte ein begeistertes Funkeln in den Augen, ein breites Lächeln im Gesicht und ihre Hände waren vor der Brust verschränkt. „Dass sie dich ruhig hineinlassen kann, dass du sie niemals allein lässt, auch wenn es nicht klappen würde – was es absolut tun wird! – und ihr Vertrauen in dich gerechtfertigt ist. Dass sie immer auf dich zählen kann. Dass du…“ „Okay, okay, ich hab verstanden!“ Er lehnte sich in die Kissen zurück und starrte nachdenklich an die Decke. Juvia saß geduldig daneben und wartete ab, bis er sich nach ein, zwei Minuten wieder aufrichtete. „Ich hab keine Idee, kannst du mir helfen?“ Sie grinste, als hätte sie nur darauf gewartet. „Aber natürlich!“ Dann beugte sie sich vor, ihr Gesicht plötzlich wieder bedrohlich finster, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Es war, als wäre sie von einer finsteren Aura umgeben, die sie sonst nur ausstrahlte, wenn jemand Gray drohte. „Aber dir sei gesagt, wenn du Lucy weh tust, gibt es keinen Ort auf der Welt, wo du dich vor Juvia verstecken könntest!“ Automatisch nickte er abgehakt, die Augen starr geweitet. Er kam nicht einmal dazu zu versichern, dass er absolut nicht vorhatte, Lucy auf irgendeine Art weh zu tun. Dafür liebte er sie viel zu sehr! Sonnig lächelnd setzte Juvia sich wieder auf und hob die Hand. „Zuerst gehst du zum Blumenladen und besorgst dir einen schönen Strauß Schlüsselblumen.“ „Blumen?“ „Genau, Lucy mag Blumen.“ Sie machte eine demonstrative Handbewegung, die den Ernst der Lage unterstreichen sollte. „Okay, wenn du meinst.“ Er zuckte mit den Schultern. Blumen waren nicht sein Ding, tatsächlich war Lisanna die einzige seiner Freundinnen, der er jemals welche geschenkt hatte. Und das war eine Topfpflanze gewesen, die er gewonnen hatte. Soweit er wusste, hatte sie sie immer noch. „Juvia meint. Glaub Juvia, sie weiß, wovon sie spricht! Überlege dir gut, wo du sie übergeben willst. Dräng Lucy aber nicht in die Ecke, sonst wird sie nur sauer auf dich. Dann sag ihr, was du für sie fühlst und dass sie dir ihr Herz ruhig überlassen kann und du es sicher für sie aufbewahren wirst. Du musst keine großen Schwüre, sei einfach du selbst und vor allem, sei ehrlich. Und im Anschluss führst du sie ins Planetarium aus. Es wird dir auch gefallen, glaub mir.“ „Okay, Blumen, ehrliche Worte, Planetarium.“ Er nickte; das würde er hinbekommen. Dann fiel ihm allerdings noch etwas Wichtiges auf, das fehlte. „Gibt’s dann auch was zu essen?“ Sie schmunzelte. „Das hängt ja wohl von dir ab, oder? Und jetzt ab, Juvia muss einen Dalmatiner fertigmachen.“ Sie machte scheuchende Handbewegungen und rutschte von dem Tagesbett. Enthusiastisch sprang Natsu ebenfalls auf, erfüllt von frischer Energie, den Plan sofort in Tat umzusetzen. Der Besuch bei Juvia war, trotz der Anfangsschwierigkeiten, doch eine gute Idee gewesen! Mit diesem Plan konnte ja nichts mehr schiefgehen! Optimistisch marschierte er auf das offene Fenster zu und kletterte auf die Fensterbank. „Natsu, wir haben…“, begann Juvia hinter ihm und er rutschte auf den Ast, ehe er sich zu ihr umdrehte. „Was?“ „…eine Tür…“, vollendete sie den Satz. „Türen sind was für Langweiler.“, grinste er und kletterte geschickt vom Baum, um danach schnurstracks die Straße anzusteuern. Gerade, als er über den Gartenzaun stieg, rief sie, halb aus dem Fenster gebeugt: „Viel Glück!“ Er wandte sich zu ihr zu und salutierte lässig, eh er sich wieder umdrehte und seinen Weg fortsetzte. Wenn das alles sauber über die Bühne lief, konnten sie ja mal auf ein Double Date gehen. Den Mädels würde das sicher gefallen. „Und denk daran, es müssen Schlüsselblumen sein!“, rief sie hinter ihm her. „Lass dir auf keinen Fall etwas anderes aufschwatzen! Sie sind gelb!“ ~~*~~❀~~*~~ Fröhliches Gelächter und euphorische Stimmen erfüllten die Luft. Sie waren gemischt mit den Geräuschen von hunderten Füßen, die über den Pflasterstein trampelten, dem Gedudel von poppiger Jahrmarktsmusik, spitzen Schreien, die von den aufregenderen Fahrgeschäften herüberdrangen, und Hundegebell. Es war das perfekte Wetter für einen Tag im Freien, kräftiger Sonnenschein, als wäre schon Sommer, aber ein lauer Wind, der die erhitzten Gemüter und Gesichter etwas abkühlte, und doch keine zu große Hitze. Es duftete nach Frühlingsblumen, gebrannten Mandeln und Bratwürsten und die Stimmung war allgemein gehoben und enthusiastisch. Wie immer war Mister Makarovs Jährlicher Markt für Minis, dessen Gewinn an diverse Kinderhilfsorganisationen ging, ein gigantisches Ereignis. Der Jahrmarkt hatte als winzig kleines Sommerfest begonnen, damals, als Opa Makarov noch keine Dreißig war, mit Kaffee, selbstgebackenem Kuchen und einer Tombola. Im Laufe der Jahre war er allerdings explodiert und inzwischen ein festes Ereignis in Magnolia, zu dem man sogar aus dem Ausland anreiste. Inzwischen hatten Profis die Unterhaltung übernommen und die meisten von ihnen überließen Makarov sogar einen Teil ihrer eigenen Gewinne, um die Spendenkasse noch ein wenig zu polstern. Der Alte übernahm jetzt nur noch die Organisation, seit ein paar Jahren mit mal mehr, mal weniger eifrigen Helfern. Die Tombola allerdings, deren Stand im Schatten der großartigen Kardiakathedrale aufgebaut worden war, ließ er sich ebenfalls nicht nehmen. Im Moment wurde sie von Juvia gemanagt, deren Kuscheltiere einen wichtigen Teil der Preise darstellten. Sie fanden einigen Anklang, wenn Natsu sich so umsah. In den fünf Minuten, während der er bereits in der Nähe stand und sich zu sammeln versuchte, hatte er gesehen, wie sie ihre Visitenkarte an drei interessierte Eltern weitergab. Er selbst hatte sich eine Pause von seinem eigenen Job ergattert, immerhin hatte er noch etwas Wichtiges vor. Vermutlich musste er sich nachher noch bei Gray dafür bedanken, der gerade Doppelschicht schob… Aber Lucy war selbst diesen Preis wert! Endlich hatte Juvia mal eine kleine Verschnaufpause und er nutzte sie, um zu ihr vorzudringen. „Hast du sie noch?“, verlangte er ohne Überleitung zu wissen und sie verdrehte die Augen. Die Idee mit dem Planetarium hatte er verworfen. Erstens gab sein Budget das im Moment nicht her und zweitens hatten sie gerade alle so viel für das Festival zu tun, dass sie so bald eh keinen Termin gefunden hätten. Also behielt er die Idee für ein späteres Date im Hinterkopf und hatte sich etwas anderes überlegt. Juvia schien nicht allzu böse darüber zu sein und hatte ihm versprochen, die Schlüsselblumen an dem besonderen Tag zu hüten, damit Lucy sie nicht zu früh sah. „Juvia verwahrt sie sicher.“ Sie holte unter ihrem mit einem weißen Tischtuch abgedeckten Tisch ein Glas hervor, in dem ein kleiner, aber hübscher Strauß von Schlüsselblumen steckte. Es waren hübsche Blumen, hellgrüne, fleischige Blätter und Dolden mit lauter kleinen, leuchtend gelben Blüten daran. Es hatte ihn einige Nerven gekostet, den Strauß zu bekommen. Warum hatte die blöde Blumenverkäuferin auch nicht einsehen wollen, dass er tatsächlich Schlüsselblumen wollte und keine doofen Rosen? Es war ihm absolut egal, ob Rosen romantischer waren oder so ein Blödsinn; darum hatte er sich nie gekümmert. Juvia wusste schon, was sie tat, und sie hatte auf Schlüsselblumen bestanden. Letztendlich war er zufrieden mit dem Ergebnis und sie sahen auch noch gut und frisch aus, obwohl Juvia sie schon seit der Mittagspause für ihn versteckte, während der er sie abgeholt hatte. Sie stellte sie wieder weg und wedelte scheuchend mit der Hand. „Geh jetzt, damit du es dir nicht noch einmal anders überlegst!“ „Keine Sorge, das werde ich auf keinen Fall!“, versprach er und machte sich schon auf den Weg. „Halte die für mich bereit, ich bin bald wieder da.“ „Lucy ist bei den Losverkäufern unten am Brunnen!“, rief Juvia hinter ihm her. „Viel Glück!“ Natsu winkte ihr und stürmte ohne weitere Rücksicht auf Verluste los. Dass ihm ein Chor von Beschwerden und Flüchen folgte, störte ihn nicht sonderlich, die Leute würden so einen kleinen Rempler schon überleben. Bald hatte er den genannten Brunnen erreicht, der sich auf einem zweiten, etwas kleineren Platz erhob. Auch hier herrschte ein Gewimmel an Leuten, Verkaufsbuden säumten die Wege und eine Ecke war für die Achterbahn abgetrennt worden. Der Markt versprach auch dieses Jahr, ein voller Erfolg zu werden. Trotz der Menschenmenge entdeckte er Lucy ohne größere Probleme. Sie stand bei Wendy und Romeo, die sich direkt neben dem Brunnen um den Verkauf der Lose kümmerten, und redete leise mit dem jüngeren Mädchen. Ihr langes Haar, das ihr offen über die schon jetzt leicht gebräunten Schultern floss, glänzte golden im Sonnenschein. Neben einem Top und einer dünnen Jacke trug sie nur einen kurzen Rock und hohe Stiefel, die ihre wohlgeformten Beine zeigten. Sie war so in ihr Gespräch vertieft, dass sie gar nicht merkte, wie er näherkam. Dass sie ihm den Rücken zuwandte, half ihr nicht gerade, also schlich er sich an sie heran, während er Wendy mit einem verschwörerisch auf die Lippen gelegten Finger bedeutete, dass sie still sein sollte. Kaum hatte er sie erreicht, piekte er Lucy mit einem lauten „Buh!“ die Zeigefinger in die Seiten. Sie sprang mindestens einen halben Meter in die Höhe und stieß einen so schrillen Schrei aus, dass sich mehrere Leute zu ihr umdrehten. Natsu platze laut lachend heraus, während sie wütend zu ihm herumwirbelte. „Natsu! Was soll das!“, beschwerte sie sich lautstark und blies erzürnt die Backen auf. Auf diese Weise sah sie wirklich äußerst niedlich aus und ihre Augen funkelten feurig. Romeo und selbst Wendy hinter ihr kicherten leise und Natsu erklärte: „Immer wachsam sein!“ „Wenn man so blöde Freunde hat wie du, bleibt mir wohl kaum etwas anderes übrig!“, schimpfte sie lautstark und boxte ihm leicht gegen die Schulter. Doch an ihren belustigt funkelnden Augen und den leicht nach oben gezogenen Mundwinkeln war zu erkennen, dass sie ihm nicht wirklich böse war. Natsu presste sich übertrieben getroffen die Hände auf das Herz. „Du verletzt mich!“, beschwerte er sich dramatisch und zwinkerte Wendy zu, die ihr Lachen inzwischen hinter beiden Händen versteckte. „Sagst ausgerechnet du.“, brummte Lucy und Natsu ließ die Fassade wieder fallen. „Komm, du hast jetzt Mittagspause und wir werden sie zusammen verbringen.“, bestimmte er und packte Lucy an den Schultern, um sie auf die nächste Würstchenbude zu zu lenken. „Ihr zwei Kids kommt auch ohne uns klar!“, warf er den beiden anderen zu. „Viel Spaß ihr zwei!“, rief Romeo hinter ihnen her, während Natsu Lucy wie einen Rammbock vor sich herschob und versuchte, mit ihr die Menge zu teilen. Sie brauchte einige Augenblicke, um sich zu fangen und zu befreien und warf ihm einen gespielt wütenden Blick zu. „Wie kommst du auf die Idee, ich wollte unbedingt mit dir meine Pause verbringen?“, stellte sie eine rhetorische Frage. „Weil ich toll bin und du mich liebst?“ Er grinste sie dreist an. „Da-das glaubst aber nur du!“, antwortete sie etwas zu heftig, aber sie konnte den Rotschimmer nicht unterdrücken, der sich auf ihre Wangen legte. Natsu lachte triumphierend und reihte sich in der momentan zum Glück kurzen Schlange bei dem Wurstverkäufer ein. „Was willst du haben, Currywurst?“, wollte er wissen, während er das kurze Menü studierte. Der Duft des gebratenen Essens ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die junge Frau mit dem violetten Haar und der Brille an der Kasse winkte ihnen kurz zu, während sie die Aufträge an ihre beiden Kollegen weitergab, die im Hintergrund des Imbisswagens im Akkord arbeiteten. Dadurch ging die Schlange sehr rasch voran. Auch die drei gehörten zu Makarovs persönlichen Helfern, auch wenn ihr Cateringjob sie unter die Profis einreihte. „Ich hab eigentlich gar keinen Hunger.“, wehrte Lucy ab, aber ihr Blick hing einen Moment zu lange auf den lecker vor sich hin brutzelnden Würstchen. Also warf Natsu ihr einen unbeeindruckten Blick zu. „Ach ja? Warum sabberst du dann?“ „Ich sabbere nicht!“, empörte sich Lucy, aber sie wischte sich unwillkürlich den Mund ab und er griente. „Was darf’s sein, ihr zwei?“, wollte die Kassiererin dann schon von ihnen wissen. „Eine einfache Rote und eine Currywurst, danke, Laki.“, verlangte Natsu und blickte zu Lucy hinüber. „Und du?“ Für einen Moment schien sie mit sich zu ringen, dann zuckte sie mit den Schultern und bestellte nun doch eine Bratwurst im Brötchen. „Kommt sofort.“, bestätigte die Kassiererin und wandte sich ab. „Zieh nicht so ein finsteres Gesicht.“, wies Natsu derweil seine Begleiterin an. „Wenn man dich so sieht, würde man meinen, es sei eine Qual, mit mir unterwegs zu sein!“ „Manchmal bist du tatsächlich ein echter Quälgeist.“, stichelte Lucy zurück, wirkte aber schon wieder viel munterer. „Du hast Glück, dass ich dich so mag.“ „Soso, du magst mich also.“, zog Natsu sie auf und grinste sie überlegen an, als sie ihn mit großen Augen anstarrte und sich dann langsam rot verfärbte. Offensichtlich hatte sie mehr gesagt, als sie eigentlich wollte. „Nein, tu ich gar nicht!“, widersprach sie sofort und es fehlte nur noch, dass sie die Fäuste ballte und mit dem Fuß aufstampfte, damit sie komplett wie eine Fünfjährige wirkte. „Tust du dohoch.“, singsangte Natsu zurück und grinste selbstgefällig. Lucy verschränkte die Arme vor der Brust und drehte demonstrativ den Kopf weg. „Nein.“ „Doch!“ „Nein.“ „Do-!“ „Hey, ihr zwei, nicht streiten.“, unterbrach Laki sie mit einem Lächeln und ihrer Bestellung. „Kannst du das alles so tragen, Natsu? Vielleicht solltest du nächstes Mal zweimal vorbeikommen.“ „Zweimal abholen ist was für Weicheier.“, belehrte er sie und reichte Lucy ihr Würstchen, ehe er den Geldbeutel zückte und einen Schein auf den Tresen legte. „Behalt den Rest.“, sagte er übertrieben großzügig. Laki machte eine scheuchende Handbewegung. „Halt den Verkehr nicht auf, du Knirps.“ Damit wandte sie sich wieder ab, um die nächste Bestellung entgegen zu nehmen. Natsu sammelte sein Essen ein und schloss dann zu Lucy auf, die sich bereits aus dem gröbsten Gedränge löste. Sich am Rand haltend, wo weniger los war, setzten sie ihren Weg über den Markt fort. „Ich kann selber zahlen.“, informierte sie ihn nach ein paar Schritten. „Ich weiß, aber ich hab dich trotzdem eingeladen.“ Frech streckte er ihr die Zunge heraus. Für einen Moment starrte sie ihn an, dann wandte sie sich mit einem Kopfschütteln ab und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. „Nur du bringst mich dazu, sowas zu machen!“ „Ich bin halt unwiderstehlich.“, versicherte Natsu ihr und sie verdrehte die Augen. „Das glaubst auch nur du.“ Eine Weile schlenderten sie über Nichtigkeiten plaudernd über den Markt, während sie sich ihren Würsten widmeten. Natsu brauchte ein paar Augenblicke, um herauszufinden, wie er das mit dem Essen am besten anfing, ohne dass er etwas auf den Boden warf. Aber dann bekam er den Bogen schnell raus und war noch vor Lucy fertig, die nur mit kleinen Bissen an ihrer Wurst knabberte. Mit einer Serviette wischte er sich die Finger ab und beschloss, dass es jetzt langsam an der Zeit war, das Wichtige Thema™ zu tackeln. „Warum magst du mich nicht?“, wollte er wissen und schlug sich dann fast vor die Stirn. Toller Anfang, er war ein absolutes Genie! Nicht. Doch seine Stimme klang wohl trübsinniger als geplant, denn ihr Kopf ruckte so schnell herum, dass ihr Nacken knackte, und sie versicherte: „Aber ich mag dich!“ Für einen Moment blieb es still zwischen ihnen, dann redete sie hastig weiter: „Du bist mein bester Freund! Das vorhin war nur ein Witz, das weißt du doch, oder? Ich könnte dich niemals hassen! Du gehörst zu den mir wichtigsten Menschen, natürlich lie-mag ich dich!“ Natsu schenkte ihr einen zweifelnden Blick. „Ehrlich! Du bist mir wichtiger als all-“ Sie unterbrach sich und stopfte sich den ganzen Rest ihrer Mahlzeit in den Mund, um sich nicht noch weiter hineinzureiten. Der zu große Bissen beulte ihre Backen aus, so dass sie aussah wie ein Streifenhörnchen, das sich zu großzügig bei der Futterkiste bedient hatte. Belustigt schnaubend wandte er sich ab, um nicht vollends in Gelächter ausbrechen. Gespielt verärgert boxte sie ihm gegen die Schulter, aber dazu, zu sprechen, war sie nicht in der Lage. Eigentlich war das die Gelegenheit, dass sie mal zuhörte und nicht sofort widersprach! Sich zusammenreißend wandte er sich ihr wieder zu und schob sie zwischen zwei Buden, so dass sie etwas abseits standen. „Du weißt genau, von was ich rede. Ich mag dich. Ich meine, richtig mögen. Aber in letzter Zeit tust du so, als ob du verdammt seist, auf ewig allein zu bleiben, und willst gar nicht mehr ausgehen.“ Lucy hob die Hand um ihm zu bedeuten, dass sie etwas sagen wollte, aber sie hatte immer noch große Ähnlichkeit mit einem Hamster. Er grinste sie mitleidig an – ihn hätte das nicht aufgehalten – und sprach einfach weiter: „Ich habe aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass du die Mädelsabende in letzter Zeit alle sausen lässt, rundheraus abblockst, wenn sich jemand auch nur mit dir unterhalten will, und sowieso so tust, als müsstest du mit jedem Problem allein fertig werden. Schließ mich nicht aus, bitte?“ Sie kaute hastig weiter und versuchte, den gigantischen Happen hinunterzuschlucken, aber anscheinend hatte sie mehr abgebissen, als sie vertrug. Dazu, ihn einfach stehen zu lassen, war sie zu höflich – oder wollte einfach zu sehr das letzte Wort haben. „Ich meine, ich weiß, dass Dan dich verletzt hat. Aber Dan ist ein Arsch und die meisten Männer sind nicht so. Ich bin auf keinen Fall so, das weißt du ganz genau, und ich werde dich auch nicht im Stich lassen. Aber du tust so, als ob das gar nicht in Frage käme und ob es da draußen niemanden für dich gäbe. Aber das stimmt nicht. Ich bin gleich hier.“ „So einfach ist das nicht!“, widersprach sie sofort, als es ihr wieder möglich war. „I-ich… ich weiß das alles doch!“ Jetzt klang sie beinahe verzweifelt und er wollte sie einfach in die Arme nehmen um sie zu trösten. Aber sie drehte sich weg und schlang die Arme um sich. „Glaub mir und ich… ich bin einfach nur so verwirrt! Dan hat mir nur so wehgetan, dass ich mir selbst kaum mehr traue, und ich will nicht, dass zwischen uns in die Brüche geht wie mit Hibiki und…“ Sie verstummte und atmete ärgerlich und zugleich traurig aus. Dann blickte sie ihn geradeaus an. „Ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Du bist mir wirklich wichtig, wichtiger als alle anderen. In Wahrheit…“ Sie verstummte und blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Als sie eine Weile nicht weitersprach, hakte er nach. „Geht der Satz noch weiter?“ Sie warf ihm einen augenrollenden Blick zu, aber einer ihrer Mundwinkel zuckte und ihr Blick hatte etwas Liebevolles, also war sie nicht wirklich genervt. „Irgendwie schon.“, gab sie zu, aber sie sprach nicht weiter. Natsu beschloss, dass sie es ihm schon irgendwann sagen würde, und überlegte, ob es jetzt Zeit war, schnell zu Juvia hinüberzurennen und die Blumen zu holen. Oder würde sie ihm dann weglaufen? Das war auch eine Möglichkeit… Und anbinden konnte er sie ja schlecht. „Hi, ihr zwei!“, wurden sie in diesen Moment von einer fröhlichen Stimme unterbrochen. „Nette, kleine Ecke, die ihr euch da ausgesucht habt. So versteckt.“ Die Stimme war leicht ins Anzügliche gewechselt und Lucy wurde neben ihm knallrot, während sie sich der Sprecherin zuwandten. Es war eine sportlichen jungen Frau mit kurzgeschnittenem, weißem Haar und einem niedlichen Gesicht, aus dem aus sie zwei große, blaue Augen ansahen. Ihr Grinsen wurde breiter, als sie leicht spöttisch fragte: „Na, auf einem Date?“ „Wir machen nur grad Pause.“, wehrte Lucy verlegen ab, aber Natsu trompetete dazwischen: „Ja!“ Er grinste breit, als die beiden jungen Frauen ihm einen Blick zuwarfen. „Hi, Lisanna.“ „Nein, sind wir nicht!“, wiedersprach Lucy, diesmal entschiedener. „Das sagst du jetzt.“, zog Natsu sie noch immer grinsend auf und Lisanna lachte. Dann schlang sie einen Arm um Lucys Schultern und zog sie mit sich. „Ich weiß, der Kerl ist ein Banause, aber er ist wirklich nicht so schlimm, wie er immer tut.“, tröstete sie Lucy verschwörerisch. Doch als Natsu Anstalten machte, ihnen zu folgen, wie sie ihn scharf an: „Bleibt da stehen, das sind Frauengespräche.“ Geschlagen hob er die Hände und stopfte sie dann in die Hosentaschen. Viel mehr als geflüstertes Getuschel und mehrere Blicke in seine Richtung bekam er von dem folgenden Gespräch nicht mit. Lucy, knallrot im Gesicht, befreite sich schließlich aus dem Griff der Weißhaarigen. „Jaja, ich glaube dir ja! Hey, schau, Natsu, da ist ein Kettenkarussell, lass uns damit fahren!“ Sie packte ihn an der Hand, um ihn hinter sich her zu zerren. „Denk daran, klare Worte!“, wies Lisanna sie an, als sie an ihr vorbeistürmte, Natsu im Schlepptau. „Alles andere ist unfair!“ „Ich habe verstanden!“, antwortete Lucy laut, aber es klang eher, als wollte sie schnell davonkommen als eine Zustimmung. Natsu erwiderte ihren Händedruck und ließ sich rückwärts von ihr mitziehen. „Bis dann, Lis!“ „Viel Spaß, ihr zwei. Tut nichts Unanständiges!“ Gutgelaunt winkte Lisanna hinter ihnen her, ehe sie sich umdrehte und wieder in der Menge verschwand. Das Treffen mit ihr konnte sich noch gut als ein Glücksgriff herausstellen! Lucys Hand schien magisch zu sein, denn sie zog ihn ohne Probleme zum Kartenstand, erstand zwei Tickets und schob ihn zu den hängenden Sitzen hinüber, ohne dass er es wirklich realisierte. Erst, als er sich anschnallte, fiel ihm etwas auf. „Warte, was mache ich eigentlich hier?!“ Aber bevor er irgendetwas tun oder auch nur wieder auf den sicheren Boden zurückkommen konnte, begann das Folterinstrument, auch bekannt als Karussell, sich zu drehen. Die Tortur schien ewig zu dauern, auch wenn es nur ein paar Minuten waren. Mehr tot als lebendig rutschte er hinterher aus seinem Sitz und torkelte davon. Ihm war so kotzübel, dass es eigentlich ein Wunder war, dass er sich nicht übergab. Lucy eilte an seine Seite und führte ihn etwas abseits, bis er seinen Magen wieder unter Kontrolle gebracht hatte. „Du wirst mich nie wieder dazu bringen, in so ein Ding zu steigen.“, schwor er ihr dramatisch. „Du bist eine Hexe! Eine echte Hexe, die mich verzaubert hat, ansonsten hätte ich mir das nie angetan!“ Dabei wusste sie genau wie alle anderen über seine Reisekrankheit Bescheid! Lucy versteckte ihr Lächeln hinter einer Hand. „Und wie soll ich das angestellt haben?“ Er schenkte ihr einen übertrieben argwöhnischen Blick. „Deine Berührung. So leicht führst du mich nicht noch einmal hinter das Licht. Du Hexe!“ Kichernd schob sie ihn voran. „Komm, sonst machst du den Kindern Angst. Du kannst mir unterwegs erzählen, wie verzaubert du von mir bist.“ Sie setzten ihre Jahrmarkttour fort, erstanden ein Geschenk für Erza, die bald Geburtstag hatte, amüsierten sich über einen wirklich hervorragenden Pantomimen und Natsu musste sich unbedingt an einem Würfelspiel probieren, das wirklich einfach aussah. So leicht war es dann doch nicht und nach dem fünften Versuch gewann er endlich einen Preis. Mit großer Geste überreichte er ihn an Lucy, nachdem er vorher groß getönt hatte, etwas für sie zu gewinnen. Dass es nur eine winzige Plüschmeerjungfrau mit blauem Haar war, die man als Schlüsselanhänger verwenden konnte, schien sie nicht sonderlich zu stören. „Jetzt mach nicht so ein Gesicht, ich find sie niedlich.“, versicherte sie ihm und hängte sie sich an ihre Handtasche. „Der Kerl hat doch betrogen. Das Spiel ist getürkt!“, schimpfte Natsu und warf einen finsteren Blick über die Schulter zurück. „Ansonsten hätte ich schon viel früher gewonnen! Und etwas Größeres!“ „Jaja, wenn du meinst.“, stimmte sie ihm belustigt zu. „Aber mir gefiel diese hier sowieso am liebsten.“ Sie tätschelte ihre Meerjungfrau. Inzwischen waren sie wieder auf dem Kardiaplatz angekommen und Natsu erhaschte einen Blick durch die Menschenmenge auf den Stand der Tombola. Das brachte ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „So, ähm…“, begann er. „Ich hab noch was für dich.“ „Noch etwas?“, fragte sie verwirrt und er nickte. „Warte kurz hier.“ Er schob sie unter den großartigen Torbogen der Kardiakathedrale und rannte davon. Juvia war glücklicherweise noch am Stand und reichte ihm ohne weitere Fragen die Blumen, mit denen er zurückstürmte. Zum Glück sahen sie noch immer so frisch aus wie vorher, zumindest soweit er das beurteilen konnte. Lucy wartete noch immer dort, wo er sie zurückgelassen hatte. Sie sah wunderschön aus, wie sie dort stand, und eine kleine Gruppe aufgeregter Kinder, die gerade ein Eis bekamen, mit einem sanften Lächeln beobachtete. Ihr Haar glänzte wie Gold in der Sonne, ihr Gesicht wirkte in diesem Licht und mit diesem Lächeln besonders liebreizend und bezaubernd. Für einen Moment nahm sie seinen Atem. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf sie zu. Sie bemerkte ihn erst, als er knapp vor ihr war. Ihr Blick huschte von seinem Gesicht zu den Blumen und ein seltsamer Ausdruck legte sich auf ihr hübsches Antlitz, den er nicht deuten konnte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Mit einem nervösen Knoten im Magen – was, wenn sie doch ablehnte? – streckte er ihr die Blumen hin. „Bitte lass mich in dein Herz.“ Es klang pathetisch, aber das war das erste, das ihm in den Kopf kam, also sagte er es einfach. „Ich werde es hüten wie ein Drache seinen Schatz!“ Und um dick genug aufzutragen fügte er noch hinzu: „Weil es mir genauso wichtig ist.“ „Natsu…?“, fragte sie und ihre Stimme klang unsicher und leicht verwirrt. „Bitte, gibt mir eine Chance. Ich beweise dir, dass Typen wie Dan nicht die Regel sind. Ich bin besser als der und besser als Hibiki. Ich bin der Beste für dich.“ „Aber, Natsu, ich…“ Sie sah ihn an und musterte ihn eingehend, als könnte sie in seinem Gesicht ablesen, was die Zukunft bringen würde. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und in ihren Augen stand eine Frage. Ob sie es wirklich wagen konnte, sich noch einmal auf ein solches Abenteuer einzulassen, ihm ihr Herz zu öffnen und ihn hereinzulassen. Er erwiderte ihren Blick so fest und sicher, wie er konnte. Er war gekommen, um zu bleiben, und er würde sie auf keinen Fall enttäuschen! „Natsu, du…“ Dann schüttelte sie den Kopf und lachte und sie klang mit einem Mal so befreit. „Natsu, du bist unmöglich!“ Aber das Lächeln, das sie ihm schenkte, war zärtlich und liebevoll und so wunderschön, dass er sie für einen Moment nur wie benommen anstarren konnte. „Ist das ein ‚Ja‘?“, verlangte er dann zu wissen. „Heißt das, dass du mir eine Chance geben wirst?“ Ihr Lächeln wurde breiter und sie trat auf ihn zu, um ihm die Blumen aus der Hand zu nehmen. „Was denkst du denn?“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und presste ihm einen leichten Kuss auf die Wange. „Natürlich hießt es das.“ Er riss die triumphierend die Fäuste hoch. „Hah! Sieg!“ Ungläubig starrte sie ihn an. „Hast du gerade wirklich…“, begann sie, dann rollte sie mit den Augen. „Du bist unverbesserlich!“, schalt sie ihn. „Anders wäre es dir ja wohl auch nicht recht, oder?“, erwiderte er selbstbewusst, aber es war nur eine rhetorische Frage, denn er ließ ihr gar keine Chance zum Antworten. Stattdessen nahm er ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie zum ersten Mal. Es war nur ein kurzer, nahezu keuscher Kuss, ein einfaches Aufeinanderpressen ihrer Lippen. Und doch war er so, so süß und berauschend und wundervoll und alles, was er wollte. Er konnte sich nichts Besseres vorstellen, als sie zu küssen und die Geste von ihr erwidert zu haben. Als sie sich nach diesem viel zu kurzen Moment wieder voneinander lösten, schien sie regelrecht zu strahlen. Lächelnd suchte sie seinen Blick und ihre folgenden Worte gingen beinahe im Lärm des Jahrmarkts unter. „In Wahrheit warst du mir schon immer wichtiger als alle anderen.“ [April | Geranie] Ränke und Schwüre ----------------------------------- Die lange Klinge des Katanas gleißte im Schein der Sonne und Kaguras Blick war über den Rücken der Waffe fest auf ihren Gegner gerichtet. Jeder seiner Bewegungen folgte sie mit den Augen, um keine Gelegenheit, keine Lücke in der beinahe perfekten Verteidigung zu verpassen. Macbeth aus dem Haus Oración war ein hervorragender Fechter, präzise, schnell und klug. Er war ein wirklich furchterregender und würdiger Gegner. Kagura genoss diese kleinen Übungskämpfe, denn sie fand nicht mehr viele Streiter, die in ihrer Liga spielten. Auch wenn sie alle so taten, als würden sie ein Duell mit ihr ablehnen, weil sie eine Frau war, so wusste sie doch, dass sie in Wahrheit Angst hatten, von ihr geschlagen zu werden. Im Hintergrund verschwamm die Hecke, die den kleinen Sandplatz abgrenzte, zu einer einzigen grünen Fläche, und die Hauswand der Schwerthalle war nur eine weiße Mauer, an der die Welt zu enden schien. Ansonsten nahm sie nichts weiter wahr als den jungen Mann, der ihr gegenüberstand, schlank und athletisch gebaut, mit einem geradezu zart zu nennenden Gesicht und feinen Zügen. Seine Augen waren bodenlos schwarz und waren umrahmt Wimpern, um die ihn viele Frauen beneideten. Es war ein lauer Tag und der sanfte Maienwind kühlte Kaguras erhitztes Gesicht ab und schlüpfte in ihren Kragen. Das einfache Hemd klebte an ihrem schweißnassen Rücken und unter ihren hohen Lederstiefeln knirschte der Sand. Ihr Haar lag in einem langen, geflochtenen Zopf schwer über ihrer Schulter. Durch ihre gesammelte Konzentration drang nur wenig, das nicht direkt Macbeth und die Klingen betraf, alles vermischte sich zu einer Masse an Farben und Geräuschen. Von Ferne drang der Lärm der Stadt zu ihr herüber, die Stimmen der Gärtner auf der anderen Seite der Hecke, Vogelgezwitscher… Macbeth‘ Florett zuckte blitzartig nach vorne und Kagura zog ihr Katana herum. Die Klingen klirrten aufeinander und sie führten drei, vier Schläge gegeneinander. Ihre Füße führten den bekannten Tanz auf, glitten durch den Sand, hielten sie von dem Gegner fern und brachten sie näher aneinander. Diese Bewegungen waren ihr vertraut. Da, eine Lücke! Kagura machte einen Ausfallschritt zur Seite, ließ die dünne Klinge ihres Kontrahenten an dem Katana entlangleiten. Mit einer fließenden Bewegung löste sie die Waffen voneinander und schlug zu, traf…! Macbeth stieß ein leises Ächzen aus, eher eine Zurkenntnisnahme der Wunde als ein tatsächlicher Schmerzenslaut. Es war nur eine dünne Linie auf seinem Oberarm, aus der nur wenig Blut quoll, ein Schmiss, der nicht der Rede wert war. In ein paar Tagen würde sie wieder verschwunden sein. Kagura hatte gewonnen – für heute. Bei ihrem nächsten Kampf konnte es wieder anders aussehen, da sie ähnlich stark waren. Für einen Moment blieben sie in der finalen Pose erstarrt stehen, dann lösten sie sich voneinander und grüßten mit leichten Verbeugungen. „Guter Kampf.“, erklärte Macbeth, während sie nebeneinander zur Schwerthalle hinübergingen. Mit einer eleganten Bewegung schob er sein Florett in die Scheide zurück. „Du bist in letzter Zeit guter Stimmung, Mylady.“ Kagura runzelte die Stirn und nickte einen Moment später. Sie konnte das kleine Lächeln nicht unterdrücken, das an ihren Mundwinkeln zupfte. Aber warum sollte sie? Das Leben war schön. Es gab nur einen kleinen Schönheitsfehler, der ihm die Perfektion nahm, nach der sie sich sehnte… „Ich freue mich sehr für meinen Bruder. Er ist so guter Dinge, seit er die Verlobung bekannt gegeben hat.“, gab sie zu und hob ihre Scheide auf, die sie an die Wand gelehnt hatte. Sie gestattete ihrem kleinen Lächeln größer zu werden. Ihren Bruder so glücklich zu sehen machte auch sie glücklich. „Er hat geglaubt, niemals die Liebe zu finden, nach der er suchte. Nicht nachdem…“ Sie verstummte. Zwar kannte jeder die skandalöse Geschichte um ihren Bruder, Lord Simon Mikazuchi, Erza Scarlet, dem Mündel von Großherzog Dreyar, und dem verwegenen Gentlemandieb, den man Skyfall nannte und dessen wahre Identität im Schatten lag. Doch sie musste keine schlafenden Hunde wecken. „Er hat geglaubt, seine Chance verloren zu haben, und jetzt hat er doch noch jemanden gefunden, der seine Gefühle erwidert, wie er es verdient.“ Kagura nickte bekräftigend. Nach dem Skandal hatte Simon seine Forschungsreisen wiederaufgenommen und sie hatten ihn weiter von der Heimat weggeführt als je zuvor. Vielleicht hatte er das gebraucht um endlich die Frau zu finden, die ihn verdiente. Macbeth nickte höflich, obwohl auf seinem Gesicht abzulesen war, dass ihn das Thema nicht interessierte. „Und du? Hast du einen in deiner langen Liste an Verehrern, den du näher in Betracht ziehst?“ Sie warf ihm einen scharfen Seitenblick zu, aber sein Gesicht war undurchdringlich. Doch der seltsame Unterton in seiner Stimme machte sie vorsichtig. „Ich mache mir nichts aus ihnen.“, antwortete sie dann langsam und dankte ihm mit einem Nicken, als er ihr die Tür öffnete. „Keiner von ihnen hat es je geschafft, mein Interesse zu wecken. Und Langeweile ist keine gute Voraussetzung für eine Beziehung.“ Natürlich war das nicht der eigentliche Grund. Da war noch etwas sehr viel Wichtigeres – die Tatsache, dass sie ihr Herz bereits verschenkt hatte und sich nicht vorstellen konnte, einen anderen Mann an ihrer Seite zu haben als diesen einen, nach dem sie sich sehnte. Immerhin wurden in ihren Kreisen viele Ehen aus politischen und geschäftlichen Gründen beschlossen, Liebe hatte damit oft nicht viel tu tun. Aber ihr Bruder drängte sie nicht dazu, sich einen Verlobten zu suchen und er war mit seiner Braut, einer ehemaligen Priesterin aus dem Ausland noch dazu, ebenfalls nicht den konventionellen Weg gegangen. Aber das war Tradition in der Familie, wenn sie sich so ansah, dass ihr Vater ebenfalls eine fremde Prinzessin geheiratet hatte und zudem erst sehr spät. Neben ihr lachte Macbeth leise. „Dein Mann würde es dir nicht danken.“, gab er zu und fuhr fort, ohne ihr eine Gelegenheit zum Antworten zu lassen: „Mein Vater lässt Hinweise fallen, dass es langsam an der Zeit ist, dass ich mir eine Braut suchen. Und natürlich, wer alles in Frage kommt.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu und blieb stehen. „Soll ich dir viel Glück wünschen?“ „Meistens fällt dein Name in diesen Gesprächen.“, war die trockene Antwort und sie schenkte ihm einen wenig beeindruckten Blick. Macbeth war eine der letzten Personen, die sie jemals dafür in Betracht ziehen würde, dazu war er ihr ein zu teurer Freund. Allerdings wäre ein Bündnis zwischen ihren Häusern ein guter Schachzug, darum wunderte es sie nicht. Macbeth breitete die Arme aus, so dass sein Florett fast die Wand berührte. „Oh, ich habe ihm gesagt, dass du kein Interesse hast.“ Auf gar keinen Fall! Selbst nicht, wenn ihr Herz nicht schon längst für jenen anderen Mann schlug – einen Mann, den sie niemals haben konnte… „Ich wollte dich nur vorwarnen.“, erklärte er ihr und setzte seinen Weg zu den Kammern fort, in denen sie sich ihrer Trainingskleidung entledigen und frisch machen konnten. „Damit du nicht aus allen Wolken fällst, wenn mein Vater an deinen Bruder herantritt.“ Nach einem Moment nickte sie dankbar. „Ich werde es mir merken.“ Vielleicht sollte sie direkt zu ihrem Bruder gehen und ihm davon berichten, damit er jegliche Angebote rundheraus ausschlagen konnte. Zumal ihr Onkel sie dazu drängen würde, wenn er Wind davon bekäme… Weiter kamen sie mit dem Gespräch nicht, denn sie erreichten endlich ihr Ziel, und Kagura stieß die Tür auf, die sie in einen kleinen Raum führte. Dort wartete bereits eine Waschschüssel mit warmem Wasser auf sie. Ihre Kleider hingen über dem hölzernen Sichtschutz und die Wände waren beinahe kahl bis auf einen altbackenen Wandteppich mit einer märchenhaften Waldszene. Nachdem sie sich einer kurzen Katzenwäsche unterzogen hatte, um den schlimmsten Dreck loszuwerden, schlüpfte sie in das lange, fließende Kleid, das einer Dame ihres Standes angemessen war. Sie würde nachher im Haupthaus ein ausgiebiges Bad nehmen; die Diener hatten es wahrscheinlich bereits vorbereitet. Sie fand Macbeth vor der Schwerthalle auf dem kleinen Hof, der ebenfalls von dem Stall und dem Gesindeflügel des Hauses eingegrenzt wurde. Ein großer Brunnen befand sich ein seiner Mitte, der sich häufig in Benutzung befand, so wie auch jetzt. Zwei Stallburschen füllten mehrere Eimer. Etwas entfernt diskutierte ein Hilfskoch mit einem Lieferanten, dessen Haar von der Sonne ausgebleicht war. Nach einem Moment erkannte Kagura auch den Grund, warum ihr Freund noch immer vor der Tür stand. Denn als sie zu ihm, trat bemerkte sie, dass er mit Onkel Michello, dem jüngeren Bruder ihres verstorbenen Vaters, sprach. Michello war ein vom Alter geschrumpfter Mann mit noch erstaunlich braunem Haar und einem kräftigen Schnauzer. Er trug wie immer einen erlesenen Anzug aus feinstem Stoff und mit großartigen Stickereien darauf und stützte sich schwer auf einen Stock, in dem eine Klinge verborgen war. Früher einmal war er ein großartiger Fechter gewesen, aber das Alter und das Leben waren nicht gnädig zu ihm gewesen. Eine Kriegsverletzung zwang ihn zu dauerhaftem Humpeln, da er das rechte Bein nicht mehr richtig bewegen konnte. „… diese Verbrecher uns um das Geschäft gebracht haben.“, beschwerte sich der alte Mann gerade. Macbeth nickte wie mechanisch und so wie Kagura ihn kannte, hörte er nicht einmal zu. „Und mein Neffe tut rein gar nichts dagegen, er ist zu beschäftigt mit dieser…“ Michello unterbrach sich, vermutlich um nicht etwas zu sagen, das unakzeptabel war. Es war kein Geheimnis, dass er Simons Braut nicht mochte. Nicht nur, dass er Eclair für ein völlig unangemessen hielt, sondern auch und vor allem, weil dadurch mit Erben für Simon zu rechnen waren. Michellos eigene Erblinie hatte dadurch keinerlei Chancen mehr auf den Titel und die Ländereien von Haus Mikazuchi. Seine Enkelin Michelia war etwas älter als Kagura, bereits verheiratet und im Moment schwanger und Kagura mochte sie sehr. Weder sie noch ihr Ehemann hatten Interesse an diesem Erbe, aber das war dem alten Mann egal. Er hatte Pläne und Ziele und er tat alles dafür, sie umzusetzen – er flüsterte in die Ohren von Stadträten und Lords, er bestach Händler und Zunftmeister, er streute Gerüchte, er schürte den Hass zwischen den Häusern Mikazuchi und Lore… Wenn Kagura nicht so ein ehrlicher, ehrbarer Mensch wäre, hätte sie längst überlegt, wie sie ihn loswerden konnte. Aber so blieb ihr nichts anderes, als die Zähne zusammenzubeißen und scharf dazwischen zu gehen: „Sage nichts, dass du später bereuen wirst, Onkel. Freue dich lieber darüber, dass dein Neffe so glücklich ist. Und über welches Problem machst du dir jetzt wieder Sorgen?“ Michello warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Wie schön, dich zu sehen, meine Nichte.“, antwortete er mit einem aufgesetzten Lächeln. „Aber dieses Problem soll dich nicht beunruhigen, ich werde es schon allein lösen, ohne dich oder Simon damit belästigen zu müssen. Es wird nicht mehr lange bestehen.“ In seiner Stimme lag ein zufrieden-bösartiger Unterton, der Kagura einen Schauer über den Rücken jagte. Von was sprach er…? Sollte sie Simon warnen, dass da etwas im Gange war…? Wenn ihr Bruder noch nicht einmal davon wusste… Und es konnte so leicht auf ihn zurückfallen! Doch dann huschte sein Blick abschätzig zu dem Katana, das sie bei sich trug. „Ich sehe, du gehst immer noch einem Zeitvertreib nach, der einer jungen Frau wie dir nicht angemessen ist.“ Kaguras Gesicht jedoch blieb unbewegt, sie hielt nicht viel von falschen Höflichkeiten. „Meine Zerstreuung ist meine Sache und lenkt mich nicht von meinen Studien und Pflichten ab.“ Macbeth räusperte sich, ehe sie zu einer Entscheidung kam, ob sie tiefer in ihren Onkel dringen sollte. „Entschuldigt mich, aber ich werde Zuhause erwartet.“ Er reichte ihr den Arm. „Begleite mich zur Tür.“ Sie hängte sich dankbar bei ihm unter und ließ sich davonführen. Michellos Doppelzüngigkeit und Intrigen zu ertragen fiel ihr auch an ihren besten Tagen schwer. „Von wem sprach er?“, wollte sie in der Hoffnung wissen, dass ihr Trainingspartner gut genug zugehört hatte, um zumindest das behalten zu haben. „Haus Lore.“, war die umgehende Antwort und Kagura sog erschrocken die Luft ein. Eigentlich hätte sie diese Antwort erwarten sollen, aber trotzdem… Es machte ihr Angst. Nicht um ihrer selbst willen, aber um die Person, die ihr so wichtig geworden war… Wenn Michello beschlossen hatte, jetzt seinen Zug zu machen, dann… Ja, was würde das bedeuten? Wo würde das enden? Macbeth warf ihr einen neugierigen Blick zu, doch er ging nicht auf ihre Überreaktion ein. „Der Grund, warum sich mein Vater noch überlegt bezüglich eines Hochzeitsangebotes. Er hält diese Fehde für nicht sonderlich fruchtbar.“ Kagura verzog das Gesicht. „Ich auch nicht.“ Und das nicht nur, weil sie unnötige Gewalt verabscheute. Diese Fehde zwischen den beiden Hohen Häusern zog sich schon über Generationen hinweg. Niemand wusste mehr genau, wie sie begonnen hatte, aber die Geschichten sagten, dass eine Frau involviert gewesen war. Sie nickte dem Koch zu, der ihre Geste höflich erwiderte, als sie ihn und den Lieferanten passierten; anscheinend hatten die beiden ihre Unstimmigkeiten geklärt. Aber was meinte ihr Onkel damit, dass das Problem nicht mehr lange bestehen würde…? Sie furchte die Stirn und überlegte, was er geplant haben könnte. Ganz sicher nichts Gutes… „Mylady!“ Überrascht blieb sie stehen und wandte sich zu dem Besitzer der dunklen Stimme um. Sie gehörte dem Lieferanten, einem jungen Mann, der sich mit natürlichem Selbstbewusstsein hielt und katzenhafter Anmut bewegte. Er hielt ihr etwas hin, das Lächeln auf seinen Lippen freundlich. „Mylady, mir scheint, Ihr habt etwas verloren.“ Blondes Haar fiel ihm in ein Gesicht, das schwer zu vergessen war, und sie wusste, sie hatte ihn schon einmal gesehen. Er machte eine Bewegung mit der Hand, was ihre Aufmerksamkeit darauf und den Gegenstand darin zog. Es war ein kleines Buch mit einem dunklen Ledereinband ohne Beschriftung. Ein violettes Satinband, in dem ein paar Blumen steckten, hielt es geschlossen und der Einband war staubig vom Boden. Sie hatte es noch nie zuvor gesehen. „Hier, bitte, Mylady.“, sagte er mit Nachdruck und streckte es weiter aus. „Nichte, belästigt dich dieser … Mann?“, mischte sich Michello ein. „Ich werde ihn entfer-“ Ohne weiter darüber nachzudenken, griff Kagura zu und nahm das Büchlein entgegen. „Nein, Onkel, er gab mir nur etwas zurück, das ich verloren habe.“ Sie klopfte den schmalen Band ab und schenkte dem jungen Mann ein zuvorkommendes Lächeln. „Vielen Dank, es soll nicht dein Schaden sein.“ „Bemüht Euch nicht, Mylady.“, wehrte er ab und trat einen Schritt zurück. „Ich muss jetzt weiter. Einen schönen Tag wünsche ich Euch Herrschaften.“ Er deutete eine Verbeugung in Michellos Richtung an, die auf Kagura eindeutig spöttisch wirkte, und beschleunigte seinen Schritt, um durch das Lieferantentor zu verschwinden. „Was wollte dieser Bengel?“, empörte sich Michello bei dem Koch, der ihm einen erstaunten Blick zuwarf und dann die Kiste anhob, die er in den Armen hielt. „Er hat unsere Gewürze geliefert, Mylord.“ Kagura wandte sich ab, ehe ihr Onkel auch sie anpöbeln konnte. Sie zog an Macbeth‘ Arm. „Komm. Wir wollen uns nicht länger damit aufhalten.“ Er folgte ihr wortlos den Weg zum Haupttor hinunter. „Verloren?“, spöttelte er neben ihr, als sie nur noch einige Meter von dem bewachten Tor entfernt waren und damit gut außerhalb der Hörweite ihres Onkels. „Seit wann bringst du Bücher zu unseren Kämpfen mit?“ Sie hielt es fest in der Hand, ehe sie es in die Tasche ihres Kleides schob, vorsichtig, damit die Blumen nicht zerknickten. „Es ist ein besonderes Geschenk.“, antwortete sie, obwohl sie wusste, dass er erkannt hatte, dass ihr das Buch fremd war. Aber ihre Worte waren dennoch keine Lüge. Dieser Gedanke brachte leichte Röte auf ihre Wangen, die sich heißer anfühlten als vorhin in der Hitze des Gefechts. Sie hatte diesen Lieferanten schon vorher gesehen, drei, vier Mal, stets flüchtig und nur am Rande ihres Umkreises. Aber es reichte um zu wissen, zu welchem Haus er gehörte. Und die Blumen… Sie verdrängte den Gedanken und verabschiedete sich erst von Macbeth, der glücklicherweise nicht weiter nachfragte. Hoffentlich konnte sie so weit auf ihn zählen, dass er mit dieser Information, die sie ihm heute unfreiwillig gegeben hatte, nicht hausieren ging. Zwar zählte sie ihn zu ihren guten und teuren Freunden, doch in diesem intriganten Spiel der Häuser wusste man erst hinterher, wem man wirklich vertrauen konnte. Mit raschen Schritten eilte sie dann zu dem herrschaftlichen Anwesen zurück, das ihrem Bruder gehörte, um in ihr Badezimmer zu stürmen. Die Dienstmädchen kannten sie inzwischen gut genug, dass die Wanne bereits mit Wasser gefüllt war. Rosenblätter schwammen auf der Oberfläche und es duftete zart nach den Blumen. Sie schickte die Magd weg, die ihr ein Tablett mit Tee und feinem Gebäck brachte. „Ich wünsche, ein ausgiebiges Bad zu nehmen und nicht gestört zu werden.“, erklärte sie der jungen Frau, als diese ihre Last auf dem kleinen Tisch neben der tatzenfüßigen Badewanne abstellte. Das Mädchen knickste höflich und verschwand wieder, so dass Kagura hinter ihr abschließen konnte. Endlich konnte sie das kleine Buch wieder aus der Rocktasche ziehen und sie löste mit zitternden Fingern das violette Band. Ein kurzer Blick in die Lektüre zeigte, dass es sich um Liebesgedichte handelte, ein jedes vermutlich sorgfältig ausgesucht und in diesem persönlichen Einzelband abgedruckt. Später, nachts, wenn niemand sie stören würde, wenn sie sich ganz ihrer romantischen Ader hingeben konnte, ohne dass jemand sie beobachtete, würde sie sie lesen. Sie würde wissen, dass jedes einzelne von Herzen kam. Allein diese Kenntnis würde sie in einen Wirbel der Gefühle stürzen, der sie mit sich zu reißen drohte. Manchmal fühlte sie sich, als würden ihre Emotionen sie in die Himmel erheben, und manchmal, als würde sie darunter ersticken. Doch jetzt war das Buch nur eine Nebensache und sie legte es auf das Tablett. Das violette Band fiel achtlos daneben und sie hob die Blumen hoch – sie bildete Dolden von mehreren Blüten und trugen dunkelgrünes Laub. Es waren exakt vier Stück. Die zarten Blüten selbst waren weiß, mit einem rosafarbenen, gewellten Rand, und dufteten leicht. Geranien, erkannte Kagura und senkte sie wieder. Sie brauchte einen Moment, um sich an die Bedeutung dahinter zu erinnern. Blumen waren die Art, wie sie mit dem Mann kommunizierte, der so unerwartet ihr Herz gestohlen hatte. Jetzt schlug es verwirrend schnell, nur weil sie seine Nachricht in der Hand hielt, und sie war viel nervöser, als je bei einem Kampf. Wie schaffte er es nur, dass er ihre sonst so kühle, beherrschte Fassade einfach so durchbrechen und sie so aus dem Gleichgewicht bringen konnte? Sie presste die Hand auf die Brust und schloss die Augen, um die aufgewühlten Gefühle wieder zur beruhigen. Die Pelargonie bedeutete Ich erwarte dich an der bekannten Stelle, fiel ihr dann wieder ein und sie runzelte die Stirn. Sie wollten sich sowieso treffen, übermorgen, denn niemand durfte davon erfahren. Warum also plötzlich heute, jetzt sofort gar…? Nach einem Moment schüttelte sie entschlossen den Kopf. Für solche Gedanken hatte sie keine Zeit. Er würde es ihr erklären, wenn sie einander sahen, was nicht mehr lang dauern würde. Ein Blick aus dem Fenster zur Turmuhr zeigte, dass drei Uhr bereits einige Zeit hinter ihnen lag und sie musste ein Stück gehen, um die bekannte Stelle zu erreichen. Sie hatte keine Zeit mehr zu verlieren. ~~*~~❀~~*~~ Wenn Kagura sich umdrehte und zurückblickte, konnte sie die hohe, geradezu fragil wirkende Kuppel des kolossalen Wintergartens erkennen, der aus weißen Metallstreben erbaut worden war. Das blank polierte Glas warf das Licht der Sonne zurück, so dass sie hell erstrahlte. Die hohen, alten Bäume, die das Gebäude umgaben, versperrten Kagura den Blick auf die eigentliche Struktur und den schön angelegten Platz darum herum. Mehrere Wege führten von ihm weg, doch der alte Plattenpfad, den sie genommen hatte, wurde nur selten genutzt. Meistens waren es Pärchen, die sich unter sich sein wollten, oder einfach Personen, die die Einsamkeit und Ruhe suchten. Wer hierher kam, verschloss Augen und Ohren vor allen anderen Besuchern, das war die ungeschriebene Regel. Auch Kagura eilte mit gesenktem Kopf den Weg entlang um niemandes Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie wusste, dass sie nicht beobachtet wurde, ansonsten hätte sie sich eine bessere Verkleidung gesucht als einen Militärmantel und Männerhosen. Aber niemand hatte sie gehen sehen; alle vermuteten, dass sie noch in der Wanne saß. Doch sie hatte nur ein kurzes Bad genommen, um dem Verwahrer ihres Herzens nicht von dem Übungskampf verschwitzt und verdreckt gegenübertreten zu müssen, und war dann in ihre Kleider geschlüpft. Es war bereits kurz nach vier, als sie den Botanischen Garten erreicht hatte, ein wunderschöner, weitläufiger Park, der Jahr um Jahr mehr Besucher anzog, die ihn und die Attraktionen sehen wollten, die er zu bieten hatte. Das Vogelhaus, der Wintergarten mit seinen farbenfrohen Schmetterlingen, die Rosen, die jetzt langsam erste Blüten öffneten, und das Heckenlabyrinth, das so einen großen Spaß darstellte… Aber dies hier war im ältesten Teil des Botanischen Gartens, der dessen Herz darstellte und kunstvoll verwildert und überwuchert gehalten wurde. Nur wenige Leuten suchen ihn auf, da er sich fernab von allen Straßen und Schauplätzen befand. Der Weg hierher war weit, weswegen es mühsam war, ihn zu erreichen. Die zahlreichen Bäume mit ihrem überhängenden Blätterdach, das hohe, dichte Gras und das viele Moos, das sich über die manchmal schon baufälligen Steinmauern, die Findlinge und die alten Brunnen und Statuen zog, erschufen eine geradezu magische, feenhafte Atmosphäre. So manch romantischer Geist war davon schon zu poetischen Ausschweifungen verführte worden. Schon als Kind hatte Kagura mit ihrem Bruder hier gespielt, als ihre Eltern sie zu nachmittäglichen oder abendlichen Picknicks hierher gebracht hatten. Es war ihr einer der liebsten Orte auf der Welt, hier hatte sie auch ihren Liebsten getroffen. Jetzt hatte Simon selten Zeit, herzukommen. Vielleicht würde sich das in Zukunft wieder ändern, wenn Eclair ihn aus seiner Arbeit herausholen würde… Kagura schüttelte den Gedanken ab und blickte sich kurz um, doch außer einem Mann, der in die andere Richtung schlenderte, war niemand zu sehen. Also betrat sie einen schmalen Trampelpfad, der im Unterholz kaum zu erkennen war, duckte sich unter einigen tiefhängenden Ästen hindurch und schob sich an einigen Büschen und Felsen vorbei um eine kleine Lichtung zu erreichen, die noch einmal magischer wirkte. Vielleicht lag es an dem Licht, das hier offen hereinfiel, während alles Andere um sie herum dunkler erschien. Ein alter Pavillon, zu dem drei Stufen hinaufführten, erbaut aus Säulen und vollendet mit einem von Patina grün gefärbten Kuppeldach erhob sich in der Mitte der freien Fläche und darin wartete jemand. Es war ein hochgewachsener Mann in edler Kleidung, der ihr den Rücken zukehrte. Trotzdem erkannte sie ihn sofort, nicht nur, weil sie ihn erwartet hatte, auch an dem vertrauten Schwung seiner Schultern, die Art, wie er den Kopf hielt oder die Hände hinter dem Rücken verschränkte… Sein Anblick allein brauchte ihr Herz dazu, einen Moment auszusetzen und dann doppelt so schnell weiterzuschlagen. Er war schlank und dennoch muskulös und strahlte ein Flair von Eleganz und Noblesse. Das lange, blonde Haar hatte er im Nacken mit einer einfachen, schwarzen Schleife zusammengebunden und sein Zylinder, die Handschuhe und der Stock lagen neben ihm auf der halbrunden Bank. Die Aura von gelassener Ruhe, die ihn umgab, fügte sich einfach in die magische Atmosphäre ein, als wäre er ein Teil dieses Ortes. Sie braucht einen Moment, um sich zu sammeln und eilte dann auf ihn zu. Ihre Schnürstiefel verursachten genug Geräusch auf dem unebenen Boden, dass er sich umdrehte, als sie gerade ausrief: „Rufus!“ Ihre Schritte wurden unwillkürlich schneller. „Kagura!“ Ein erfreutes Lächeln huschte über sein schmales, edles Gesicht, als er sie erkannte, und die Erleichterung malte sich offen auf seinen Zügen aus. Nach ein, zwei Momenten, während denen er sie einfach nur wie verzaubert anstarrte, löste er sich aus seiner Starre und kam rasch auf sie zu, so dass sie sich kurz vor den Stufen trafen. Bei dem vertrauten Klang seiner Stimme, ließ sie all ihre berühmte Selbstbeherrschung fallen und warf sich in seine Arme, um sich ihn zu schmiegen. Sie presste das Gesicht gegen seine Schulter und sog tief seinen maskulinen Geruch ein, der ihr schon so vertraut war. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, als er ihr einen Kuss auf das Haar drückte, während er sie fest an sich zog. Endlich! Wie lange war es her, dass sie nicht mehr in seinen Armen liegen konnte? Wie lange, dass sie ihn küssen und ansehen und halten konnte? Wie lange, dass sie einfach nur in seiner Gegenwart sein konnte? Gefühle, die sie sonst unterdrückte und tief in sich verschloss, um nicht in Verzweiflung und Angst zu vergehen, drangen an die Oberfläche. Das Glück, das sie verspürte, wann immer sie in seiner Nähe war, verbreitete ein warmes Gefühl in ihrem Körper. Zwei lange Wochen hatten sie sich nicht mehr gesehen. Zwei lange Wochen, in denen sie sich nach ihm gesehnt hatte, in denen sie nach einer Möglichkeit gesucht hatte, ihn doch irgendwie zu treffen, in denen sie sich gewünscht hatte, dass die Fehde, die sie entzweite, nicht existierte. Onkel Michello würde nichts gegen Simons Ehe mit Eclair tun, auch wenn er sie nicht guthieß, immerhin war sie eine der verehrten Phönixpriesterinnen gewesen. Doch Kaguras Liebe… Das war unmöglich. Rufus gehörte dem Haus Lore an und zwischen ihnen standen Hass und Blut und Tod. Michello würde sie lieber mit bloßen Händen umbringen, als zuzulassen, dass sie jemanden aus dem Hause Lore heiratete. Nicht, dass er dazu wirklich in der Lage wäre… Nicht ein einem ehrenhaften Zweikampf zumindest. Auch nicht, wenn er seinen besten Kämpfer schickte. Aber selbst sie würde nicht die ganze Welt bekämpfen können. Denn Michello war nicht das Oberhaupt ihres Hauses, aber er hielt Macht in den Händen, wusste, wie man die Fäden spann und die Geschichten wob, um sie alle ins Verderben zu stürzen. Sie wusste, er würde es tun, selbst wenn sie ihn mit sich rissen. Aber ihm standen noch so viele andere Möglichkeiten offen und vielleicht schreckte er noch nicht einmal vor Mord zurück… Rufus war es, der sie aus den Gedanken riss, indem er sich wieder von ihr löste. Er nahm eine ihrer Hände in seine und führte sie nach oben, so dass er einen Kuss auf ihren Handrücken pressen konnte. „Ich bin so erfreut, dass du kommen konntest.“ In seiner Stimme schwang ein bedrückter Unterton mit, trotz dem Lächeln, das seine schmalen Lippen zierte, und in seinen grünen Augen stand Sorge. Das, zusammen mit der Tatsache, dass er ihr Treffen verschoben hatte, verstärkte ihr ungutes Gefühl. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, seine Hände in ihre zu nehmen und sie beruhigend zu drücken. Dann reckte sie sich zu ihm und küsste ihn vorsichtig auf den Mundwinkel. Einen Moment verweilte sie in dieser Position, genoss es einfach, in seiner Nähe zu sehen und den hoffnungsvollen Ausdruck in seinem Gesicht, die sehnsüchtig geschlossenen Augen… Dann trat sie wieder einen Schritt zurück, seine Hände noch immer fest zwischen ihren, während er sie forschend ansah. „Was ist geschehen? Warum wolltest du mich jetzt schon sehen?“ Rufus‘ Blick glitt an ihr vorbei und er holte tief Luft. „Einiges.“, erklärte er dann kurz angebunden. „Ich muss noch heute Abend die Stadt für einige Tage verlassen und ich wollte dich noch sehen. Ich weiß auch nicht, wann ich zurückkommen werde.“ Sie runzelte die Stirn. „Aber das ist nicht alles.“, stellte sie nach einem Moment fest. Er schüttelte den Kopf, aber statt einer Antwort führte er sie zu der Bank hinüber, damit sie sich setzen konnten. „Nein.“ Er ließ sie los und wandte sich ab, so dass er nach vorne blickte. Sein Gesicht war ernst, die Augenbrauen zusammengezogen und der Zug um seinen Mund war hart. „Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein oder mit dir sprechen. Ich sollte dir nicht einmal nahe kommen! Aber ich muss dich warnen.“ „Warnen?“ Er nickte, aber anstatt zu antworten, presste er die Lippen zusammen und sagte gar nichts. Anscheinend war das eine sehr schwerwiegende Sache und nach dem, was er vorhin gesagt hatte, konnte er in große Schwierigkeiten kommen, weil er überhaupt hier war. Aber mit wem? Und dass er trotzdem hier war… Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken, ihr wurde schwindelig vor Freude, dass sie ihm so viel bedeutete. Aber seine Worte erinnerten sie noch an etwas anderes. „Mein Onkel hat vor, das Haus Lore zu vernichten. Er hat einen Plan und klang sehr sicher, als er davon sprach.“ Rufus wandte ihr den Kopf zu und runzelte ihr die Stirn. „Hat er das gesagt?“ Er klang allerdings nicht sehr beunruhigt. „Nicht in diesen Worten.“, erklärte sie. „Nur, dass dein Haus bald kein Problem mehr für uns darstellen wird.“ Aber allein das klang beunruhigend. Doch Rufus nickte nur langsam, den Blick nachdenklich zur Seite gerichtet. Sein genialer Verstand arbeitete, das konnte sie sehen, aber er schwieg weiterhin. „Mehr kann ich dir nicht sagen, ich habe eben erst davon erfahren.“ Sie griff nach seinen Fingern, aber er erwiderte den Händedruck nicht. Etwas Großes beunruhigte ihn. Wenn er nur mit der Sprache herausrücken würde…! „Dein Onkel steht unter Beobachtung durch die Krone.“, erklärte er schließlich nach einem langen Moment des Schweigens. „Er ist in einige illegale und fürchterliche Geschäfte verstrickt, aus denen er sich bald nicht mehr herauswinden kann. Ich bin hier, um dich deswegen zu warnen – es ist nur noch eine Frage der Zeit, bevor alles zusammenbricht.“ Er hob den Blick und sah ihr in die Augen. „Ich denke nicht, dass du da mit hineingezogen wirst. Aber dein Bruder…“ „Mein Bruder hat nichts mit irgendwelchen krummen Geschäften zu tun!“, empörte sie sich und auch wenn sie wusste, dass Rufus dies nicht meinte, entzog sie ihm ihre Hand und stand auf, um sich ein paar Schritte zu entfernen. Niemals würde Simon Hand in Hand mit Michello arbeiten, schon gar nicht bei illegalen Geschäften! Das hatte er gar nicht nötig! Sie straffte die Schultern, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie sich verkrampfte, als er sagte: „Ich weiß. Aber es könnte alles auf ihn zurückfallen. Ich verspreche dir, ich werde alles tun, um Lord Mikazuchi von dem Verdacht zu befreien, aber…“ Sie wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Aber?“ „Ich kann nichts versprechen. Tatsächlich…“ Er verstummte, dann blickte er sich um, als befürchtete er, dass sie jemand belauschen könnte, und winkte sie näher. Nach einem kurzen Zögern folgte sie der Aufforderung und kehrte zur Bank zurück, um sich zu setzen. Es war nicht Rufus‘ Schuld. Sie glaubte ihm. Aber es ging hier um ihren geliebten Bruder. „Tatsächlich glaube ich, dass dein Onkel die Beweise absichtlich so legt, dass dein Bruder mit hineingezogen wird.“ Kagura wollte wütend aufspringen und alles verneinen, stattdessen runzelte sie die Stirn und nickte nach einem Moment. „Das macht Sinn.“, gab sie zu. Michello hatte es noch nicht aufgegeben, nach dem Titel zu greifen und auf diese Weise könnte er sich des unliebsamen Neffen entledigen, der ihm schon wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. „Er könnte von Anfang an planen, dass es sowieso auffliegt, nur dass aller Verdacht auf Simon gelenkt wird. Aber…“ Sie verstummte und presste unzufrieden die Lippen aufeinander. Doch es war noch nicht alles verloren, sagte sie sich. Sie war hier. Sie wusste jetzt davon. Sie hatte Verbündete, auf die sie zählen konnte. Sie konnte ihren Bruder noch retten. Ihre Familie war das Wichtigste. „Was kann ich tun?“ Rufus hob die Schultern. „Verschaffe deinem Bruder ein Alibi für jede Minute, die dir möglich ist. Vielleicht sorgst du dafür, dass er auf euer Gestüt reist. Hat seine Verlobte es bereits gesehen? Das ist so abseits, dass er von dort kaum etwas tun kann.“ „Das ist eine gute Idee.“ Sie nickte. „Ich werde Eclair zur Hilfe ziehen. Aber… Wo gehst du hin?“ Ihr Bruder war ihr wichtig, aber Rufus ebenfalls. Sie musste wissen, dass er wenigstens in Sicherheit war, wenn sie nur so wenig für Simon tun konnte. Rufus, der selbst in dieser Situation Gefahren auf sich nahm, um sie zu warnen. Der versprach, alles zu tun, um ihren Bruder zu schützen, obwohl zwischen ihren Häusern eine solche Kluft bestand. Der vermutlich allein dafür, dass er mit ihr sprach, als Verräter gebrandmarkt werden konnte. „Das kann ich dir nicht sagen.“, wehrte er ab. „Aber es wird uns hoffentlich das letzte Puzzleteil in diesem Spiel liefern, so dass wir gefährlichen Leuten das Handwerk legen können.“ „Leute, zu denen mein Onkel gehört.“, saget sie, aber er schüttelte den Kopf. „Leute, mit denen er Geschäfte macht. Aber sie spielen in einer völlig anderen Liga als er. Bitte, sei vorsichtig.“ Sie lächelte. „Das sagst du mir?“, wollte sie wissen und wandte sich ihm zu, so dass sie ihn direkt ansehen konnte. „Während du es bist, der sich in die Gefahr stürzt?“ Sie beugte sich vor und küsste ihn, richtig diesmal und länger. Ihre Lippen kribbelten unter den leichten Berührung, als er den Kuss erwiderte, der so sanft war und doch so viel sagte. Ihre Finger verschränkten sich miteinander und seine Wärme schien in sie einzusickern, obwohl sie sich kaum berührten. Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, blickte sie ihm tief in die Augen. „Komm zurück.“, sagte sie. „Und sorge dafür, dass mein Onkel seine gerechte Strafe erhält, ohne uns andere mit hineinzuziehen.“ Sie senkte für einen Moment die Lider, ehe sie ihren Blick entschlossen wieder auf ihn richtete. „Ich vertraue dir unser Schicksal an.“ Er sah nicht weg, als er erneut ihre Hand zu den Lippen führte, um einen Kuss darauf zu drücken, heißt und schwer wie ein heiliger Schwur. Ein Schwur, den sie auch in seinem intensiven Blick erkennen konnte, und den er mit Worten besiegelte. „Ich verspreche es.“ [April | Rittersporn] Come all you pretty fair maids ---------------------------------------------------- Das ist der siebente Tag, seit die Christina gesunken ist. Ich werde mich mein ganzes Leben an diese Nacht und den Sturm erinnern. Aber wie lang ist ‚mein ganzes Leben‘ noch? Ich befürchte, meine Tage sind gezählt, wenn nicht noch ein Wunder geschieht und jemand mich findet. Aber wer soll das sein? Hier draußen ist niemand… Das Wetter ist unverändert und kein Lüftchen rührt sich. Gestern sind meine Essensvorräte zur Neige gegangen und ich habe nur noch Wasser für eine Woche, vielleicht ein oder zwei Tage mehr. Es ist zu wenig. Wie sich verdursten wohl anfühlt? Schon jetzt spare ich und meine Kehle ist ausgedörrt. Ich habe Kopfschmerzen von der Hitze und keinen Schutz vor der unbarmherzigen Sonne. Ich will nicht sterben. Lucy ließ den Bleistift sinken und starrte die vom Regen wellig gewordene Seite ihres Tagebuchs mit einem Seufzen an. Ihre große Ledermappe, in der sie die ihr wertvollsten Besitztümer aufbewahrte, war hervorragend gearbeitet, aber sie war nicht dicht und das Wasser war in ihn eingedrungen. Allerdings waren die Gegenstände darin nur beschädigt und nicht zerstört worden, so dass das kleine Notizbuch noch nutzbar war. Die Sonne schien heiß und unbarmherzig vom Himmel und kein Lüftchen rührte sich. Ihre Haut war rot verbrannt, so dass sie schon bei einer leichten Berührung schmerzte wie Flammen. Ihre spärlichen, zerschlissenen Kleider halfen nicht gegen den Sonnenbrand, denn der Sturm hatte sie mitten in der Nacht überrascht. Daher trug sie nur eine dünne Hose, die ihr bis zu den Knien ging, und ein ehemals weißes Leibchen, etwas, mit dem keine ehrbare Frau in der Öffentlichkeit erwischt werden sollte. Aber dieses kleine Boot war in den letzten Tagen ihr Heim gewesen und so einsam, wie sie hier war, spielte es sowieso keine Rolle. Niemand war hier, der sie in ihrer Unterwäsche sehen könnte, denn um sie herum war nur Wasser. Das weite Meer, tiefblau und still, und der weite Himmel, wolkenlos und ewig. Sie seufzte wieder und rutschte herum, um eine bequemere Position zu finden, doch das Holz war hart und sie besaß nicht einmal eine Decke. Das kleine Rettungsboot, auf das sie es geschafft hatte, als der Sturm über sie hereingebrochen war, wackelte unter ihren Bewegungen, doch sie hatte sich längst daran gewöhnt. Das eine Ruder, das sie noch hatte, lag neben ihr und drückte gegen ihren Oberschenkel, doch sie kümmerte sich nicht darum. Unter der hinteren Sitzbank befanden sich die Vorräte – ein paar Trinkflaschen mit genießbarem Wasser, das inzwischen schal schmeckte, und die nun leere Kiste, in der sich Zwieback und etwas Trockenfleisch befunden hatte. Ihr Magen knurrte lautstark bei dem Anblick, und zog sich schmerzhaft zusammen, doch es gab nichts mehr, das sie essen konnte. Sie presste ihre Hände auf den Bauch, doch es gab hier nichts, dass ihr Erleichterung verschaffen konnte. Selbst wenn sie eine Angel gehabt hätte, der einzige Fisch, den sie gesehen hatte, war vor drei Tagen ein Hai gewesen, dessen Rückenflosse die Wasseroberfläche durchschnitten hatte. Zuerst hatte sie es mit der Angst zu tun bekommen, doch er war nur einmal um sie herum geschwommen und dann wieder abgetaucht. Ich habe ja gehofft, dass das Schiff nie in Alvarez ankommt, schrieb sie in ihr Tagebuch. aber so habe ich das nicht gemeint! Einem unliebsamen Bräutigam zu entgehen, wegen dem sie diese Reise erst hatte antreten müssen, war eine Sache. Elendig zu verdursten, während sie allein und völlig hilflos über das weite, grausame Meer trieb, ohne Richtung, ohne Ahnung, ohne Gesellschaft, das war etwas völlig anderes. Sie wollte nicht so sterben! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie mit der Besatzung und den anderen Passagieren ertrunken wäre. Aber eigentlich wollte sie überhaupt nicht sterben. Sie wollte einfach nur nach Hause… In der Nacht, in der die Christina gesunken war, hatte Lucy geglaubt, die ganze Welt würde untergehen. Blitze hatten den Himmel zerrissen und taghell erleuchtet, so dass sie immer Bruchteile des Schreckens um sie herum genau erkennen konnte. Der Donner war so laut gewesen, dass er selbst das Tosen des brodelnden Meeres übertönt hatte. Es war ein Wunder, dass ihre kleine Nussschale nicht ebenfalls einfach gesunken war, wie die große Galeone, die sie nach Alvarez hatte bringen sollen. Sie war von den Wellen herumgeworfen worden, ein Spielball der Naturgewalten, die um sie herum getobt hatten, doch irgendwie war sie immer wieder aus den Wellen aufgetaucht. Retten können hatte sie nur ihre wertvolle Tasche mit ihren Papieren, ihrem Tagebuch, Geld und einigen anderen Dingen, die ihr jetzt absolut nicht weiterhelfen konnten. Wer die Vorräte auf das kleine Boot gebracht hatte, wusste sie nicht, aber ansonsten besaß sie nur noch die Kleider an ihrem Leib, einen Eimer, ein einzelnes Ruder und ein Messer, dessen Klinge so lang war wie ihr Unterarm. Viel damit anfangen konnte sie allerdings nicht… Sie wandte sich wieder ihrem Tagebuch zu. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll., schrieb sie hinein. Mama, Papa, ich hoffe, ich werde euch wiedersehen, aber ich befürchte, der Abschied in Hargeon war unser letztes Treffen. Werdet ihr jemals erfahren, was mit mir geschehen ist? Sie blätterte die Seiten nach hinten durch, die zwei Einträge, die sie nach dem Unglück gemacht hatte, und ihre detaillierten Einträge über die Reise, die sie so unwillig angetreten hatte. Die Überfahrt nach Alvarez, die Ankunft in Hargeon, der Weg, den sie zur Hafenstadt zurückgelegt hatte, schließlich der Aufbruch von dem weitläufigen Anwesen ihrer Eltern. Ihre Schrift war sauber und geschwungen und die Texte immer wieder unterbrochen von Bleistiftzeichnungen, detailliert und so lebensecht, wie es ihr nur gelingen konnte, Landschaften, Blumen, Gebäude in Hargeon und der Hafen, diverse Details, die sie an Deck gesehen hatte, und der eine oder andere Seemann oder Passagier, der ihr aufgefallen war, eine Möwe auf der Reling… Sie lächelte über die Radierung des ausschweifenden Gebäudes, in dem sie aufgewachsen war und die sich auf der ersten Seite befand. Mit einem Mal verspürte eine solche Sehnsucht nach dem Ort, dass ihr das Herz in der Brust schmerzte. War es die Gewissheit, ihn nie wieder zu sehen? Dann wurde ihr Blick abgelenkt und sie schniefte auf bei der Erinnerung, die der Anblick in ihr weckte. Auf dem Buchdeckel lag ein gepresster Rittersporn, ein zartes Gebilde mit mehreren blauen Blüten und dem Grün von Blättern dazwischen. Lucy wagte es kaum, ihn zu berühren, so zerbrechlich wirkte er. Einige Teile waren auch schon abgebrochen und die Krümel davon lagen in dem Falz. Ihre Mutter hatte ihn ihr geschenkt, gemeinsam mit dem kleinen Tagebuch, in dem er lag, sorgfältig gepresst und zwischen die Seiten gelegt. „Ein Rittersporn, er steht für die Reise. Er soll dir Glück für deine Überfahrt bringen.“, hatte sie gesagt und ihrer Tochter dann einen sanften Kuss auf die Stirn gedrückt. „Ich weiß, du willst sie nicht antreten, aber uns bleibt keine Wahl. Sei stark.“ Lucy versuchte es, sie versuchte es wirklich. Sie war ohne Klagen aufgebrochen, hatte sich von ihren Eltern verabschiedet, die sie nicht mehr oft sehen würde, war an Bord gegangen in der Erwartung, einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Sie hatte nicht erwartet, einsam und verlassen in einem kleinen Beiboot zu enden. Doch in ihrer hoffnungslosen Situation konnte sie nichts Anderes tun als warten. Oder sich in ihr Messer stürzen, aber so weit war sie noch nicht. Ein leises Plätschern riss sie aus den Gedanken und sie fuhr erschrocken auf. Beinahe fiel das Buch von ihrem Schoß, doch sie fing es gerade noch ein, und klappte es zu. Ihr Boot wankte heftig und sie blickte sich wild um, doch weit und breit war nichts zu sehen. Kein Schiff weit und breit, nichts, nicht einmal eine Haiflosse. Bildete sie sich jetzt schon Dinge ein? So weit war es schon gekommen? Sie hätte es erwarten müssen…! Die Sonne würde sie umbringen, nicht der Durst… Erneut ertönte ein Plätschern und sie fuhr erschrocken herum, doch da war einfach nichts. Wer oder was sollte auch da sein in dieser einsamen Weite voller Wasser? „Ha-hallo?“, rief sie trotzdem, doch die weite Leere schien ihre Stimme einfach zu schlucken. „Ist da jemand?“ Die Worte verklangen ungehört und natürlich antwortete ihr niemand. Jetzt war es also so weit, sie begann, Dinge zu hören, die gar nicht da waren! Deprimiert ließ sie sich auf die Sitzbank zurückfallen, aber tatsächlich berührte diese Erkenntnis sie kaum. War sie schon so abgestumpft von den eintönigen Tagen? „Ich habe Hunger.“, sagte sie stattdessen zu niemandem bestimmten und seufzte wieder. ~~*~~❀~~*~~ Gelangweilt das Kinn auf die Hand gestützt hing Lucy auf dem Dollbord und starrte über das weite Meer hinaus. Der Horizont war eine schimmernde Linie, wo Wasser und Himmel sich trafen und miteinander verschwammen, kaum erkennbar. Blau in Blau in Blau. Alles war eintönig und in alle Richtungen bot sich ihr der gleiche Anblick. Ihr Bauch fühlte sich hohl und leer an, ihr Kopf pochte vor Hitze und ihre Haut war unangenehm heiß und zu klein für ihren Körper. Vor ihren Augen flirrte es und alles verwischte, floss zusammen und sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Irgendwo in ihrem Hinterkopf wusste sie, dass dies ein schlechtes Zeichen war, aber sie konnte beim besten Willen nicht herausfinden, für was. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, doch ihre Wasserreserven neigten sich langsam auch ihrem Ende zu. Wer wusste, wie lange sie noch hielten? Ewig würde sie damit jedenfalls nicht mehr auskommen und sie wollte es so lange damit aushalten, wie es ihr möglich war. Ganz zu schweigen davon, dass der Hunger ihr immer weiter zusetzte. Vor drei Tagen hatte sie den letzten Bissen zu sich genommen, ein Stück Zwieback, und dann hatte sie alle Krümel aufgesogen. Sie wusste gar nicht, warum sie sich diese Mühe überhaupt noch machte. Es war sowieso niemand hier. Niemand würde kommen und sie retten. Sie war ganz allein auf dieser weiten, blauen Welt und sie würde allein hier sterben. Aber einfach aufgeben lag einfach nicht in ihrer Natur. Sich hinlegen und einschlafen und nicht mehr aufwachen… Es wäre so einfach. Leicht. Sich schlicht den dunklen, kühlen Armen des Todes zu übergeben… Nicht mehr brennen, keinen Hunger mehr, keine Einsamkeit… Aber alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Sie würde kämpfen bis zum letzten Atemzug. Auch wenn sie befürchtete, dass dieser schneller kommen würde als sie wollte. Aber inzwischen hatte sie nicht einmal mehr Angst. Es war eine Tatsache, die sie akzeptiert hatte. Oder vielleicht lag es daran, dass es hier einfach gar nichts gab, dass sie aufregen konnte. Die Tage flossen ineinander, nur unterbrochen von den Nächten, und die Eintönigkeit machte die dumpf und apathisch. Wenn es nicht der Hunger war oder der Durst oder die Sonne, dann würde die Langeweile sie umbringen. Ein leises Plätschern ließ sie überrascht aufblicken, doch sie brachte nicht mehr die Energie auf, sich aufzusetzen und umzusehen. Erneut plantschte etwas und sie wandte mit müdem Blick den Kopf. Da war es wieder, das Trugspiel. Aber der Gedanke, nicht allein zu sein, war tröstend und brachte ein schläfriges Lächeln auf ihre Lippen. Selbst, wenn alles nur Einbildung war… Wenn sie nur einen Blick auf ihren Gefährten erhaschen konnte… Mühsam, aber entschlossen setzte sie sich auf und versuchte, sich nach der Quelle der Geräusche umzusehen. Doch der plötzliche Schwindel, der sie erfasste, ließ sie taumeln. Ihr Magen rumorte, doch er war leer und sie hustete nur trocken, während sie versuchte, die Übelkeit niederzuringen. Etwas pochte gegen das Boot und sie zuckte zusammen. Ihr Atem ging noch immer schwer und sie würgte, während sie ermattet gegen das Dollbord sank. „Ha-hallo?“, brachte sie über die gesprungenen Lippen, doch ihre Stimme war nur ein Krächzen. „Bitte…“ Doch niemand antwortete ihr. Nicht einmal das Plätschern ertönte, nichts rührte sich, als ob nie etwas geschehen wäre. Sie war noch immer allein auf einem kleinen Boot mitten im Meer, mit nichts um sich herum als Wasser und der Sonne hoch über ihr, deren Hitze sie um den Verstand brachte. Die Luft flimmerte stärker vor ihren Augen und die schwere, heiße Luft schien sie zu ersticken. Über sich konnte sie nur den Himmel sehen, blau, so blau und sie fühlte sich, als würde sie darin ertrinken. Ihr Kopf pochte, stärker und schneller als zuvor und es war, als würde sich die Welt um sie herum drehen. „Ich sterbe…“, ächzte sie, aber sie war zu schwach und zu lethargisch, als dass die Worte mehr in ihr auslösten als vages Bedauern. Doch als sie die Augen schloss und in selige Dunkelheit entschwand, war ihr, als wäre da noch etwas… Ein Schatten, der über sie fiel, und zarte, kühle Finger, die ihr Gesicht berührten… ~~*~~❀~~*~~ Lucy erwachte, weil die Sonne ihr direkt in die Augen schien. Es war eine Morgensonne, erkannte, als sie sich blinzelnd aufrichtete, und Wolken zogen rasch über den Himmel. Eine erfrischende Brise fuhr über ihre trockene Haut und kühlte sie ab, dass die Schmerzen etwas nachließen. Sie fühlte sich noch immer schwach und für einen Moment schien sich die Welt um sie herum zu drehen, doch sie fing sich rasch. Ihr Magen war wie ein bodenloses Loch und das Gefühl der Leere brachte sie beinahe um den Verstand. Sie wimmerte und ihre Hände zitterten vor Schwäche. Trotzdem rappelte sie sich auf, um sich über das Dollbord zu beugen, damit sie sich Meerwasser ins Gesicht zu spritzen. Die Tropfen brannten auf ihrer heißen Haut, doch sie brachten auch noch weitere ersehnte Abkühlung. Sie musste darauf achten, ihren Kopf öfter zu benetzen, ansonsten würden sich die Geschehnisse vom letzten Tag wiederholen. Allerdings zog der Himmel gerade zu… Vielleicht würde es bald regnen, das wäre ein Segen. Oder aber ein weiterer Sturm brach über sie herein, das wäre ihr Ende. Sich das Wasser aus den Augen wischend blinzelte sie in das helle Licht, während sie überlegte, ob es klug wäre, den ganzen Kopf für einen Moment unter Wasser zu stecken. Eine Bewegung unter ihr in den Tiefen des Meeres ließen sie erschrocken zurückzucken. Was war dort?! Da war etwas Großes, Glitzerndes gewesen, sie hatte es ganz genau gesehen! Das war nur ein Fisch, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Nur ein Fisch! Nichts weiter! Mit heftig klopfendem Herzen sank sie zurück in ihr Boot. Das war der Beweis dafür, dass hier viel zu wenig geschah, wenn schon ein Fisch sie so aufregen konnte! Mit einem Seufzen ließ sie sich zurück auf ihre kleine Bank sinken und sackte in sich zusammen. Ihr war langweilig. Sie hatte Hunger. Warum hatte sie ihre Vorräte nicht besser eingeteilt! Warum… Sie stutzte, als ihr Blick auf etwas fiel, das gestern ganz sicher noch nicht dort gelegen hatte. Es war lang und stromlinienförmig. Die dunklen Schuppen glitzerten leicht schleimig im Schein der Sonne und das Maul stand offen, während das Auge blicklos in den Himmel starrte. Da lag ein Fisch in ihrem Boot. Er war tot und befand sich offensichtlich schon eine Weile dort. Jetzt fiel ihr auch der durchdringende Geruch auf, der von ihm ausging. Aber es war ein Fisch und einen Fisch konnte man essen! Hastig rutschte sie von ihrer Bank auf ihn zu. Mit zitternden Fingern griff sie danach und hob ihn hoch, er war glitschig und kalt unter ihren Fingern und entglitt ihr beinahe wieder. Aber es war ein Fisch! Ein echter Fisch, den sie tatsächlich in den Händen hielt. Es war ihr egal, ob er widerlich anzufassen war, es war ihr egal, ob er roh war und es war ihr egal, ob er so stank. Sie hatte bohrenden Hunger, wie ihn nur jemand nachvollziehen konnte, der etwas Ähnliches ebenfalls schon gespürt hatte. Und dieser Fisch konnte ihn stillen. Ihr Vater hatte sie früher oft mit zum Angeln genommen und er hatte ihr auch gezeigt, wie man die tote Beute ausnahm. Damals hatte sie gekreischt und sich geziert, denn sie hatte die glitschigen Tiere und ihre schlaffen Körper als eklig empfunden. Sie hatte sie nicht anfassen wollen, aber ihr Vater hatte nur gelacht und sie aufgezogen und es ihr am Ende doch beigebracht. Jetzt schob sie die Gedanken an eine schönere Zeit von sich und griff nach dem Messer, dankbar für die Voraussicht ihres Vaters. Es dauerte nicht lange, bis sie die Eingeweide über Bord werfen und die Klinge wieder wegstecken konnte. Mit einem Stück ihrer Hose wischte sie die Schuppen ab ehe sie einen Teil der Flanke herausschnitt und das blasse Fleisch an die Lippen hab. Angewidert das Gesicht verziehend starrte sie es an, doch ihre Hand zitterte stark und ihr Magen knurrte vor Hunger, also biss sie zögerlich hinein. Es war glitschig und weich und widerlich. Und es war absolut wundervoll. Gierig schlang sie den Fisch in sich hinein, bis sie ihn komplett verputzt hatte ohne auf Manieren und Essetikette zu achten. Hinterher fühlte sich ihr geschrumpfter Magen unangenehm voll an und ihr war beinahe übel, doch sie fühlte sich auch satt und müde. Nur eine bohrende Frage stellte sich ihr: wo kam der Fisch überhaupt her? Er war sicher nicht von allein an Bord gesprungen! Ein weiteres Wasserplätschern ertönte und diesmal warf Lucy sich herum, in die Richtung, aus der es gekommen war, und spähte hastig über den Rand des Dollbords. Und dort unten war etwas… Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, doch was sie sah, ließ sie einen erschrockenen Schrei ausstoßen. Da war ein Gesicht im Wasser. Das Gesicht einer jungen Frau, kaum mehr als ein Mädchen, betörend schön und bestrickend, mit großen, mandelförmigen Augen so blau wie das Meer, die ihren Blick seelenvoll erwiderte. Schmerz und bittere Erfahrung standen darin, aber auch Stärke und Hoffnung. Ihre Haut wirkte perlweiß und das Lächeln, das ihre vollen Lippen nach oben zog, freundlich, einladend… geradezu verführerisch. Doch dann war es verschwunden. Aber Lucy meinte, einen glänzenden Fischschwanz gesehen zu haben… ~~*~~❀~~*~~ „Hallo? Hallo? Wasserfrau? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben! Bitte, komm heraus.“ Lucy kam sich ungeheuer blöd vor, wie sie dort in ihrem kleinen Boot saß und über das Meer rief. Doch wer war hier, um über sie zu richten? Außer ihr gab es keine Menschenseele weit und breit. Da war nur das Mädchen im Wasser, nach dem sie rief. „Bitte? Du hast mir den Fisch gegeben, nicht wahr? Bitte, komm heraus und sprich mit mir. Ich möchte dir danken! Bis du da? Hörst du mich?“ Ihre Stimme war rau und kratzig, weil sie sie zu lang nicht mehr genutzt hatte, und weil ihre Kehlte trocken und ausgedörrt war. Das Sprechen tat ihr weh, aber sie gab nicht auf. Und das nicht nur, weil ihr dieses so filigran wirkende Gesicht nicht mehr aus dem Sinn ging… Sie hustete trocken und fragte sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte. Eine halbe Stunde schon schien sie nach der Fremden im Wasser zu rufen, doch nichts rührte sich um sie herum. Kein Plätschern von einer großen Flosse, nur die leichten Wellen, die der Wind verursachte, und die einzigen Schatten, die sich bewegten, waren die der Wolken hoch über ihr. Das Mädchen wollte offensichtlich nicht mit ihr sprechen, da nutzte es auch nichts, wenn sie rief und bat und bettelte. Enttäuscht ließ sie sich auf ihre Sitzbank zurücksinken und faltete die Hände im Schoß. Etwas Gesellschaft wäre ihr lieb gewesen und dieser kurze Blick, den sie auf das faszinierende Geschöpf des Meeres erhascht hatte, hatte ihr den Atem geraubt. Ein inzwischen wohlbekanntes Plätschern ließ sie herumfahren, in Erwartung, erneut nur einen leeren Ozean vorzufinden. Doch stattdessen war da die junge Frau und blickte ihr mit durchdringendem Blick entgegen… Der Kopf und ihre blassen, schmalen Schultern ragten aus den Wellen und der Ausdruck in ihrem Gesicht war freundlich und offen. Unter der Oberfläche fuhren die Arme durch das Wasser, die in grazilen Händen endeten, mit langen, schlanken Fingern… Sie war so wunderschön, dass sie Herzen brechen konnte und Engel sie besingen würden, mit einem Gesicht, von dem die besten, romantischsten Poeten wünschten, sie könnten es beschreiben, ein Antlitz wie ein Traum… Endlich verstand Lucy die Geschichten über Männer in den Krieg zogen über eine Frau und ihre Schönheit… Hastig versuchtes sie, sich zu sammeln, und rutschte auf den Knien näher an das Dollbord eran, um so wenig Abstand wie möglich zwischen ihnen zu haben. Die Fremde konnte kaum älter sein als Lucy selbst und sie trug glitzernde Edelsteine in ihrem schönen, blauen Haar. Es waren Diamanten, Saphire und Silber wie Schmuck aus einer längst vergangenen Zeit, das mit den langen Strähnen verwoben war. Zahlreiche Kettchen verbanden kleine Blumen aus Edelsteinen, die sich wie eine Krone um ihren Kopf legten, so kunstvoll gearbeitet, dass sie einer kaiserlichen Prinzessin angemessen wären. Lucy versuchte, so freundlich wie möglich zu lächeln, auch wenn sie in diesem Zustand sicher keinen schönen Anblick mehr bot. „Hallo.“, sagte sie so gefasst wie möglich. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Vielen Dank für den Fisch.“ Die junge Frau vor ihr legte den Kopf schief und ihre Lider senkten sich langsam und öffneten sich wieder. Es waren wunderschöne Augen, umgeben von einem dichten Kranz dunkler, langer Wimpern und von einem außergewöhnlich schönen Blau. Wie das Meer um sie herum… Lucy riss sich von dem Anblick los und legte sich eine Hand auf die Brust. „Ich bin Lucy Heartphilia.“, stellte sie sich höflich vor. „Vielen Dank, dass du mir den Fisch gebracht hast. Du hast mich gerettet, ich hatte gar nichts mehr zu Essen da!“ Erneut kam keine Antwort, also fasste sie sich ein Herz. „Darf ich… Darf ich deinen Namen erfahren?“ Die junge Frau im Wasser lächelte breiter, ihre geschwungenen, rosigen Lippen zogen sich leicht nach oben und ihr Gesicht schien zu leuchten. Doch sie sagte weiterhin nichts. Vielleicht war sie stumm? Oder vielleicht verführte ihre Stimme, wie die alten Geschichten erzählten? Oder vielleicht verstand sie nichts… „Ich… ähm…“, versuchte Lucy es weiter. „Ich… Mein Schiff, die Christina, die mich nach Alvarez bringen sollte, ist vor einigen Tagen in einem Sturm gesunken. Vielleicht hast du ihn bemerkt, es kann nicht weit von hier gewesen sein. Ich glaube, dass ich die einzige bin, die den Untergang überlebt hat.“ Und war das nicht ein trauriger Gedanke! „Bitte, weißt du, wo das Land ist? Kann ich es erreichen?“ Sie hatte zwar nur ein Ruder, aber je näher sie am Land war, desto eher konnte ein Schiff sie finden. Statt einer Antwort kam die junge Frau näher, so nahe sogar, dass sie mit den ausgestreckten Fingern leicht das Boot berühren konnte, ehe sie sich rasch wieder zurückzog. Sie erinnerte Lucy an ein neugieriges und vorwitziges Tier, das seine Scheu vor dem Fremden mutig überwunden hatte und sich das seltsame Objekt, das so plötzlich in seinem Revier aufgetaucht war, ansehen musste. Sie stieß ein frustriertes Seufzen aus. „Verstehst du mich überhaupt?“ Der Kopf des Mädchens legte sich auf die andere Seite, als würde sie versuchen, ein großes Rätsel zu lösen. „Na gut, dann eben nicht.“, gestand Lucy ihr zu. Auch wenn die andere sie nicht verstand, ihre Gesellschaft war ihr trotzdem willkommen. Sie stellte eine Abwechslung dar in dieser weiten Einöde des Meeres und schon jetzt fühlte Lucy sich aufgeweckter als an den Tagen vorher seit dem Untergang der Christina. „Vermutlich sprecht ihr eine ganz andere Sprache als wir! Da kann ich es dir noch nicht einmal verübeln. Tut mir leid.“ Diesmal bekam sie ein Kichern als Antwort, ein glockenhelles Geräusch, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte. „Juvia.“ Die Stimme war samtig weich und schmeichelte im Ohr, eine Stimme gemacht zum Singen und Betören. „Juvia?“, wiederholte Lucy verwirrt und die junge Frau lächelte und nickte. „Ist… ist das dein Name?“ Erneut nickte die Frau. „Juvia hat dir den Fisch gebracht.“ ~~*~~❀~~*~~ Juvias Arme, weiß wie Porzellan und zart und kühl wie Seide, lagen auf dem Dollbord des Bootes, an der sie sich hochgestemmt hatte. Dünne Rinnsale von Wasser liefen aus ihrem herrlichen Haar, das ihr in Locken über die Schultern und den Rücken fiel und über ihre Front. Es bedeckte ihre nackten Brüste, die sich voll und wohlgeformt darunter abhoben. Lucy hatte es das Blut ins Gesicht getrieben, als sie bemerkt hatte, dass die andere Frau nackt war. Doch für Juvia schien es normal zu sein, denn sie hatte Lucys zerschlissenes Leibchen und die ehemals weißen Hosen gleich am ersten Tag neugierig beäugt, als hätte sie dergleichen nie zuvor gesehen. Vielleicht war es normal für Meerjungfrauen, nackt zu sein? Nackt bis auf den langen, schlanken Fischleib, der an ihrer Hüfte begann. Glitzernde Schuppen, die im Sonnenlicht funkelten wie Juwelen, zogen sich über den kräftigen Schwanz. Sie waren blau und aquamarin und türkis und komplimentierten das blaue Haar, die leuchtenden Augen und die elfenbeinweiße Haut. Eine Rückenflosse, zart durchsichtig und von einem dunklen Meeresgrün, wuchs aus Juvias Kreuz und zog sich ein Stück nach unten. Sie war bewehrt mit gefährlich aussehenden Stacheln und zuckte hin und wieder. Zwei weitere kleine Flossen befanden sich etwas unterhalb und bewegten sich leicht mit der Strömung. Danach verjüngte sich der Fischschwanz zu einer großen Schwanzflosse, wie Lucy sie von Bildern kannte. „Zeig Juvia noch eines!“, verlangte die Meerjungfrau und riss Lucy damit aus der faszinierten Betrachtung. Sie streckte ihre Finger nach dem Tagebuch aus und verteilte Wassertropfen im Boot. Hastig brachte Lucy das kleine Notizbuch in Sicherheit. Es stimmte schon, dass das Papier bereits wellig und fleckig war vom Regen, aber sie brauchte ja nicht noch mehr zu beanspruchen! „Pass auf, Wasser macht es kaputt.“, schalt sie ihre neue Freundin, die so neugierig gegenüber allem war, das Lucy ihr zeigte. Es war, als hätte sie so etwas noch nie gesehen. Hatte sie noch nie Kontakt mit Menschen gehabt? Das Notizbuch mit seinen Bildern hatte es ihr am meisten angetan, also blätterten Lucy es langsam für sie durch. Juvia konnte nicht genug kriegen von den Bildern und das strahlende, erfreute Lächeln auf ihrem Gesicht war betörend schön in seiner Einfachheit. Sie schien einfach nur glücklich darüber zu sein, das Buch sehen zu dürfen. Hin und wieder fragte Lucy sich, ob das alles Wahrheit war. Ob es nicht doch ihr Verstand war, der ihr Bilder vorgaukelte, diese wunderschöne junge Frau, die doch nicht echt sein konnte. Lucy Blick zuckte wieder ins Wasser, hinter Juvia, wo die glitzernde Flosse ihres Fischschwanzes knapp unter der Oberfläche trieb und sich manchmal in Winkeln bewegte, die menschlichen Beinen unmöglich waren, zu der stachelbewehrten Dorsale und den Bewegungen ihrer kleineren Flossen. Manchmal durchbrach der Schwanz die Wellen und tauchte auf, ein leises Plätschern, das Lucy inzwischen allzu gut kannte. Aber Meerjungfrauen gab es nicht… Sie waren nur Geschichten, von wunderschönen Frauen, die verführerisch sangen, Märchen, die von einsamen Matrosen erzählt wurden, Seemannsgarn, der leichtfertige Seeleute zur Vorsicht ermahnen sollte und untergegangene Schiffe erklärte… Entschlossen verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Juvia. „Hier, schau.“, sagte Lucy und blätterte die erste Seite auf. „Das ist das letzte, das ich habe.“ Sie drehte das Notizbuch so, dass Juvia einen guten Blick auf die Skizze des Heartphilia-Anwesens werfen konnte. „Das ist das Haus meiner Eltern.“, erklärte sie und fragte sich, ob es unter Wasser etwas Ähnliches gab. Lebten Meerleute auch in Dörfern zusammen? Hatten sie Familien? Vielleicht sogar Königreiche wie in manchen Geschichten, die ihre Mutter ihr als kleines Mädchen erzählt hatte, mit großartigen Palästen und funkelndem Gold. Juvias volle Lippen bildeten ein kleines ‚o‘ und sie starrte das Bild fasziniert an. Dann rutschte ihr Blick auf die andere Seite. Der gepresste Rittersporn lag noch immer dort und weitere Krümel der Pflanze rieselten aus dem Falz, als Lucy das Buch leicht bewegte. Sie rutschte ihn vorsichtig in die Mitte der Seite zurück und wünschte sich, ihn festgeklebt zu haben, als sie noch die Gelegenheit dafür hatte. Sie wollte ihn nicht verlieren, es war eine letzte Erinnerung an ihre Mutter. „Was ist das?“, wollte Juvia neugierig wissen und beugte sich noch weiter vor. Ihre langen Haare fielen auf den Boden des kleinen Bootes und hinterließen nasse Flecken auf dem Holz. „Ein Rittersporn.“, erklärte Lucy und wandte errötend den Blick von dem nackten Oberkörper der Frau ab. „Eine Blume, die in unserem Garten wächst. Meine Mama hat sie mir geschenkt.“ Diesmal sagte sie nichts, als Juvia erneut ihre Hand ausstreckte. Hauchzart berührte sie die Blume, ehe sie die Finger wieder zurückzog, als hätte sie sich verbrannt. Sie warf Lucy einen verwundert-begeisterten Blick zu, ehe sie erneut die Blume betrachtete. „Sie ist schön… Aber so flach!“ „Sie ist gepresst.“, erklärte Lucy und lächelte über den kindlichen Enthusiasmus, den die Meerjungfrau über diese einfache Blume zeigte. Aber was für ein Wunder musste es sein, wenn man so etwas vorher noch nie gesehen hatte…! „Damit ich sie mit mir herumtragen kann.“ Erneut streckte Juvia die Hand aus und berührte die Blume leicht, beinahe ehrfürchtig. Sie ließ die Fingerspitzen über die Blätter gleiten und schließlich eine Blüte, die noch immer kräftig blau war. „Gibt es viele Blumen bei euch? Juvia hat davon gehört, sie wollte sie schon immer einmal sehen! Aber die Alten sagen, dass es unmöglich ist…“ Lucy nickte. „Zumindest jetzt um diese Jahreszeit. Im Winter gibt es allerdings nur ganz wenige. Sie haben alle möglichen Farben und Formen. Es gibt große und kleine, manche wachsen an Bäumen und andere sind winzig klein und…“ Juvia schien nicht müde zu werden, darüber zu hören, also erzählte Lucy noch etwas über Blumen und was sie über sie wusste. Schließlich skizzierte sie sogar eine Rose ihr Notizbuch, was die Meerjungfrau bewundernd beobachtete. Lucy genoss dieses Gefühl, selten bekam sie Lob für diesen Zeitvertreib, der angeblich so nutzlos war. Erst, als die junge Meerjungfrau sich abrupt wieder weiter ins Wasser sinken ließ, verstummte sie und blickte ihre neue Freundin verwirrt an. „Was ist? Ist etwas geschehen?“ „Nein. Aber Juvia muss jetzt gehen.“, erklärte diese. „Sie wird dir morgen noch einen Fisch bringen, Lucy.“ Damit ließ sie sich von der Bordkante gleiten und sank ins dunkle Wasser zurück. Für einen Moment trieben ihre Haare auf dem Wasser wie ein Schleier. Lucy beugte sich vor, doch sie sah nur noch, wie Juvia tiefer in das Meer tauchte, und dann war sie verschwunden. ~~*~~❀~~*~~ Ist es wahr, dass der Kuss einer Meerjungfrau einen Menschen in der Tiefe des Meeres atmen lässt? Die verräterischen Worte standen unschuldig auf dem beinahe vollgeschriebenen Blatt Papier, auf dem Lucy ihre kunterbunten Gedanken niedergeschrieben hatte. Sie sinnierte über ihre wundersame Begegnung mit einem phantastischen Geschöpf wie Juvia, das es eigentlich nicht geben dürfte. Drei Tage war es schon her, dass Juvia sich ihr offenbart hatte, drei Tage lang, an der die Meerjungfrau ihr Fisch und Algen zum Essen brachte und manchmal auch Muscheln, drei Tage, die Lucy in einen waren Sturm an verwirrenden Gefühlen gestürzt hatten, die sie nicht benennen konnte – oder wollte. Juvia war so seltsam und so fremd und doch fühlte Lucy sich ihr so nahe wie noch nie jemandem zuvor. Trotz ihrer so unterschiedlichen Herkunft, die ungleicher nicht sein könnte, war es, als wäre sie eine verwandte Seele, eine Schwester, die sie niemals gehabt hatte, eine Vertraute ihres Herzens. Nein, keine Schwester… Lucys Blick huschte zu ihren Worten zurück, dem letzten Satz, der am Ende eines langen, schwafelnden Textes über Meerjungfrauen stand. Fragen und Vermutungen reihten sich aneinander, wie viel stimmte von den alten Geschichten? Waren sie wirklich so gefährlich, wie man ihnen nachsagte? Gab es denn auch männliche Meerjungfrauen – wie auch immer man sein nannte? Waren ihre Stimmen so betörend, verzaubernd im wahrsten Sinne des Wortes? Lebten sie in Städten und Palästen aus Koralle und Stein? Ist es wahr, dass der Kuss einer Meerjungfrau einen Menschen in der Tiefe des Meeres atmen lässt? Sie wurde rot allein bei dem Gedanken an einen Kuss, so unschuldig dieser auch sein konnte. Die sanfte Berührung von Lippen auf ihren… Leichte Bewegungen gegen ihren eigenen Mund… Vielleicht eine vorwitzige Zunge, die vorantastete und einer anderen begegnete… Ungebeten tauchte das Bild von Juvias vollen, rosigen Lippen vor ihrem inneren Auge auf, geradezu dunkel gegen die blasse Porzellanhaut. Lucy schlug die Hände vor das Gesicht, doch nichts konnte das Sehnen unterdrücken, das sie bei den anrüchigen Gedanken verspürte. Aber sie konnte sie nicht unterdrücken, nicht gänzlich, nicht wenn sie hier so völlig ohne Ablenkung saß und wartete. Sie konnte sich nicht einmal auf den Hunger konzentrieren, denn sie hatte nun genug zu essen, oder den Durst. Vor ein paar Tagen war ein Regenguss heruntergekommen, der ihr erlaubt hatte, ihre Flaschen wieder aufzufüllen. Sie hatte genug Wasser, um anständig zu trinken und wenn sie nicht verschwenderisch damit umging. Das einzige Problem, dass sie gehabt hatte, war ihre Papiere und vor allem ihr Tagebuch trocken zu halten, aber irgendwie hatte sie es geschafft, nicht zu verlieren. Nur etwas Tinte war verschwommen. Ein Plätschern ließ sie zusammenzucken und ihre Schultern versteiften sich, als könnte Juvia irgendwie erahnen, was sie über sie gedacht hatte. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen und dem anderen Mädchen ins Gesicht zu sehen, aus Angst und Scham über ihre eigenen, sündigen Vorstellungen. Als könnte Juvia ihre Gedanken lesen. Sie hörte, wie die Meerjungfrau näher schwamm, und spürte es, als sie sich am Boot hochzog. Es wackelte ein bisschen und Lucy hielt sich an der Sitzbank fest, neben der sie hockte. Dann ertönte ihre freudige, silberhelle Stimme: „Du hast Juvia gemacht!“ Lucys Blick zuckte unwillkürlich zu dem Notizbuch, das aufgeschlagen neben ihr lag, den Bleistiftstummel in dem Falz liegend. Eine Seite war vollgeschrieben mit ihren Gedanken und Ragen, auf der anderen jedoch befand sich eine Skizze von Juvia, wie Lucy sie sah. An dem Dollbord hochgestemmt, ihren langen Fischschwanz hinter ihr aus dem Wasser ragend, die Krone aus Juwelenblumen im Sonnenlicht funkelnd, das lange Haar, durch das sich vorwitzig die Spitzen ihrer Brüste abzeichneten, wie ein Schleier über sie fallend, ihr schönes Lächeln und die großen, blauen Augen, die so faszinierend waren… „Äh… J-ja.“, stotterte Lucy verschämt, erschrocken, dass Juvia das unzüchtige Bild überhaupt gesehen hatte. Wie konnte sie das erklären, ohne sie zu verschrecken? Sie wollte sie auf keinen Fall verlieren, nicht nur, weil sie sonst kein Essen mehr bekam. Nicht einmal, weil sie nicht mehr alleine sein wollte… Aber die Nixe schien es nicht anstößig zu befinden, im Gegenteil, sie wirkte erfreut darüber. Eine leichte Röte bildete sich auf ihren Wangen und ihr Blick huschte glücklich und schüchtern zugleich zur Seite, als Lucy sie anblickte. „Juvia i-ist froh darüber.“, flüsterte sie und die Röte in ihrem Gesicht verstärkte sich. Sie war so hinreißend und wirkte gleichzeitig unschuldig niedlich, dass Lucy der Mund trocken wurde. Juvia stellte Dinge mit ihr an und ließ sie Gedanken haben, von denen sie nicht wusste, dass sie zu ihnen fähig war… Sie schluckte. „I-ich hatte Zeit“, erklärte sie dann. „u-und du bist sehr schön.“ Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen, kaum dass sie diese Worte gesagt hatte. Was würde Juvia denn nun von ihr denken! Sie konnte auch gleich mit der ganzen Wahrheit herausplatzen! Doch diese starrte sie nur überrascht an und dann legte sich ein kleines, glückliches Lächeln auf ihre Lippen, das ein warmes Gefühl in Lucy wachrief. „Juvia ist… Ju-Juvia…“ Sie verstummte und blickte zur Seite, während sie sich auf die Lippen biss, die dadurch noch röter wirkten. Lucy schluckte. „Juvia hat dir einen Fisch gebracht.“, riss die Meerjungfrau sie dann aus den Gedanken und hievte das tote Tier in das Boot. „Da-danke.“, antwortete Lucy und riss sich abrupt von dem verführerischen Anblick los. All die Geschichten, die sie über Nixen gehört hatte, und keine hatte davon gesprochen, dass die Macht, die sie über Männer hatten, auch die gleiche Auswirkung auf Frauen entfaltete! Doch der Anblick des toten Tieres half, auf andere Gedanken zu kommen. Sie war Juvia wirklich dankbar für alles, was diese für sie tat. Ohne sie wäre sie längst verhungert. Aber roher Fisch hing ihr inzwischen zum Hals heraus. Vorsichtig bugsierte sie das Tier in ihre Vorratskiste und setzte sich dann neben Juvia auf die kleine Bank. All die Tage, die sie nun schon miteinander verbracht hatten, hatte die Meerjungfrau ihr nicht erzählt, in welcher Richtung das Land lag und ob es überhaupt erreichbar für sie war. Jedes Mal, wenn sie aus dem Wasser auftauchte, versuchte Lucy, sie danach zu fragen, doch Juvia ließ sie gar nicht zu Wort kommen oder lenkte das Gespräch rasch in eine andere Richtung. „Erzähl Juvia mehr über das Land!“, verlangte die Nixe auch jetzt mit einem hoffnungsvollen Lächeln. „Erzähl ihr eine Geschichte. Sie hört so gern von deinen Leuten, Lucy.“ „Aber…“, begann diese und runzelte die Stirn. Ob Juvia sie absichtlich von dem Thema ablenkte? Wollte sie gar nicht erzählen, in welcher Richtung das Land lag? Aber warum? Um Lucy die Enttäuschung zu ersparen, weil es zu weit weg war… Oder, weil sie nicht wollte, dass Lucy wegging? Sie hatte schon bemerkt, dass Juvia hier draußen ebenfalls einsam war. Anscheinend war sie die einzige Meerjungfrau weit und breit und sie schien sich von den anderen fern zu halten, von denen sie schon erzählt hatte. Wollte sie Lucy bei sich behalten, damit sie jemanden hatte, der ihr Gesellschaft leistete…? Lucy holte tief Luft und versuchte es einfach: „Wa-warum zeigst du mir nicht, in welcher Richtung das Land liegt? Dann kannst du mit mir kommen und es dir selbst ansehen?“ Sie konnte einfach nicht länger warten! Juvias Gesichtsausdruck wurde unglücklich. „Es ist uns verboten, in die Nähe von Land zu kommen, vor allem wenn dort Menschen sind.“ Verdutzt runzelte Lucy die Stirn. „Aber warum?“ „Weil Menschen gefährlich sind. Sie fangen uns ein und töten uns und sind grausam zu uns…“ Juvias traurige Stimme verklang und Lucy zog sich das Herz zusammen. Sie konnte aber nicht verhindern, dass sie dem in Gedanken zustimmen musste. Sie konnte sich gut vorstellen, wie eine Meerjungfrau gefangen, als Wunderwesen herumgezeigt und dann wie ein Tier im Zoo gehalten wurde. Vielleicht würde sie auch untersucht und schließlich getötet werden, um ihren Körper zu untersuchen. Nein, dieses Schicksal wollte sie Juvia nicht aufbürden. „Aber du hast mit mir gesprochen…“ „Weil Lucy ebenfalls allein ist. Und Juvia war so einsam…“ Juvia senkte den Blick traurig auf ihre Arme. Mit gesenktem Kopf wirkte sie wie ein Bild des Kummers, die Schultern hochgezogen, die Augen von den Ponysträhnen überschattet, der Mund zu einer unglücklichen Linie nach unten gezogen. „Ich war auch einsam.“, gab Lucy zu. „Ich bin sehr froh, dass du mit mir gesprochen hast.“ Das erfreute Lächeln, das sie drauf erhielt, ließ ihr Herz aufgehen. Eine Geschichte, sagte sie sich, eine kurze Erzählung, danach konnte sie noch einmal nach dem Land fragen… „Ich erzähle dir die Geschichte die meine Mutter mir schon als Baby erzählt hat.“, begann sie. „Sie handelt von der Sternenprinzessin… ~~*~~❀~~*~~ Der Himmel war schwarz und dunkel und so wolkenlos und klar wie an den ersten Tagen nach dem Sturm. Der Mond, beinahe voll, war rund und hell wie eine Silbermünze, und so groß, dass Lucy vermeinte, ihn greifen zu können, wenn sie sich nur noch ein bisschen mehr anstrengte und die Hand danach ausstreckte. Hunderte und abertausende von Sternen waren über das Firmament verstreut wie Perlen auf einem schwarzen Samttuch. Lucy kannte ihre Sprache, erkannte die Bilder, die in dem scheinbaren Gewirr verborgen waren, und wusste um die Geschichten, die dahinter standen. Geschichten voller Mord und Blut und Tod – der Skorpion, der den Jäger verfolgte, der Löwe mit dem undurchdringlichen Fell und der schöne Junge, der das Wasser trug… Sanfte Töne von Blau und Violett durchbrachen das Schwarz der Nacht wie zarte Schleier, ein unbeschreiblicher Blick auf die Nebel des Universums. Um das Boot herum breitete sich das ruhige, schwarze Meer aus wie ein weiter Spiegel, auf dem sich das Abbild des Himmels ein zweites Mal abzeichnete. Es war still, stiller als ein Tag es je sein könnte, und friedlich, als könnte nichts dies stören. Ein lauer Wind kitzelte das Meer, so dass sich leichte Wellen kräuselten und das Abbild des Himmels verzerrten. Lucy hatte sich ganz vorne in den Bug gekuschelt, die Arme auf dem Dollbord gestützt, die Beine angezogen. Von hier aus hatte sie einen hervorragenden Blick auf die atemberaubende Schönheit des Himmels, der sich über ihr erstreckte. Selten hatte sie das Firmament in einer solchen Pracht erleben dürfen. Zuhause in ihrem Anwesen, mit der Sternenwarte und seinem Teleskop, hatte sie niemals ein solch schönes Bild vor sich gehabt und sie konnte es noch immer nicht glauben, was sich vor ihr abspielte. Aber nicht nur das, auch die Gesellschaft… Zuhause war sie meistens von ihrer Mutter begleitet worden, aber so sehr sie diese auch liebte, diese Situation jetzt war so ganz anders. Juvias Arme lagen neben ihren auf dem Dollbord, so nah, dass sie sich an manchen Stellen berührten. Ihre völlig haarlose Haut war kühl und weich, aber sie fühlte sich auch seltsam an, nicht ganz normal – nicht ganz menschlich. Sie hatte den Kopf auf ihre Hände abgelegt und folgte Lucys Blick verträumt gen Himmel. Das Sternenlicht fing sich in ihrer Blumenkrone und ihre blauen Augen schienen leicht im Dunkeln zu leuchten. Das kleine Lächeln, das ihre Lippen umspielte, war zufrieden und Lucy wünschte sich, dieses Bild einfangen zu können. Aber sie wusste, selbst wenn sie jetzt das Notizbuch herausholen und es versuchen würde, sie würde dem Model niemals Recht tun. „Gibt es Meer…männer?“, wollte Lucy plötzlich wissen. Damit setzte sie das kleine Fragen-und-Antwort-Spiel fort, das sie vor zwei Tagen begonnen hatten und bei dem sie sich abwechselnd eine Frage stellten. Juvia blickte von ihrem Platz auf dem Dollbord zu ihr auf, doch sie drehte nur leicht den Kopf. Der Schein des Mondes warf unglaublich tiefe Schatten über ihr Gesicht und ließ ihre langen Wimpern kohlschwarz wirken, was ihre seelenvollen Augen noch blauer machte. „Manchmal.“, antwortete sie dann und ihre klare Stimme trug weiter über das Wasser. „Ganz, ganz selten werden sie unter uns geboren. Manchmal nehmen wir sie auch bei uns auf, wenn wir denken, dass sie zu uns gehören. Juvia hat nur zwei gekannt.“ Die Sterne spiegelten sich in ihren Augen und es war Lucy, als könnte sie direkt in das Universum sehen. Das Blau ihrer Iriden leuchtete in der Nacht, wie ein Fluoreszieren, faszinierend schön. „Und…“ Lucy schluckte und musste sich gewaltsam von dem Anblick losreißen. „Und wie ist das mit den Liedern? Rauben sie uns Menschen tatsächlich den Verstand?“ Juvia lachte leise und hob den Kopf. „Juvia ist dran.“, antwortete sie schelmisch lächelnd, ohne auf die Frage einzugehen. „Sind alle Männer grausam, dort, wo du herkommst?“ „Nein.“ Lucy legte den Kopf zurück und dachte nach. Hier, unter dem weiten Himmel, den Blick in das Universum gerichtet, war es leicht, losgelöst zu sein von allem anderen. Ihre Probleme schienen klein und nichtig zu sein und keine Rolle mehr zu spielen. Irgendwie hatte es etwas Tröstliches zu wissen, dass auch ohne ihr alles seinen geregelten Lauf ging. „Es sind… Wir sind alles Menschen. Manche Männer sind grausam, ja, aber das können Frauen auch sein. Aber die meisten Menschen sind gut, daran glaube ich aus tiefstem Herzen.“ „Aber sie waren immer grausam uns gegenüber.“, wandte Juvia ein und Lucy rieb sich die Nase. „Ich glaube, es lag daran, dass sie Angst hatten.“ Sie nickte, wie um ihre eigenen Worte zu bekräftigen. „Menschen sind nicht böse, aber sie können sehr dumm sein. Und wenn sie Angst vor etwas haben, dann reagieren sie mit Gewalt. Das hat mein Vater mir einmal erklärt. Außerdem…“ Sie runzelte die Stirn. Alles schien mit einem Mal klar zu sein und so logisch. Damals, als er es ihr erklärt hatte, hatte sie nicht verstanden, aber jetzt lag alles klar vor ihr. „Ja?“, hakte Juvia nach, als sie nicht antwortete. „Oh… Ich… ich denke, die grausamen Leute… Ich denke, sie stehen oft hinter all dem Bösen. Sie wissen, wie man Menschen manipuliert, wie man sie ausnutzt und in die Richtung lenkt, die sie wollen. Wie sie die Angst vor dem Fremden nutzen müssen. Lämmer, sagen wir, die zur Schlachtbank gehen.“ Lucy verstummte und schüttelte dann lachend den Kopf. „Jetzt rede ich über solche philosophischen Sachen! Ignorier mich.“ „Juvia hört dir aber gerne zu.“, widersprach die Nixe mit einem Lächeln und Lucy fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Sie war froh um die Dunkelheit, die sie umgab, so konnte Juvia es zumindest nicht sehen. Nach einem Moment stupste sie die andere mit dem Finger vorsichtig an. „Aber jetzt bist du dran mit Reden. Sag schon. Wie ist das mit den Liedern?“ „Es sind nicht die Lieder.“, antwortete Juvia. „Es ist die Stimme. Juvia weiß nicht, wie es funktioniert, sie tut es einfach.“ Sie lächelte Lucy an, doch die starrte nur ungläubig zurück. Sie wusste es nicht? „Aber…“, begann sie. „Was für eine Wirkung hat sie? Wie kannst du sie benutzen?“ Juvia zuckte mit den Schultern. „Juvia tut es einfach und wenn sie daran denkt, was sie will, dann funktioniert es. Es ist Magie!“ „Das hätte ich jetzt nicht gedacht…“, murmelte Lucy missmutig. „Wir singen“, erklärte Juvia dann und ihre Stimme klang mit einem mal sanfter, ruhiger, tiefer. „und die Männer hören uns zu. Sie hören uns so sehr zu, dass sie alles darüber vergessen. So sehr, dass unsere Stimmen sie nach Hause begleiten, an Land, überallhin. Und dann… Dann kommen sie zurück zu uns.“ Juvia ließ sich in das Meer zurücksinken und schwamm rückwärts, nur mit zwei, drei Schlägen ihres Schwanzes. Ihr Haar trieb um sie herum auf der Meeresoberfläche, wie ein blauer Schleier, der erahnen ließ, was darunterlag. Das Mondlicht fing sich in ihrer Diamantenkrone, so dass es wirkte, als wäre ihr Haupt von einem hellen Schein umgeben. „Sie können uns nicht vergessen. Sie essen nicht und trinken nicht und sie können nicht mehr schlafen. Sie verzehren sich nach uns und können uns doch nicht haben.“ Ihr Gesicht lag im Schatten, nur die Linie ihres Kinns wurde noch beschienen und ihr weicher, süßer Mund und Lucy konnte verstehen, warum sich jemand nach ihr sehnen würde. Ihre Augen schimmerten geheimnisvoll, blau und hell. „Frauen kommen uns näher, wenn sie uns zuhören.“, flüsterte Juvia und ihre Stimme war nur ein Wispern, das über die Wellen zu Lucy trieb und beinahe unterging im Plätschern des Wassers an den Planken des Bootes. „Will Lucy Juvias Stimme lauschen?“ Lucy schluckte und ihre Kehle war trocken. Juvias Frage klang schwerwiegend, als würde noch so viel mehr dahinterstecken, als würde sie etwas anbieten, etwas versprechen und etwas anbieten. Doch Lucy verstand nicht, von was sie sprach. Stattdessen nickte sie einfach nur. Auf diese Frage gab es nur diese eine Antwort, sie befand sich schon zu tief in Juvias Netz, wollte zu viel von ihr und zu sehr. Aber es war ihr recht so, sie wollte es gar nicht mehr anders. Und Juvia hob die Stimme zu einem Lied mit Worten, die Lucy nicht verstand, die uralt und ewig waren und eine ursprüngliche, unvergängliche Art von Magie in sich trugen. Es klang süß und hell über das Wasser, eine harmonische Melodie, die von Sehnsucht sprach, von Freiheit und von Hoffnung, doch darunter lag Schmerz, lag Leid, lag Verderben. Und sie sprach zu Lucys Seele. ~~*~~❀~~*~~ „Juvia hat Lucy etwas mitgebracht!“ Die Stimme ließ Lucy erschrocken auffahren und sie schloss ihr Notizbuch mit einem Knall. Unbehaglich das Gesicht verziehend klappte sie es noch einmal kurz auf, um einen Blick auf den Rittersporn zu werfen. Doch er war noch heil, trotz der Wucht, mit der sie das Buch geschlossen hatte. Sie hatte die kleine Pflanze angesehen und vor sich hingebrütet. Ihre Reise würde sie wohl nicht mehr bis zum Ziel führen, nicht einmal mit Juvias Hilfe. Bedächtig legte sie das Buch weg und drehte sich zu ihrer Freundin um, deren Kopf aus dem Wasser ragte. Juvia strahlte über das ganze Gesicht und wirkte sehr zufrieden mit sich selbst. „Du hast mir doch schon einen Fisch für heute gebracht.“, bemerkte Lucy erstaunt und kam herüber. Tatsächlich war Juvia nur kurz zu ihr gekommen und dann bald darauf wieder verschwunden. Zwei Besuche an einem Tag waren selten. Allerdings blieb sie in der Regel auch einige Stunden… „Es ist kein Fisch!“, erklärte Juvia frohgemut und schwamm näher. Dann zog sie einen alten Lederbeutel aus dem Wasser. Er war brüchig und fleckig und vermutlich einige Zeit dem Meer ausgesetzt gewesen. „Was ist das?“, wollte Lucy wissen, als sie danach griff. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber ihr Herz schlug schnell und freudig bei dem Gedanken, ein Geschenk von Juvia zu erhalten. Der Beutel wog erstaunlich schwer in ihrer Hand und etwas klimperte darin. „Ein Geschenk von Juvia.“ Die Nixe strahlte und griff nach dem Dollbord, um sich daran hochzuziehen und aufzustützen. Aufgeregt wedelte sie mit der Hand. „Mach es auf. Gefällt es Lucy?“ „Ich… Danke.“ Lucys Lippen zogen sich unwillkürlich zu einem erfreuten Lächeln nach oben. Sie nahm den Beutel auf den Schoss und nestelte an den Schnüren herum, die ihn zusammenhielten. Doch das Leder war hart und hatte sich zusammengezogen und das einzige, das sie erreichte, war, dass sie sich einen Fingernagel abbrach. Frustriert griff sie schließlich nach ihrem Messer und schnitt das Lederband einfach durch. Juvia ließ sie währenddessen nicht aus den Augen und als sie jetzt den Beutel öffnete, wippte sie aufgeregt auf und nieder, so dass Wellen plätschernd an das Boot stießen. Lucy drehte den Beutel vorsichtig um und ließ den Inhalt auf ihren Schoß gleiten, der ihr ein erstauntes Keuchen entlockte. Es war Gold. Erst nach einem Moment erkannte sie Struktur darin, einen Reif, dünne Ketten und kleine Plättchen und dazwischen eingefasste reine Amethyste in klarem Violett, die in der Sonne geheimnisvoll schimmerten. Lucy blieb beinahe das Herz stehen. Sie konnte nicht glauben, was sie da in den Händen hielt. Allein der Preis des Metalls und der Edelsteine musste unermesslich sein, aber die Kunstfertigkeit, die in dieses Schmuckstück geflossen war, erhöhte den Wert noch um ein Vielfaches. Sich wiederholende Muster waren auf den kleinen Plättchen zu erkennen und die in Facetten geschliffenen Amethyste waren von geschwungenen Ranken umgeben. Die Kettenglieder waren unermesslich klein und es waren so viele… Das Gold gleißte im Sonnenlicht, hell und freundlich, etwas dunkler als Lucys Haar, und die Edelsteine funkelten. Beinahe ehrfürchtig hob Lucy das feine, aber komplizierte Gebilde hoch um es genauer zu betrachten. „Juvia wird dir helfen, es aufzusetzen.“, riss die Stimme der Nixe sie aus der versunkenen Betrachtung. Lucy blickte auf und hielt sich dann erschrocken an dem Sitz fest, als das Boot heftig wackelte. Juvia stemmte sich nach oben, hievte sich aus dem Wasser und über das Dollbord. „Ju-Juvia!“, rief Lucy erschrocken aus und ließ den Goldschmuck in ihren Schoß fallen, um das kleine Boot wieder auszugleichen. Doch Juvia lachte nur und drehte sich um, um schwer am Boden zu landen. Ihre Schwanzflosse platschte im Wasser und spritzte Lucy nass, die ein erschrockenes Kreischen stieß. Aber gleichzeitig lachte sie laut heraus. „Pass auf, sonst machst du das Buch nass!“, rügte sie trotzdem und brachte den genannten Gegenstand rasch in Sicherheit. Juvia, der noch mehr an dem Notizbüchlein lag als ihr, erstarrte erschrocken. Doch Lucy wandte sich bereits wieder dem Gold in ihrem Schoß zu. „Das ist wunderschön.“, sagte sie zu der Nixe. „Vielen Dank. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Was es ihr jetzt bringen sollte, wusste sie auch nicht, aber sie sagte nichts dazu. Es war ein Geschenk, das von Herzen kam, und allein das zählte. „Juvia wird dir helfen, es aufzusetzen.“, wiederholte die Nixe und schob sich näher. Im Sitzen war sie etwas kleiner als Lucy, also glitt diese von ihrem Sitzplatz auf der Bootsbank herunter, um sich neben ihrer Freundin im Schneidersitz niederzulassen. Der Fischschwanz berührte beinahe ihr Knie und strahlte Kühle aus. Die vielfarbigen Schuppen funkelten ihrerseits in der Sonne wie Juwelen, ein faszinierender Anblick. Beinahe hätte sie die Hand ausgestreckt, um ihn zu berühren. Stattdessen ballte sie die Hände im Schoß zu Fäusten und wandte scheu den Blick ab. Sie hatte ihn noch nie von so nahem gesehen, meistens nur unter Wasser, was ihn immer zu etwas Abstraktem gemacht hatte, ungreifbar, als wäre er nicht wirklich. Ihn so nahe zu sein, machte noch einmal deutlich, wie unterschiedlich sie und Juvia tatsächlich waren. Dass sie niemals wirklich beisammen sein konnten außer in diesem Niemandsland zwischen Land und Meer. „Lass Juvia dir damit helfen.“, verlangte die Nixe und griff nach dem Goldschmuck. Vorsichtig entwirrte sie ihn und lockte Lucy dann mit den Fingern. „Beug dich vor, damit Juvia deinen Kopf erreichen kann.“ Nach kurzem Zögern folgte Lucy der Aufforderung und neigte ihr das Haupt entgegen. Auf einmal war sie sich bewusst, wie nahe sie sich waren, nur Zentimeter voneinander entfernt. Sie konnte Juvias Duft riechen, nach Meer und Wind und etwas Süßem, das ganz und gar Juvia war. Die blauen Haare waren das einzige, das ihr den Blick auf die elfenbeinweiße Haut verdeckten und auf die beiden Hügel, die sich darunter erhoben. Sie wollte die Hand ausstrecken und sie berühren, streicheln und liebkosen mit Händen und Lippen und… Beschämt über ihre eigenen Gedanken wandte sie den Blick ab, während sie kaum bemerkte, wie Juvia sich an ihrem Kopf und ihrem Haar zu schaffen machte. Anscheinend hatte sie von irgendwoher einen Kamm genommen und ließ ihn jetzt durch die langen Strähnen gleiten. Doch Lucys Gedanken wirbelten wild durcheinander, während sie versuchte, ihre wirren Emotionen wieder in den Griff zu kriegen. Seit jener Nacht, in der Juvia zu ihr gesungen hatte, waren ihre Gefühle stärker geworden, intensiver und intimer. Sie wusste, was sie wollte, aber sie konnte es sich kaum gegenüber ihr selbst eingestehen. Sie bemerkte kaum, wie Juvia ihren grazilen Kamm wieder weglegte, und den goldenen Schmuck aufnahm. „Halt still!“, schalt sie lächelnd, als Lucy zu ihr aufblicken wollte, und legte es ihr dann vorsichtig über den Kopf, wob es ihr in die Haare und befestigte es an ihrem Haaransatz, damit es nicht rutschte. Schließlich gestattete sie ihr, sich wieder aufzusetzen. Für einen Moment betrachtete sie Lucy einfach, die funkelnden Augen weit geöffnet, als könnte sie nicht genug kriegen von dem Anblick, ein kleines Lächeln auf den Lippen und ihr Atem stockte leicht. „Du bist so wunderschön!“, flüsterte sie und klang beinahe ehrfürchtig dabei. Auf ihren Wangen lag ein leichter Rosenschimmer. „Es passt so wunderbar zu dir!“ Lucy fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und verlegen strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Ein solches Kompliment hatte sie nicht erwartet! Nicht hier, nicht jetzt, nicht von Juvia. Doch es ließ ihr Herz schneller schlagen und erfüllte sie mit glückseliger Wärme. Juvias Lächeln wurde breiter. „Schau es dir an!“, forderte sie sie auf und holte etwas hinter dem Rücken hervor. „Gefällt es Lucy?“ Sie hielt ihr einen Spiegel hin, eingefasst in mit Rosen verziertes Silber. Er war an einer Stelle gesprungen, doch trotzdem konnte Lucy ihre Reflektion deutlich erkennen. Was sie sah, ließ ihr ein erstauntes Keuchen über die Lippen schlüpfen. Große braune Augen, umgeben von einem Kranz feiner, goldener Wimpern blickten ihr entgegen, in denen tiefer Schmerz und bittere Erfahrung standen, aber auch Stärke und Hoffnung. Ihre Lippen waren voll und geschwungen, nicht mehr rissig und spröde vom Wassermangel, und ihre Haut war golden, nicht mehr rot und verbrannt durch die Sonne. Ihr Haar war glänzend und von einem hellen Blond, das ihr in sanften Wellen über die zierlichen Schultern fiel. Der goldene Schmuck hob sich etwas dunkler davon ab. Ein verzierter Reif lag wie ein Diadem um ihren Kopf und eine einzelne Kette führte über ihren Scheitel nach hinten. Beginnend über ihrer Schläfe zogen sich weitere Ketten in Bögen um ihren Kopf, immer mehr und immer tiefer, je weiter nach hinten sie kamen, so dass sie ein grobmaschiges Netz bildeten. Die Ketten waren an den Plättchen und den Amethysten befestigt, die auf ihrem Haar lagen und in der Sonne funkelten. „Das ist wunderschön.“, flüsterte sie und blickte zu Juvia mit ihrer silbernen und diamantenen Blumenkrone hinüber und ihren seelenvollen Augen, in denen so viel Gefühl stand. Vorsichtig ließ sie ihre Hand über ihren Kopf gleiten, ihre Haare, den Schmuck. „Wo ist es her?“ Langsam ließ sie den Spiegel sinken und legte ihn auf die Sitzbank hinter sich. „Aus einem Schiff, das vor ein paar Jahren gesunken ist.“, erklärte Juvia sonnig. „Es war ein Schatzschiff und liegt gar nicht weit von hier.“ Sie machte eine Handbewegung in die entsprechende Richtung und ihre Schwanzflosse zuckte leicht. „Oh.“, machte Lucy, doch sie bemerkte selbst, wie abgelenkt sie klang. Ihr Blick ruhte wieder auf dem Fischleib, der ihr so nahe war, nur ein paar Zentimeter entfernt, sie brauchte nur die Hand auszustrecken und… „Du kannst ihn anfassen, wenn du möchtest.“, bemerkte Juvia und rutschte näher an sie heran. „Aber…“, begann Lucy, doch warum widersprach sie? Juvia schien es nichts auszumachen und sie… sie wollte es doch. Sie wollte Juvia berühren. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach dem Fischschwanz ausstrecke, der Juvias Unterkörper war. Vorsichtig legte sie sie darauf, spürte die kühlen, glatten Schuppen unter den Fingern. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, vielleicht ein Gefühl, wie wenn sie einen der Fische berührte, die Juvia ihr immer brachte. Aber es war ganz anders, denn Juvia war lebendig. Sie konnte es fühlen, die Bewegung der starken Muskeln unter den Schuppen, die Wärme ihres Körpers, das Erschaudern, das Juvia durchfuhr, als Lucy die Fingerspitzen darüber gleiten ließ, und ihren ganzen Leib erzittern ließ… Sie blickte auf, direkt in Juvias Augen, die ihr so nahe waren. Auch ihre verführerischen Lippen waren nur wenige Zentimeter entfernt und standen leicht offen; sie luden geradezu dazu ein, sie zu küssen. Ihr Atem ging schneller und ihre Augen flackerten. Dann senkten sich ihre Lider und sie drehte den Kopf, strebte ihr entgegen, verlockend, einladend. Lucy hob ihre freie Hand und legte sie an Juvias Wange, die sich unwillkürlich hineinschmiegte, ein seliger Ausdruck im Gesicht. Vorsichtig beugte Lucy sich vor und dann berührten sich ihre Lippen, zart, wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels oder ein Blütenblatt, das über ihre Haut streifte. Doch diese einzelne, sanfte Berührung war wie elektrisierend, jagte durch ihren Körper wie ein Blitz. Sie seufzte leise, als ihre Sehnsucht endlich gestillt wurde, und beugte sich weiter vor, um Juvias Lippen energischer zu liebkosen, sie zu küssen und zu kosten. Sie schmeckte salzig nach dem Meer, doch darunter lag die ihr eigene Süße, die so völlig fremd war, aber doch vertraut, wie etwas, das Lucy vor langer, langer Zeit einmal gekannt hatte. Die Meerjungfrau reckte sich ihr entgegen, aufgestützt auf den Händen, und erwiderte den Kuss mit winzigen Bewegungen ihrer Lippen. Ihre Berührungen waren scheu, wie tastend, aber rasch mutiger werdend. Offensichtlich hatte sie noch weniger Erfahrung als ihre Partnerin. Lucy ließ streichelnd ihre Hand über ihren Schwanz nach oben gleiten, über ihre Hüfte und die zarte Haut ihrer Taille. Sie zögerte einen Moment, als sie die Haare unter den Fingern spürte, doch Juvia drängte sich ihr nur noch mehr entgegen, ihr Kuss fordernder und dann stahl sich eine vorwitzige Zunge zwischen ihren Lippen hervor. Lucy öffnete leicht den Mund, gefällig und bereitwillig, und erwiderte die Berührung mit der eigenen Zunge. Sie streichelte weiter nach oben, über die seidigen Haare und die sanfte Wölbung der Brust, über Juvias Hals und in ihr Haar hinein, um sie näher zu sich zu ziehen, als würde sie sich ihr nicht schon entgegendrängen. Juvia seufzte leicht, ein berauschendes Geräusch, und öffnete den Mund einladend und willig. Es war, als würde sie Leben in Lucy hauchen und Glück und Liebe. Dies war es, beschloss Lucy, wie der Himmel sich anfühlen musste. ~~*~~❀~~*~~ „Warum sagst du mir nicht, wo das Land ist?“, wollte Lucy betrübt wissen, die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen. Sie hielt den Rittersporn zwischen ihren Fingern und sah Juvia nicht an, die neben ihr im Wasser schwamm. Das Gewicht des Goldschmucks schien schwer auf ihr zu wiegen. Für einen Moment blieb es still, dann plätscherte es leise, als die Meerjungfrau näherkam. Lucy hob den Kopf und blickte die blauhaarige Frau an. „Warum?“ Juvia wandte den Blick ab. „Es ist sehr weit weg. Juvia kann dich dort nicht hinbringen und sie kann dich nicht belgeiten.“ Lucy seufzte tief. Das hatte sie sich fast gedacht. „Aber was soll ich denn tun? Ich kann nicht ewig hier bleiben…“ Auch wenn ich es vielleicht will. Denn Juvia war hier, Juvia, bei der sie sein wollte, in deren Nähe sie bleiben wollte, die sie so gefangen genommen und verzaubert hatte. An Land, was erwartete sie dort? Ein Bräutigam, den sie nicht kannte und auch nicht wollte… Ihr Blick senkte sich wieder auf den Rittersporn hinunter. Sie hörte Juvias stilles Seufzen und dann legten sich die Hände der Nixe über den Bootsrand. „Lucy…“, flüsterte sie und ihre Stimme klang silberhell und bestrickend. Unwillkürlich blickte diese sie wieder an, rutschte beinahe unwillig näher. Juvias Augen waren riesig und dunkel in ihrem blassen Gesicht, das umgeben war von blauen Locken und dem Silber ihrer Krone. Die vollen Lippen, deren Süße so verführerisch war, zogen sich zu einem sanften Lächeln nach oben. „Willst du mit Juvia kommen? Komm mit Juvia…“ Sie streckte einladend die Hand aus, die Handfläche erhoben, bittend. „Mi-mit dir?“, stotterte Lucy und irgendetwas in ihrem Hinterkopf schien sie warnen zu wollen. Doch sie konnte sich nur auf diese wunderschöne Frau vor ihr konzentrieren, auf ihr liebreizendes Lächeln und den Glanz in den blauen Augen. Und das Angebot war so verführerisch… „Wir werden für immer zusammen sein.“, versprach Juvia und oh, war es nicht das, was sie wollte? „Niemand wird uns dort erreichen und wir glücklich und zusammen sein. Komm mit Juvia? Sie wird dir alles zeigen…“ Einladend bewegte sie die Finger. Lucy griff nach der angebotenen Hand, die sie sanft zu sich zog, weiter und weiter. Der Rittersporn fiel unbeachtet in das Boot und Lucy glitt ohne Widerstand über das Dollbord ins tiefe, weite Meer. Juvias Arme umfingen sie fest und sicher und zogen sie mit sich in die Tiefe… [April | Schneeglöckchen] Hoffen -------------------------------- „Fräulein Lucy! Komm doch wieder zurück!“ Die zu schrille Stimme von Spetto, ihrer Amme, ließ Lucy zusammenzucken. Hastig kroch sie hinter einen der Büsche, die überall im Garten verteilt waren. Mit der Hand blieb sie an einem Dorn hängen, der eine blutige Schramme hinterließ, doch sie achtete kaum darauf. Wenn Spetto sie fand, würde sie sie mit zurück in die Kemenate nehmen und Lucy wollte jetzt auf keinen Fall in die stickigen Räumlichkeiten zurück. Dort betrachteten alle sie mit sorgenvollen, mitleidigen Blicken und sprachen mit gedämpften Stimmen. Hier draußen konnte sie wenigstens frei atmen und die Kälte für das Brennen in ihren Augen verantwortlich machen. Es war ein schöner Ort, still und abgelegen, mit vielen Pflanzen, hohen Bäumen und Sträußen, die im Sommer leckere Beeren trugen. Im Moment war jedoch alles braun und grau vom Winter, die meisten Äste waren kahl und an vielen Flecken lag noch Schnee. Das Gras der Wiesen wirkte verdorrt und spärlich. Doch an einigen Stellen streckten schon vorwitzige junge Pflänzchen ihre Köpfe hervor. Farbenfrohe Krokusse und niedliche Schneeglöckchen bildeten dichte Teppiche auf den Wiesenstücken. Manchmal konnte man sogar schon eine frühe Narzisse entdecken. Vor ein paar Wochen erst hatte Jonah ihr das allererste Schneeglöckchen des Jahres gezeigt und ein paar Tage später hatte er ihr einen kleinen Strauß davon gebracht. Außer den Gärtnern kamen nur wenige Leute hierher, war der Garten doch der adligen Familie und ihren persönlichen Gästen vorbehalten. Eingefasst von den hohen Mauern der Burg und überschattet von dem Bergfried lag er direkt hinter der Kemenate im südlichsten Teil der Festung. Damit die Sonne gut hineinscheinen konnte, hatte Mama erklärt. „Fräulein Lucy, wo bist du?“ Lucy liebte es, die langen, hell gekiesten Wege entlangzustürmen, obwohl Spetto immer behauptete, adlige Damen und Fräuleins würden nicht rennen. Sie liebte die Tiere, die hier wohnten, die vielen Vögel, die kleinen Eichhörnchen in den Bäumen und die Hofkatzen, die hier ihre Schläfchen hielten. Sie liebte sogar die junge Füchsin, die irgendwie ihren Weg hier hereingefunden hatte und im hinteren Winkel des Gartens ihren Bau gegraben hatte. Inzwischen war sie auch gar nicht mehr scheu, zumindest nicht den Kindern gegenüber, und kam manchmal zum Spielen wie einer der Schoßhunde ihrer Mutter. Lucy war sie nicht mehr besuchen gegangen, seit… seit sie allein gehen musste. Sie brachte es einfach nicht über sich zu gehen, weil Jonah das Tier doch so geliebt hatte. Er war der erste gewesen, von dem sie sich hatte streicheln lassen. „Fräulein Lucy!“ Missmutig kauerte sie sich unter ihrem Busch zusammen, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Sie würde jetzt nicht zu Spetto gehen. Sie wollte nicht in den blöden Unterricht oder doofe Stickereien machen und sie wollte jetzt nicht einmal süße Kuchen essen. Sie wollte nicht zurück in die Kemenate, wo sie sich fühlte, als würde sie ersticken. Sie wollte niemanden sehen, außer ihrem kleinen Bruder, aber Jonah war nicht mehr da. Sie schniefte laut auf und presste sich dann erschrocken die Hand auf den Mund. Hatte Spetto sie gehört? „Lucy! Jetzt sei nicht so störrisch und komm raus!“ Die Amme schien langsam die Geduld zu verlieren, aber keine Strafe, die sie sich ausdenken konnte, würde Lucy jetzt aus ihrem Versteck locken. Wenigstens schien sie noch keine Ahnung zu haben, wo ihr Schützling steckte. Das Mädchen schob vorsichtig die Zweige des Busches auseinander und späte zwischen den dunkelgrünen Blättern in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Amme, eine plumpe, aber stets freundliche Matrone mit dunklen, zu einem strengen Zopf gebundenem Haar, stand in der Nähe auf einem der großen Wege, wo ein schmalerer Pfad abzweige und unter einigen kahlen Apfelbäumen hindurchführte. Suchend blickte sie sich um und rang die Hände. „Lucy, bitte, komm wieder zurück. Deine Mutter macht sich Sorgen.“ Das Mädchen zuckte zusammen und presste ihre Hände über die Ohren. Sie wollte nicht, dass ihre Mama traurig war und letzter Zeit war sie es viel zu oft. Aber sie wollte jetzt auch nicht herauskommen. Sie wollte hierbleiben, wo es kühl und frisch war und die Luft nach Schnee roch. Spetto seufzte und schüttelte vor sich hinmurmelnd den Kopf, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte und weiterging. Bald war sie zwischen einigen hohen Hecken verschwunden, deren dunkelgrünes Laub auch jetzt noch glänzend und dicht war. „Fräulein Lucy!“, erklang noch ihre Stimme, doch das Mädchen kümmerte sich nicht weiter darum. Lucy kroch aus ihrem Versteck heraus, wobei ihr Rock an den Ästen hängen blieb. Mit einem energischen Ruck befreite sie den Stoff und rappelte sich auf, um in die entgegengesetzte Richtung von ihrer Amme davonzulaufen. Sie blieb auf den kleinen Pfaden, die sie immer tiefer in den Garten hineinführten, bis sie an einen kleinen Teich kam. Schilf säumte die Ufer, eine alte Trauerweide ließ ihre Zweige hineinhängen und aus dem Wasser ragte ein steinerner Schrein mit einer kleinen Figur obendrauf. Lucy war immer mit ihrem Bruder hierhergekommen, um flache Kiesel über das Wasser hüpfen zu lassen. Jonah hatte es nie geschafft, aber er hatte immer laut gejubelt, wenn ihrer gesprungen war, egal wie oft, selbst wenn es nur einmal gewesen war. Einmal hatte sie es sogar geschafft, dass er bis an das andere Ufer gehüpft war. Lucy grub ihre Stiefel in den vereisten Schnee, der noch am Ufer lag, und starrte für einen Moment auf das Wasser. Es war von einer dünnen Eisschicht überzogen, die nur dort unterbrochen war, wo die Pflanzen herausragten. Unter ihr konnte sie verzerrt die leuchten orangeroten Silhouetten der Goldfische erkennen, die im Wasser ihre Kreise zogen. „Hier bist du also.“ Die sanfte Stimme ihrer Mutter ließ Lucy zusammenzucken und sie fuhr erschrocken herum. Dort neben der hohen Statue der Kriegerkönigin stand Layla von Heartphilia. Ihr gütiges Gesicht war umrahmt von den beiden Strähnen, die links und rechts auf ihre Schultern fielen, und die Sorge hatte tiefe Linien hineingegraben. Der Rest ihres goldblonden Haares war zu einem langen Zopf geflochten und um ihren Kopf gewunden worden. Ihre sanften, braunen Augen, die von tiefen Ringen gezeichnet waren, blickten erleichtert und vorwurfsvoll zugleich auf ihre Tochter hinunter, doch hinter all dem lag die Traurigkeit, die ihr seit einiger Zeit anhaftete. „Spetto macht sich Sorgen um dich.“ Die Röcke ihres langen, dunkelvioletten Kleides raffend kam sie herüber, aber Lucy zog nur die Schultern hoch und schniefte. „Ich will Jonah zurück.“, verlangte sie, auch wenn sie wusste, dass sie wie ein kleines Kind klang. Und sie war ganz sicher nicht mehr klein! Sie war schon groß, fast erwachsen. Aber im Moment fühlte sie sich winzig und hilflos und sie wollte nur in die Arme ihrer Mutter flüchten und sich vor der Wirklichkeit verstecken. Aber sie war schon groß und stark, wie sie ihrem Vater versprochen hatte, sie musste jetzt tapfer sein. Darum drehte sie sich um, damit Mama die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. Aber Layla schien es irgendwie zu wissen, denn sie legte ihrer Tochter vorsichtig eine Hand auf die Schulter und drehte sie um, damit sie sie richtig in die Arme nehmen konnte. „Ich auch.“, flüsterte sie und ihre Stimme klang erstickt. Lucy konnte nicht mehr anders, sie brach in Tränen aus und drückte sich eng an ihre Mutter, das Gesicht in ihre Kleider pressend. Layla strich ihr beruhigend über die Haare und ließ sie weinen, hielt sie ganz fest und flüsterte beruhigende Worte. Lucys Schultern zuckten und ihr ganzer Körper wurde unter den bitteren Schluchzern geschüttelt. Sie fühlte sich allein, seit ihr Bruder nicht mehr da war, der sie auf Schritt und Tritt begleitete. Der mit leuchtenden, blauen Augen zu ihr aufschaute. Der nervig und jungenhaft und laut und dreckig war und sie nie in Ruhe ließ. Der allerdings auch immer an sie glaubte, sie stets aufmunterte und immer lachte. Egal, wie lästig er sein konnte, er war immer noch ihr süßer kleiner Bruder, den sie an dem Tag im Arm gehalten hatte, als er geboren worden war, der manchmal nachts zu ihr ins Bett kroch, weil er schlecht träumte, der ihr erst vor ein paar Wochen die neuen Kinder ihrer Lieblingskatze gezeigt hatte, der einmal Steine nach einem frechen Bengel geworfen hatte, weil der sie an den Haaren gezogen hatte, und der ihr immer Blumen brachte, wenn er welche für sie fand. Schließlich versiegten ihre Tränen und Layla beugte sich herunter, um ihr mit einem Taschentuch die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Vorsichtig führte sie Lucy zu einer Bank, die unter einer mächtigen Eiche stand, und schob sie darauf, um neben ihr Platz zu nehmen. „Ich vermisse ihn auch.“, versicherte Layla ihr leise, ihre Stimme sanft. Unwillkürlich schlang Lucy die Arme um sie und drückte sich an sie. „Und wir tun alles, um ihn zu finden. Dein Vater und die Garde sind jetzt seit zwei Wochen unterwegs, sie haben bestimmt schon eine Spur gefunden. Wer weiß, vielleicht sind sie in diesem Moment auf dem Heimweg, mit deinem kleinen Bruder sicher bei ihnen.“ Lucy schniefte nur als Antwort und wischte sich mit dem Taschentuch ihre Augen ab. Ihre Mutter nahm ihre Hand und drückte sie. „Wir werden ihn wiederfinden. Er wird nach Hause zurückkommen.“ „Versprochen?“ Layla schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Versprochen.“ Lucy starrte sie für einen Moment stirnrunzelnd an, die Lippen fest zusammengepresst. Ihre Mutter hielt ihrem Blick stand, fest und sicher, aber da war etwas in ihren Augen – Schmerz, Verzweiflung, Angst, Beklommenheit… Es war ganz und gar nicht gewiss, ob ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Tatsächlich glaubte sie nicht wirklich daran. Sie wollte nur ihre Tochter beruhigen, für die die Entführung ein schwerer Schlag war. Lucy wandte den Blick ab und starrte auf ihre mit Dreck verschmierten Lederstiefel hinunter. Sogar der Pelz, mit dem sie verbrämt waren, war teilweise verschmutzt. Spetto würde wieder mit ihr schimpfen, wenn sie das sah. Sie schniefte. „Oh, Lucy…“, flüsterte ihre Mutter neben ihr. „Ich… Es ist auch nicht leicht für mich, aber du musst jetzt tapfer sein. Wenn Jonah zurückkommt, wird er fürchterliche Angst haben, weil schlimme Dinge passiert sind, und du musst ihn unterstützen und für ihn da sein. Kannst du das tun?“ Lucy nickte heftig, doch erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Unterlippe zitterte. Sie fühlte, wie das Schluchzen in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Aber sie wollte jetzt nicht mehr weinen! Sie wollte stark und tapfer sein, wie Mama und Papa es ihr aufgetragen hatten! Sie wollte daran glauben, dass Jonah bald Zuhause sein würde! Aber nicht einmal die warme Präsenz ihrer Mutter neben ihr half ihr, die Tränen zu unterdrücken. Sie krampfte ihre behandschuhten Finger zusammen. Doch schon lösten sich die ersten und rannen ihr erneut die Wangen herab, tropften auf ihren Rock. Layla wischte sie vorsichtig mit den Daumen weg und schenkte ihrer Tochter ein aufmunterndes Lächeln. Dann legte sie etwas Hartes in Lucys Hände. Abgelenkt wischte das Mädchen sich über die Augen, um besser sehen zu können, und hob den Gegenstand hoch. Es war eine lange, feine Kette aus Gold mit einem runden Anhänger. Es war ein ebenfalls goldener Ring, der etwa so groß war wie eine Dolamünze, doch der innere Teil bestand aus durchsichtigem Glas. Darin war eine kleine Blüte eingefasst, weiß, mit länglichen Blütenblättern, von denen ein paar grüne Markierungen hatten. „Ein Schneeglöckchen?“, erkannte sie und blickte fragend zu ihrer Mutter auf. „Es soll dir Trost geben.“, wisperte Layla, aber Lucy konnte sie trotzdem deutlich verstehen. „Es ist das Symbol von Aimathea, der Göttin des Frühlings, der Hoffnung und der Neuanfänge. Sie spendet Trost und neues Leben und wie das Schneeglöckchen blüht auch sie unter den widrigsten Bedingungen, trotzt allem Schnee und der Kälte und jedem Sturm, den das Leben bereithält. Sie hat ein großes Herz für uns Menschen, wenn wir uns in schwierigen Lagen befinden und besonders, wenn es Kinder sind.“ Sie schloss Lucys Finger um den Anhänger. „Halte das hier fest und denke daran, dass sie eine Hand über Jonah halten wird. Es verbindet dich mit ihm. Wir werden derweil alles tun, um ihn zu finden. Das verspreche ich dir.“ Sie küsste Lucy vorsichtig auf die Stirn und das Mädchen lehnte sich gegen sie. Der Anhänger in ihrer Hand fühlte sich schwer an, aber warm, und als sie die Finger leicht öffnete, konnte sie zwischen ihnen hindurchspicken auf das Glas und das kleine Schneeglöckchen darin. Sie schloss die Augen und die Finger um den Anhänger und dachte ganz fest an Jonah. Es war ihr, als würde das Schmuckstück warm in ihren Händen, wie eine Bestätigung, ein kleiner Trost, eine Verbindung zwischen ihr und ihrem kleinen Bruder. Er wusste, dass sie jetzt ganz fest an ihn dachte! Daran glaubte sie ganz fest und vielleicht spendete es ihm Trost, das zu wissen. Nach einigen Augenblicken nahm die Wärme wieder ab und sie blickte mit einem kleinen Lächeln zu ihrer Mutter hoch. Ihre Augen waren wieder trocken. „Ich werde ihn ganz fest in die Arme nehmen, wenn er wieder da ist!“, versprach sie Layla und deren Lächeln wurde breiter. „Soll ich dir das umhängen?“, wollte sie dann wissen und nahm ihr die Kette vorsichtig wieder aus den Fingern. Lucy beugte sich vor, so dass ihre Mutter sie ihr um den Hals legen konnte. Vorsichtig zog sie Lucys langen Haare darüber und strich ihr über den Kopf. Lucy blickte auf ihre Brust hinunter, wo der Anhänger auf ihrem Mieder lag und blickte dann stolz zu ihrer Mutter auf. „Ich werde ganz fest an ihn denken und ihm Mut schicken, so dass er ganz tapfer ist und weiß, dass wir kommen werden.“, versprach sie und ihre Mutter lächelte. „Das ist gut.“ Laylas Augen schimmerten feucht. Sie stand auf und griff nach der Hand ihrer Tochter, um sie mit sich zu nehmen. „Und jetzt komm, damit Spetto nicht noch die ganze Burg abreißt bei dem Versuch, dich zu finden.“ Lucy kicherte bei dem Gedanken daran, wie ihre Amme die mächtigen Steine der Burg davontrug, und die Finger ihrer freien Hand schlossen sich fester um den Anhänger. Eines Tages – hoffentlich bald! Morgen schon! – würde sie ihren Bruder wiedersehen. Dann würde sie ihn ganz fest in die Arme nehmen und ihm diese Kette geben, damit er immer etwas hatte, dass ihn tröstete, selbst wenn sie nicht da war. [April | Flieder] Masked Hearts ------------------------------- Musik erfüllte den Raum, übertönte das Gemurmel der Gäste, deren Gespräche auch während der Show nicht nachließen. Darunter mischten sich Schritte, das Klirren von Geschirr und das Rascheln von Kleidung. Nur hin und wieder schnitt lautes Gelächter durch die Geräuschkulisse, sank aber rasch wieder ab. Der weitläufige Raum war fast nur erhellt von den Kerzen, die auf den Tischen standen und in großen Ständern an strategischen Plätzen verteilt waren. Dazu kamen die gedimmten Lichter über der langen Bar und die hellen Scheinwerfer, die auf die Bühne gerichtet waren. Dort wirbelten gerade zwei junge Frauen über die Bohlen, in langen Rüschenröcken, die sie über die Hüften erhoben hatten, um die langen Beine frei schwingen zu können. Darunter wurde die feine Spitzenunterwäsche und die langen Seidenstrümpfe für alle Augen präsentiert, das Strumpfband an den rechten Oberschenkeln nur das Tüpfelchen auf dem I. Sie waren beide schön und zierlich und durch und durch weiblich, ihre schwarzen Kleider mit den blauen Akzenten lagen eng am Oberkörper an, und die langen Haare, einmal blond, einmal kräftig pink, bildeten einen starken Kontrast. Die Lächeln, die unbeirrbar auf ihren rosa angemalten Mündern lagen, in Kombination mit den dunkel geschminkten Augen, wirkten betörend und wie um Aufmerksamkeit heischend. Doch trotzdem lagen die meisten Blicke auf der dritten Frau, die etwas abseits stand und im Moment mit tiefer, sinnlicher Stimme ins Mikrophon wisperte. Dann ging sie wieder in den melodischen Gesang über, der ihr den Spitznamen Engel vom Dark Mysterious eingebracht hatte. Sie war ein Ausnahmetalent, hinreißend, begabt, fleißig und betörend schön. Ihre Tänzerinnen hatten sich inzwischen untereinander eingehakt und warfen die Beine in den bekannten Bewegungen des Cancans hoch. Die Rüschen ihrer Röcke tanzten in grandioser Geste um sie herum und unterstrichen die langen Beine noch einmal. Die Sängerin war ähnlich aufgemacht wie die anderen beiden, doch ihr weißes Haar türmte sich auf ihrem Kopf auf, verziert mit Schleifen und Federn, und die Akzente ihres Kleides waren dunkelrot. Sie hielt den langen Rock in einer Hand, doch ihre fließenden Bewegungen waren weniger wild, weniger ausholend. Nur hin und wieder blitzte ihr weißes Spitzenhöschen darunter hervor, was ihren Tanz umso aufregender machte, denn jeder wartete auf diesen pikanten Moment. Ihre vollen Lippen waren tiefrot geschminkt und zogen den Blick nahezu magisch an. Sie folgte ihrem einstudierten Text und den geübten Bewegungen in ihrer flirtenden, gespielt schamhaften und gleichzeitig aufreizenden Revuenummer. Dabei lächelte sie kokett in die Runde, blinzelte Gästen charmant zu und warf gefällige Kusshände in das Publikum. Die Spannung, die im Raum herrschte, war geradezu greifbar. Jeder hoffte darauf, im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen, wenn auch nur für einen winzigen Moment, darauf, ein Augenzwinkern von ihr zu erhaschen oder sogar auf einen der Luftküsse auffangen zu dürfen. Die Begierde der Männer war nahezu greifbar und sie bewegte sich darin, als wäre sie in ihrem Element. Sie wusste genau, was sie tat, wusste, wie sie Reaktionen und Emotionen hervorlocken und halten konnte, ohne etwas von sich selbst zu geben. Sie war die Nymphe, die Unberührbare, die immer ein kleines Stück außerhalb der Reichweite war, gerade so viel, dass niemand sie erreichen konnte. Sie war nicht nur der Engel des Dark Mysterious, sondern auch seine Sirene. Aber Laxus fragte sich, wann der Augenblick kam, an dem sie es zuließ, dass ein Auserwählter den Abstand überbrückte, der ihre Hand fassen und ihre Lippen küssen durfte. Es wäre nicht das erste Mal. Nicht der erste Versuch. Früher war sie öfter mit den attraktiven jungen Männern aus dem Publikum ausgegangen, hatte sich an ihre Tische gesetzt und mit den Wimpern geklimpert, bis sie sie in teure Restaurants ausgeführt, ihr Schmuck und Kleider gekauft und getan hatten, was sie wollte. Doch gleichzeitig waren das alles Versuche gewesen, um unsichtbare Ketten abzustreifen, aber keiner war erfolgreich gewesen. Mal um Mal war sie erneut enttäuscht worden. Sie hatte so wenig getan dafür, dass ihr nahezu alles in den Schoß gefallen war. Oder nein, es war ihr gereicht worden auf einem silbernen Tablett, wie der wahren Femme Fatale, die sie gewesen war, als ihre Hoffnung noch hell gebrannt hatte und ihre Moral weit und offen. Früher. Vor Lisanna. Vor Laxus. Wie konnte ihr das, was er ihr bot, genug sein? Wie lange konnte sie ihre Hoffnung begraben, ihre Versuche aufgeben? Letzteres war immerhin der einzige ihnen bekannte Weg, um wieder frei zu sein… Und Laxus war sowieso verdammt. Mirajane beendete ihr Lied mit einem großen Finale, die beiden jungen Frauen links und rechts hinter ihr hielten ihre Position mit den hoch erhobenen Beinen für einen Moment. Dann lösten sich die drei aus der Starre und sprangen auseinander. Während die Tänzerinnen zur Seite wirbelten, um sich zu zwei weiteren zu gesellen, die wie materialisiert plötzlich auf der Bühne standen, reichte die Sängerin ihr Mikrophon an einen Helfer weiter und stieg mit eleganten Bewegungen die kleine Treppe von der Bühne in den Publikumsbereich hinunter. Sie lächelte einer Gruppe junger Männer, die sie beinahe mit den Augen auszogen, freundlich an und wandte sich zwei vornehmen Herren zu, die miteinander an einem der vordersten Tischen saßen. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ sie sich bei ihnen nieder. Auf der Bühne wirbelten die vier jungen Frauen zu einem weiteren Cancan durcheinander, während über ihnen rasch die Vorbereitungen für Juvias Vertikaltuchnummer getroffen wurden. „Wenn du weiter so finster starrst, wird irgendjemand die Polizei rufen.“, bemerkte eine dunkle, weibliche Stimme hinter ihm und Laxus wandte sich ertappt um. Eigentlich hatte er den Raum im Blick halten wollen, wie es sein Job war. Hier, unauffällig in einer dunklen Ecke nahe des Notausgangs stationiert, hatte er den perfekten Überblick. In dem schwarzen Anzug fügte er sich nahtlos in das elegante Bild des Dark Mysterious ein, als wäre er ein Teil der Einrichtung. Sein steinerner Gesichtsausdruck und die stattliche Erscheinung unterstrichen dies nur, anstatt ihn hervorzuheben. Doch wie angezogen von einem Magneten war sein Blick immer wieder zu Mirajane geglitten, als würde er die verschiedenen Shows hier nicht alle schon kennen. Sie hatte eine Wirkung auf ihn, die sie eigentlich nicht haben durfte, dazu war er schon zu vertraut mit solchen Auftritten, mit den Tricks und Kniffen. Bezaubernd, betörend, verführerisch… Bei einem Fehler tödlich… Ohne hinzusehen wusste er, dass die Tänzerinnen auf der Bühne ihre letzten für den Tanz kennzeichnenden Beinwürfe hinlegten und Juvia über ihnen sich dazu bereitmachte, sich in die Tiefe zu stürzen, nur gehalten von einem Tuch. Die Sängerin nahm gerade ein Weinglas von der Bedienung entgegen, ihre rot geschminkten Lippen zu einem freundlichen Lächeln verzogen. Einer der ‚Herren‘ an ihrem Tisch glotzte ihr derweil unverfroren auf den Ausschnitt, als ob er nicht zur Elite der Stadt gehören würde, ein erfolgreicher Anwalt mit eigener Kanzlei, sondern nur ein pubertierender Junge wäre, der seine Hormone noch nicht unter Kontrolle hatte. Gewaltsam richtete Laxus seine Aufmerksamkeit auf die Frau, die so plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Sie war kleiner als er, was nicht sehr viel zu bedeuten hatte, und langes, haselnussbraunes Haar umgab ihr hübsches, hochmütiges Gesicht. Die schicke Uniform des Dark Mysterious tat kaum etwas, um ihre üppigen weiblichen Formen zu verbergen und das gedimmte Licht blitzte auf ihren Brillengläsern in einem geschmackvollen, dünnen Gestell. „Du siehst aus, als würdest du gleich ein Messer nehmen und unseren armen Engel erdolchen.“, erklärte sie ihre vorherigen Worte näher und richtete seine Krawatte, ehe sie ihm die Brust tätschelte. „Ich sehe natürlich die versteckte Leidenschaft und Liebe in deinem Blick“, fuhr sie etwas zu pathetisch fort, um nicht höhnisch zu klingen „aber nicht jeder kennt dich so gut wie ich, mein Lieber.“ „Lass das, Evergreen.“, grummelte er dazwischen und schob ihre Hände weg, auch wenn sie beide wussten, worauf sich seine Worte tatsächlich bezogen. Er war nicht in der Stimmung, aufgezogen zu werden, vor allem nicht über dieses Thema. Was, wenn Mirajane doch entschied, dass er nicht gut genug für sie war? Er tat sein Bestes, aber mehr als alle anderen kannte er seine eigenen Defizite und auf diesem Gebiet waren sie groß und er wusste nicht wirklich, was er dagegen tun konnte. Dazu kam noch eine wichtige Sache: er würde ihr niemals das geben können, was sie wirklich wollte und verdiente. Das spöttische Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, das schlagartig ernst wurde. „Wenn du dir solche Sorgen darum machst, dann frag sie. Sprich mit ihr darüber.“ „Du weißt genau, was das große Problem hier ist.“ Laxus kniff die Lippen zusammen und wandte den Blick wieder wachsam in den Raum, um seinem Job nachzugehen. Einer der Herren nahm Mirajanes Hand und küsste sie und die junge Frau kicherte mädchenhaft, die Geste versteckt hinter der freien Hand. Laxus ballte unwillkürlich die eigenen Hände zu Fäusten und ließ den Blick weiterschweifen, obwohl es ihn weit mehr Anstrengung kostete, als eine Gruppe Rüpel aus dem Varieté zu werfen. Evergreen neben ihm stemmte nur die Hände in die breiten Hüften. „Du bist hoffnungslos. Ich weiß gar nicht, was sie in dir sieht, du beziehungsunfähiger Trampel.“ Ihre Worte waren nur gezischt, so leise, dass außer ihnen niemand sie hören konnte, aber nachdrücklich genug, dass er sie unwillkürlich wieder anblickte. „Eine Beziehung funktioniert nicht, wenn die beteiligten Parteien nicht miteinander sprechen. Mirajane kann nicht riechen, was du denkst. Und natürlich hast du trotz allem ein Recht darauf, dass sie dich fair behandelt.“ Sie verdrehte die Augen und holte etwas hinter ihrem Rücken hervor. Es war ein kurzer Ast, kaum mehr als ein Blütenstand mit zahlreichen, fliederfarbenen Blüten und ein paar grünen Blättern daran. Der intensive, süße Geruch der zarten Gewächse stieg einen Moment später in seine Nase und er runzelte die Stirn. „Ein Flieder? Was soll ich damit?“ Er hatte zu viel Zeit in Evergreens Gegenwart verbracht, um nicht über Blumen und ihre Sprache Bescheid zu wissen. Und er wusste genau, was der Flieder aussagte. Sie drückte ihm die Pflanze gegen die Brust, so dass er unwillkürlich zugriff, und lächelte liebenswürdig. „Du überreichst ihn deiner Liebsten, natürlich.“, erklärte sie langsam, als würde sie mit einem Idioten sprechen. Manch einer würde sagen, dass sie es tatsächlich tat. „Wenn du die Worte schon nicht anständig über die Lippen bringst. Mirajane weiß, was das auszusagen hat. Und jetzt husch.“ Sie wedelte mit der Hand. „Warte in ihrer Garderobe auf sie.“ Laxus runzelte die Stirn und seine Finger zerknitterten unwillkürlich Blätter. „Ich kann meinen Posten nicht einfach so verlassen.“ „Bixlow übernimmt das für dich.“, fegte sie seinen Einwand beiseite, sich bereits abwendend, und von der Seite konnte er sehen, wie sich sein ähnlich hochgewachsener, aber schlanker gebauter Kollege und Freund näherte. Das war anscheinend von langer Hand von ihr geplant, dieser Hexe. Evergreen warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu und ihr Tonfall war untypisch sanft. „Du willst diese Frage doch endlich beantwortete haben, oder? Nun geh schon.“ Laxus warf einen kurzen Blick auf die Blume in seiner Hand hinunter und verdrehte dann die Augen. Aber sie hatte Recht. Er wollte diese Antwort haben, ein kleines Stück Sicherheit, das Mirajane ihm geben konnte, auch wenn es nur Worte waren. Worte waren noch nie seine Stärke gewesen. Statt einer Antwort löste er sich von seinem Platz und ging mit langen Schritten auf die unauffällige Tür zum Personalbereich zu. Ein langer, dunkler Gang führte an verschiedenen Türen vorbei in den offenen Backstagebereich direkt hinter der Bühne, in dem die letzten Vorbereitungen für die Auftritte getroffen wurden und wie immer große Betriebsamkeit herrschte. An zwei Schminktischen in der Ecke wurden sichtbare Katastrophen behoben, in Regalen und Schränken stapelten sich diverse Requisiten und wichtiges Zubehör, an einer Wand stapelten sich Kisten und Möbel, die gebraucht wurden, und und und. Leute liefen kreuz und quer herum, darunter zahlreiche Helfer, die immer so geschäftig waren wie Arbeiterameisen, und diverse Showmitglieder wie die Tänzerinnen, die gerade schnatternd in ihrer Gemeinschaftsgarderobe verschwanden, um sich für den nächsten Auftritt umzuziehen. Als Laxus eintrat, wurde er beinahe geköpft, als unvermittelt ein Schwert auf ihn zu schnellte. Hastig duckte er sich unter der scharfen Klinge weg und warf ihrer rosahaarigen Besitzerin einen finsteren Blick zu. Ikaruga in ihrem offenherzigen Kimono schenkte ihm nur ein nachsichtiges Lächeln und ihre Augen unter den schweren Lidern huschten schon an ihm vorbei, als wäre er nicht ihre Aufmerksamkeit wert. Laxus hielt sich nicht mit ihr auf, das war die Mühe einfach nicht wert; sie hielt sich für besser als alle anderen hier, als wäre sie nicht denselben Deal eingegangen. Wortlos drängte er sich an ihr vorbei, rannte nach drei, vier Metern beinahe Natsu über den Haufen, der seine Aufmerksamkeit zwischen der Kiste in seinen Armen und seinem plappernden jüngeren Bruder aufgeteilt hatte. Beide waren schon im Kostüm, was aus einer lockeren Hose und einem breiten Gürtel bestand und sonst nichts. Mit ihrer Feuershow waren Die Drachenbrüder direkt nach Juvia dran. Dann erreichte er endlich die Tür, die zu der langen Reihe der kleineren Garderoben führte, die die Stars einzeln oder zu zweit nutzten. Mirajanes war eine der ersten; ein kleiner Raum, der auf den überfüllten, weißen Schminktisch an der hinteren Wand ausgerichtet war. An einer Wand stand ein langes Regal mit allem möglichen Schnickschnack und Nippes, teilweise Geschenke von Verehrern, teilweise teurer Schmuck wie in Auslagen präsentiert, teilweise Requisiten für Shows. Gegenüber stand ein langer Kleiderständer mit den zahlreichen Kostümen, die die Sängerin für ihre aktuellen Shows benötigte. Das einzige Licht kam von der Deckenlampe, denn keine der Garderoben hatte Fenster, die für die wichtigeren Räumlichkeiten vorbehalten waren. Laxus beäugte einen Moment den Stuhl, der ihm am nächsten stand, ein geradezu fragil wirkendes Stück im viktorianischen Stil und entschied sich dann dafür, dass das Ding sein Gewicht nicht aushalten würde. Es hatte rein gar nichts damit zu tun, dass dies hier Mirajanes Reich und er ungebeten eingetreten war. Doch er brauchte nicht lange auf sie zu warten, denn schon wenige Minuten später stieß sie die Tür auf und trat ein, einen riesigen Strauß tiefroter Rosen in den Armen. Sie warf ihm ein Lächeln zu und küsste ihm im Vorbeigehen auf die Wange. „Einen Moment.“, bat sie ihn, während sie zum Regal trat und eine Vase herausfischte, um sie an dem unauffällig angebrachten Waschbecken zu füllen. Stirnrunzelnd beobachtete er sie dabei, wie sie die Blumen in das Wasser stellte und das ganze Gebilde auf einem hohen Beistelltisch platzierte, der extra zu diesem Zweck gekauft worden war. Hastig entspannte er sein Gesicht zu etwas weniger Miesepetrigem, als sie sich zu ihm umdrehte, die Finger vor dem Körper verschränkt. Sie sah wirklich wunderschön aus in diesem langen Kleid, unter dem die hohen Schnürstiefel mit den schmalen Absätzen deutlich zu sehen waren. Der herzförmige Ausschnitt hob ihr Dekolleté um Aufmerksamkeit heischend deutlich hervor und das Korsett unterstrich ihre schlanke Figur. Die tiefroten Lippen bildeten einen deutlichen Kontrast zu ihrer milchweißen Haut und ihre großen blauen Augen blickten fragend zu ihm hoch. „Evergreen sagte, dass du etwas mit mir besprechen musst?“ Ihre Worte zeigten deutlich, dass sie wusste, dass dies nicht seine Idee gewesen war, aber trotzdem schlüpfte nur ein zögerliches „Uuuuh…“ über seine Lippen. Wo war seine durch wenig zu beeindruckende Contenance hin? Warum schaffte sie es, ihn mit einem Satz, einem einzigen Blick so aus dem Gleichgewicht zu bringen? Was hatte sie an sich, dass sie sich dafür nicht einmal anstrengen musste? Im Grunde waren das dumme Fragen, denn er wusste die Antwort darauf, auch wenn er es sich nicht einmal in Gedanken eingestehen wollte, geschweige denn ihr gestehen würde. Aber sie war ihm wichtig, wichtig auf eine Art, wie es noch nie jemand vorher gewesen war. Und er wollte sie nicht verlieren. Ging es hier nicht genau darum? „Laxus…?“ „Ich… Wir…“ Er schluckte, plötzlich war sein Mund trocken und seine Zunge klebte an seinem Gaumen. Sie zog fragend eine feine Augenbraue hoch, ihr Gesicht unleserlich. Genau wie er hatte sie es nie geschafft, sich ihm gegenüber völlig zu öffnen. Da stand immer noch etwas zwischen ihnen, etwas, das sie nicht so einfach aus dem Weg schaffen konnten, nicht mit Worten, nicht mit Mut oder dem Bezwingen des eigenen Stolzes. Er gab sich einen Ruck. „Ich wollte … etwas mit dir besprechen.“ Ein verwirrtes, aber ermutigendes Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben und warum, verdammt noch mal, war er so schlecht mit diesem Scheiß?! Wenn er so weitermachte, würde sie ihn verlassen, weil er zu feige war, mit ihr über Dinge zu sprechen, die sie beide etwas anging! Fuck! „Ich mache mir nur Gedanken… Du bist… Ich meine…“ Er fuhr sich durch die Haare, plötzlich noch nervöser als vorher. Wie sprach man seine Freundin darauf an, dass man sich über ihre Treue Sorgen machte? Zumal noch gar nichts vorgefallen war, selbst in einer Situation wie ihrer? Mirajanes Gesichtsausdruck hatte sich noch nicht verändert, aber auch ihre Geduld würde ihr Ende erreichen und sein Gestammel half sicher nicht. Sie verdiente das Beste, aber in dieser Situation, in der sie sich beide befanden, konnte er es ihr wirklich geben? Bestand diese Möglichkeit überhaupt mit den Ketten, die sie an das Dark Mysterious fesselten, die Versprechen, die sie gegeben hatten an Personen, die ihnen wichtiger waren als das eigene Schicksal, und den Schwüren, die sie so fest in den Klauen eines wahren Teufels festhielten? Das Dark Mysterious ließ seine Besitztümer nicht so einfach gehen. Wen es einmal in seinen Bann gezogen hatte, wer seine Seele an es verkauft hatte, hing in ihm fest wie im Netz einer riesigen Spinne, ob er nun gewusst hatte, auf was er sich da einließe oder nicht. Laxus hatte ganz genau gewusst, mit was er bezahlen würde, als er den Vertrag unterschrieben hatte, und Mira hatte zumindest eine umfassende Idee gehabt. Für sie gab es keine Entschuldigungen. Und letzten Endes war es genau das, was diesen Keil zwischen sie trieb, denn so tief ihre Liebe auch ging und so sehr sie wuchs, sie konnten sich am Ende nicht das geben, was jemand von außerhalb tun konnte: die eigene, freie Seele aufs Spiel setzen und den anderen befreien. Denn sie konnten nicht mit etwas handeln, das ihnen schon lange nicht mehr gehörte. Schließlich hob er einfach den kleinen Ast, den er noch immer in der Faust hielt. Die untersten Blüten und alle Blätter waren zerquetscht von seinen groben Fingern, aber die meisten der zartvioletten Blüten waren frisch und schön wie zu dem Zeitpunkt, als Evergreen sie ihm in die Hand gedrückt hatte. Mirajane blinzelte überrascht, als sie das Geschenk mit einer geübten Handbewegung entgegennahm. Automatisch führte sie den Ast zu ihrer Nase und roch daran. Für einen Moment blickte sie mit gesenkten Lidern auf die Blume hinunter und ihre langen Wimpern warfen tiefe Schatten auf ihre Wangen. Dann sah sie auf, ihre Augen scharf. „Flieder?“ Der Tonfall zeigte, dass sie genau wusste, welche Frage hinter dieser Blume stand. Wirst du auch treu sein? Ihre gerunzelte Stirn und die zusammengezogenen Augenbrauen zeigten, dass sie nicht erfreut über seine Zweifel war. Für einen Moment fragte er sich, ob das ein Fehler gewesen war, so direkt damit herauszuplatzen oder sie überhaupt zu fragen. Doch Laxus hielt ihrem Blick stand, auch wenn er schlucken musste. Ihr Zorn konnte fürchterlich sein, aber er musste eine Antwort darauf haben und sie durfte sie ihm nicht verwehren. Er war bereit, ihr alles zu geben, was er konnte, aber er brauchte ihre Versicherung, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Dass er nicht der Einzige war, der schon viel zu tief gefährlich tief – drinsteckte. Nach einem Moment jedoch wankte ihre Haltung und sie senkte sich abwendend den Kopf. „Ich kann wohl nur mir selbst die Schuld dazu geben, dass du dir überhaupt solche Gedanken machst.“, gestand sie, doch ihr abgewendetes Gesicht und die Haare, die darüber fielen, verhinderten auch jetzt, dass er sie direkt ansehen konnte, dass er ihre Gefühle offen wahrnehmen durfte. „Das ist nicht wahr.“, widersprach er ihr und sie zuckte mit den Schultern. Mit einem Mal wirkte ihre Haltung niedergeschlagen, beinahe elend. „Ich wusste, worauf ich mich einlasse, als ich hierherkam.“, antwortete sie und drehte das Gesicht zur Seite, so dass er nichts tun konnte, als auf ihren Hinterkopf zu starren und auf ihre komplexe Frisur mit den Kämmen und Schleifen und buschigen Federn darin. Was sollte er sagen, außer die Frage zu wiederholen, die sie noch zwischen den langen Fingern hielt? „Ich habe nur nicht damit gerechnet, dich zu treffen. Das hat alle meine Pläne durcheinandergeworfen.“ Damit blickte sie auf und zu ihm und sah ihn direkt an, so dass er alle ihre Gefühle lesen konnte, die offen in ihr Gesicht geschrieben waren. Sie machte nicht einmal den Versuch, sie zu verstecken und er wusste, was es bedeutete: dass sie bereit war, ihm ihr Herz zu geben und ein Stück ihrer Seele. Das war mehr, als er gefragt hatte, mehr als er verlangen konnte – und mehr, als sie geben durfte. Die Verletzlichkeit in ihren Augen, der Schmerz und die Sehnsucht darin stahlen ihm den Atem von den Lippen und er wollte zu ihr treten und sie in die Arme nehmen, um sie vor allem zu beschützen, das sie verletzen konnte. Wenn er es könnte, würde er dieses verdammte Gebäude um sie herum niederbrennen, um sie beide von seinem Bann zu befreien. Und damit auch aus den Klauen des teuflischen Besitzers, der sie voll und ganz in der Hand hatte und nach seinem Willen tanzen ließ wie Marionetten. Aber er war wie erstarrt und sie wandte sich wieder ab, um zu ihrem Schminktisch zu treten. Mit zitternder Hand legte sie vorsichtig den Flieder auf die polierte Oberfläche und nahm ihren Lippenstift auf. „Ich muss jetzt wieder hinaus.“, erklärte sie in beinahe geschäftsmäßigem Tonfall, während sie die Farbe auf ihren Lippen erneuerte. Rot und glänzend würden sie die Blicke wie magisch auf sich ziehen, doch Laxus konnte ihr nur in die Augen sehen, die ihn durch den Spiegel ansahen. Dann nahm sie den Flieder auf und entfernte sorgfältig die kaputten Blüten und Blätter davon, die unbeachtet auf den Boden fielen. Mit bedächtigen Bewegungen klemmte sie ihn schließlich neben ihrer Feder fest und er wirkte, als würde er dorthin gehören, ein weiteres Accessoire ihres Kostüms. Dann drehte sie sich um und trat zu ihm. Wortlos blickte er auf sie hinunter, während ihre Hände an seinem Revers zupften, dann an dem Knoten seiner Krawatte, als hätte Evergreen dies nicht vor kurzer Zeit gemacht, als könnte er es nicht selbst. Sie war nervös. „Ich…“, begann sie und ihre Finger kamen flach auf seiner Brust zu liegen. Er konnte das schwache Beben darin fühlen, das ihm mehr sagte als Worte. „und du… Wir…“ Sie blickte auf und ihre seelenvollen Augen waren tief und offen und sagten, was sie nicht aussprechen konnte. Ihre Lider senkten sich langsam, während sie sich auf die Zehenspitzen erhob und ihm die geöffneten Lippen auf den Mund presste. Automatisch kam er ihr näher, umfing ihre zarte Gestalt mit zu viel Kraft, zog sie an sich, als wollte er sie nie wieder loslassen. Der Kuss war wild und verzweifelt und gleichzeitig zärtlich und sie legten beide die Gefühle hinein, die sie nicht aussprechen konnten. Nicht aussprechen durften. Zögerlich trennten sie sich nach viel zu langen Augenblicken wieder und sie glitt langsam an ihm vorbei, seine Hand erst im letzten Moment loslassend. Die Hand auf die Klinke legend, blickte sie ihn noch einmal an. „Auch wenn es mich die Chance kostet, meine Seele zurückzugewinnen…“, erklärte sie ernst. „Ich bereue dies nicht.“ Ihre Stimme war fest und sicher und ihr fehlte jegliche Neckerei, jeglicher flirtende Tonfall, der ihr sonst so oft anhaftete. Es klang wie ein Versprechen. Dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Laxus starrte auf die geschlossene Tür, die ihm den Blick auf sie verbarg, und wusste, dass er seine Antwort hatte. [April | Bittersüßer Nachtschatten] Dropping Hints -------------------------------------------------- Wie hypnotisiert starrte Rogue die Pflanze an, die da so unschuldig vor ihm auf dem Tisch stand. Es war nur ein (relativ) kleines Ding, mit elliptischen, spitz zulaufenden Blättern von tiefgrüner Farbe und stand in einem einfachen Topf, der mit Folie umhüllt war. Die dünnen Äste waren leicht behaart und rankten sich an einigen zusammengebundenen Zweigen nach oben. Das an den Stamm gebundene Informationsblatt hatte ihm mitgeteilt, dass die Pflanze bis zu zehn Meter hochwerden konnte, wenn sie genug Platz zum Wachsen und Ranken hatte. Jetzt allerdings war sie zum Glück noch klein, höchstens fünfzig Zentimeter, trotzdem wuchsen bereits einige Blüten in kleinen Gruppen verzweigter Äste. Sie waren klein und fünfblättrig wie Sterne, allerdings von einem kräftigen Violett. Der Fruchtknoten ragte senkrecht daraus hervor und war von einem dunklen Gelb. Das laminierte Informationsblatt verkündete, dass es sich bei der Blume um einen sogenannten Bittersüßen Nachtschatten handelte, der gefälligst von Kindern fernzuhalten war, da er giftig war. Dazu kamen noch allgemeine Anweisungen, was man mit ihm tun sollte, wo er am besten wuchs und dergleichen mehr. Zu sagen, dass Rogue über diese Pflanze verwirrt war, war noch untertrieben. Es machte überhaupt keinen Sinn, dass sie überhaupt hier war. Oh, den Ablauf der Ereignisse hatte er schon verstanden. Aber eben nicht, was sie in Gang gesetzt hatte. Das war schlichtweg… Er verstand es eben nicht! Es wirkte einfach so willkürlich und aus heiterem Himmel. Das Türklingen ließ ihn erschrocken zusammenzucken und er sprang wie gestochen von seinem Sofa auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er seit geschlagenen fünfzehn Minuten auf diese dumme Pflanze gestarrt hatte. Dabei hatte er eigentlich schon alles vorbereiten wollen… Mit raschen Schritten ging er auf den kleinen Windfang zu, der seinen Wohnraum von der Haustür abgrenzte. Zwei weitere Türen führten in ein Schlafzimmer und das kleine Bad, und bei der offenen Küche gab es noch einen weiteren kleinen Raum, der als Vorrats- und Abstellraum diente. Größer war seine Wohnung nicht, aber etwas Größeres konnte er sich als Student auch nicht leisten, trotz Stipendium. Auf dem Weg zur Haustür schob er seinen Rucksack mit dem Fuß neben das hohe Bücherregal, damit er nicht im Weg herumging. Kurz darauf öffnete er endlich die Tür und starrte direkt auf das Logo des Starlight Palace, das auf einen dunkelblauen Karton gedruckt war. „Schau mal, was Yukino mir mitgegeben hat!“, erklang einen Moment später Stings erfreute Stimme und dann wurde die Box gesenkt, so dass Rogue endlich seinen Freund erkennen konnte. Sting grinse über das ganze, gutaussehende Gesicht und seine blauen Augen funkelten, während ihm die blonden Haare verwegen in die Stirn hingen. Rogue blinzelte verdutzt. „… Kuchen?“ Nach all dem, was heute schon passiert war, wirkte es nur wie ein weiterer Punkt auf seiner Liste der seltsamen Dinge. „Er war noch übrig, als wir geschlossen haben“, erklärte Sting und spielte auf das Café an, in dem er neben seinem Studium jobbte. „also hat sie mir gesagt, ich soll etwas mitnehmen.“ Im Gegensatz zu Sting hatte Yukino im Starlight Palace keinen kleinen Nebenjob, sondern arbeitete Vollzeit als Konditorin. Sie war Stings beste Freundin und die beiden kannten sich schon seit dem Sandkasten, gingen durch dick und dünn und vertrauten sich jegliche Geheimnisse an. Sie war ein hübsches Mädchen, das zu allen freundlich war und gegen das niemand etwas sagen konnte. Alle schienen sie zu lieben, einschließlich Sting. Aber wie immer, wenn es um sie ging, stieg in Rogue ein gewisser Unwille auf. Er kam einfach nicht klar mit ihr und er wusste dummerweise genau, woran das lag. Oder besser, an wem. „Ist das nicht toll!“, fuhr Sting aufgeregt fort und drückte ihm die Box mit dem Kuchen in die Hand, die erstaunlich schwer war. „Das war nett von ihr…“, murmelte Rogue, konnte aber keine rechte Begeisterung dafür aufbringen. Das lag nicht am Kuchen, denn er hatte eine gewisse Schwäche für das süße Gebäck. Das lag an Yukino. Dabei hatte sie ihm gar nichts getan. Er trat zurück, um Sting endlich einzulassen, der seine Schuhe einfach von den Füßen trat, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Dann gingen sie zur Küchenzeile hinüber, um ihre Lasten abzustellen, Rogue die Box mit den Kuchen, Sting die Tasche mit den anderen Zutaten für ihr Abendessen. Den Rucksack, den er halb über der Schulter getragen hatte, schleuderte er nachlässig in Richtung des Schlafzimmers. „Hast du alles bek-“, begann Rogue mit einem Blick auf die Tasche, doch Sting zog ihn mit einem Ruck zu sich und presste ihm die Lippen auf den Mund. Rogue schmolz automatisch in die Umarmung und erwiderte den zärtlichen Kuss, der rasch tiefer wurde. Sie waren jetzt schon ein paar Monate zusammen und hatten einen angenehmen Rhythmus miteinander gefunden, doch Sting so nahe zu sein, ihn zu spüren, zu berühren war jedes Mal aufs Neue berauschend. Seine Arme glitten wie automatisch um Stings Hüften und zogen den Anderen näher an sich. Am liebsten würde er ihn nicht mehr loslassen. Doch der Moment, als sie sich wieder voneinander lösten, kam trotzdem und Sting blinzelte ihn mit einem Lächeln im Gesicht an. „Erstmal Hallo, du.“ Rogue war ziemlich sicher, dass die Begrüßung frech klingen sollte, stattdessen war sie ein atemloser Hauch und er überbrückte noch einmal die wenigen Zentimeter, um Sting ein zweites Mal zu küssen. Diesmal dauerte der Kuss jedoch nur ein paar Augenblicke. „Hi.“, antwortete er dann und ließ Sting zögerlich los. Wer brauchte schon essen, wenn er Sting küssen konnte? Aber nach dem langen Tag hatten sie beide Hunger, wie das Loch in seinem Bauch ihm versicherte. Küssen konnten sie sich nachher noch, versicherte er sich selbst, immerhin würde Sting über Nacht bleiben. „Bist du gut hergekommen?“, wollte er wissen, während er begann, die Tasche auszupacken. „Du hättest mich ruhig vorwarnen können, dass die schon wieder Schienenarbeiten durchführen. Ich hätte fast den blöden Bus verpasst.“, war die miesgelaunte Antwort. Rogue zog eine Augenbraue hoch und warf seinem Freund einen Seitenblick zu. „Habe ich…? Gestern.“ Sting starrte ihn für einen Moment verdutzt an, dann färbte er sich leicht rot und murmelte etwas vor sich hin, das wie „was kann ich dafür, dass du mich immer so ablenkst“ klang. „Fang schon mal an, ich muss mal kurz.“, lenkte er dann rasch das Thema um und verschwand im Bad. Rogue starrte ihm kurz nach, dann wandte er sich wieder kopfschüttelnd seiner Aufgabe zu. Irgendwann hatten sie sich angewöhnt, einmal die Woche gemeinsam etwas zu kochen und meistens etwas, das etwas aufregender war als die üblichen Mahlzeiten, die sie sich so zusammenmixten. Heute würde es Zander mit Gemüsereis nach bosconischer Art geben und Rogue freute sich nicht nur deswegen auf diesen Abend. Dieser seltsame Besuch am Morgen, der ihn um eine Kletterpflanze bereichert hatte, hatte ihm allerdings den ganzen Tag etwas versaut. Vielleicht sollte er Sting gegenüber die Sache ansprechen. Oder vielleicht das Ganze unter den Tisch kehren, bis er wusste, was es zu bedeuten hatte und- „Hey, was ist das?“, riss Sting ihn aus den Gedanken und er drehte sich um, um zu sehen, was Sting meinte. Der stand neben dem Wohnzimmertisch und betrachtete die Pflanze darauf mit schief gelegtem Kopf, als könnte er dadurch eine Antwort auf seine Frage bekommen. Er blickte auf und zeigte belustigt auf sie. „Was willst du denn damit?“ Jetzt gab es wohl kein Drumherum mehr und eine Erklärung musste her. Dummerweise hatte er keine, er war so schlau wie zuvor. „Das war ein Geschenk…“, antwortete er darum langsam und legte die Paprika auf die Arbeitsfläche, um herüberzukommen. Stings Grinsen wurde breiter. „Muss ich mir Sorgen machen, dass dir jemand Blumen schenkt?“ Das offensichtliche Amüsement in seiner Stimme zeigte, dass er nichts dergleichen tat, im Gegenteil, er schien das Ganze lustig zu finden. (Nicht, dass Sting tatsächlich Angst um ihre Beziehung haben musste; Rogue war ihm ganz und gar verfallen.) Nicht wie Rogue, der Dinge sah, die gar nicht da waren… Er hätte sicher nicht so entspannt darauf reagiert, wenn Sting von jemand anderem Geschenke bekommen hätte. „… von Yukino.“, beendete Rogue seinen Satz. Das Grinsen rutschte von Stings Gesicht und seine Haltung war plötzlich starr. Für einen Moment starrte er Rogue nur einen Moment sprachlos aus, sein Gesicht unleserlich und in Rogues Bauch ballte sich ein beinahe schmerzhafter Knoten zusammen. Was sollte diese Reaktion? Wollte Sting etwa nicht, dass Yukino jemandem Blumen schenkte? Dann wanderten Stings Augenbrauen in die Höhe. „Wie kommt‘s?“, wollte er wissen. „Ich meine… Du… ah… Ihr zwei mögt euch nicht besonders?“ Seine Worte waren sorgfältig gewählt und außerdem war Rogue sicher, dass er eigentlich sagen wollte Du magst sie nicht besonders. Yukino war von Anfang an nichts als freundlich zu dem neuen Partner ihres besten Freundes gewesen. Es war Rogue, der ein Problem mit ihr hatte. Sting hatte das stets ziemlich verwirrt und auch ein wenig gekränkt. Er wollte, dass die beiden Personen, die ihm so wichtig waren, miteinander auskamen. „Rogue…?“, hakte Sting vorsichtig nach und trat einen Schritt vom Tisch zurück. Der runzelte die Stirn und starrte angestrengt auf den Bittersüßen Nachtschatten, der da so unschuldig auf dem Tisch stand, um seinem Freund nicht in die Augen blicken zu müssen. Dabei hatte er sich gar nichts vorzuwerfen, verdammt noch mal! Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Was denkst du, wie verwirrt ich war, als sie heute Morgen hier auftauchte und mir das Ding in die Hand gedrückt hat. Sie hat kaum etwas gesagt und ist dann zur Arbeit gegangen.“ Er war immer noch verwirrt über diesen Besuch, der nach wie vor einfach keinen Sinn machte. Was sollte das? Was sollte er mit dieser Pflanze und warum ausgerechnet eine, von der er vorher noch nie gehört hatte? Rogue stahl einen Blick auf Stings Gesicht, das zeigte, dass er tief in Gedanken versunken war. Anscheinend konnte er sich auch keinen Reim auf Yukinos seltsames Geschenk machen. „Oh.“, sagte er plötzlich und blickte auf. „Hast du geschaut, was sie dir damit sagen will?“ „… Sagen?“ „Ja, im Internet. Du weißt doch, Blumensprache und so? Yukino hat total einen Fimmel damit und so. Manchmal, wenn sie nicht weiß, wie sie etwas sagen soll, greift sie darauf zurück.“ Er lächelte und sein Blick war träumerisch in die Ferne gerichtet. Der Knoten in Rogues Magen zog sich enger zusammen und er verfluchte sich für seine unkontrollierbaren Gefühle. Dann richtete Sting sich abrupt auf und angelte sein Handy aus der Hosentasche, während er schon nach dem Namen der Pflanze auf dem Infoblatt schielte. „Warte, ich schau mal kurz nach.“ Er ließ sich auf das Sofa fallen und tippte rasch auf dem kleinen Gerät herum. Als sich ein erfreutes Lächeln auf seine Gesichtszüge schlich, wusste Rogue, dass er eine passende Seite gefunden hatte. Konzentriert scrollte er nach unten und einen Moment später hellte sich seine Mimik noch weiter auf. „Deine Eifersucht ist unbegründet…“ Seine Stimme ließ allmählich nach und Rogue fühlte, wie ihm Hitze ins Gesicht stieg. Die Worte fühlten sich an wie ein Schlag in den Magen. Nicht, weil er sich um diese dummen Gefühle nicht bewusst war, sondern weil er nicht wollte, dass Sting davon erfuhr, verdammt! Dessen Mund formte sich zu einem ‚o‘ und dann blickte er forschend auf, bereits eine Frage auf den Lippen. „Ich weiß, dass es blöd ist, okay?“, versuchte Rogue sich zu verteidigen und verschränkte die Arme vor der Brust. Er wusste es. Wirklich. Aber er konnte sich einfach nicht helfen und dabei war gar nichts passiert und Yukino hatte ihm absolut nichts getan und er wusste einfach nicht, was er mit all diesen Gefühlen für Sting anstellen sollte, die viel zu groß und zu tief für ihn waren. „Du bist eifersüchtig?“, fragte Sting dann, seine Stimme aufs Höchste verwirrt, als könnte er es nicht glauben. Rogue spürte, dass sein Unterkiefer arbeitete, aber er schaffte es einfach nicht, etwas zu sagen. Stattdessen hörte er seine Zähne knirschen. Er bekam es nicht einmal hin, seinem Freund direkt in die Augen zu sehen. „Aber… Warum? Und auf wen? Ich…“ Stings Blick wanderte zu dem Bittersüßen Nachtschatten hinüber und zuckte dann wieder zurück, während die ersten Anzeichen von Erkennen sich auf seinem Gesicht abzeichneten. „Auf Yukino? Häää?“ Sting starrte ihn befremdet an; das war alles offensichtlich völlig unverständlich für ihn. Rogue konnte nicht einfach, es platzte einfach nur aus ihm heraus. „Ihr zwei seid euch einfach nur so nahe! Manchmal wirkt es, als sei sonst niemand anwesend oder ihr wechselt Blicke, als würde sonst niemand euch verstehen, und als hätte sonst niemand Platz, wenn ihr zusammen seid, und…“ Er brach ab und holte tief Luft. „Ich will dir das nicht kaputt machen.“, erklärte er und das war die absolute Wahrheit. „Aber selbst, wenn ich dabei bin, halten die Leute euch beide für ein Pärchen.“ Das stimmte – bei dem dritten oder vierten Mal, als er Yukino getroffen hatte, gemeinsam mit Sting irgendeinem Café hatte eine Kellnerin eine dumme Bemerkung fallen lassen, dass die beiden so ein süßes Pärchen wären und so ein Blödsinn. Sting und Yukino hatten es beide lachend abgewiegelt, aber auf eine Art, die zeigte, dass sie das nicht das erste Mal hatten tun müssen. Währenddessen war Rogue nur stumm danebengesessen und hatte die Hand unter dem Tisch zur Faust geballt. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte Sting an Ort und Stelle geküsst um der ganzen Welt zu zeigen, zu wem er gehörte. Damit da absolut niemand Zweifel hatte. Rogue wusste, dass es dumm war und völlig irrational. Sting war nicht der Typ, um seinen Partner zu betrügen. Das war einfach nicht seine Art. Aber Gefühle wie Eifersucht ließen sich nicht einfach durch logische Gedanken bekämpfen. „Ihr seid so… vertraut miteinander und… und jeder kann sehen, wie intim und eng eure Beziehung ist und… Ich bin blöd.“ Er hatte Sting niemals einen Vorwurf machen wollen. Yukino war Stings beste Freundin und Rogue wollte das akzeptieren, wollte Sting nicht vorschreiben, mit wem er sich treffen und befreundet sein konnte. Das war nicht sein Recht und er hatte nie etwas zu Sting deswegen gesagt. Natürlich hatte er sich immer fern gehalten von Yukino, war selten zu den Treffen der beiden mitgekommen, egal, wie oft Sting auch gefragt hatte, hatte sie immer kühl behandelt und sie auf Abstand gehalten, so sehr sie versucht hatte, auf ihn einzugehen. Da waren immer die nagenden Gedanken gewesen, dass das, was alle Leute in Sting und Yukino gesehen hatten, irgendwann wahr werden würde – das perfekte Pärchen. Eine Sandkastenliebe, die irgendwann in einer Hochzeit, zwei Komma fünf Kindern und einem Haus mit Apfelbaum enden würde. Nur, dass es eben nicht so war. Sting und Yukino waren nur Freunde. Das wusste Sting, das wusste Yukino, das wussten alle ihre Freunde und ihre Familie und das wusste auch Rogue. Aber er konnte den Gedanken einfach nicht verbannen und er tauchte immer wieder auf und nagte an ihm. Eifersucht war einfach ein fürchterliches Gefühl. „… das denkst du wirklich?“ Stings Augen waren weit aufgerissen und Rogue bemerkte erst jetzt, dass all das in einem Wortschwall aus ihm herausgebrochen war, anstatt dass er es nur gedacht hatte. Stings Verwirrung zeigte eindeutig, dass er von all dem nichts mitbekommen hatte. Yukino dagegen hatte offensichtlich sehr wohl gemerkt, was in Rogue vorgegangen war. Ansonsten hätten sie die Dinge wohl kaum selbst in die Hand genommen, wenn auch nur mit einem seltsamen Hinweis anstatt mit klaren Worten. Aber konnte er es ihr verübeln? Rogue hatte sich immer bemüht, sich von ihr fern zu halten, und sie war kein sonderlich aufgeschlossener und energischer Mensch, der fremden Leuten einfach Vorwürfe machte. Er schloss die Augen und fühlte sich, als würde ihm alles entgleiten. „Ich weiß, dass es blöd ist, okay…?“, murmelte er und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen, die Arme immer noch defensiv vor der Brust verschränkt. Würde Sting ihn jetzt auslachen? Oder ihn verlassen? Oder einfach alles mit einer leichtfertigen Handbewegung wegwischen? Er zuckte zusammen, als Sting seine Hände nahm, und blickte unwillkürlich ihn hinunter. Stings Gesicht war untypisch ernst und er zog Rogues Arme auseinander, so dass er in ihren Ring treten und die eigenen Arme um Rogues Hals gleiten lassen konnte. Dessen Hände legten sich automatisch auf seine Hüften, wie um ihn festzuhalten. Bitte geh nicht weg. Doch Sting reckte sich nur und presste ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen, ehe er ihm ernst in die Augen sah. „Verzeih mir, dass ich das nicht früher bemerkt habe.“, erklärte er. „Aber du hättest ruhig auch etwas sagen können, dass du so fühlst.“ Rogues Blick huschte zur Seite. „… sorry. Ich wollte dich damit nicht belasten.“ Sting versetzte ihm eine beinahe schmerzhafte Kopfnuss. „Sind wir nun in einer Partnerschaft oder nicht?“, grummelte er und fügte gleich darauf hinzu: „Also, erstens bin ich schwul und das solltest du eigentlich wissen. Yukino gibt mir in dieser Hinsicht also nichts.“ Er grinste und sein Tonfall war unbeschwert, wie um zu zeigen, dass das eher eine Nebensache war. Doch sein Gesicht wurde rasch wieder nüchtern. „Sie ist wie eine Schwester für mich.“ Er senkte kurz den Kopf und sein Daumen strich unbewusst über die Haut in Rogues Nacken, was diesem einen unwillkürlichen Schauer über den Rücken jagte. „Ich meine, es stimmt schon, dass wir uns ziemlich nahestehen und dass wir fast alles übereinander wissen und viele Insider haben und… Okay, ich sehe, was du meinst.“ Sting verzog entschuldigend das Gesicht. Rogue schnaubte, doch er sagte nichts, denn Sting war offensichtlich noch nicht fertig. Dessen Blick huschte kurz nach unten auf ihre Füße und er holte tief Luft. Als er wieder aufsah, lag etwas Entschlossenes in seinen blauen Augen und etwas sehr, sehr Verletzliches. „Aber ich verspreche dir, dass du der Einzige für mich bist.“ Rogue brauchte einen Moment, um die Worte zu realisieren, die Gesten, den Blick… Um wirklich zu verstehen, was Sting damit sagte. Dann war es, als würde die Welt stehen bleiben, und sein Herz stolperte und eine Flut von Gefühlen drang auf ihn ein, so viele und so intensiv, dass er nichts tun konnte, als sich von ihr mitreißen zu lassen. Es war einfach so überwältigend. „Rogue…?“ Stings Stimme zog seine Aufmerksamkeit auf ihren Besitzer und diese blauen Katzenaugen starrten ihn besorgt an und ein Daumen fuhr über seine Wangen und Stings Gesicht war seltsam verschwommen. „Weinst du etwa…?“, murmelte Sting und stieß ein leises Lachen aus, als hätte er keine Ahnung, wie er sonst darauf reagieren konnte. Rogue blinzelte überrascht und nahm zögerlich eine Hand von Stings Rücken, um sich mit dem Ballen die Feuchtigkeit aus den Augen zu wischen. „Nein.“, behauptete er dann kindisch. Sting lachte erneut. „Okay.“, antwortete er einfach und reckte sich erneut, um Rogue einen kurzen Kuss auf den Mundwinkel zu drücken. „Wenn du das sagst.“ Statt einer Antwort presste Rogue das Gesicht gegen Stings Nacken und zog ihn enger an sich. Sting war wie ein Anker für ihn, etwas, an dem er sich festhalten konnte. „Gib mir einen Moment.“, bat er und sog tief den vertrauten Geruch ein. „Was immer du brauchst.“, versicherte Sting ihm und seine Hände, die durch Rogues Haare fuhren, waren beruhigend und halfen noch mehr. Nachher wusste Rogue nicht mehr, wie lange Sting ihn einfach nur gehalten hatte und gewartet, bis er sich endlich wieder unter Kontrolle hatte, die Gefühle niedergekämpft und so weit geordnet, wie es ihm möglich war. Sie waren immer noch zu viel und zu groß für ihn und so, so tief. Aber etwas in ihm hatte sich gesetzt, beruhigt. Als wäre er endlich zu einem Ergebnis gekommen, als hätte er Frieden mit etwas geschlossen. Sein Blick wanderte zu dem Bittersüßen Nachtschatten hinüber und er dachte, dass es vielleicht auch so war. Sting bemerkte die Veränderung und löste sich langsam von ihm. „Alles wieder gut?“, wollte er wissen und seine Hände glitten aus Rogues Haaren, der sie sofort vermisste. „Ja.“, antwortete der und starrte auf seine Füße hinunter. „Danke.“ Er blickte wieder auf und sah seinem Freund direkt in die Augen. Ein zaghaftes Lächeln zuckte an seinen Mundwinkeln und er beugte sich vor, um einen Kuss von Sting zu stehlen, so zart, dass sich ihre Lippen kaum berührten. Der lächelte. „Gut. Und wenn du wieder von einem Eifersuchtsanfall übermannt wirst, dann rede mit mir, in Ordnung?“ Er boxte ihm leicht gegen die Schulter. „Hör auf, alles in dich reinzufressen.“ „Versprochen.“ Rogues Stimme klang beinahe ein wenig zu feierlich, aber es war ihm absolut ernst. „Gut.“ Sting löste sich ganz von ihm und trat an ihm vorbei. „Und jetzt lass uns Essen machen, ich hab echt Kohldampf!“ Schmunzelnd folgte Rogue ihm zur Küchenzeile hinüber und eine Weile arbeiteten sie nebeneinander, erstaunlich schweigsam. Normalerweise redeten sie über ihren Tag oder die Woche, aber heute unterbrachen nur Anweisungen, vorgelesene Zeilen aus dem Rezept und andere, aufgabenbezogene Sätze die Stille und Rogue war es ganz recht so. Im Moment war es ihm ganz recht, weder zuhören noch reden zu müssen. Als sie schließlich kurz davor waren, den Fisch in die Pfanne zu packen, holte er tief Luft und begann: „Hey, Sting…“ „Hm?“ Der Angesprochene blickte auf, schenkte ihm ein unwillkürliches Lächeln um den Paprikastreifen herum, den er im Mund hatte. „Lass uns zum nächsten Essen Yukino einladen.“ Plötzlich wirkte irgendwie alles leichter und für das strahlende Lächeln, das Sting ihm schenkte, würde Rogue so gut wie alles tun. [Ostern | Falscher Hase] Das Häschenproblem ------------------------------------------- „Papa, Fro möchte ein Häschen haben.“ „Was!“ Geschockt blickte Rogue von seinen Unterlagen auf und starrte seine Tochter an. Ihre grünen Haare waren zu zwei unordentlichen Rattenschwänzchen gebunden, die ihr auf die Schultern fielen, und sie strahlte über das ganze runde Gesicht. Die schwarzen Augen waren riesig und flehend auf ihn gerichtet und die Hände hielt sie vor dem Körper verschränkt, als könnte sie dadurch eine positive Antwort erzwingen. „Ein Häschen!“, wiederholte sie und warf enthusiastisch die Arme in die Luft. „Wie Fienchen! Es kann in Fros Bett schlafen und ihr Gemüse essen und mit ihr spielen!“ Ihre Augen glitzerten vor Begeisterung und Hoffnung und ihr freudiges Grinsen wurde nur noch breiter. Rogue starrte sie an und überlegte fieberhaft, wie er ihr beibringen konnte, dass das überhaupt nicht in die Tüte kam, ohne sie zu sehr zu enttäuschen. Es war nicht nur, dass er sie mit sechs als zu jung erachtete, Verantwortung über ein anderes Lebewesen zu übernehmen, auch wenn es sich dabei nur um ein Kaninchen handelte. Aber sie war auch noch so ein Wirrkopf, dass sie vermutlich die Hälfte der Zeit vergessen würde, sich darum zu kümmern, ob sie nun wollte oder nicht. Außerdem konnte er ihr nicht bei jedem Wunsch nachgeben. „Warum willst du denn ein Kaninchen?“, fragte er schließlich, um noch etwas Zeit zu schinden. Er konnte es sich denken, nicht nur, weil sie den Namen hatte fallen lassen. Fienchen war einer der Hauptcharaktere aus einer Reihe Kinderbücher, die Frosch zu Tode liebte. In Fienchen und die Sternenprinzessin (von Yukino Aguria) begleitete ein kleines, aber magisches Kaninchen besagte Prinzessin auf ihrer abenteuerlichen und lehrreichen Reise. Das erste Buch hatte sie von ihrem Patenonkel geschenkt bekommen und selbst Rogue musste zugeben, dass sie lustig, einfallsreich und die Bilder überaus süß gezeichnet waren. Er legte seinen Stift weg, mit den Berechnungen für sein neuestes Projekt kam er gerade eh nicht weiter, und drehte sich zu seiner Tochter um, so dass er sie direkt ansehen konnte. Außerdem war es schon später, als er angenommen hatte. Nur noch ein paar letzte Sonnenstrahlen beleuchteten die Aktenschränke und seinen Schreibtisch, so dass es schon bedenklich dunkel war. Außerdem hätten sie schon längst etwas essen sollen. Frosch, die seine Frage dummerweise als halbe Zustimmung wertete, hüpfte aufgeregt näher. „Weil Häschen sind klein und süß und jeder braucht eins, damit Ostern toll wird!“, erklärte Frosch mit weit ausgreifenden Handbewegungen. „Es wird Fros bester Freund sein und sie muss niemals wieder alleine spielen!“ Bei dem Satz brach Rogues Herz noch einmal mehr für sie – die anderen Kinder in ihrer Vorschule mochten sie nicht besonders. Er wusste natürlich längst um die Situation Bescheid, aber nichts, was er oder die Erzieherinnen versuchten, half auf Dauer. „Gehen wir jetzt ein Häschen kaufen?“ Sie blickte hoffnungsvoll zu ihm auf und sah außergewöhnlich ernst aus. Rogue musste sich halten, sich nicht mit der Hand gegen die Stirn zu klatschen. Das war typisch für sie, sofort losstürmen zu wollen. Und er hatte immer noch keine richtige Antwort, denn auch wenn er ihr einen Spielgefährten wünschte, ein Kaninchen war nicht wirklich die richtige Wahl dafür. „Jetzt, sofort, Papa?“, verlangte sie und kletterte auf seinen Schoß, um um seinen Hals zu fallen. Automatisch nahm er sie in die Arme und beschloss, einfach in den sauren Apfel zu beißen. Es gab eh keinen Weg darum herum. „Frosch, du kannst kein Kaninchen haben.“ Sie hielt mitten in der Bewegung inne und ihre Augen wurden groß und feucht und ihre Unterlippe zitterte. Es brauchte nur noch einen kleinen Stups, eine Sekunde, und sie würde in Tränen ausbrechen. Hastig sprach er weiter: „Weißt du, Kaninchen brauchen eine große Wiese zum Herumrennen und einen schönen Stall, damit sie auch glücklich sind. Jemand muss sich um sie kümmern und ihren Stall saubermachen und Futter ko-“ „Aber warum nicht?!“, verlangte sie und kämpfte heftig gegen seinen Griff um wieder auf den Boden zu rutschen. „Fro will aber ein Häschen haben! Es wird Fros Freund sein und braucht keine Wiese, es kann in Fros Zimmer wohnen!“ Sie stampfte mit den Füßen auf und ballte die Hände zu Fäusten. Jetzt rannen ihr wirklich die Tränen über die Wangen und Rogue war drauf und dran, einfach nachzugeben und zuzustimmen. Aber er wusste, dass er Recht hatte. „Frosch, du willst doch…“, begann er, aber sie hörte ihm gar mehr nicht zu. Offenbar hatte sie alle Hoffnungen in diese dumme Idee gesetzt. „Papa ist doof!“, schimpfte sie und er hörte sie den Flur hinunterrennen, noch ehe er überhaupt an der Tür war. „Frosch!“, rief er den Flur hinunter, aber sie warf ihm nur einen bösen Blick zu, ehe sie in ihrem Zimmer verschwand und die Tür hinter sich zuzog. Rogue seufzte auf und folgte ihr, bis er vor der Tür stand, die mit bunten Holzbuchstaben versehen war, die ihren Namen bildeten. Er klopfte vorsichtig an die Tür, denn wollte er nicht einfach so hineingehen. Das war immer noch ihr Zimmer und sie war kein Baby mehr. „Geh weg!“, brüllte sie von drinnen. „Fro will ein Häschen haben! Blöder Papa!“ Dann hörte er laute Schluchzer und er rieb sich die Stirn. Auf der einen Seite konnte er jetzt hineingehen und versuchen, sie zu trösten und ihr vernünftig zu erklären, warum genau sie kein Kaninchen haben würde. Auf der anderen Seite wusste er genau, dass sie ihm nicht einmal zuhören würde. Vernünftige Argumente fielen bei ihr sowieso nicht immer auf fruchtbaren Boden. „Frosch?“, versuchte er es trotzdem, aber sie heulte nur noch lauter. „Ich komm jetzt rein, okay?“ „Nein!“, brüllte sie und als er versuchte, die Tür zu öffnen, stemmte sie sich mit aller Macht dagegen. Natürlich wäre es das kleinste Problem, sie einfach aufs dem Weg zu schieben, aber das würde alles nur noch schlimmer machen, also ließ er zu, dass sie die Tür wieder zudrückte. „Also gut.“, gab er nach und runzelte die Stirn. „Ich gehe jetzt Abendessen machen. Ich hole dich dann ab.“ Er warf einen halb besorgten, halb verdrossenen Blick über die Schulter, während er den Flur zur Küche folgte. Auf diese Weise würde sie ihn ganz sicher nicht dazu überreden, ihr ein Kaninchen zu kaufen. Sie würden später nochmal darüber reden, aber jetzt würde er sowieso nicht zu ihr durchdringen. Sie würde sich schon wieder beruhigen. Hoffte er. ~~*~~❁~~*~~ „Redet sie immer noch nicht mit dir?“, wollte Orga gutmütig wissen und ließ sich neben ihm auf den Stuhl fallen, nachdem er das Tablett auf dem Tisch abgestellt hatte. Sie hatten sich einen Platz am hinteren Ende der Cafeteria gesucht, ein großer, aber freundlich heller Raum, dem man Raumteilern und Pflanzen zwischen den zahlreichen Sitzgruppen einen heimeligeren Anstrich zu geben versuchte. Lustlos stocherte Rogue in seinem Kantinenessen herum. Eigentlich schmeckte es immer ganz gut hier; seine Firma bemühte sich darum, dass ihre Mitarbeiter sich hier wohl fühlten. Aber seit Frosch so wütend auf ihn war, schmeckte alles nicht mehr richtig. Dabei war sie eigentlich so leicht von einem Thema abzulenken, aber hier hatte sie einen erstaunlich langen Atem. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, hatten sie sich zusammen hingesetzt und geredet. Er hatte ihr erklärt, warum sie nicht so bockig sein durfte, nur weil ihr etwas nicht passte. Das hatte sie eingesehen. Sie hatte aufmerksam zugehört, eine Weile darüber nachgedacht und schließlich genickt. Sie brauchte vielleicht etwas länger als andere Kinder beim Nachdenken, aber am Ende kam sie doch immer zum Ziel. Was sie nicht eingesehen hatte, war, warum sie kein Kaninchen haben konnte. Sie fragte jeden Tag danach und jeden Tag endete es in Tränen. Anscheinend hatte jemand in ihrer Vorschule ein Kaninchen und redete nicht nur ständig davon, sondern hatte ihr auch erklärt, dass jemand ohne eigenen Hasen kein Ostern feiern und entsprechend keine Schokolade essen durfte. Dazu kam, dass sie felsenfest davon überzeugt war, dass sie in einem Kaninchen auch einen Freund finden würde, der sie nie verlassen würde. Wie Fienchen, sagte sie immer und wollte nicht hören, dass Fienchen ein Zauberkaninchen war. Ganz egal, was Rogue dagegen sagte, welche Argumente er aufbrachte und wie sehr er schwor, dass normale Kaninchen nicht wie Fienchen waren und der Osterhase eh nochmal ein ganz anderes Paar Schuhe, Frosch glaube ihm nicht. Sie hielt nur noch fester daran fest, dass sie unbedingt ein Häschen haben musste. „Nein.“, grummelte er und warf einen kurzen Blick zu seinem langjährigen Freund und Kollegen, der inzwischen zu essen begann. Orga war ein wahrer Riese von einem Mann, mit Muskeln wie Bergen und einer wilden Mähe aus grünem Haar, das er mit einem schwarzen Stirnband aus dem Gesicht hielt. Sie hatten sich während des Ingenieurstudiums kennengelernt und obwohl sie so unterschiedlich waren, hatten sie sich gut verstanden und waren Freunde geworden. Dass sie einen gemeinsamen Arbeitgeber gefunden hatten, hatte sicher seinen Teil dazu beigetragen und jetzt war er sogar Froschs Patenonkel. „Genau genommen hast du mir das alles eingebrockt.“, erklärte Rogue und grinste, als Orga sich abrupt gerader hinsetzte. „Ich?“, verlangte er zu wissen. „Was habe ich getan?“ „Du hast Fro dieses verdammte Buch geschenkt und jetzt hört sie nicht auf damit, egal wie oft ich ihr erkläre, dass ein Kaninchen aus dem Zoohandel niemals wie Fienchen ist und dass Fienchen ein magisches Kaninchen ist.“ Orga lachte. „Ehrlich? Darum geht es ihr?“ „Naja…“ Das brachte Rogue wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Sie will einen Freund wie dieses verdammte Karnickel aus dem Buch. Du weißt, dass alle anderen Kinder sie ausgrenzen.“ Das ließ auch Orgas Lächeln aus seinem Gesicht verschwinden. Das war nicht das erste Mal, dass Rogue seine Sorgen über dieses Thema bei ihm ablud. Aber er konnte auch nichts anderes tun und der tolle Onkel sein, der regelmäßig mit ihr in den Zoo ging, was sie jedes Mal überglücklich machte. Er hatte sich sogar eine Dauereintrittskarte deswegen gekauft. „Sie will es einfach nicht einsehen. Dabei haben wir echt keinen Platz für zwei Kaninchen und du weißt genau, was für ein Wirrkopf sie ist. Außerdem würde es sie bodenlos enttäuschen, wenn sie einsehen muss, dass echte Kaninchen eben wirklich nicht wie Fienchen sind.“ Orga nickte bedächtig, während er mehr Nudeln in seinen Mund schaufelte. Dann blickte er verdutzt auf. „Warte, warum denn auf einmal zwei? Ich dachte, es geht hier um eines.“ „Kaninchen sollten nicht alleine gehalten werden.“, erklärte Rogue automatisch, mit dem Gedanken noch bei seinem Problem. „Die brauchen Artgenossen.“ Für einen Moment blickte Orga ihn stumm an, dann lachte er wieder los. „Du hast dich erkundigt. Du bist so ein Softie, wenn es um Frosch geht.“ Rogue fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Aber der andere hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Am fünften Tag hatte er nachgegeben und sich ein wenig über Kaninchen schlau gemacht, ob es möglich war, seiner Tochter den Wunsch doch zu erfüllen. Trotz eventueller Fienchen-bezogener Enttäuschung. Die Antwort war gewesen Nein, jetzt noch weniger als vorher. Aber Frosch wollte weder hören noch sehen, so dass er ihr noch nicht einmal erklären konnte, dass ein Kaninchen bei ihnen unglücklich sein würde – das wäre ein Argument, das ganz sicher ziehen würde. Aber wenn er es nicht anbringen konnte, nutzte ihm das auch nicht. „Und wenn schon?“, murmelte er zurück. „Ich seh sie nun mal nicht gerne traurig. Außerdem musst du hier gar nicht das Maul aufreißen.“ „Na, wenigstens bist du so vernünftig, es nicht zu tun.“, tröstete Orga ihn. Rogue warf die Arme hoch. „Ich weiß, ich weiß. Keine Hasen für Frosch. Oder irgendetwas anderes, das lebt. Nicht, bis sie nicht mindestens zehn ist.“ Und vermutlich nicht einmal dann. Orga nickte bestätigend und widmete sich wieder seinem Essen. Er sah dabei nachdenklich aus, als würde er sich nun ebenfalls den Kopf über das Problem zerbrechen. Rogue versuchte, es ihm gleichzutun, aber nach ein paar weiteren Bissen gab er auf, legte die Gabel auf den Teller und schob sein Tablett von sich weg. Er hatte gerade einfach keinen Hunger. „Hey, ich komme am Sonntag vorbei, ist das okay?“, eröffnete Orga ihm plötzlich und setzte sich gerade auf. Ein hoffnungsvolles Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich hab sogar schon einen Korb für die süßeste Patentochter der Welt. Ich muss ihn nur noch vervollständigen!“ ~~*~~❁~~*~~ „Fro kriegt heute ein Häschen, Papa!“, jubelte Frosch und Rogue setzte sich so abrupt gerade auf, dass er mit dem Kopf gegen den Schirm der Lampe stieß, die neben dem Sofa stand. Er war nur froh, dass die Schokoladeneier in seiner Hand nicht hohl waren, sonst hätte er sie zerquetscht. „Wi-wie kommst du darauf?“, rief er zögerlich zurück und legte die Eier neben dem Sofa ab, ehe er aufstand. Den nun leeren Osterkorb aufsammelnd durchquerte er mit langen Schritten Wohnzimmer und Flur und steckte den Kopf in die Küche, wo Frosch am Tisch saß und ihr Müsli aß. Zumindest sollte sie das tun, tatsächlich matschte sie nur mit dem Löffel darin herum. Die Küche war ein kleiner Raum, in dem kaum alle Schränke und Geräte passten, die er brauchte. Der Tisch war in eine Ecke gequetscht und mehr als drei Personen würde man beim besten Willen nicht dort unterkriegen. Auf der Fensterbank standen ein paar Pflanzen und die Wände waren in einem hellen Blau gehalten, das angenehm mit dem hellen Grau der Schranktüren kontrastierte. Seine gesamte Wohnung war nicht sehr groß, aber sie reichte für ihn und seine Tochter aus und war modern. Dazu hatte sie eine zentrale Lage, was ihren horrenden Preis erklärte, und er konnte leicht zum Kindergarten und seiner Firma laufen. Aber noch reichte der Platz gut aus und er war zu beschäftigt, sich etwas anderes zu suchen – Arbeit, Tochter, Familie und Freunde und dazu seine eigenen Hobbys… Das fraß einfach viel Zeit auf. Besagte Tochter strahlte ihn im Moment sonnig an und deutete auf das kleine Osternest, das sie von ihrem Großvater bekommen hatte und im Moment vor ihr auf dem Tisch stand. Ein Schokoladenosterhase in Goldpapier, drei hartgekochte Eier und ein blauer Plüschfrosch saßen darin. „Schau, ein Nest! Das heißt, dass ein Häschen im Haus ist!“ Sie hüpfte auf dem Stuhl auf und nieder und wirkte rundum glücklich. Rogue zog ein langes Gesicht. Wer auch immer ihr diese Idee eingeredet hatte, dass ein echter Hase für die Ostergeschenke verantwortlich war, gehörte bestraft. Denn natürlich war kein Kaninchen im Haus. Das war rundherum eine schlechte Idee und er fragte sich, wie er sie über die Enttäuschung hinwegtröten konnte, eben keinen Freund zu Ostern zu kriegen. „Du bekommst kein Kaninchen.“, grummelte er und stellte das leere Nest auf den Tisch. Hoffentlich würde es helfen, diese Erwartung frühzeitig im Keim zu ersticken. Sie blickte ihn an und er hielt die Luft an, auf den unausweichlichen Tränenausbruch wartend. Doch nichts dergleichen geschah, sie grinste nur weiterhin und ihre schwarzen Augen funkelten. Er atmete erleichtert aus, wenigsten das blieb ihm erspart. Nach einem Moment runzelte er misstrauisch die Stirn. Die ganzen letzten Tage machte sie so einen Aufstand darum und jetzt keinen Mucks? Was ging in ihrem kleinen Kopf jetzt schon wieder vor? Doch statt das Thema weiter anzurühren blickte er streng auf ihr Müsli. „Bist du fertig? Oder willst du noch etwas essen?“ Sofort schob sie die Schüssel von sich. „Keinen Hunger mehr!“, meldete sie. „Kann Fro den Schokohasen essen?“ Sie griff bereits danach, noch ehe sie ausgesprochen hatte. „Nein.“, war die strenge Antwort und er brachte das Neste vor ihren grapschenden Fingern in Sicherheit. „Geh, und wasch dich und dann sehen wir mal, ob der Osterhase für dich schon da war.“ Jubelnd sprang sie auf und rannte den Flur ins Bad hinunter. Ihre Füße trommelten laut auf den Linoleumboden und er hörte das vertraute Geräusch, als sie von ihrem Schwung getragen gegen die Tür lief. Wenn sie glücklich war, machte sie alles mit zu viel Enthusiasmus. „Deine Kleider liegen auf dem Bett!“, rief er hinter ihr her, doch dass sie ihn verstanden hatte, erfuhr er erst, als sie in eben jenen Klamotten wieder zurückgestürmt kam. Nur eine der Socken hatte sie links herum angezogen. Aufgeregt auf und ab hüpfend sprang sie durch die Tür und warf die Arme um ihn, was ihr beinahe eine Kaffeedusche einbrachte. Die Tasse abstellend ging er in die Hocke, um die liebevolle Umarmung zu erwidern. Vertrauensvoll drückte sie sich an ihn und ließ auch nicht los, als er wieder aufstand, sondern klammerte sich mit Armen und Beinen fest. „Fro hat dich lieb, Papa!“ „Ich dich auch, Kleines.“ Solche Momente zwangen regelrecht ein Lächeln auf seine Lippen und die Geste fiel ihm noch nicht einmal schwer, wie sonst so oft. Seine Tochter war das Beste, das ihm je geschehen war, und er konnte sich nicht vorstellen, dass sich das jemals änderte. Nur sie konnte ihn so glücklich machen. „Bereit für die Ostereierjagd?“, wollte er wissen, während er sie ins Wohnzimmer hinübertrug. Manchmal bedauerte er, dass sie keinen Garten hatten, dass hätte die draußen suchen können. Oder zumindest war das die Idee, aber bei dem verregneten Wetter wäre heute eh nichts draus geworden. „Ja!“ Sofort zappelte sie in seinen Armen los und er musste sie auf den Boden rutschen lassen. Sie vergeudete keine weitere Sekunde, sondern warf sich mit kindlichem Enthusiasmus in ihre Aufgabe. Nachher würde er das gemütliche Wohnzimmer wieder aufräumen müssen, aber das war nur ein kleiner Preis. Rogue holte währenddessen seinen Kaffee und ihr Nest, damit sie etwas hatte, wo sie die Beute unterbringen konnte, und genoss den Moment der Ruhe, den ihre Abgelenktheit ihm gab. Außerdem machte es ihm einfach Spaß, ihr bei etwas zuzusehen, was ihr so viel Freude bereitete. Doch während der Suche wurde ihr Gesicht immer länger und länger und schließlich stand sie betrübt vor einem vollen Osterkorb. „Wo ist das Häschen?“, verlangte sie zu wissen. Rogue schloss die Augen und rieb sich die Stirn. „Es gibt keinen Hasen.“, versuchte er es noch einmal. „Es geht einfach nicht, Frosch. Wir können hier-“ Das Geräusch der Türklingel rettete ihn und er sprang auf. „Das muss Orga sein.“ Sofort hellte sich ihr Gesicht auf. „Orga!“ Der freundliche Riese hatte schon immer eine positive Wirkung auf sie gehabt und auch jetzt erwartete sie sich offensichtlich Wunder von ihm. Hoffentlich wartete sie nicht darauf, dass er ein Kaninchen mitbrachte… Aber vermutlich war genau das der Fall. „Orga!“, freute sie sich und drückte auf den Buzzer, um ihn hereinzulassen. Dann riss sie die Tür auf und stellte sich an das Treppengeländer, um erwartungsvoll nach unten zu spähen. Lange dauerte es nicht und sie konnten an dem Geräusch von Orgas schweren Schritten verfolgen, wie er immer näherkam. Kurz darauf tauchte sein grüner Schopf unter ihnen auf und dann winkte er ihnen auch schon zu. Frosch winkte begeistert zurück und konnte nicht stillhalten. In der Hand hielt er einen gigantischen Korb, der vollgestopft war mit allen möglichen Sachen. Rogue wollte gar nicht wissen, was das alles war, er hoffte nur, dass er die Schokolade etappenweise an Frosch verfüttern konnte. Ansonsten hatte er bald einen Flummi und keine Tochter mehr. Aufgedreht war sie auch schon so genug. Kaum hatte Orga ihren Treppenabsatz erreicht, sprang sie ihn an, als wäre er ein lange vermisster Heimkehrer und nicht beinahe jede Woche zu Besuch. Doch statt der üblichen Begrüßung platzte sie heraus mit: „Bringst du Fros Häschen?“ „Jetzt lass ihn erstmal reinkommen, Frosch.“, rügte Rogue das Mädchen und fügte dann an seinen Freund gerichtet hinzu: „Morgen.“ Orga erwiderte die Begrüßung und streifte sich die Schuhe von den Füßen, ehe er eintrat. Das Mädchen folgte ihm, als wäre sie sein Schatten, erst durch die Tür, dann tiefer in die Wohnung hinein und Rogue kam sich etwas abgeschrieben vor. Aber das Gefühl war ihm nicht ganz unbekannt. Schweigend folgte er den Beiden ins Wohnzimmer, wo Orga sich auf das Sofa hatte fallen lassen. Aufgeregt auf und ab hüpfend hatte Frosch sich vor ihn gestellt und warf immer wieder verstohlene Blicke auf das in Cellophanpapier gewickelte Präsent, das er noch immer hin den Händen hielt. „Hier, das ist für dich!“ Stolz präsentierte er ihr den Korb und sie stieß einen schrillen Freudenschrei aus und griff danach. „Inklusive Hasen und allem!“ Sie jubelte erneut und hörte die Ermahnung ihres Vaters, sich zu bedanken, offensichtlich gar nicht, denn sie zerrte schon an den Schleifen. Doch Froschs Freude war nur kurzlebig. Denn der ersehnte Hase, der ganz oben auf dem Korb thronte, war ein flauschiges Plüschtier. Ein ziemlich niedliches und großes Plüschtier, das Fienchen ziemlich ähnlich sah, aber eben nicht echt war. Nachdem sie begriffen hatte, dass sich unter der Schokolade und dem Bilderbuch kein lebendiges Kaninchen verbarg, blickte sie enttäuscht auf. „Wo ist das Häschen?“, wollte sie verzweifelt wissen und schon wieder füllten Tränen ihre Augen. Orga verzog schuldbewusst das Gesicht und Rogue schlug die Hand vor die Augen. „Papa, Fro will ihr Häschen! Fro will keinen falschen Hasen!“ Wütend nahm sie das Plüschtier auf und warf ihn so weit sie konnte davon. Er klatschte gegen die Balkontür und fiel zurückgewiesen auf den Boden. Auch die Schokolade schien sie nicht sehr zu interessieren, obwohl sie eigentlich wie jedes Kind darauf abfuhr. „Komm schon, Fro, der Hase ist doch niedlich.“, versuchte Orga es und sprang auf, um das Tier zurückzuholen. „Er sieht aus wie Fienchen, siehst du, und er frisst dir auch nicht die Haare vom Kopf“, erklärte er aufgeräumt und streckte ihr den Plüschhasen hin. „er wartet geduldig, bis du mit ihm spielen willst und verlangt nicht ma-“ „NEIN!“, brüllte sie und drückte seine Hand weg. „Fro will ein echtes Häschen! Der Hase ist falsch! Ganz falsch!“ Rogue fiel neben ihr auf die Knie und zog sie in seine Arme. Sie wehrte sich nicht, sondern weinte nur laut auf, um sich an ihn zu pressen. „Fro will ein richtiges Häschen haben! Bitte, bitte, Papa!“ Er streichelte ihr beruhigend über das Haar und wechselte einen besorgten Blick mit Orga. So kannten sie sie gar nicht und offensichtlich hatte auch Orga nicht mit dieser Reaktion auf sein Geschenk gerechnet. Das war ja ein schöner Reinfall gewesen! „Fro, Fro.“, versuchte Rogue es tröstend und strich ihr sachte über den Rücken. „Beruhig dich…“ Sie klammerte sich mit aller Macht an ihn und schluchzte verzweifelt auf. „Aber Fro wollte nur einen kleinen Freund haben!“, jammerte sie und presste dann das Gesicht gegen seine Schulter, um jetzt richtig loszuweinen. ~~*~~❁~~*~~ Ostern hatte sich als kompletter Reinfall herausgestellt und Rogue war froh, als er die darauffolgende Woche überstanden hatte. Frosch schlich bedrückt herum, hatte sich nicht einmal von einem Zoobesuch aufmuntern lassen und jammerte immer wieder, dass sie ein echtes Häschen brauchte. Sie war ganz und gar nicht ihr übliches fröhliches Selbst, das sich von nichts lange unterdrücken ließ, nicht einmal von den anderen Kindern, die sie immer ärgerten. Wenigstens war nicht mehr er der Böse in der Sache. Orga hatte sie früher als geplant niedergeschlagen verlassen und fragte nun jeden Tag nach dem Mädchen. Es bedrückte ihn offensichtlich, dass er sein Patenkind so aus der Fassung gebracht hatte. Der Plüschhase lag zurückgewiesen auf dem Sofa und Frosch sah ihn nicht einmal an. „Hat sie es noch immer nicht überwunden?“, wollte Orga wissen und ließ sich neben Rogue auf den Stuhl fallen. Da er die letzte Woche in einem anderen Werk verbracht hatte, hatten sie sich nicht jeden Tag gesehen. Jetzt nickte er seinem alten Freund nur zur Begrüßung zu. „Wer hat was überwunden?“, wollte die Frau wissen, die ihnen gegenübersaß. Minerva Orland hatte die Haare zu einem kompliziert wirkenden Zopf um ihren Kopf geflochten und wirkte selbst auf dem Plastikstuhl in der Kantine hoheitsvoll. Sie war neu in ihr Team gekommen und brauchte offensichtlich eine Weile, um sich einzufügen. Trotzdem hatte sie sich während der letzten Woche zu Rogue gesellt. Das lag vermutlich daran, dass sie ein Büro teilten, aber trotzdem kam er sich leicht geehrt vor, dass sie ihn mit ihrer Präsenz würdigte. „Meine Tochter hat nicht verwunden, dass sie kein Kaninchen zu Ostern bekommen hat.“, antwortete Rogue mit einem Seufzen und sie zog eine skeptische Augenbraue hoch, als würde sie in Sekundenschnelle ihr Urteil fällen und zu keinem sehr positiven Ergebnis kommen. „Normal ist sie nicht so!“, verteidigte Rogue Frosch sofort. Was ja auch die Wahrheit war. Das Ganze stellte ihn vor ein Rätsel und er wusste absolut nicht, wie er damit umgehen sollte. Im Internet und Erziehungsratgebern fand er auch keine Antwort auf dieses Problem. „Außerdem ist sie erst sechs, da hat man solche Phasen.“, fügte Orga ebenso defensiv hinzu. „Soso.“, antwortete Minerva in einem Ton, der zeigte, dass das alles unter ihr war und sie selbst schon längst eine Lösung für all das gefunden hätte. Rogue verzog missmutig das Gesicht und wandte sich wieder seinem Essen zu. Die hatte ja keine Ahnung, von was sie redete, und Frosch kannte sie auch nicht! „So ein großes Problem, huh?“, fragte sie und er zuckte gespielt gleichgültig mit den Schultern. „Sie hat ihr Herz daran gehängt und wollte nicht zuhören, als ich ihr erklärt habe, dass das nicht geht. Wir haben nicht den Platz dafür und sowieso hat sie die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs. Sie kann sich nicht um ein Kaninchen kümmern.“ Das klang vielleicht nicht sehr nett, aber dafür war es die Wahrheit. Und so sehr er seine Tochter auch liebte, das konnte er nicht einfach verleugnen. Es gab ein paar solcher Themen, die er nicht abstreiten konnte, und diverse Personen ließen es ihn auch nicht vergessen. Aber auch wenn Frosch vielleicht etwas langsamer als die anderen Kinder lernte, dumm war sie deswegen noch lange nicht! Minerva schnaubte und zog wortlos dann ihr Handy hervor, um darauf herumzutippen, während sie weiter aß. Rogue blinzelte verdutzt und wechselte einen verwirrten Blick mit Orga, doch der konnte nur die mächtigen Schultern zucken. Aber das Minerva eine sehr abrupte Art hatte, hatten sie schon vorher festgestellt, also ließ Rogue es einfach fallen und widmete sich seiner eigenen Mahlzeit. Als sie sich gegen Ende ihrer Mittagspause wieder zurück in ihr gemeinschaftliches Büro schlenderten, nahm Minerva sie gnädig wieder zur Kenntnis. „Ich hab einen Freund, dessen Neffe ist so alt wie deine Tochter.“, teilte sie ihm mit und Rogue brauchte einen Moment um überhaupt zu realisieren, dass sie mit ihm gesprochen hatte. „Huh?“, wollte er verdutzt wissen, denn die Aussage kam völlig ohne Zusammenhang. „Er könnte dir bei deinem Problem vielleicht helfen.“ ~~*~~❁~~*~~ Minervas Freund lebte in einem der alten Wohnviertel, wo die Häuser noch individuell und die Gärten groß waren. Die Straße lag ruhig und verschlafen da, obwohl Samstag war; nur ein einziges Auto kam ihnen entgegen, als sie sie hinunterzockelten. Rogue warf noch einmal einen Blick auf sein Navi, um sich zu vergewissern, dass er hier richtig war, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Minerva wartete an ihr Auto gelehnt auf ihn, ein schickes Cabriolet, das in der Auffahrt eines Hauses im Landhausstil stand. Der Vorgarten war offen und gerade auf die richtige Art verwildert, um ein kleines Paradies darzustellen. Der Blickfang stellte ein hoher, knorriger Apfelbaum dar, der um diese Jahreszeit eine wahre Pacht von weißen Blüten zur Schau trug. Rogue warf noch einen Blick in den Rückspiegel, um seine Tochter einen Moment anzusehen. Sie saß, den Plüschhasen im Arm, der nach der großen Neuigkeit nun doch Gnade vor ihren Augen gefunden hatte, in ihrem Kindersitz und starrte vorfreudig aus dem Fenster. Wenn das mal nur gutging… Er hatte zwar keinen Grund Minerva nicht zu glauben und was sie erzählt hatte, klang perfekt, aber wenn es doch nicht das Richtige war, würde Froschs Herz erneut in kleine Einzelteile zerbrechen und Rogue wusste nicht, ob der damit umgehen konnte. Trotzdem parkte er sein Auto am Straßenrand und stieg aus. Die junge Frau kam herüber, als er Frosch heraushalf, die auf und ab hüpfte und kaum zu bändigen war. Erst, als sie die fremde Frau bemerkte, wurde sie ruhiger und starrte sie erschrocken mit großen Augen an. Gegenüber Fremden, vor allem, wenn sie erwachsen waren, war sie schon immer sehr zurückhaltend gewesen. „Du bist also Frosch?“, wollte Minerva freundlich von ihr wissen und Rogue verschluckte sich beinahe an seiner Überraschung. Er kannte sie als kühl und sogar etwas hochnäsig und ihre Stimme klang immer etwas frostig, selbst wenn sie mit den Vorgesetzten sprach. So einen Tonfall, der sogar seine Tochter hinter seinem Bein hervorlockte und artig die Hand geben ließ, nahm ihm allen Wind aus den Segeln. „Kann Fro jetzt die Häschen sehen?“, wollte das Mädchen dann sofort wissen und Minerva winkte ihr mit einem Lächeln, ihr zu folgen. Rogue selbst hatte sie nur mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis genommen. Sie führte sie durch die offenstehende Tür in das Haus, an einer Wendeltreppe und einer Garderobe vorbei durch einen hübsch eingerichteten Flur. An der Wand hing eine ganze Galerie von Fotographien, aber Minerva hielt nicht im Schritt inne. „Sting?“ „Noch in der Küche!“, antwortete eine dunkle Stimme und kurz darauf streckte ein kleiner Junge seinen rothaarigen Kopf durch eine Tür. Er hatte dunkle Augen, ein Gesicht voller Sommersprossen und wirkte ungesund blass. Die dunklen Augenringe und die eingefallenen Wangen unterstützten den Eindruck nur noch mehr. Das musste Lector sein, der Neffe, von dem Minerva erzählt hatte. Seinem kränklichen Eindruck zum Trotz strahlte er über das ganze Gesicht und sein Grinsen wurde noch breiter, als er Frosch sah. „Hi!“, brüllte er und sprang nach vorne, um sie zu begrüßen. „Ich bin Lector! Bist du Frosch?“ Erschrocken quiekte sie auf und versteckte sich hinter Rogues Bein, um von dort nach vorne zu spähen. Dieser Überschwang schien sie zu überfordern, obwohl sie selbst genauso begeistert sein konnte. Rogue legte ihr beruhigend eine Hand auf den Kopf. „Lector, nicht so stürmisch.“, mahnte die dunkle Stimme von vorher, ehe jemand anders etwas sagen konnte, und Rogue blickte auf in das schönste Gesicht, das er je gesehen hatte. Für einen Moment fühlte er sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Es gehörte einem jungen Mann in seinem Alter, mit funkelnden, kobaltblauen Augen und einem sinnlichen Mund, der offensichtlich gerne lachte. Das blonde Haar war kurz geschnitten und seine Finger trugen dunkle Graphitflecken, die auch auf seiner legeren Kleidung zu sehen waren. Jetzt verzog er die Lippen zu einem breiten Lächeln und blickte zu Frosch hinunter. „Ich bin Sting.“, stellte er sich freundlich vor. „Hi.“ Sie verzog sich nur weiter in die Sicherheit hinter den Beinen ihres Vaters und linste über den Kopf ihres Plüschhasen zu dem fremden Mann hoch. Das war ihr offensichtlich noch weniger geheuer als die beiden Begrüßungen vorher, aber drei fremde Leute auf einmal waren ein wenig viel. „Sie ist ein wenig schüchtern.“, erklärte Rogue dem Blonden entschuldigend und ging neben seiner Tochter in die Hocke. „Ich hab dir doch von Lector erzählt, erinnerst du dich? Das sind seine Kaninchen, die du besuchst, und ich habe gehört, dass er gern dein Freund sein würde.“ „Stimmt genau!“, trompetete der genannte Junge sofort und Frosch wirkte mit einem Mal hoffnungsvoll. Sie beugte sich vor und flüsterte laut: „Echt?“ Ihre Stimme klang dabei so ungläubig, dass Rogue sie am liebsten in die Arme nehmen würde, aber stattdessen versuchte er, positiv zu wirken. „Absolut.“, versicherte er ihr und strich eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter ihr Ohr. „Aber warum fragst du ihn nicht selber?“ Er stand auf und schob sie vorsichtig nach vorne. Diesmal ging sie willig mit, aber nahm nicht den Hasen aus ihrem Gesicht, den sie immer noch wie ein Schutzschild vor sich hielt. Lector ließ sich nicht davon stören, er schien einfach nur begeistert zu sein, dass sie da war, und griff nach ihrer Hand. „Komm, willst du die Kaninchen sehen?“ Sofort hellte sich ihr Gesicht auf und das Eis war gebrochen. „Ja! Papa, darf Fro?“ „Dafür sind wir doch hier, oder?“ Sie strahlte. Minerva trat vor. „Komm, deinen Hasen lassen wir hier, damit er nicht dreckig wird.“, sagte sie und nahm Frosch das Plüschtier aus der Hand, um es achtlos Rogue in die Arme zu drücken. „Ich komme mit euch, wenn ihr nichts dagegen habt.“ Doch die Kinder achteten schon gar nicht mehr auf sie. Frosch wurde bereits von ihrem neuen Freund den Flur hinuntergezogen, durch das Wohnzimmer zur Terrassentür. „Ich hab ihnen schon erzählt, dass du kommst!“, erklärte er. „Am Anfang werden sie noch ein wenig schüchtern sein, aber sie werden dich auch ganz doll liebhaben!“ Minerva winkte ab, als Sting Anstalten machte, ihnen zu folgen. „Lass nur, ich kümmere mich darum. Ihr könnt euch ja derweil bekannt machen.“ „Was?! Aber Miner-!“ „Keine Widerrede!“, fuhr die Frau scharf dazwischen und Rogue kannte sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass man ihr nicht widersprechen sollte, wenn sie so drauf war. Oder zumindest nur, wenn man es auf einen Kampf ankommen lassen wollte. „Trinkt einen Kaffee oder so!“ Damit verschwand sie ebenfalls in den Garten. „Äh…“, machte Sting und starrte ihr hinterher, offensichtlich ebenfalls klug genug, seine Kämpfe mit Bedacht zu wählen. Dann blickte er zu Rogue und rieb sich den Nacken. Bildete Rogue sich das nur ein, oder hatte sich da ein leichter Rotschimmer auf seinen Wangen gebildet? „Ich bin Sting. Eucliffe.“, stellte er sich dann vor und machte eine Handbewegung auf die Küchentür zu. Der Name kam Rogue bekannt vor, aber zuordnen konnte er ihn nicht. Er würde sich ganz sicher an den anderen erinnern, wenn er ihm je begegnet wäre! „Kaffee?“, unterbrach Sting seine Gedanken. „Gerne.“, brachte Rogue einen Moment zu spät heraus und erst nachdem der Blonde ihn bereits auf einen der Barhocker vor der Kücheninsel komplimentiert hatte, fiel ihm auf, dass er sich nicht vorgestellt hatte. Am liebsten hätte er den Kopf auf die marmorne Arbeitsplatte geknallt. Schöner erster Eindruck, den er da machte! Sting schien sich allerdings nicht daran zu stören, denn er beschäftigte sich energetisch mit der Kaffeemaschine. Die Küche war ebenfalls im Landhausstil gehalten, ganz in Weiß, mit einem freundlichen Pastellgelb an den Wänden, Kräuter auf den Fensterbänken und Geschirr und Nippes auf den Schränken. In der hinteren Wand war eine weitere Tür mit kleinen Fenstern eingelassen, die in einen Wintergarten führte. „Das ist ein schönes Haus.“, bemerkte Rogue schließlich, nachdem er den Blick dreimal durch den Raum hatte schweifen lassen, und Sting blickte sich zu ihm um. „Gehörte meinen Eltern. Ich wohne eigentlich unter dem Dach, mein Bruder und seine Frau sind hier unten.“ Er kam mit zwei dampfenden Tassen herüber. „Zucker? Milch?“ „Nein, danke.“ Dankbar nahm Rogue das Getränk an und sog genüsslich den aromatischen Duft des dunklen Getränks ein. „Sie sind übrigens echt froh über euren Besuch.“, bemerkte Sting, während er sich einen zweiten Stuhl heranzog. Überrascht blickte Rogue auf. „Huh? Warum?“ Sting zuckte mit den Schultern. „Lector hat nicht viele Freunde, seit er nicht mehr in den Kindergarten kann und die Vorschule fiel natürlich auch flach. Darum sind sie froh um jede Gesellschaft, die er hat außer uns und den Leuten im Krankenhaus.“ Er warf seinem Gegenüber einen scharfen Blick zu. „Minerva hat dir sicher erzählt, dass er ziemlich krank ist? Er ist dadurch ziemlich eingeschränkt.“ „Sie hat nicht viel gesagt, nur das nötigste.“, erklärte Rogue und nickte. Mehr hatte er von der kühlen Frau allerdings auch nicht erwartet. „Dass es nicht ansteckend ist und so.“ „Jaaaah… Keine Sorge deswegen. Jedenfalls sind seine Eltern berufstätig, darum kümmere ich mich um ihn, wenn sie nicht da sind. Ich arbeite eh von zuhause aus.“ Sting zuckte mit den Schultern. „Darum hat er auch die Kaninchen gekriegt, die kommen auch ganz gut ohne ihn klar, wenn er sich mal nicht so gut fühlt und im Bett bleiben muss.“ Er senkte den Blick nachdenklich auf seine Kaffeetasse. Rogue nippte an seinem Getränk; es war heiß und bitter, wie er es am liebsten mochte. „Frosch hat auch nicht viele Freunde.“, gab er dann zu und zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. „Wenn die beiden sich gut verstehen, können wir das bestimmt wiederholen.“ Sofort hellte sich Stings Gesicht auf. „Das wäre phantastisch!“ Das Gespräch wanderte über ein paar weitere unverfängliche Themen, bis die Tassen endlich leer waren. Es lief erstaunlich leicht und hatte einen beinahe vertrauten Fluss, wie Rogue es noch nie erlebt hatte. Eigentlich war er selbst auch reserviert und zugeknöpft, wenn er mit Fremden sprach. Aber Sting hatte eine so ungezwungene Art, dass er ihn einfach mit sich riss. Rogue ertappte sich dabei zu wünschen, solche Gespräche zu wiederholen und etwas Tieferes daraus werden zu lassen. Wie Frosch hatte er ebenfalls nicht viele Freunde, weil er sich nur so schwer auf Menschen einlassen konnte. Aber Sting war … besonders. Schließlich sprang der Blonde auf. „Komm, lass uns mal nach den Kindern sehen. Minerva wird zwar verhindern, dass etwas passiert, aber man kann ja nie wissen.“ Er stieß die Tür zum Wintergarten auf und winkte seinen Gast hindurch. Rogue folgte ihm etwas zögerlicher in den hellen Raum hinüber. Zur Hälfte war er mit Pflanzen vollgestellt, die alle etwas unordentlich durcheinander wirkten. Selbst auf dem kleinen Metalltisch und den beiden Stühlen standen Blumentöpfe, die vermutlich hier überwintert hatten. Offensichtlich war noch niemand dazu gekommen, sich darum zu kümmern. Oder es war einfach noch zu früh im Jahr, damit kannte er sich nicht aus. Die andere Hälfte des Wintergartens war zum Arbeitsplatz eines Künstlers umfunktioniert worden. Zwei Schreibtische standen vor den deckenhohen Fenstern, einer mit einem Computer, über den im Moment jedoch Fotographien flimmerten. An einer großen Pinnwand daneben waren lauter Konzept- und Referenzbilder geheftet. Rechts davon war eine Staffelei aufgestellt worden, komplett mit einem überlebensgroßen Kohlebild von … Fienchen? Daran lehnte ein Block, auf dem sich eine Frau und ein Mann in historischer Kleidung in hingebungsvoller Leidenschaft umarmten, sehr typisch im Stil von Bodice Ripper-Büchern. An der Wand stand ein Regal, das mit Büchern vollgestopft war, die offensichtlich nie geöffnet wurden. Davor befand sich ein großes Hundebett, doch der Bewohner war im Moment nicht zu sehen. Sting bemerkte Rogues verwirrten Blick und grinste verlegen. „Ich arbeite mit einem Verlag zusammen und gestalte diverse Titelbilder.“ Er machte eine Bewegung auf das Regal. „Und Yukino Aguria ist eine alte Freundin von mir. Als sie mit ihrem Buch anfing, kam sie zu mir für ein paar Illustrationen.“ „Frosch liebt die Reihe.“, gab Rogue zu. „Das sind ihre Lieblingsbücher.“ Sting grinste halb verlegen, halb stolz, seine Wangen leicht rot, und fuhr sich durch die Haare. „Komm. Da sind sie.“, lenkte er von dem Thema ab und deutete in den Garten hinaus. Er setzte sich schon in Bewegung und marschierte schon auf die Tür nach draußen zu. Rogue folgte ihm automatisch, während er den Blick durch den kunstvoll hergerichteten Garten schweifen ließ, ehe er auf dem Kaninchenauslauf zu ruhen kam. Direkt unterhalb der Terrasse war ein großes Stück des Gartens mit einem engmaschigen Zaun abgetrennt worden, es gab sogar ein Gitterdach. Vor der Hecke erhob sich ein zweistöckiger Stall und diverse Äste, eine Kiste mit Sand und kleinere Häuschen waren im Gehege verteilt worden. Minerva stand neben der niedrigen Tür und tippte auf ihrem Handy herum, warf aber hin und wieder einen Blick zu den Kindern hinüber. Sie wirkte so zufrieden, wie Rogue sie noch nie zuvor gesehen hatte, selbst nicht bei einem Durchbruch in ihrem Projekt. Lector stand mit einem Kaninchen im Arm neben dem Stall und streichelte es langsam. Er wirkte noch blasser als vorher, aber auch noch glücklicher. Frosch saß auf einem kleinen Felsbrocken und verfütterte Karotten, Salat und anderes Grünzeug aus einer Schüssel an eine kleine Gruppe von Kaninchen, die sich um sie versammelt hatten. Ihr Lächeln war so breit, dass es ihr Gesicht zu sprengen drohte und sie wirkte so glücklich, wie er sie schon seit Weihnachten nicht mehr gesehen hatte. Ach was, vorher schon. Als wäre sie jetzt im Himmel. Sie schien unermüdlich zu reden, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Lector bemerkte die beiden Zuschauer zuerst, als Sting die Terrassentür öffnete und hinaustrat. Er winkte ihnen zu, was Frosch zum Aufblicken brachte. Als sie sie sah, riss sie die Arme zu einem Winken hoch, was die Hälfte des Schüsselinhalts über das Gras verteilte. Die Kaninchen hoppelten sofort davon, um sich darüber herzumachen, während Frosch rief: „Papa, schau, lauter Häschen! Und sie lieben Fro alle! Fro ist so glücklich!“ [August | Sommer, Meer und Regen] and of course I forgive --------------------------------------------------------- „Ich wollte doch nur wissen, wie es dir geht.“, versuchte Yukino es erneut. Ihr Griff um den Telefonhörer war so fest, dass die Knöchel weiß hervorstachen, und sie merkte selbst, wie kleinlaut ihre Stimme klang. Flehend beinahe und dünn wie ein Blatt Papier. Sie war nicht erstaunt, dass ihre erste Frage so komplett ins Leere gelaufen und ihr eine geradezu bösartige Antwort eingebracht hatte. Seit Sorano wieder Zuhause war, war es so schwierig mit ihr und Yukino fragte sich, was sie falsch gemacht hatte und was sie in Zukunft ändern konnte. Auch jetzt lachte ihre Schwester ihr gehässig ins Ohr. Es war nicht der gutmütige Tonfall, den Sting anschlug, wenn er über sie lachte, weil sie wieder einmal was Dummes getan hatte. Nein, Sorano lachte sie aus und Yukino zuckte zusammen wie unter einem Schlag. „Wenn du dich nicht einfach so verpisst hättest, wüsstest du es. Ich brauche übrigens deine Aufsicht nicht, es reicht, dass unsere hochverehrten Eltern mir bei jedem Handgriff auf die Finger sehen.“ Yukino schoss das Blut ins Gesicht. „Da-darum ge-geht e-es doch gar nicht!“, versuchte sie klarzustellen. Sie wollte wirklich nur wissen, wie es bei Sorano so lief. Die letzten Wochen waren schwer für sie gewesen und sie es hatte alle um sie herum spüren lassen. „Ich ma-mache mir nur Sorgen um dich!“ Sie schloss die Augen; warum stotterte sie bei solchen Gelegenheiten immer? Kein Wunder, dass sie früher immer so gehänselt worden war. „Ich mamamache mimimir nununur Sososorgen.“, stammelte Sorano übertrieben und Yukino zog beschämt den Kopf zwischen die Schultern. Sie wusste ja, dass das ein Problem war! Sie versuchte auch, etwas dagegen zu tun, aber so einfach war das eben nicht. Aber Sorano war noch nicht fertig: „Vielleicht solltest du dich erstmal um dieses ätzende Gestammel kümmern, ehe du anderen Leuten irgendwas vorbetest. Kannst du nicht reden wie jeder normale Mensch auch?“ Yukino holte tief Luft, den Blick starr auf die Fenster gerichtet, gegen die der Regen prasselte. Dahinter breitete sich die große Veranda aus, die sich auf Stelzen über dem Strand erhob. Eine Düne erhob sich genau davor, auf der dürre Gräser wuchsen, und versperrte den Blick auf den Rest des Strandes, zumindest von Yukinos Sitzplatz aus. Noch weiter entfernt war das Meer zu sehen, eine sturmgepeitschte Masse, grau in grau. An normalen Tagen hatte man von hier einen hervorragenden Blick über die weite Wasseroberfläche bis hinter zum Horizont. Er wurde nur durch die Insel gestört, die sich etwas zur rechten Seite befanden. Doch im Moment war der Himmel von tiefhängenden Wolken bedeckt, Regen kam in Strömen herunter, als würde jemand volle Eimer Wasser auskippen, und es war kaum zu erkennen, wo der Himmel aufhörte und der Ozean begann. Eigentlich hatte Yukino auf besseres Wetter gehofft, als sie hergekommen war, aber anscheinend war das Schicksal Soranos Meinung, dass sie das nicht verdient hatte. Sie seufzte und konzentrierte sich wieder auf ihre Schwester. Was sollte sie darauf sagen? Sie hatte dieses Sprechproblem schon immer gehabt und Sorano war früher die Erste gewesen, die sie verteidigt hatte. Darum tat der Spott diesbezüglich aus ihrem Mund jetzt umso mehr weh. Was hatte sich zwischen ihnen noch alles verändert? „Was, hast du das Sprechen jetzt komplett verlernt?“, stichelte Sorano weiter und Yukino zuckte zusammen. „Oder bin ich dir plötzlich nicht mehr gut genug? Ich meine, wer einfach so die Taschen packen und in ein schönes, altes Strandhaus am Stellar Beach verschwinden kann, ist sicher zu gut für armseliges Fußvolk wie uns, oder nicht?“ „D-du wei-weißt genau, dass Mama und Papa mir ge-gesagt haben, da-da-“ „Dadada, was?“, unterbrach Sorano sie grob. „Wenn du nicht mal den Mund aufkriegst, muss ich dir auch nicht zuhören.“ Yukino holte tief Luft und blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten, die in ihre Augen stiegen. In ihrer Kehle saß auf einmal ein dicker Kloß, der sie kaum atmen ließ. Es tat fürchterlich weh, am falschen Ende von Soranos spitzer Zunge zu stehen, noch viel mehr als bei allen anderen. Früher einmal war Sorano ihre geliebte, viel bewunderte Schwester gewesen, ihre beste Freundin, die, die sie stets beschützt hatte. Niemals hätte sie zugelassen, dass so jemand mit ihr sprach, ohne mit Prügeln zu drohen, und jetzt tat sie es selbst. Was war nur mit ihnen geschehen? Als Sting mit dem Angebot gekommen war, dass sie ihn begleiten konnte – er hütete während der Ferien öfter das Sommerhaus seines sehr reichen Onkels – hatte Yukino nur zögerlich darauf reagiert. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie mit Freuden zugestimmt; ein paar Wochen Sommer, Sonne und Meer in einer der schönsten Gegenden Fiores und auch noch für beinahe lau? Was konnte da schon schiefgehen? Doch weil ihre Schwester gerade solche Probleme hatte und Yukino ihr unbedingt helfen wollte, hatte sie gezögert. Auch wenn Sorano von Anfang an deutlich gemacht hatte, dass sie keine Hilfe wollte und sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte… Es war der Einfluss ihrer Eltern gewesen, die ihre jüngere Tochter entschieden dazu gedrängt hatten, herzukommen, der sie endlich hatte nachgeben lassen. Yukino bräuchte eine Auszeit, hatten sie gesagt, sie müsste sich auf sich und ihr eigenes Leben konzentrieren, ihre Hausarbeiten in Ruhe schreiben und Abstand gewinnen. Sorano hatte… nicht sehr positiv darauf reagiert. Auch jetzt, über eine Woche nach Yukinos Abreise, ließ sie ihre Schwester ihr Missfallen darüber spüren. Und jetzt machte ihnen auch noch das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Während Zeit, die sie schon hier waren, hatten sie gerade mal zwei Tage Sonne gehabt, der Rest war regnerisch, bewölkt und kalt gewesen mit einem scharfen Wind vom Meer aus kommend. Jetzt war daraus ein ausgewachsener Sturm geworden, der die Wellen hochpeitschte. „Eigentlich kann ich dich schon verstehen.“, erklärte Sorano plötzlich und in Yukino flammte plötzliche Hoffnung auf. Hatte Sorano bemerkt, wie sehr ihr Verhalten ihre kleine Schwester verletzt hatte? Würde sie einlenken, ihr gegenüber zumindest und sie wieder an sich heranlassen? Würde sie ihr verzeihen? Ihre Stimme war gedankenverloren, als sie fortfuhr: „Ich meine, wenn ich einfach so abhauen und alles hinter mir, meine eigene Schwester mit ihren Problemen allein sitzen lassen und mich sorglos entspannen könnte, würde ich das auch tun. Ein schönes Leben in einem Strandhaus, das würde mir auch gefallen. Aber nicht jeder kann einfach seine Taschen packen und abhauen.“ Doch der flapsig-lapidare Tonfall mit dem scharfen Unterton, den Sorano anschlug, zeigte deutlich, was sie davon hielt: nichts. Yukino spürte, wie alle ihre Hoffnungen und Wünsche wieder in sich zusammenfielen. Ihr war zum Heulen zumute. Gar nichts hatte Sorano ihr verziehen und jetzt schossen die Tränen tatsächlich in Yukinos Augen. Diesmal konnte sie sie nicht ganz zurückhalten. „D-du weißt genau, dass es nicht so ist!“, versuchte sie sich zu wehren, aber ihre Stimme klang schwach und leise. Dabei war es die Wahrheit. Es war nicht so, wie Sorano gesagt hatte. Absolut nicht! Sie wäre geblieben, wenn ihre Schwester sie tatsächlich gebraucht hätte, wenn sie etwas anderes getan hätte, als sie nur von sich zu stoßen. Yukino hatte geglaubt, etwas Abstand würde ihnen vielleicht guttun, Sorano konnte sich beruhigen, sie selbst sich auf ihre Hausarbeit konzentrieren, um die sie sich jetzt wirklich kümmern musste. Aber anscheinend war das Gegenteil der Fall. „Ach ja, weiß ich das?“, höhnte Sorano. „Du bist abgehauen, kaum als dein… Kumpel mit seinem knackigen Hintern gewackelt hat. Hast du ihn schon rangelassen oder zierst du dich noch?“ Die anzügliche Betonung ihrer Worte sagte genau, worauf sie anspielte, und Yukino wurde das Blut ins Gesicht getrieben. Es ging zwischen ihr und Sting doch nicht darum! Im Gegenteil, sie waren Freunde und nicht mehr als das! Sie wollten auch gar nicht mehr als das! Für Yukino war diese reine Freundschaft ohne Hintergedanken wertvoller als jede romantische Beziehung. Wütend wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Woher nahm Sorano das Recht, so über sie und Sting und ihre kostbare Freundschaft zu sprechen?! „S-so ist das ni-nicht.“, versuchte sie ihrer Schwester klar zu machen. „Sti-Sting ist mei-mein bester Freund und nicht mehr als das.“ „Ja, klar, und das soll ich dir jetzt glauben?“, fragte Sorano höhnisch. „Muss ich dich auch noch hierbei an die Hand nehmen? Ich hätte geglaubt, du wärest ein wenig selbstständiger geworden während der letzten Jahre, aber anscheinend hängst du mir noch immer am Rockzipfel wie ein kleines Kind. Jetzt lass dich schon von ihm durchvögeln, vielleicht zieht dir das den Stock aus dem Arsch.“ Yukino biss sich auf die Unterlippe, um ihrer Schwester nicht eine scharfe Antwort zu geben, und holte tief Luft. „Sting ist mein bester Freund.“, wiederholte sie fest und bemerkte erfreut, dass ihre Stimme nicht zitterte oder stockte. „Wie du meinst.“ Sie konnte beinahe sehen, wie Sorano nachlässig die Schultern zuckte und ihr offensichtlich nicht glaubte. „Komm aber nachher nicht heulend zu mir, wenn sich das als Illusion herausstellt. Ich hab ehrlich genug davon, ständig dein Gejammer anhören zu müssen. Mach das ohne mich und deine Sorgen kannst du dir auch sonst wohin stecken.“ Dann ertönte ein Klicken, das zeigte, dass sie aufgelegt hatte. Einfach so, ohne Vorwarnung, nicht einmal einen Abschiedsgruß! „Ich…“, sagte Yukino und seufzte, ehe sie ein „Bis bald…“ hinzufügte, das sowieso niemand mehr hörte. Traurig starrte sie das Telefon an und drehte sich dann auf ihrem Barhocker herum, um es auf dem Marmortresen abzulegen, der die Küche vom Wohnraum trennte. Sie stützte das Gesicht in die Hände und holte tief und zitternd Luft. Sie wollte jetzt nicht weinen. Auf keinen Fall! Aber Soranos Worte hatten ihr weh getan, wie Stiche direkt ins Herz und sie wusste nicht, was sie dagegen tun konnte. Wo war es schiefgegangen? Wann hatten sie sich so auseinandergelebt? Was hatte diesen Keil zwischen sie getrieben? Yukino hatte keine Ahnung – früher, vor Jahren, ehe Sorano einfach verschwunden war, waren sie ein Herz und eine Seele gewesen. Sorano hatte immer auf sie aufgepasst, hatte ihr geholfen und sie beschützt. Durch das Verschwinden ihrer geliebten und bewunderten großen Schwester vor ein paar Jahren war sie aus allen Wolken gefallen und sie war untröstlich gewesen. Nicht nur, dass Sorano ihre Freundin gewesen war, sie war ihre einzige Freundin gewesen. Und jetzt stand sie vor einem Scherbenhaufen und versuchte ihre Beziehung zu kitten, sie wieder näher zusammenzubringen und noch irgendetwas zu retten. Nur, dass Sorano das anscheinend nicht wollte… Stets hatte sie das Gefühl, dass sie viel zu spät dran war, dass sie einem längst vergangenen Traum hinterherjagte, der ihr wie feiner Sand durch die Finger glitt. Was war nur geschehen? Und was noch viel wichtiger war: wie konnte sie alles wieder ins rechte Lot rücken? ~~*~~☁~~*~~ Das Messer glitt durch das weiche Fleisch des Pfirsichs wie durch weiche Butter. Sorgsam zerteilte Sting die Frucht zwei Hälften, um den Kern herauszuklauben, ehe er sie in kleinere Stücke schnitt. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er von seiner Aufgabe aufblickte und einen Blick ins Wohnzimmer warf. Dort saß Yukino auf dem Sofa, umgeben von den Büchern, die sie für ihre Hausarbeit brauchte, jeder Menge Papier für Notizen und Stifte aller Arten und Farben. Ihr Laptop stand vor ihr auf dem Wohnzimmertisch, der typisch für reiche Leute war, ein geschliffener, zugesägter Baumstumpf mit einer passend gefertigten Glasplatte darüber. Der Bildschirm des Geräts war längst wieder schwarz und auch das Buch, das sie im Moment auf den angezogenen Beinen liegen hatte, war schon seit mindestens einer Viertelstunde nicht mehr umgeblättert worden. Dies war das erste Mal, dass Sting vor ihr mit seinen Hausarbeiten fertig war, was ihn eigentlich freuen sollte. Aber er wusste um den Grund dahinter, weswegen der Triumph nicht so recht aufkam. Seit sie am letzten Tag Sorano angerufen hatte, war sie noch niedergeschlagener als vorher. Das Wetter drückte ihr sowieso schon die ganze Zeit aufs Gemüt, das von vorn herein nicht sonderlich heiter gewesen war – ganz anders, als er es von ihr gewohnt war. Eigentlich war sie so ein positiver, optimistischer Mensch, der niemals die Hoffnung aufgab. Warum hatte ihre Schwester eine so große Macht über sie? Der erste Plan, sie wieder etwas aufzumuntern, war wortwörlich ins Wasser gefallen, denn bei diesem Regen und den eher frischen Temperaturen konnte man nicht unbeschwert im Meer herumtollen. Und das, obwohl sie hier einen echten Privatstrand zur Verfügung hatten! Dabei hatte er gesehen, wie Yukino sich auf die Zeit am Meer gefreut hatte. Auf der Zugfahrt hierher war sie ganz aufgeregt gewesen und jetzt das! Aber er hatte schon das rechte Mittel, um sie wieder auf andere Gedanken zu bringen. Und damit meiner er jetzt nicht diesen dummen Pfirsich! Den Teller mit der geschnittenen Frucht aufnehmend ging er um den Tresen herum und die zwei Stufen zum Wohnbereich hinunter. Das Ferienhaus seines Onkels, erstaunlich klein für seine Verhältnisse und hatte von außen noch den typsichen Strandhauslook aus dunkelblau gestrichenem Holz, mit kontrastrierenden weißen Fensterrahmen. Innen jedoch war es jedoch erst vor kurzem modern und zeitgemäß umgebaut worden und dabei hatte sein Onkel sich echt nicht lumpen lassen. Das Erdgeschoss war beinahe nur ein großer Raum, der sich offen und freundlich präsentierte, mit großen Fenstern, die Licht hindurchließen. Im ersten Stock befand sich eine Galerie, die ihn nur zum Teil überspannte und durch die er noch geräumiger wirkte. So ein Ferienhaus hätte Sting sich normalerweise nie für einen Urlaub leisten können. Aber hier musste er nur ein paar Blumen gießen, die Post aus dem Briefkasten holen und dafür sorgen, dass hin und wieder jemand anwesend war, um Einbrecher abzuschrecken. Er musste nicht mal putzen und sein Onkel hatte sogar Geld für Essen dagelassen. Manchmal hatte es doch etwas für sich, stinkreiche Verwandte zu haben. Dass er dieses Jahr auch noch Yukino hatte mitbringen dürfen, war nur noch ein weiterer Bonus. „So, ich habe nachgedacht.“, begann er, als er den Teller vor ihr auf den Tisch stellte. Sie zuckte zusammen und blickte zu ihm auf. „Wa-Was?“, wollte sie wissen, dann lächelte sie halbherzig. „Du, nachdenken? Seit wann das?“ Selbst das klang eher zaghaft, obwohl sie inzwischen gelernt hatte, dass er durch ein paar kleine Neckereien nicht ihr allergrößer Feind wurde, im Gegenteil. Also verzog er gespielt verletzt eine Schnute und ließ sich neben ihr mit Schwung auf das Sofa fallen, was sie beinahe von dem Möbelstück beförderte. „Irgendwer muss das doch übernehmen, seit du Trübsal bläst!“, verteidigte er sich und ging gleich zum Thema über, in dem er einen zusammengefalteten Flyer aus seiner Hosentasche zog. „Hier, lass uns da hingehen. Ich weiß, es regnet noch, aber das heißt nur, dass weniger los ist.“ „Deinen Optimismus möchte ich haben.“ Yukino fing die Broschüre auf und faltete sie neugierig auseinander. „Willkommen zum Saber Festival.“, las sie die Überschrift vor und dann die kleiner gedruckten Buchstaben darunter: „Traditionelles Handwerk, zeitgenössische Kunst und kulinarische Genüsse! Besuchen, genießen und einfach mal die Seele baumeln lassen!“ „Na, klingt doch gut?“, wollte er wissen. „Wie wäre es mit morgen? Da soll das Wetter wieder etwas aufklaren.“ Yukino liebte solche Orte, das würde ihr trotz allem gefallen! Natürlich hatte er keine Hintergedanken dabei, nein, gar keine… Es war nicht so, als ob das seine Chance wäre, eine bestimmte Person zu sehen und- Er brach den Gedanken abrupt ab. Ja, er hatte vielleicht noch einen zweiten Grund, aber Yukino liebte solche Märkte tatsächlich und um sie ging es hier in erster Linie. Das würde sie auf andere Gedanken bringen. „Also, ich weiß nicht…“, begann sie jedoch zögerlich. „Ich hab hier noch so viel mit der Hausarbeit zu tun. Und ich weiß nicht, aber ich sollte vielleicht wieder zurückfahren. Dort komme ich sicher schneller voran und-“ „Du kürzt unseren Urlaub?“, entschlüpfte es Sting überrascht – und nicht sehr begeistert. Er hatte sich ehrlich darauf gefreut, die kommende Zeit mit ihr zu verbringen. Doch es ging ihm nicht nur um den Urlaub, der sowieso verregnet war. Es ging ihm eher darum, dass Yukino noch eine Weile hierblieb, weg von ihrer Schwester, die so offensichtlich Gift für sie war und sie nur noch weiter in das Loch hineinzog, in dem sie sich selbst befand. Manchmal kam es ihm so vor, als würde Sorano einen perversen Spaß daran haben, wenn alle um sie herum sich ebenfalls so elendig fühlten, wie sie selbst es gerade tat. Und wenn sie dafür nachhelfen musste, dann tat sie es halt, mit Freuden sogar. Wie ein schwarzes Loch, das alle positiven Gefühle einsaugte. Und dabei hatte Yukinos Laune sich während der letzten Tage wieder gebessert, sie hatte mehr wie die alte Yukino geklungen, optimistisch, gutherzig und stets freundlich zu allen. Natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie beschlossen hatte, Sorano anzurufen um sie zu fragen, wie es ihr ging. Seitdem war sie wieder still und in sich gekehrt, eine Yukino, die Sting nur vom Anfang ihrer Freundschaft kannte. „Und du lässt mich hier alleine sitzen? In dem Regen? Was soll ich nur ohne dich tun?!“ Dramatisch warf er die Arme hoch und ließ sich in die Kissen sinken. Aber tatsächlich war es nur zum Teil gespielt. Ohne Yukino würde dieser Urlaub sehr langweilig werden… „Du kommst schon ohne mich klar.“, wiegelte Yukino ab und ihr Unterton war so bitter, dass er erstaunt aufblickte. „Ich bin im Moment keine gute Gesellschaft, glaube ich. Ich würde dir nur zur Last fallen.“ „Du fällst mir nicht zur Last.“, widersprach er automatisch und runzelte die Stirn, während er sich wieder gerade aufrichtete. Wo kam das jetzt her? Es erinnerte ihn an das schüchterne Mädchen, das er vor Jahren angefreundet hatte: jemand, der nicht glauben konnte, dass andere Leute ihn um seiner selbst willen mögen könnten, der stets dachte, er wäre eine Bürde für alle, und der annahm, andere würden ihn lieber nicht dabei haben wollen. „Du bist meine beste Freundin, hör auf, solchen Blödsinn zu reden!“ Yukino schenkte ihm nur ein trauriges Lächeln und er suchte verzweifelt nach etwas, das er sagen konnte, um ihre Selbstzweifel zu vertreiben. Verdammt, warum war er nur so schlecht darin, in so einer Situation die richtigen Worte zu finden? Und was zum Teufel hatte Sorano gesagt, um sie wieder in diese Denkweise und ihr Schneckenhaus zurückzutreiben? Sting hatte über zwei Jahre gebraucht um Yukino zu zeigen, dass es ihm tatsächlich nur um sie ging, um Yukino, das liebenswerte, zurückhaltende, gutherzige Mädchen, das aber auch mal Feuer im Hintern hatte und das immer wusste, was wirklich wichtig war. Er konnte nicht einmal genau sagen, was an ihr ihn dazu veranlasst hatte, sie an diesem ersten Schultag anzusprechen, denn sie waren so grundverschieden. Aber irgendetwas hatte daraus eine tiefe Freundschaft wachsen lassen. Und Sorano würde ihnen das nicht wegnehmen! Er zuckte zusammen, als es klingelte. Sich aufrappelnd drückte er ihr erneut den Flyer in die Hand. „Les das nochmal durch und denk darüber nach, ehe du irgendwelche Entscheidungen triffst, okay?“ Zu Beginn des Flurs, der nur durch eine in den Raum ragenden Wand angedeutet war, hielt er noch einmal inne und drehte sich zu ihr um. „Und bitte geh nicht nach Hause.“ Ein wenig ärgerlich über die Unterbrechung marschierte er zur Tür. Wenn das jetzt diese alte Hexe von Nachbarin war, die sich immer über nichtige Kleinigkeiten aufregte, nur um ihn zu ärgern, würde sie etwas zu hören bekommen! Aber als er die Tür aufriss, blickte er in das grinsende Gesicht von Natsu, dessen rosafarbene Haare unter der zugezogenen Kapuze seiner Regenjacke herausschauten. Dazu trug er Regenhose und ein paar Gummistiefel, die mit Schlamm verschmiert waren. „Hi, Sting! Wusste ich’s doch, dass du wieder da bist!“ „Hi, Natsu…“, war die eher lahme Antwort. Eigentlich hätte er mit Natsu rechnen sollen, der sich einmal im Monat um den Garten des Anwesens kümmerte. Er arbeitete bei der Landschaftsbaufirma seines Vaters, die schon seit Jahren mit dieser Aufgabe betraut war. Jetzt runzelte er die Stirn, als er Stings eher düsteren Gesichtsausdruck bemerkte. „Was ist passiert?“ „Nichts…“, wehrte Sting ab, obwohl das nicht ganz stimmte. Aber er konnte ja kaum Yukinos schmutzige Wäsche vor jemandem ausbreiten, den sie gar nicht kannte. Stattdessen öffnete er einladend die Tür. „Komm doch erstmal rein oder hast du es eilig? Ich mach dir einen Kaffee, wenn du willst. Lass die nassen Sachen einfach hier.“ „Aber klar doch!“, stimmte Natsu sofort zu und grinste breiter, was auch Sting zum Lächeln brachte. Natsus gute Laune war ansteckend wie immer. „Ich bin extra früher gekommen! Du machst einfach den besten Kaffee der Welt, nicht mal im Green Sunday kriegen sie das so gut hin.“ Er begann, sich aus seiner Regenjacke zu schälen, unter der ein einfaches Hemd zum Vorschein kam. Sting grinste und machte sich auf den Weg in die Küche. „Ich weiß halt, was ich tue.“ Während er die teure Kaffeemaschine anwarf, ein wahres Monster, das man auch in kleineren Cafés finden konnte, kämpfte Natsu sich aus seiner wetterbedingten Verkleidung. Yukino hatte ihren weißhaarigen Kopf wieder über ihre Bücher gebeugt und schien entschlossen, alles um sich herum zu ignorieren. Besorgt warf Sting ihr einen Blick zu. Sie war zwar nicht kontaktfreudigste Mensch der Welt, aber sie war niemals unhöflich oder gar unfreundlich. „Huh, Besuch?“, fragte Natsu verdutzt, als er strumpfsockig hereinkam. Seine Jeans hatte ein paar nasse Flecken, aber er schien weitgehend trocken geblieben zu sein. Dafür standen seine Haare an manchen Stellen wild in alle Richtungen ab, an anderen waren sie noch von der Kapuze plattgedrückt. „Das ist meine beste Freundin, Yukino.“, stellte Sting vor und zog die Brauen zusammen. Jetzt kam sich nicht mehr umhin sich umzudrehen und sie schenkte dem unerwarteten Besucher ein schüchternes Lächeln. „Ha-hallo.“ Natsu störte sich nicht an dem Stocken ihrer Stimme, sondern grinste breit. „Hi! Ich bin Natsu; ich kümmere mich hier um den Garten.“ „Oh!“, machte Yukino und warf einen zweifelnden Blick durch die Fenster auf die Terrasse, wo der Regen noch immer in Strömen herunterkam. Wenigstens hatte der Wind seit gestern nachgelassen. „Da-das kann je-jetzt nicht sehr angenehm sein.“, brachte sie heraus und klang viel leutseliger als vorher. Sting zog eine Augenbraue hoch, nicht unbedingt unzufrieden mit dem Verlauf der Dinge, und stellte drei bauchige Tassen auf den Tresen. Natsu hatte eine Art an sich, die auch die schlimmste Laune heben konnte. Mit geübten Bewegungen füllte er eine kleine Kanne mit Milch, um sie vorzubereiten, ohne den Blick von den beiden zu wenden. Natsu stützte sich auf die Lehne des Sofas und folgte ihrem Blick zu der grauen Wand aus Regen. „Wenn Sonne scheint macht das mehr Spaß, stimmt schon, aber man braucht nur die richtigen Kleider. Und es wird auch wieder aufhören zu regnen, du wirst schon sehen.“ „Na, ho-hoffentlich bald. Wir wollten hier eigentlich Urlaub machen.“, stimmte Yukino zu und zog die Beine an. „Der ist arg ins Wasser gefallen, was? Eigentlich ist es echt schön hier.“ Dann stutzte er und sein Gesicht hellte sich auf. „Hey, geht ihr auch zum Saber Festival? Wir haben einen Stand da, kommt doch mal vorbei.“ „A-ach, i-ich weiß noch nicht…“ Yukino zögerte und spielte nervös mit ihrem Stift. „Ich wollte eigentlich bald heimfahren…“ Sting verzog das Gesicht. Da hatte sie sich ernsthaft in den Kopf gesetzt, wieder abzuhauen, ansonsten hätte sie das jetzt wohl kaum gesagt. Wie zum Teufel sollte er sie nur davon abhalten? Er konnte sie ja nicht anbinden. „Du willst echt von hier weggehen, ohne beim Saber Festival gewesen zu sein? Unerhört! Du Kunstbanausin!“, fuhr Natsu auf und Yukino warf ihm einen überrascht-ängstlichen Blick zu und zog den Kopf ein. Natsu streckte ihr die Zunge heraus und zwinkerte ihr zu, was Yukino sich leicht rot färben ließ. „I-ich…“, begann sie, aber verstummte dann verwirrt. „Nein, ehrlich, wenn du noch einen Tag länger bleiben kannst, dann tu das, es lohnt sich. Selbst bei dem Mistwetter.“, versicherte er ihr. „Dort gibt es wahnsinnig viel zu sehen. Ich bin auch da!“ Sting grinste. Natsu hatte wirklich eine seltsame Art zu flirten, aber es schien bei ihr anzukommen. Oder vielleicht war es auch die Aufmerksamkeit eines gut aussehenden jungen Mannes, die sie so durcheinander brachte. „Sting, sag ihr, dass sie hingehen muss.“, warf Natsu über die Schulter zurück. „Yukino, du musst hingehen.“, stimmte Sting sofort zu. „Siehst du?“, grinste Natsu sie an. „Jeder hier sagt das. Wir haben nur dein Bestes im Sinn!“ Die Farbe auf Yukinos Gesicht verdunkelte sich. „O-okay, vielleicht…“ Vom Weitem sah es aus, als wollte sie ihren Stift zerbrechen, so sehr drehte sie daran herum. Sting überlegte, wie er sie irgendwie unauffällig darauf aufmerksam machen konnte, aber es war relativ unwahrscheinlich, dass Natsu das überhaupt bemerkte. „Gut, ich sehe dich dann morgen!“ Natsu schenkte ihr noch sein breitestes Grinsen, das Sting seinerzeit auch aus der Bahn geworfen hatte – traurigerweise war Natsu völlig hetero – und Yukinos Gesicht fast zum Explodieren brachte, so rot färbte es sich. Dann wandte er sich um und marschierte zum Tresen, wo er sich auf einen der Barstühle zog. Yukinos Kopf senkte sich hastig wieder über ihr Buch zurück, aber Sting wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, dass sie in diesem Moment kein Wort entziffern konnte. „Wie kommt es, das ausgerechnet du immer die hübschesten und süßesten Mädchen abkriegst?“, wollte Natsu vorlaut wissen, ohne sich die Mühe zu machen, leise zu sprechen. „Das ist mein natürlicher Charme. Und Lucy ist meine Cousine…“, erinnerte Sting und griff nach der ersten vollen Tasse, um den Cappuccino mit Milch anzureichern. Aus lauter Gewohnheit malte er eine Blume aus Milchschaum auf die Oberfläche. Solches extravagante Zeug lernte man eben, wenn man in dem spießigsten Spießercafé der Hauptstadt arbeitete. Über Natsus Schulter hinweg konnte er sehen, wie Yukinos Ohren auf die Bemerkung hin auch noch rot wurden, und grinste. „Oh, ja.“ Mit der Hand fuhr Natsu sich durch die Haare, was seine Frisur noch wilder machte. „Das hab ich fast vergessen.“ Seine Augen leuchteten auf und er griff nach der Tasse, als Sting sie ihm reichte. Mit einem genüsslichen Schlürfen nahm er einen Schluck. „Ich sollte öfter hier vorbeikommen.“ „Wenn du willst, gebe ich dir die Adresse des Cafés, in dem ich arbeite.“, antwortete Sting trocken, aber Natsu winkte ab. „Erstens ist das in Crocus und zweitens hast du mir erzählt, was ich da für einen Cappuccino hinblättern muss und ich habe doch keinen Geldscheißer.“ Sting grinste und stellte schließlich die dritte Tasse auf dem Tresen ab. „Hey, Yukino, ich hab dir auch eine Tasse gemacht.“ Er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, als sie ihn ansah; eigentlich hatte sie ja gar nicht danach gefragt. Ihr fragender Blick verwandelte sich in einen entsetzten, die Augen weit aufgerissen, und sie schüttelte heftig den Kopf, während sie immer wieder zu Natsu schielte. Die würde es glatt hinkriegen, sich zu verweigern, obwohl sie so eine Gelegenheit am Schopf greifen musste! Musste er wirklich hinübergehen und ihr erklären, dass Natsu vielleicht keine großartigen Komplimente machte, aber sein Interesse an ihr war echt und vorhanden war? Und das, obwohl sie sich gerade mal fünf Minuten unterhalten hatten… Aber das wäre zu auffällig, also griff er kurzentschlossen nach der Dose, in der sie die großen Chocolate Chip Cookies aufbewahrten, nach denen Yukino regelrecht süchtig war. „Hier sind noch Kekse da. Du darfst sie nicht alle alleine essen, Natsu.“ Der grinste ihn an und griff natürlich sofort danach. Er biss schon hinein, noch ehe Yukino überhaupt aufgestanden war. Sting angelte sich seinen eigenen Keks und winkte ihr damit zu. Sie warf ihm einen finsteren Blick zu, genau wissend, was er da trieb, stand aber endlich auf. „A-also gut… Aber nur auf eine Tasse, ich muss das heute wirklich noch fertigkriegen.“ ~~*~~☁~~*~~ Das Saber Festival war… groß. Über die Jahre hinweg hatte es sich einen Namen gemacht und Aussteller und Besucher kamen aus allen Ecken der Welt. Begonnen hatte es auf einem eher kleinen Platz, dem Saber Plaza, von dem es auch seinen Namen hatte. Doch inzwischen hatte es sich über die gesamte Fußgängerzone ausgebreitet, die ansässigen Geschäfte stimmten ihre Schaufenster darauf ab und die ganze Stadt nahm auf die eine oder andere Weise teil. Es wurde viermal im Jahr abgehalten, jeweils auf die entsprechenden Jahreszeiten abgestimmt. Irgendwie hatte das Festival es geschafft, sich trotz der Bekanntheit und der unabdingbaren kommerziellen Massenprodukt-Buden seinen natürlichen, unverdorbenen Charme zu bewahren. Sting kannte es inzwischen gut genug um zu wissen, wo in etwa er was finden würde, aber er kam jedes Mal immer wieder gern her. Und was man alles hier finden konnte – von traditionell hergestellten, handgefertigten Dingen wie Beautyprodukten, Schmuck oder Keramik über einen kleinen Bauernmarkt mit allerlei Angeboten bis hin zu langen Reihen voller Ständen, denen der Name ‚Essensbude‘ nicht gerecht wurde. Überall waren Straßenkünstler verteilt, Zauberer, Jongleure und andere Artisten, Musiker und Zeichner, die Skizzen oder Karikaturen anfertigten. Dazwischen hatten die Handwerksvorführen ihren Platz, für die meistens eine kleine Ecke des jeweiligen Stands abgegrenzt worden waren. Das war seit jeher ein wichtiger Teil des Festivals gewesen. Auf dem Saber Plaza war eine große Bühne aufgebaut, die vor allem für eher unbekannte Bands vorbehalten war. Doch dort würde es auch Feuershows geben, der Auftritt des einen oder anderen bekannten Sängers und alle drei Abende sogar ein kleines Kabarett. Alles war aus Holz errichtet, mit bunten Stoffbahnen geschmückt und Lichterketten und Blumengirlanden zierten die Stände. Sie hatten alle ihren eigenen, individuellen Charme, den man auf den meisten Märkten dieser Größe einfach nicht mehr fand. Auch die Stadt wandte jedes Jahr eine gute Summe auf, um das Straßenbild zu verschönern. „Lass uns da rübergehen!“ Aufgeregt deutete Yukino auf einen langen Stand, in dem Seifen in kleinen Blöcken aufgereiht waren. Daneben befanden sich irgendwelche Cremes und Körperöle in Gläsern, edlen kleinen Dosen und besonders geformten Flaschen. Nachdem sie ihren ersten Zweifel und den Unmut über die erzwungene Aktion und das Wetter erstmal hinter sich gelassen hatte, zerrte sie ihn von einem Stand zum nächsten und war kaum mehr aufzuhalten. Alles musste sie sich ansehen, blieb bei jenem Straßenkünstler stehen und betrachtete diese Demonstration. Jede Auslage studierte sie genau und sie kam aus ihrer Begeisterung gar nicht mehr heraus. Wenn sie etwas fand, das ihr gefiel, griff sie zu, obwohl sie sonst eigentlich immer so sparsam war. Sting hatte sich irgendwann erbarmt und ihr eine der Taschen abgenommen, damit sie nicht so viel zu schleppen hatte. Aber wenn man für alle Freunde und Verwandte unbedingt ein Geschenk haben wollte… Dass es immer noch regnete, wenn auch nicht mehr so stark wie am Vortag, schien sie kaum zu bemerken. Im Gegensatz zu dem, was in den letzten Tagen herunterkommen war, konnte man das fast als Nieseln bezeichnen. Große Pfützen hatten sich über den gepflasterten Boden ausgebreitet und im Rinnstein sammelten sich kleine Bäche aus Wasser. Die Menschen, die sich trotzdem durch die Gassen schoben, trugen Regenjacken und Schirme. Aber all das störte Sting nicht sehr, auch wenn er sich beschwerte und brummelte. Denn wegen all der Eindrücke verlor sie kein Wort über ihre Schwester, und ihrem strahlenden Lächeln nach zu schließen, dachte sie nicht einmal an Sorano. Allein das verbuchte Sting als einen Punkt für sich. Dass sie hier zusammen auch noch eine tolle Zeit hatten und Yukino eindeutig guter Laune war, war noch ein zusätzlicher Bonus. Schließlich schaffte er es, sie zu dem über und über mit Blumen beladenen Stand von Dragneel Garden and Flowers zu bugsieren. Hinter der Kasse stand nur Grandine, Natsus Mutter, die er kurz begrüßte. Sie war eine stets freundliche Frau mit einem herzlichen Lächeln. Yukino wanderte bereits durch die Auslagen, die etwas abseits der Pflanzen aufgebaut war. Dabei handelte es sich vor allem um Bücher, Blumentöpfe, Werkzeuge, Windräder und ähnliches Zubehör. Währenddessen blickte sie sich unauffällig nach jemandem um, doch Sting durschaute sie. Aber da er sie nicht ohne Grund hergebracht hatte, sagte er nichts. „Hey, man, du siehst echt besser aus als gestern.“, sagte Natsu plötzlich hinter ihnen und Yukino stieß ein erschrockenes Quietschen aus, ehe sie zu ihm herumwirbelte, die Hände auf den Mund gepresst. Natsu schenkte ihr ein breites Grinsen und nickte Sting kurz zu, der die Begrüßung erwiderte. Doch so wirklich sah Natsu ihn gar nicht an. Yukino schien wirklich Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Seit gestern hatte er allerdings einen Kamm in die Hände genommen und ihn auch benutzt. Das einzige, das fehl am Platz wirkte, war die Haarspange, mit der er sich das Pony aus dem Gesicht hielt. Es war eine etwa handtellergroße, dunkelblaue Blüte aus Stoff und Draht, die sehr seltsam an ihm aussah. Sie war hübsch und hatte einen sehr femininen Touch. Unauffällig trat Sting einen Schritt zurück und tat so, als ob ihn die Auslage der Gartenbücher brennend interessieren. Tatsächlich jedoch spitzte er die Ohren und behielt seine beste Freundin und ihren Gegenüber im Blick. „Ah, sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Entschuldigend hob Natsu beide Hände hoch. „Schon gut.“, winkte Yukino ab und lächelte ihn schüchtern an, während sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr schob. Sting rollte die Augen; noch klischeehafter konnte sie sich nicht verhalten, oder? „Ich hätte besser auf meine Umgebung achten sollen.“ „Ach, hier ist es immer ziemlich laut, da kann man schon mal was überhören.“, winkte Natsu ab. „Schön, dich besserer Laune zu sehen, gestern warst du ja ziemlich niedergeschlagen.“ Sie wurde rot. „Mi-ir geht es schon besser. Ich ha-hatte gestern nur einen schlechten Tag.“ „Gut zu hören! Bleibst du jetzt doch noch länger hier? Es lohnt sich. Mein Vater sagt, nächste Woche wird das Wetter auch wieder besser und er weiß, wovon er spricht.“ „A-ach ja, mal schauen.“, gab Yukino zu und schaute an Natsu vorbei und auf den Boden. Vermutlich würde sie in Flammen aufgehen, wenn sie seinen Blick erwiderte, fuhr es Sting durch den Kopf und er verkniff sich ein Grinsen. „Das wäre toll, vielleicht können wir uns dann mal treffen?“, schlug Natsu geradeaus vor. Manchmal vergaß Sting, wie direkt und ungeniert er war. Überrascht ruckte Yukinos Kopf hoch und sie blinzelte heftig. „Wa-was? Tr-treffen?“ Ihre Stimme endete in einem hohen Quietschen. „Hier in der Nähe ist ein tolles Café, in dem treffen wir uns gerne, also meine Freunde und ich. Sting kommt auch öfter, wenn er hier ist, er sollte dich nächstes Mal einfach mitbringen.“ Ups, Fettnäpfchen. Sting rollte mit den Augen. Welche Frau wollte zu einem Freundestreffen eingeladen werden? Natsu würde es nie lernen… Die Enttäuschung war Yukino anzusehen, doch ihrem Gegenüber schien es nicht einmal aufzufallen, denn er plapperte einfach weiter: „Die machen da machen sie guten Kaffee, ich lad dich ein. Auch wenn Stings besser ist… Aber weißt du was, ich sollte ich dich ins Green Sunday mitnehmen, dort gibt es das beste Essen überhaupt.“ „O-okay…?“ antwortete sie unsicher und sichtlich überrumpelt. Natsus Sprunghaftigkeit war nicht für jeden etwas, vor allem nicht, wenn er nicht daran gewöhnt war. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte, und ob Natsu nun mit ihr flirtete oder einfach nur nett war. Sting schnaubte belustigt. Eigentlich wollte er ja nichts sagen, aber er konnte sich jetzt nicht halten: „Weißt du, du solltest ihr sagen, dass für dich Liebe durch den Magen geht.“ Natsu warf ihm einen Blick zu. „Was sonst? Essen ist nun mal wichtig, wenn man da nicht zusammenpasst, ist eh alles für die Katz.“ Sting rollte mit den Augen. „Als ob du dir groß Gedanken drum machen würdest, was du isst. Du schaufelst doch eh alles in dich rein, was man dir vorsetzt.“ „I-ich würde gern mitgehen.“, beeilte Yukino sich einzuwerfen, ehe die Diskussion zu sehr vom Thema abweichen konnte. Der Rotschimmer auf ihren Wangen war nicht zu übersehen, aber Natsu bemerkte ihn natürlich nicht. Sein Gesicht hellte sich auf und er stellte sich automatisch gerader hin. „Ja? Ich nehm dich beim Wort.“ Er tastete seine Hosentaschen ab und zog dann ein langes Gesicht. „Ich hab mein Handy vergessen. Aber Sting hat meine Nummer, er kann sie dir geben.“ Yukino lächelte und stotterte irgendetwas vor sich hin, aus dem nicht einmal Sting einen Sinn ziehen konnte. Also schaltete er sich ein: „Kann ich machen. Aber wir müssen jetzt weiter, ich krieg nämlich langsam Hunger.“ „Okay, da will ich dir mal nicht im Weg stehen.“, schmunzelte Natsu und fuhr sich durch die Haare. Dann stutzte er und fischte die hübsche Blume daraus hervor. Verwirrt blickte er sie an. „Wo kommt das her…?“ „Sie war schon die ganze Zeit in deinem Haar.“, stellte Yukino fest. „Ich fand es süß.“ Natürlich tat sie das. „Oh…“ Natsu lachte verlegen. „Ist aber nicht so ganz mein Stil. Hier.“ Er drückte sie ihr in die Hand. „Zu dir passt sie besser. Bis dann, ihr zwei.“ Er winkte, aber ehe er zwischen den Ständen verschwand, zwinkerte er Yukino noch einmal zu. „Ruf mich an.“ Damit duckte er sich hinter eine Auslage mit Blumentöpfen und bekam gar nicht mehr mit, wie Yukino, beide Hände gegen die glühenden Wangen gepresst, vor Verlegenheit beinahe im Boden versank. Doch das glückliche Lächeln in ihrem Gesicht und die sorgefältige Art, wie sie die Haarspange hielt, zeigte Sting, dass es richtig gewesen war, sie herzubringen. Er lachte den ganzen Weg, als er sie vor sich her aus dem Stand und in die Richtung der kulinarischen Buden schob. Immerhin bewirkte ihre Verschämtheit, dass sie sich nicht dagegen wehrte, so dass er endlich zu seiner längst überfälligen Mahlzeit kam. Oder besser, Mahlzeiten! Das hatte er sich ja wohl verdient. ~~*~~☀~~*~~ Oh Gott, fuhr es Yukino durch den Kopf und konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. Sie versuchte, es hinter ihrer Hand zu verstecken, aber es wollte ihr nicht ganz gelingen. Ihre Augen funkelten, während sie den Blick nicht von ihrem besten Freund lösen konnte, der sich vor einer Auslage aufgebaut hatte und sich durch die angebotenen Probierhäppchen durcharbeitete. Doch dabei ging es ihm nicht wirklich um das Essen, auch wenn er dafür durchaus zu haben war. Es ging eher um den jungen Mann, der hinter der gläsernen Theke stand und abwechselnd in rasender Geschwindigkeit Gemüse schnitt, den Inhalt der großen Pfanne rührte und Essenshäppchen ausgab. Er war äußerst attraktiv, mit einem schwarzen Pferdeschwanz und einem verschlossenen, aber edlen Gesicht, wenn er auch nicht so gut aussah wie Natsu. Dessen Lächeln hatte Yukino völlig verzaubert und ihre Laune schon beim ersten Mal gehoben. Der Gedanke trieb ihr das Blut ins Gesicht, und sie konzentrierte sich rasch wieder auf das Bild, das sich ihr bot. Über das andere wollte sie jetzt noch nicht nachdenken, auch wenn ihre Hand immer wieder wie automatisch zu der blauen Blume wanderte, die sie inzwischen in den Haaren trug. Der Stand des Green Sunday war gut besucht um umfasste neben der langen To-Go-Theke auch einen kleinen Innenbereich, wo man sitzen und essen konnte. Sogar zwei Kellnerinnen hatten sie mitgebracht, aber das gut gehende Restaurant, das Traditionelle Küche von Nah und Fern. Mit Liebe gemacht. anbot, konnte sich sowas ja wohl auch leisten. Sting unterhielt sich gerade mit dem Koch und schien sich nicht ganz einig zu sein, ob er nun flirten sollte oder nicht. Sie hatte noch nie gesehen, dass er sich so linkisch und tapsig anstellte, aber gleichzeitig holte es einen unbeholfenen Charme hervor, der ihm ausgesprochen gut stand. Oh Gott, dachte sie erneut, ist das süß. Natürlich wusste sie um Stings Sommerschwarm. Rogue Cheney war Koch im Green Sunday und anscheinend jedes Mal hier auf dem Markt zu finden. Irgendwie musste er auch Natsu kennen, denn das war der Kreis, in dem Sting sich hier so rumtrieb und irgendwie war er darüber auch mit Rogue in Kontakt getreten. Aber das war’s. Das war so ungewohnt für ihn, dass Yukino es nicht hatte glauben wollen, aber jetzt, da sie die ganze Sache so vor sich sah, hatte sie zumindest damit kein Problem mehr. Dabei hatte sie Sting schon flirten sehen und er hatte absolut keine Hemmungen dabei und konnte dabei sogar regelrecht aggressiv werden, anders als sie. Außer… jetzt, aus welchen Gründen auch immer er sich zierte. Was eigentlich echt süß war. Yukino gestattete sich erneut ein Lächeln und fragte sich, ob sie es wagen sollte, ihn zu unterbrechen. Ewig wollte sie hier wirklich stehen, langsam wurde es kalt. Obwohl der Regen ja schon nachgelassen hatte und die Sonne durch die Wolken gebrochen war. Sie färbte die Pfützen in einem goldenen Licht und ließ auch die fallenden Tropfen wie Schnüre aus Licht erscheinen. Das gab ein so hübsches Bild ab, dass sie einfach ein paar Fotos hatte schießen müssen. Das Klingeln ihres Handys riss sie aus den Gedanken, also beschloss sie, Sting noch einen Moment mit seinem Schwarm zu lassen – er benahm sich hier wirklich wie ein fünfzehnjähriger Teenager, also durfte sie das so nennen! – und angelte das kleine Gerät aus der Handtasche. Doch ein Blick auf den Display ließ sie erstarren. Angel stand da. Nichts weiter, nicht einmal ein Bild. Nicht einmal ihr richtiger Name hatte Sorano zugelassen und nachdem sie die Beschriftung das dritte Mal geändert hatte, hatte Yukino ihr den Willen gelassen. Sie fragte sich nur, warum ihre Schwester sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte, wieder ein Teil ihrer Familie zu sein. Automatisch wanderte ihr Daumen zu dem grünen Hörer, mit dem sie den Anruf annehmen würde. Was wollte Sorano denn ausgerechnet jetzt? Nachdem sie am letzten Tag einfach so aufgelegt hatte, hatte Yukino nicht mit ihrem Anruf gerechnet. Ob etwas passiert war und sie Hilfe brauchte? Aber warum rief sie dann nicht bei den Eltern an? Die waren doch viel näher und konnten da eh viel besser etwas tun. Hatte sie etwa vergessen, dass sie vorgestern erst erklärt hatte, keine Hilfe zu brauchen?! Nein, vermutlich wollte sie nur an jemandem, der sich nicht wehrte, den eigenen Ärger auslassen, Yukino verspotten und anzügliche Bemerkungen über ihre Beziehung mit Sting machen. Das sähe ihr ähnlich in dem Zustand, in dem sie sich momentan befand! Ärgerlich runzelte Yukino die Stirn. Nachdem sich nach dem Anruf vorgestern der erste Schmerz gelegt hatte, war darunter Zorn zum Vorschein gekommen. Sie selbst hatte es am allermeisten erstaunt; sie war noch nie zuvor wütend auf ihre Schwester gewesen. In ihren Augen hatte Sorano nichts Falsches tun können, stattdessen hatte sie die Schuld immer bei sich selbst gesucht, selbst dann, als ihre Schwester einfach verschwunden war. Aber irgendwie, irgendwann musste sich das geändert haben. Nach Soranos plötzlichem Wiederauftauchen hatte sie eine Weile gebraucht, es zu realisieren, aber jetzt war es ihr klar. Vielleicht hatte der Abstand tatsächlich geholfen, wie ihre Eltern gesagt hatten, die Zeit und die Gespräche mit Sting und selbst Natsu… Es hatte ihr eine neue Perspektive gegeben. Früher vielleicht war Sorano ihre Heldin gewesen, ihre große Schwester, ihre einzige Freundin. Aber jetzt war das nicht mehr so. Jetzt hatte sie ihr eigenes Leben, sie hatte Freunde, nicht nur Sting, auch Lucy und Mirjane und Rufus und die anderen. Sie hatte ihren Studienplatz und hervorragende Noten und wenn sie sich nur dazu überwand, dann hatte sie sogar ein Date. Sie war jetzt nicht mehr das schüchterne, kleine Mädchen, das am Rockzipfel ihrer Schwester hing. Sie hatte ihr eigenes Leben und Soranos Platz darin war minimal. Nicht, weil sie es nicht wollte, sondern weil Sorano selbst sich ausgeschlossen hatte. Yukino würde ihre Schwester mit offenen Armen empfangen, sobald diese bereit war, ebenfalls auf sie zuzukommen. Aber erst einmal würde sie ihren Urlaub genießen. Sie holte tief Luft – und drückte auf das rote ‚Ablehnen‘-Symbol. Sorano würde stinksauer sein darüber, aber sie würde sich auch wieder beruhigen. Yukino brauchte ihre Erlaubnis nicht und fühlte sich plötzlich leicht und ein kleines bisschen albern und ihrem Bauch krabbelte es vor Aufregung. „Wer war denn das?“, wollte Sting neben ihr plötzlich wissen und sie zuckte zusammen, so dass sie ihr Handy beinahe fallen ließ. „Erschreck mich doch nicht so!“, schimpfte sie und versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen. Um etwas Zeit zu schinden, steckte sie umständlich ihr Handy wieder weg. Sting neben ihr schob sich eine Gabel Nudeln mit Gemüse in cremiger Sahnesoße in den Mund. Anscheinend hatte er sich endlich entschieden, was er denn essen wollte. „Nur Sorano.“, gab sie dann nuschelnd zu und er erstarrte. „Und was wollte sie?“, fragte er dann, sein Tonfall vorsichtig. Und besorgt. Sie lächelte leise in sich hinein und fühlte sich noch leichter als zuvor. Das hätte sie wirklich schon viel früher erkennen sollen. Alle Leute um sie herum machten sich Sorgen um sie, kümmerten sich um sie, unterstützten sie und waren einfach da. Obwohl sie zu blind gewesen war, sie überhaupt zu sehen. Sie war nicht allein, ganz sicher nicht! Sie hatte jede Menge Leute um sich, die sie alle auf ihre Weise liebten. Sie brauchte Sorano nicht in ihrem Leben. Was nicht hieß, dass sie sie dort nicht wollte. Aber das war ganz allein Soranos Wahl. „Ich weiß es nicht, ich bin nicht drangegangen.“, antwortete sie darum wahrheitsgemäß. Sting blickte sie für einen Moment durchdringend an, als könnte er dadurch herausfinden, ob sie log. Dann schlang er einen Arm um ihre Schultern und presste einen Kuss gegen ihre Stirn. „Ich bin so stolz auf dich.“ Und in Yukinos Bauch breitete sich ein warmes Gefühl aus. [Dezember | 1. Advent] The thing about assholes ----------------------------------------------- „Den ersten Advent hab ich mir echt anders vorgestellt, als auf einem verschneiten Bahnhof zu stehen und mir die Füße abzufrieren.“, beschwerte sich Levy in ihr Smartphone und zog fröstelnd die Schultern hoch. Zum Beispiel sich mit einem guten Buch zuhause auf das Sofa zu kuscheln, eingerollt in einen der Quilts, die ihre Mitbewohnerin am laufenden Band herstellte, und dicken, selbstgestrickten Socken an den Füßen, die ausnahmsweise einmal warm waren. Durch ihr Handy konnte sie Lucy leise kichern hören. Aber Lucy hatte gut lachen, immerhin war die zuhause in ihrer warmen Wohnung und bereitete sich auf ihr Date am Abend vor, etwas, das Levy schon seit Monaten nicht mehr gemacht hatte. „Ich fühle mit dir. Du bist zu nett für diese Welt.“ „Und wie!“, stimmte Levy nachdrücklich zu und stampfte mit den Füßen in dem hoffnungslosen Versuch, wieder etwas Gefühl hineinzukriegen. Sie hatte schon seit einiger Zeit das Gefühl, Eisklötze an den Knöcheln angewachsen zu haben. „Meine Ma hat mir einen neuen Tee geschickt und Juvia und ich waren gestern im Wald und jetzt riecht es in der ganzen Wohnung nach Tannenzweigen.“ Genüsslich schloss Levy die Augen und stellte es sich vor, wie es sein könnte. Der Duft des Tees, der sich mit dem herben Geruch der frischen Tannennadeln mischte, das sanfte Licht der Kerzen, die warme Decke, der spannende Thriller, den Lucy ihr empfohlen hatte, die nigelnagelneuen Socken an den Füßen… Der perfekte erste Advent! Sie hatte sich extra alles freigeschaufelt dafür, sogar ihre Masterarbeit sollte heute ruhen. Einmal so richtig entspannen und alle Sorgen und Probleme … nun ja, Sorgen und Probleme sein lassen. Das war eine ihrer Weihnachtstraditionen, wie sie es schon seit Jahren handhabte. Ein Tag, der nur ihr gehörte. Aber natürlich musste ihr eine gewisse Person einen Strich durch die Rechnung machen und das war nicht einmal absichtlich. „Und ich kann es nicht so richtig genießen, weil ich hier am Bahnhof stehen und auf Juvias Freund warten muss.“ „Du hättest auch einfach ‚Nein‘ sagen können.“, wies Lucy logisch auf, auch wenn sie beide wussten, dass keine von ihnen das getan hätte. Wenn einer ihrer Freunde ein Problem hatte, halfen sie eben, zumindest soweit es in ihren Möglichkeiten stand. Und jemanden am Bahnhof abzuholen und dann ein wenig mit Magnolia bekannt zu machen war nun wirklich kein Ding der Unmöglichkeit. Levy seufzte und beschloss, sich endlich mit ihrem Schicksal abzufinden. Das Jammern machte sowieso nur Spaß, weil ihre beste Freundin zuhörte, die, frisch verliebt, in letzter Zeit sowieso viel zu gute Laune hatte. „Es ist ja nicht einmal Juvias Schuld.“, gestand sie und rückte ein wenig zur Seite, als jemand mit einer gigantischen Reisetasche an ihr vorbeiging. Dabei zog sie ungeschickt ihr Pappschild mit sich, auf dem mit dickem Edding Gajeel gemalt stand. „Sie konnte ja nicht riechen, dass sie sie so kurzfristig ins Geschäft holen, erst recht nicht, als sie den Termin ausgemacht haben.“ Irgendwie tat es ihr für Juvia auch leid – die hatte sich schon wortwörtlich seit Wochen auf diesen Tag gefreut, darauf, ihren besten Freund nach Monaten endlich wiederzusehen und einfach Zeit mit ihm zu verbringen. Und jetzt musste sie arbeiten. Das war im Grunde noch viel gemeiner, als die Tagesplanung versaut zu kriegen. Levy zog sich die Mütze mit Mäuschenohren und -gesicht tiefer ins Gesicht, ebenfalls ein Werk Juvias. Es hatte doch etwas für sich, jemanden als Mitbewohnerin zu haben, der für sein Leben gerne strickte. Oder nähte und all das. Juvia hatte sogar einen kleinen Internetshop, wo sie ihre Werke anbot und auch Maßanfertigungen entgegennahm, vor allem süße Lumpenpuppen. Sogar mollig warme Socken hatte sie Levy versprochen, die immer Probleme mit kalten Füßen hatte, auch wenn sie damit leider noch nicht fertig geworden war. Blöde Arbeit. Aber dass eine Pâtissière zur Adventszeit hart rangenommen wurde, vor allem eine, die neu angestellt worden war und damit immer die schlimmsten Arbeiten und vor allem die ungemütlichsten Arbeitszeiten auf das Auge gedrückt bekam, lag eigentlich auf der Hand. „Sie hat mir ein zweites Paar Socken versprochen.“, verkündete Levy darum erfreut, bemüht, die positiven Dinge zu sehen. „Ich muss nur den Tag mit diesem… Gajeel überleben. Juvia hat mich gebeten, ihm ein wenig Gesellschaft zu leisten und ihn mit der Gegend bekannt zu machen.“ „Ach komm, das wird doch nicht so schlimm sein.“, versuchte Lucy sie aufzumuntern und Levy zuckte mit den Schultern. „Ach, ich weiß nicht. Juvia ist ja toll und alles, aber ich hab mir die Woche über genug über den besten, freundlichsten, tollsten Besten Freund der Welt TM anhören dürfen. Ich will den Teufel ja nicht an die Wand malen, aber vermutlich ist er der größte Langweiler der Geschichte und interessiert sich für Briefmarken oder Züge oder sowas.“ Sie wusste, dass sie fies und vermutlich ein Berg von Vorteilen hier am Werk war, aber sie konnte sich einfach nicht helfen. Vermutlich war er schüchtern. Und verklemmt. Und monoton. Wenigstens würde er freundlich sein, immerhin war Juvia einer der liebsten, höflichsten Menschen auf der Welt. Die einzige Kollegin, mit der sie sich angefreundet hatte, war vom gleichen Schlag und Levy würde sich jetzt auch nicht als rüde bezeichnen, also umgab sie sich offensichtlich gern mit freundlichen Menschen. Lucy lachte verständnisvoll und fragte diplomatisch: „Wie lange wird er bleiben?“ „So wie es jetzt aussieht bis zum zweiten Januar. Und dann wird geschaut, wie die Lage so aussieht. Aber wenn es wirklich so schlimm ist, seil ich mich einfach ab und behaupte, meine Masterarbeit braucht halt all die Zeit.“ „Du Fuchs.“, sagte Lucy völlig unbewegt und Levy schnaubte belustigt. Dann horchte sie auf, weil über ihr eine Lautsprecherstimme verkündete, dass ihre Wartezeit sich endlich einem Ende näherte. „Der Zug fährt gleich ein, ich muss jetzt Schluss machen. Bis dann.“ „Okay, wir hören uns. Melde dich bei mir, ehe du vor lauter Langeweile überlegst, in den Verkehr zu laufen.“, teilte Lucy ihr mit. „Ich geh mich jetzt fertigmachen. Apropos, du solltest auch mal daran denken, wieder in den Sattel zu steigen.“ Levy verzog das Gesicht. Nach der eher unerfreulichen Trennung von ihrem Ex hatte Lucy sie in Ruhe gelassen, aber seit ein paar Wochen war sie eifrig dabei, diesen oder jenen Typen gegenüber Levy anzupreisen. Die wehrte alles rigoros ab. „Weihnachten ist die Zeit der Liebe.“, belehrte Lucy sie träumerisch, als sie zu lange nicht antwortete. Vermutlich dachte sie gerade an ihr Date. „Mir egal, das kann ich im Moment eh nicht gebrauchen. Meine Masterarbeit spannt mich voll und ganz ein.“, blockte Levy ab, obwohl sie nichts dagegen hätte, mal wieder ein Date zu haben. Oder einen gemütlichen Abend zu zweit. Oder ein behagliches Aufwachen im gleichen Bett. Oder eine wilde Nacht. Aber das würde sie Lucy sicher nicht auf die Nase binden! „Denk darüber nach.“, ließ es Lucy diesmal nach wenigen Worten ruhen. „Bis dann.“ Damit legte sie auf und Levy tippte kurz auf dem Smartphone herum, ehe sie es in ihre Jackentasche gleiten ließ. Sie würde ja gleich sehen, wie schlimm der Tag werden würde. Vielleicht gar nicht so sehr, wie sie befürchtete. Aber dann dachte sie an ihre Mitbewohnerin, die manchmal etwas zu naiv für ihr eigenes Wohl war, und schüttelte den Kopf. So viel Glück würde sie vermutlich nicht haben. Wenn der Tag in die Hose ging, dann so richtig. Frierend blickte sie die Schienen entlang zu der Kurve, in der sie hinter einigen Hochhäusern verschwanden, über die schon lange diskutiert wurde, wer sie denn nun abreißen durfte. Levy befand sich auf dem Hauptbahnhof von Magnolia, der um die Jahrhundertwende errichtet worden war, ganz aus Backstein, Metall und Glas. Vor ein paar Jahren hatte die Stadt Unmengen Geld dafür ausgegeben, ihn zu sanieren und hatte dafür einige Kritik eingefahren. Levy fand, dass die Mühe sich gelohnt hatte. Das authentische Flair, das er jetzt hatte, ließ sie sich immer fühlen, als sei sie hundert Jahre in die Vergangenheit gereist. Der Bahnhof war sogar als Touristenattraktion in Reiseführern aufgeführt. Außer ihr tummelten sich im Moment noch jede Menge andere Menschen auf dem Bahnsteig, so dass sie nicht sofort zu sehen sein würde. Hoffentlich würde er sie nicht übersehen, was leider viel zu oft vorkam. Sie hatte keine Lust, ihn auch noch suchen zu müssen, und wollte ihn auch nicht allein in der Stadt herumirren lassen. Vielleicht hätte Juvia ihr ein Bild geben sollen, aber auf die Idee war sie gar nicht gekommen. Endlich kam der Zug in Sicht, der bereits langsamer wurde und nach einigen Augenblicken an ihr vorbeisauste, um mit dem gewohnten Quietschen zum Stehen zu kommen. Levy nahm ihr Pappschild auf, das sie zwischen ihren Beinen abgestellt hatte, und reckte den Hals, als die Zugtüren sich mit einem Zischen öffneten. Plötzlich waren doppelt so viele Menschen auf dem Bahnsteig als noch eine Sekunde zuvor und jetzt wimmelten alles auch noch durcheinander, weil sie zu anderen Leuten, der Treppe oder in den Zug gelangen wollten. Es war gar nicht leicht, sie alle ins Auge zu fassen und zu entscheiden, ob sie als die gesuchte Person in Frage kamen. Wenn Levy genau überlegte, war das einzige, was sie für die Situation nützliches über Gajeel wusste, sowieso, dass er nur wenig älter war als sie. Ein Foto wäre jetzt wirklich brauchbar, auch wenn sie nicht wusste, ob ihr das bei diesem Durcheinander wirklich helfen würde. Also hielt sie tapfer weiterhin ihr Schild gut sichtbar hoch und rührte sich nicht vom Fleck. Zumindest hatte sie sich klugerweise so postiert, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass er sie sehen musste. Hoffentlich hatte Juvia ihm tatsächlich Bescheid gesagt, wie sie versprochen hatte! Ansonsten würde sich das echt zu einem Problem entwickeln… „Bist du Levy?“, wollte plötzlich eine tiefe Stimme hinter ihr wissen, deren grollender, unerwarteter Klang ihr einen angenehmen Schauer über den Rücken jagte. Erleichtert lächelnd drehte sie sich um, doch ihre Bestätigung und gleichzeitige Begrüßung erstarben auf ihren Lippen, weil sie nur auf eine breite Brust starrte. Sie blickte nach oben, um ihn richtig ansehen zu können. Und dann noch weiter nach oben, ehe sie endlich einen Blick auf sein Gesicht erhaschen konnte. Sie blinzelte und ihr Hirn schien nicht mehr hinterherzukommen. Sechs Dinge fielen ihr in etwa gleichzeitig auf: Erstens, er war ein verdammter Riese. Zweitens – meine Güte, waren das viele Piercings. Drittens hatte er ein äußerst attraktives Gesicht mit einer harten Kinnlinie, die männlich genug war, um selbst Elfman vor Neid erblassen zu lassen. Viertens war das spöttische Halbgrinsen, das seine schmalen Lippen zierte, provokativ und sexy gleichzeitig, wobei sie sich sicher war, dass der zweite Teil dieser Beschreibung nur ihrem überforderten Hirn entstammte. Fünftens hatte er schmale, ungewöhnlich rote Augen und ungewöhnliche Augen waren ihre Schwäche. Sechstens, scheiße, war der heiß. Mit plötzlich weichen Knien konnte sie nichts anderes tun als schlucken und schwach nicken. Wenigstens schaffte sie es, jeden peinlichen Laut zu unterdrücken, wie in etwa das Quietschen, das ihr schon in der Kehle hockte. Ihr Gegenüber schien allerdings nicht ganz so überzeugt von der Begegnung zu sein. Er zog eine mit drei Ringen und zwei Spikes verzierte Augenbraue hoch und meinte skeptisch: „Nicht genug, dass Juvia mir einen Babysitter bestellt, aber was bist du für ein Zwerg? Bist du sicher, dass du den Kindergarten schon verlassen darfst?“ Levy brauchte einen Moment, ehe die Worte zu ihr durchdrangen, und alle Anziehung war plötzlich wieder wie weggeblasen. „‘Zwerg‘?!“, entrüstete sie sich gereizt und richtete sich empört sich so hoch auf, wie ihr nur möglich war – was leider nicht sehr viel war. Sie musste sich immer noch den Hals verrenken, um ihm ins Gesicht zu blicken. Er grinste höhnisch auf sie hinunter. Aber wenn man etwa die Größe eines Hauses besaß, dann war das auch nicht sehr schwer! „Dir zeig ich gleich ‚Zwerg‘, du … du Riese!“, keifte sie ihn an. Sein Grinsen wurde nur noch breiter und sie kämpfte den verräterischen Gedanken nieder, wie sexy es war. Kein Wunder, dass sie um Worte verlegen war! „Das ist dein bestes Comeback?“, wollte er wissen und sie hatte das Gefühl, dass nur wenig fehlte und er hätte ihren Kopf getätschelt. „Süß.“ Levy schäumte vor Wut, aber anscheinend war der Rest von ihr noch nicht ganz auf einer Linie mit ihrem Verstand und ihrem Stolz angekommen. Beide befanden, dass ganz und gar gar nichts von diesem Typen heiß war, doch die passende Antwort blieb aus. Außerdem waren ihre Eltern, beides Doktoren, nie begeistert davon gewesen, wenn sie geflucht hatte. Es war also nicht ihre Schuld, dass ihr das nicht so leicht fiel wie anderen! „Wie auch immer.“, wischte er ihre Gelegenheit zu einer schlagfertigen Antwort aus der Welt. „Ich bin Gajeel und jetzt zeig mir den nächsten Imbiss, ich habe seit Stunden nichts gegessen.“ Damit drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und strebte auf die Treppe zu. Levy ballte die Hände zu Fäusten und wäre am liebsten davongestapft. Was für ein Arschloch! Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt, als ihr Blick über die dunkle Bomberjacke nach unten rutschte zu einem äußerst ansehnlichen Hintern in schwarzen Jeans, der zum Teil verdeckt wurde von der wilden schwarzen Haarmähne. Das war in dieser Situation wirklich nicht angebracht! Zu der ebenfalls schwarzen Jacke trug er ein paar schwerer Militärstiefel und über der Schulter hatte er einen alten Armeerucksack geschlungen, der bis oben hin vollgestopft war. Eigentlich stand sie nicht so auf den rauen Typ, aber anscheinend besaß jede Regel ihre Ausnahmen. „Warum sind eigentlich alle heißen Männer solche Arschlöcher?“, grummelte sie. Aber bei dem wusste sie es wenigstens von Anfang an, nicht wie letztes Mal. Darauf konnte sie sich einstellen, sie brauchte nur ein paar Minuten um sich zu fangen. Er hatte sie einfach überrascht, weil er so ganz und gar nicht in das Bild passte, das sie zu ihm gehabt hatte. Wie zum Teufel war dieser Typ Juvias bester Freund geworden und wie hielt Juvia es mit ihm aus?! Tief Luft holend und diese Frage für später aufschiebend setzte sie sich in Bewegung, so dass er ihr nicht doch noch verloren ging. Verärgert fiel ihr auf, dass sie sich dafür ganz schön anstrengen und sogar rennen musste. Dieser Typ war so ganz und gar nicht, was sie erwartet hatte! Aber sie war sich auch nicht so sicher, ob es eine Verbesserung zu ihrer Vorstellung darstellte…! ~~*~~☃~~*~~ Durch das Fenster von Fairy Tail, einem kleinen Pub, der die Stammkneipe ihres Freundeskreises darstellte, konnte Levy Gajeels hochgewachsene Gestalt gut erkennen. Er saß an dem Tisch, an dem sie ihn mit der Entschuldigung zurückgelassen hatte, einen kurzen Anruf tätigen zu müssen, und studierte die begrenzte Speisekarte. Ein großes Glas Cola stand bereits vor ihm auf dem kleinen Tisch, daneben ihr eigenes Wasserglas. Demonstrativ wandte sie sich ab und tappte ungeduldig mit dem Fuß auf den Gehsteig. Der Weg hierher war – kurz gesagt – stressig gewesen. Dabei hatte sie den Verdacht, dass Gajeel es noch nicht einmal darauf angelegt hatte, sie zu ärgern oder ihr auf die Nerven zu gehen. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Konsequent ‚Zwerg‘ genannt zu werden war nun einmal anstrengend und nervenaufreibend! „Ja?“, meldete Lucy sich nach einer halben Ewigkeit endlich und Levy holte tief Luft, doch statt einer Begrüßung platzte sie heraus mit: „Ich hasse ihn!“ „Was?“, entfuhr es Lucy auf der anderen Seite verwirrt, aber Levy ließ ihr nicht einmal Zeit, noch etwas hinzuzufügen, denn sie redete sofort weiter: „Ich hasse ihn, er ist so ein Riesenarschloch! Und wenn ich das sage, dann meine ich, er ist ein Riese und ein Arschloch!“ „Le-Levy?“, fragte ihre beste Freundin verdutzt, dann änderte sich ihr Tonfall abrupt ins alarmierte. Levy konnte sich gut vorstellen, wie sie sich abrupt aufrichtete und stehen und liegen ließ, mit was auch immer sie gerade noch beschäftigt gewesen war, vermutlich ihrem Make-up oder etwas Ähnlichem. „Was ist passiert?!“ „Juvias Freund ist ein Arsch.“, wiederholte Levy im Brustton der Überzeugung. „Wenn das so weitergeht, werde ich ihn vor einen fahrenden Bus schubsen!“ Wobei allerdings die Frage entstand, ob sie dazu körperlich überhaupt in der Lage war. Vermutlich konnte sie sich so sehr gegen ihn stemmen, wie sie wollte, und er würde sich trotzdem keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Für einen Moment blieb es auf der anderen Seite still. „Also ist er doch kein Langweiler?“, wollte Lucy dann wissen und sie gab sich beste Mühe, nicht belustigt zu klingen, versagte dabei allerdings. „Nein, aber ich wünschte, es wäre so, dann müsste ich mich jetzt nicht mit diesem Rie-sen-arsch-loch herumschlagen.“ Levy betonte jede Silbe des Wortes extra, um auch ja keinen Zweifel daran zu lassen, wo das Problem lag. Lucy nahm sie noch immer nicht richtig ernst. „So schlimm wird’s schon nicht sein.“, versuchte sie es und zog vermutlich gerade in diesem Augenblick skeptisch eine Augenbraue hoch. „Er nennt mich die ganze Zeit ‚Zwerg‘!“, empörte Levy sich erzürnt. Sie konnte hören, wie Lucy es tapfer versuchte. Sie tat es wirklich. Aber es begann mit einem leisen Schnauben wuchs zu etwas, das wie ein Grunzen klang, und entwickelte sich schließlich zu ausgewachsenem Gelächter. Diese Verräterin. Hätte Levy beide Arme frei, würde sie sie jetzt pikiert über der Brust verschränken. Aber da sie mit einer Hand das Smartphone ans Ohr halten musste, beschränkte sie sich darauf, ihr Tappen auf dem Gehsteig wieder aufzunehmen. „Hast du dich jetzt beruhigt?“, wollte sie wissen, als Lucys Gelächter wieder nachließ. „Das ist echt nicht witzig! Wenn du dich mit diesem Arschloch rumschlagen müsstest, würdest du nicht so lachen! Sondern ebenfalls den Wunsch verspüren, ihm einen Tritt in seinen Knackhintern zu verpassen!“ „Knackhintern, was?“, wiederholte Lucy trocken und Levy fühlte, wie ihr Gesicht rot anlief. Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen! „Darum geht es jetzt nicht!“, versuchte sie abzulenken, doch es war schon zu spät. „Nein, nein.“, wehrte Lucy schmunzelnd ab. „Erzähl mir mehr über seinen Knackhintern.“ „Ich hasse dich auch.“, antwortete Levy kleinlaut. Okay, vielleicht hatte der Weg hierher trotz all der beiläufigen Beleidigungen nicht ausgereicht, ihrem vor Phantasien sabbernden Hirn klar zu machen, dass Gajeel niemand war, mit dem sie mehr Zeit verschwenden wollte als unbedingt nötig. Lucy kicherte. „Ich bin sicher, er meint es nicht so. Vielleicht überdeckt er auf diese Art seine Schüchternheit.“ „Du kennst ihn ja nicht mal!“ „Du auch nicht. Aber er ist ein Freund von Juvia, also gib ihm eine Chance? Vielleicht fängst du einfach damit an, ihm zu erklären, dass du es nicht sonderlich magst, ‚Zwerg‘ genannt zu werden. Hast du das schon versucht?“ Da war was dran, gab Levy nach einem Moment nach, wenn auch nur insgeheim für sich. „Aber wenn das nicht funktioniert, stell ich ihn dir vor, damit er dich auch beleidigen kann.“, antwortete sie verschnupft. „Deal.“, grinste Lucy. „Aber erst morgen, heute treffe ich jemand anderen. Halt mich trotzdem auf dem Laufenden.“ Das darauf folgende „Das wird sicher lustig“ überhörte Levy geflissentlich. Stattdessen antwortete sie. „Okay. Bis später…“ Sie legte auf, ohne auf Lucys Antwort zu warten und schob ihr Telefon in die Jackentasche zurück. „Du kannst das!“, sprach sie sich selbst Mut zu und straffte die Schultern, ehe sie ins Fairy Tail zurückkehrte. Es war der gemütlichste Pub weit und breit, zumindest sahen das Levy und ihre Freunde so. Die Wände aus rohen Backsteinen waren nur teilweise mit Holz vertäfelt, doch Boden und Decke bestanden aus schweren Holzbohlen. An der hinten Wand zog sich die lange Theke entlang, hinter der in den Wandnischen Regale eingebaut waren. An einer Tafel, die daneben hing, wurde der Tipp des Tages angepriesen – Rinderburger mit Pommes sowie frischer Bienenstich – und einfache, aber stilvolle Lampen verbreiteten ein freundliches, goldenes Licht. Laxus, der Juniorchef, der das Lokal wohl eher früher als später von seinem Großvater übernehmen würde, stand hinter dem Tresen und kritzelte auf irgendetwas herum, vielleicht erledigte er gerade die Bestellung. Er war ein wahrhaft riesiger Mann, größer sogar als Gajeel mit breiten Schultern und Muskeln wie ein Gebirge. Sein schmutzigblondes Haar war kurz geschnitten und durch sein gut geschnittenes Gesicht zog sich eine große, blitzförmige Narbe, die das erste war, das einem an ihm auffiel. Kurz nickte er Levy zu, als sie wieder hereinkam und widmete sich wieder seiner Arbeit. Außer ihm war nur eine Bedienung anwesend, Lisanna, hübsch, sportlich, kontaktfreudig und extrovertiert, die hier neben dem Veterinärstudium ihren Lebensunterhalt verdiente, wie schon ihre Schwester vor ihr. Levy kannte sie schon ewig. Im Moment stand sie an der Bar und sortierte Besteck in kleine Körbchen. Als sie Levy bemerkte, strich sie sich das schulterlange, weiße Haar aus der Stirn. „Ich komm gleich zu euch!“, rief sie, während Levy sich auf den Weg zu ihrem Tisch und ihrer miesgelaunten Begleitung machte. „Na endlich.“, nörgelte Gajeel und schob ihr sofort die Karte entgegen, mit der er gespielt hatte, noch ehe sie sich ihres Schals entledigt hatte. „Such aus, damit wir bestellen können.“ Verdutzt blinzelte sie ihn an und legte langsam ihre Wintermontur auf den Tisch. Hatte er tatsächlich auf sie gewartet? Sie hatte angenommen, dass er seine Bestellung in dem Moment aufgegeben hatte, in dem er sich entschieden hatte. Dass er auf sie warten würde, war … unerwartet nett. „Sorry.“, sagte sie darum und hängte ihre Jacke über die Lehne. Erleichtert über die Wärme, die in dem Pub herrschte, ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und ergriff die Karte, die sie sowieso schon auswendig kannte. Eigentlich hatte sie gar keinen Hunger, auf der anderen Seite würde sie all ihre Kraft brauchen, um den heutigen Tag zu überstehen. Also war es angebracht, etwas Handfesteres als einen Salat zu essen. Er grummelte etwas als Antwort und nippte an seiner Cola. Vermutlich unterdrückte er gerade ein Mach schon! oder sowas. Anscheinend besaß er doch so etwas ähnliches wie Manieren und auf diese Art war er gar keine so schlechte Gesellschaft. Hoffentlich hielt das noch eine Weile an! Mit einem kleinen Lächeln wandte Levy sich wieder der Karte zu, aber sie brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. Einen Augenblick später stand auch schon Lisanna neben ihnen, den Notizblock aus der Schürzentasche fischend. „Was darf’s denn nun sein?“, wollte sie wissen und nahm ihre Bestellungen auf, wobei Gajeels beträchtlich größer war. Levys Augenbrauen wanderten nach oben. „Hast du vor, drei Mahlzeiten auf einmal zu essen?“, fragte sie, als Lisanna sich mit einem Grinsen wieder entfernte. „Ich habe halt Hunger!“, verteidigte er sich und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Dann grinste er und fügte hinzu: „Man braucht halt etwas mehr zu essen, wenn man größer ist als ein laufender Meter.“ Levy verzog ärgerlich das Gesicht. Das war’s wohl damit, er würde nie wirklich nett sein! „Ich bin größer als einen Meter.“, verbesserte sie. Er musterte sie demonstrativ von oben bis unten, zumindest das von ihr, was über der Tischplatte zu sehen war, aber sie konnte nicht wirklich erkennen, welchen Eindruck sie auf ihn machte. Mit einem Grinsen beugte er sich vor. „Ja, vielleicht, aber wenn du früher mehr gegessen hättest, hätte sich das vielleicht positiv auf dein Wachstum ausgewirkt.“ „Meine Eltern sind klein. Meine ganze Familie ist klein. Das ist genetisch und hat gar nichts mit essen zu tun, du Blödmann!“ Langsam hatte sie echt genug. War es denn zu viel verlangt, dass er zumindest minimalst höflich mit ihr umging?! Anscheinend schon, denn er fügte hinzu: „Wenn du das sagst… Ein Versuch hätte echt nicht geschadet, Miss Zwerg. Vielleicht könntest du dann über die Tischkante schauen ohne auf einen Stuhl steigen zu müssen.“ Genug war genug! Und einmal platzte selbst ihr der Kragen. „Wenigstens bin ich kein Arschloch, das herumlaufen und alle Welt beleidigen muss!“, schimpfte sie und schlug mit beiden Händen auf den Tisch. Stehend war sie auf Augenhöhe mit Gajeel und sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgesprungen war. Aber davon ließ sie sich jetzt nicht beeindrucken. Und das, nachdem Lucy ihr gesagt hatte, sie sollte ihn ruhig darauf aufmerksam machen, dass es kein Kompliment war, ‚Zwerg‘ genannt zu werden. Aber auf diese Art würde der es sowieso nicht lernen! „Vor allem nicht wegen Dingen, für sie absolut nichts können und an denen sie auch nichts ändern können! Ganz im Gegensatz zu dir, denn sich zusammennehmen und jemanden mit minimalsten Anstand zu behandeln ist gar nicht so schwer, du solltest es mal versuchen! Du wirst dir darüber auch keinen Zacken aus der Krone brechen! Aber ich muss nicht hier stehen und mich am laufenden Band beleidigen lassen, du Affe! Also nimm dich gefälligst zusammen oder ich lasse dich hier stehen und du kannst schauen, wo du bleibst!“ Dass er sich von Anfang an darüber beschwert hatte, keinen Babysitter zu brauchen, ignorierte sie geflissentlich. Aber sie bezweifelte, dass es gut gehen würde, wenn er in ihre Wohnung zog, zumal der Arsch bis ins nächste Jahr bleiben wollte. So leid es ihr für Juvia auch tat, darauf hatte sie nun wirklich keine Lust, das würde nur in weiterem Streit enden. Gajeel starrte sie mit offenem Mund an und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte. Ha! Geschah ihm recht! „Wow“, sagte er dann und sein Grinsen war nun geradezu … anerkennend? „du kannst ja ganz schön abgehen. Hätte ich dir gar nicht so zugetraut.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn an. „Was soll das denn bedeuten?“, fauchte sie. „Nun, dass du kein Zwerg bist.“, gab er endlich klein bei und sie fühlte, wie ihre Mundwinkel sich zufrieden nach oben hoben. Ha, Sieg! Nimm das! Doch er war noch nicht fertig, sondern redete einfach weiter: „Sondern ein Giftzwerg.“ Die Anfänge ihres Lächelns rutschten ihr aus dem Gesicht. War das sein Ernst?! Beim Anblick ihres entgeisterten Gesichts stieß er ein seltsames Geräusch aus, das klang wie Ghihihi, und sie realisierte nach einem Moment, dass er kicherte. „Du solltest dein Gesicht sehen!“ Finster starrte sie ihn an. „DAS IST NICHT WITZIG!“ Er legte das Kinn auf die aufgestützte Hand und grinste breit. „Irgendwie schon.“ Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. „Mach dir nichts draus, Juvia behauptet am laufenden Band, dass ich nichts anderes tun kann als Leute beleidigen.“ Er zuckte mit den Schultern und fuhr dann Juvia nachahmend fort: „Gajeel, wenn du nicht immer so unfreundlich wärst, würden mehr Leute dich mögen als nur Juvia. Gajeel, vielleicht hättest du höflicher sein können, dann hätten sie uns nicht hochkant aus dem Laden geschmissen. Gajeel, bei deinem Maul wundert es mich gar nicht, dass sie dich gefeuert haben. Blablabla.“ Levy konnte das amüsierte Zucken ihrer Mundwinkel nicht unterdrücken, auch wenn sie ihn absolut nicht bestätigen wollte. Es war vielleicht nicht besonders nett, aber das war der eindeutige Beweis, wie gut er zumindest seine beste Freundin kannte, denn er traf ihren Tonfall perfekt und schaffte es sogar, ihre Haltung so weit zu imitieren, dass sie eindeutig zu erkennen war. Dann fiel das Theater wieder von ihm ab und er lehnte sich gemütlich in seinem Stuhl zurück, die Hände hinter seinem Kopf verschränkt. „Du kannst mich ruhig auch beleidigen, dann sind wir quitt.“ „Ich… will dich aber gar nicht beleidigen!“, schnappte Levy, nicht mehr ganz so aufgebracht wie noch vor wenigen Sekunden. Was war das denn für eine verquere Denkweise? „Ich will mich zivilisiert mit dir unterhalten,“ was, wie sie selbst erstaunt feststellte, der absoluten Wahrheit entsprach „aber du machst es einem echt schwer, du… du… du Grobian!“ Oh Gott, warum fiel ihr nur solcher Kleinkinderkram ein? Gajeel blinzelte sie für einen Moment an und brach dann in lautes Gelächter aus. Konnte er nicht einmal etwas ernst nehmen? „‘Grobian‘?“, wiederholte er kichernd und lachte so sehr, dass er sich verschluckte. Verbiestert verschränkte sie die Arme vor der Brust und rührte sich nicht. Wenn er an seinem Lachanfall erstickte, geschah ihm das recht! „Das ist echt niedlich. Juvia hat mir gar nicht gesagt, wie lustig du bist.“ Er kicherte erneut. „Ich meine das ernst.“, grummelte sie und unterdrückte den Impuls, ihm spielerisch – oder auch nicht – gegen das Schienbein zu treten. Da er die langen Beine ausgestreckt hatte, würde sie sich sogar gar nicht anstrengen müssen dafür. „Ich auch. Was glaubst du, was die Leute mir sonst so an den Kopf werfen? Grobian…“ Er schüttelte lachend den Kopf. „Geschieht dir recht!“, erklärte sie ihm fest, aber sie merkte selbst, dass sie nicht mehr so sauer auf ihn war wie vorhin. Im Gegenteil, tatsächlich musste sie dagegen ankämpfen, nicht selbst zu grinsen. Wann war denn das passiert? Allerdings war es ihr auch nicht unbedingt unrecht. „Davon bin ich überzeugt.“, war die lapidare Antwort. Sie streckte ihm die Zunge heraus, was ihn dazu brachte, ihr ein Grinsen zuzuwerfen, bei dem ihr heiß und kalt gleichzeitig wurde. Doch ehe sie etwas sagen konnte, tauchte Lisanna neben ihrem Tisch auf. Sie balancierte drei Teller auf den Armen, von denen es dampfte, und ein appetitlicher Duft verbreitete sich. „Hey, alles klar?“, wollte sie wissen, nachdem sie das Essen abgestellt hatte, und blickte Levy direkt an. Die warf ihrem Gegenübersitzer einen langen Blick zu, aber sie stellte fest, dass ihre kleine Explosion und seine Reaktion darauf, so seltsam sie auch gewesen war, die Luft etwas gereinigt hatte. Sie winkte ab. „Ja, wir haben nur die Lage geklärt.“, antwortete sie. Dann fiel ihr etwas ein, immerhin war Lisanna auch eine gute Freundin einer gewissen Person, die ihr das alles hier erst eingebrockt hatte. „Das ist übrigens Juvias Freund, Gajeel.“ Lisannas Gesicht hellte sich auf und sie musterte ihn eingehend. „Soso.“, bemerkte sie und er blickte von seinem Burger auf, an dem er sich bereits gütlich tat. „Huh?“ „Du bist gar nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe.“, antwortete Lisanna frei heraus und machte eine abwägende Bewegung mit der Hand. „Ach ja?“, wollte er wissen und legte seinen Burger sogar wieder ab. Lisanna zuckte mit den Schultern und grinste. „Du bist noch viel… aggressiver, als ich das angenommen habe. Wer hätte gedacht, dass unsere Juvia mit jemandem wie dir abhängt.“ Gajeel kicherte. „Lass dich nicht von Juvias unschuldigem Gehabe ablenken, die Gute kann ziemlich durchtrieben sein, wenn sie will.“ „Das Gefühl habe ich auch manchmal.“, stimmte Lisanna zu. „Ich nicht.“, grummelte Levy. Anscheinend war sie die einzige, die hier völlig ins offene Messer gelaufen war. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte Lucy sich auch schon ihre Gedanken gemacht. Doch weder Lisanna noch Gajeel achteten auf sie und die Kellnerin fuhr bereits fort: „Und viel, hm, wie soll ich das ausdrücken? Heißer.“ „Lisanna!“, entfuhr es Levy ob der Dreistigkeit, doch Gajeel entlockte es nur ein überraschtes Lachen. „Danke, kein Interesse.“ „Ich werde es überleben.“, erklärte Lisanna trocken, dann wurde ihr Grinsen unverfroren. „Ich nehme an, du stehst eher auf den… zierlichen Typ?“ Gajeel grinste breit, antwortete aber nicht auf die Frage. Währenddessen fühlte Levy, wie ihr Gesicht rot anlief. Sie befürchtete, ihr Kopf würde gleich platzen. Es gab keine Möglichkeit, diese Frage falsch zu interpretieren, vor allem nicht, wenn man Lisanna kannte. Gajeels nonverbale Antwort darauf dagegen war schwerer zu deuten, vor allem, da sie ihn dagegen kaum kannte. Lisanna warf ihr einen kurzen Blick zu und zwinkerte verschwörerisch. „Ich muss dann wieder an die Arbeit, habt noch viel Spaß miteinander!“ Damit marschierte sie zurück zu ihrem Besteck. Levy verdrehte die Augen und versuchte, das aufregende Gefühl niederzukämpfen, dass sich in ihrem Bauch ausgebreitet hatte. Es hatte rein gar nichts mit Gajeel zu tun! Absolut nichts! Auch wenn er gar nicht so schlimm war, wie sie vorher gedacht hatte. Man musste ihn nur etwas besser kennen lernen, anscheinend hatte er seine ganz eigene Sprache. Allerdings war er immer noch so anziehend wie bei der ersten Begegnung. „Hast du keinen Hunger?“, schreckte seine tiefe Stimme sie aus den Gedanken auf. „Huh?“ Er deutete mit seinem Burger auf ihren Teller, auf dem sich Kartoffelecken und Chicken Wings türmten. „Wenn du nicht bald anfängst, isst dir das noch jemand weg.“ „Und wer?“, feuerte sie zurück. „Du etwa?“ „Vielleicht. Willst du es darauf ankommen lassen?“ Sie schnappte sich ihre Gabel und hielt sie drohend hoch. „Willst du?“, fragte sie herausfordernd. Er grinste. „Vielleicht.“ Dann biss er wieder ins einen Burger. Sie schüttelte den Kopf und begann damit, ihren eigenen Teller zu leeren. Für eine Weile saßen sie schweigend da, zu konzentriert auf das Essen. Die Mahlzeit oder besser, die Gesellschaft war gar nicht so schlimm, wie Levy befürchtet hatte, als sie das Fairy Tail betreten hatten. Im Gegenteil, sie würde das Schweigen sogar als freundschaftlich bezeichnen und das war etwas, das sie sich zu Beginn ihrer Bekanntschaft nicht hätte vorstellen können. Dabei kannten sie sich doch noch gar nicht so lange, eine Stunde vielleicht? Zwei? Gajeel war mit seiner Mahlzeit etwa doppelt so schnell wie sie und Lisanna brachte seine zweite Portion, ehe sie ihre zur Hälfte verputzt hatte. Aber danach aß er langsamer weiter und fragte schließlich: „Und was treibst du so den ganzen Tag, wenn du nicht anderer Leute Freunde babysittest?“ Verdutzt blickte Levy von dem Knochen auf, an dem sie gerade herumnagte. „Wie bitte?“, wollte sie wissen. „Was soll das denn jetzt?“ Ihre Stimme klang skeptischer, als sie vorgehabt hatte. „Ich versuche nur, Konversation zu betreiben.“, verteidigte er sich. „Das machen normale Menschen so, habe ich gehört.“ „Dann muss das ja etwas Neues für dich sein, als ‚normal‘ würde ich dich jedenfalls nicht bezeichnen.“ Gajeel kicherte. „Du kannst mir ja weiterhelfen.“ Misstrauisch runzelte sie die Stirn – sollte das eine Beleidigung sein? Wobei sie ja zustimmen musste, sonderlich ausgefallen war sie nie gewesen… – beschloss aber, es einfach so zu akzeptieren und stattdessen die Frage zu beantworten: „Ich schreibe gerade an meiner Masterarbeit. Darin geht es um gekoppelte Bose-Einstein-Kondensaten zur Realisierung…“ Sie verstummte, als sie bemerkte, wie sie ihn verlor. Das überrascht sie gar nicht, die meisten Leute zeigten diese Reaktion, wenn sie mit diesem Thema anfing. Eigentlich schade – mit dem richtigen Gesprächspartner konnte sie sich stundenlang darüber auslassen, aber dafür musste sie sich schon einen Kommilitonen, einen Dozenten oder ihren Vater aussuchen. „Was.“, sagte er ohne sich die Mühe zu machen, es wie eine Frage klingen zu lassen. „Das ist Physik.“, erklärte sie. „Ich studiere Physik.“ Für einen Moment musterte er sie schweigend und sie widerstand dem Drang, unter seinem prüfenden Blick in sich zusammenzuschrumpfen. Sie hatte sich deswegen für gar nichts zu schämen! Im Gegenteil, sie war gut in dem, was sie tat. Außerdem hatte er einen Soßenfleck auf der Wange, das machte ihn verboten niedlich, aber gestattete ihr auch, ihn weniger ernst zu nehmen. „Kleiner Überflieger, was?“, grinste er und in seiner Stimme klang ein anerkennender Unterton mit, der ihr ein warmes Gefühl im Bauch bescherte. Herausfordernd reckte sie das Kinn. „Kann man so sagen.“ Er zog eine Augenbraue hoch ob ihrer Kühnheit und neckte: „Und bescheiden bist du auch noch.“ Erst wollte sie sich rechtfertigen – das hatte nichts mit Bescheidenheit zu tun! Sie hatte sich all das hart erarbeitet – aber dann beschloss sie, ihn nicht ernst zu nehmen. „Das habe ich mir halt verdient.“, erklärte sie hoheitsvoll. „Hättest dich halt auch immatrikulieren sollen.“ „Das ist zu hoch für mich. Ich bin nur ein einfacher Kfz-Mechaniker.“ Er stopfte sich drei Pommes auf einmal in den Mund. „Mehr Gelegenheiten für die, die’s können.“ In seiner Stimme lag eine beiläufige Anerkennung, als wäre es selbstverständlich, die Leistungen einer anderen Person einfach so zu respektieren, ohne sie irgendwie abzuwiegeln oder zu ignorieren. Levy wusste, dass es absolut nicht so war. Jace, ihr Ex, hatte sie eher belächelt, wenn sie von ihren Erfolgen erzählt hatte, ganz so, als wäre es nicht ihr Verdienst, dass sie so weit gekommen war, sondern dass es mit Umständen, Bevorzugung und Geburtsprivilegien zusammenhing. Er hatte auch immer sehr gerne das Thema gewechselt, wenn es ihm zu hoch geworden war, was relativ oft passiert war, immerhin war er kein Physiker, sondern BWLer. Es tat wirklich gut, einmal nicht einfach beiseitegeschoben zu werden. „Und du?“, wollte sie von ihrem Gegenüber wissen. „Juvia sagte, du bist unter anderem hier, weil du eine Reihe Bewerbungsgespräche hast.“ „Jaaaah…“, antwortete er langgezogen und fuhr sich durch die Haare. Jetzt wirkte er nicht mehr ganz so selbstsicher. „Mal sehen, wie die so laufen. Die Leute fühlen sich immer so vor den Kopf gestoßen von mir.“ Levy schnaubte laut. „Woran mag das wohl liegen?“ „Du kannst ja ganz schön biestig sein. Ein echter Kampfzwerg, was?“ Sie warf den abgenagten Knochen nach ihm, der gegen seine Brust flog. „Pass nur auf, sonst beiß ich dir in die Waden.“ Gajeel spuckte beinahe sein Essen über den Tisch, als er prustend anfing zu lachen. Erfreut über den Erfolg grinste sie ihn an und schob sich eine Kartoffel in den Mund. Er brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu beruhigen, aber der überrascht-anerkennende Blick, den er ihr schenkte, half noch mehr, ihre gesträubten Federn weiter zu glätten. Das war ja eine echte Achterbahnfahrt mit ihm! Aber wenn sie ihn und vor allem sein rüdes Mundwerk nicht ganz so ernst nahm, war er eigentlich erträglich. Nein, mehr als das, sie würde schon fast in Richtung ‚Gute Gesellschaft‘ gehen. Oder vielleicht sogar noch mehr… Überrascht stellte sie fest, dass es sie nicht stören würde, ihn näher kennenzulernen. Vermutlich half das auch stark, einige Animositäten zu beseitigen. Und vielleicht… konnte da ja noch mehr draus werden… Immerhin war er immer noch der heißeste Typ, der ihr jemals unter die Augen gekommen war! Aber jetzt würde sie erstmal einen Anfang machen und ein bisschen mehr nachbohren. Nach allem, was Juvia ihr über ihn erzählt hatte, sollte man eigentlich denken, sie würde schon das eine oder andere über ihn wissen. Doch bei all der Lobhudelei war Juvia sehr spärlich mit echten Infos umgegangen. „Und warum hast du sie ausgerechnet hier? Ich meine, du musstest ein ganzes Stück fahren, Magnolia ist nicht nur einen Katzensprung von Oak Town weg.“ „War so eine Spontanidee. Und warum nicht hier? Juvia ist hier.“ Er zuckte mit den Schultern und griff nach seinem Glas, als wäre das keine große Sache. Doch Levy wurde von der plötzlichen Realisation getroffen, dass Juvia die Person war, die ihm am nächsten stand, und vermutlich auch die eine Person, der er überhaupt nahestand. Eigentlich kein Wunder, bei seinem kratzbürstigen Verhalten, aber das kam sicher auch nicht von irgendwoher. So betrachtet war das eigentlich traurig. Sie beschloss, etwas nachsichtiger mit ihm zu sein. Gleichzeitig fragte sie sich, ob sie jemals erfahren würde, was hinter der engen Freundschaft zwischen ihm und Juvia stand. Hoffentlich würde sie es irgendwann erfahren, das war sicher eine spannende Geschichte. Er unterbrach ihre Gedanken, indem er weitersprach: „Ich hab keine Familie und auch sonst nichts, das mich an Oak Town bindet. Und Juvia sagte, ein Neuanfang wäre vielleicht klug. Also bin ich jetzt hier.“ Statt darauf einzugehen, was ihn hergeführt hatte, erklärte sie munter: „Magnolia ist auf jeden Fall ein hervorragender Ort dafür! Schöne Stadt, viele Möglichkeiten und nicht zuletzt kann man hier lauter nette Leute treffen!“ Er grinste sie über den Rand seines Glases an. „Ich merk’s schon.“ Der Unterton in seiner Stimme und sein vielsagender Blick weckten ein kribbeliges Gefühl in ihrem Bauch. „Das will ich ja wohl hoffen.“, antwortete sie provokant und flirtend gleichzeitig, oder zumindest hoffte sie, dass es so klang. „Ich bin immer nett.“ „Wenn du nicht gerade im Kampfzwerg-Modus bist, meinst du.“ „Das ist das Echo, Herr Grobian. Selber schuld.“ „Das kann ich bestätigen.“ Der Rest der Mahlzeit verging in freundschaftlichem Geplauder und sie bestellten sich hinterher sogar noch einen Kaffee. Erstaunt stellte Levy schließlich fest, dass sie schon über zwei Stunden Zeit im Fairy Tail totschlugen und eigentlich hatte sie den Auftrag, Gajeel ein wenig herumzuführen, damit er sich zurechtfinden konnte! Davon hatten sie noch gar nichts erledigt. Also drängte sie zum Aufbruch und während Gajeel bezahlte, schlüpfte sie umständlich in ihre Winterausstattung – dicke Jacke, Handschuhe, Schal und Mütze – und wechselte noch ein paar Worte freundschaftliche mit Lisanna. „Hey, Zwerg, schlag da keine Wurzeln!“, meldete er sich von der Tür, den Rucksack wieder über die Schulter geworfen. Levy streckte ihm die Zunge heraus und zog sich den Handschuh extra langsam an. „Schnarch.“, antwortete er und stieß die Tür auf. „Halt dich ran, ehe ich einschlafe.“ Damit verschwand er nach draußen. Lisanna neben ihr kicherte, ihr Tablett gegen die Brust gedrückt. Levy seufzte. „Ich muss dann wieder. Wir sehen uns.“ „Na klar.“ Lisanna zwinkerte ihr zu und beugte sich verschwörerisch vor. „Der steht auf dich. Schnapp ihn dir, ehe jemand anderes es tut!“ ~~*~~☃~~*~~ Vielleicht hätte Levy doch einfach mit reingehen sollen. So draußen in der Kälte warten zu müssen, war doch ganz schön frostig. Sie rieb sich die behandschuhten Hände und stampfte mit den Füßen, die langsam wieder taub wurden. Aber das war wohl ihre eigene Schuld. Ungeduldig warf sie einen Blick durch die Fensterscheibe in das Innere der Bank, vor der sie eben stand. Gajeel stand, ein so finsteres Gesicht ziehend, dass die anderen Leute vorsichtshalber von ihm Abstand hielten, in der Schlange vor dem Bankautomaten, die sich nur langsam vorwärtsbewegte. Er find ihren Blick auf und hob entschuldigend die Arme, als wollte er sagen dafür kann ich nun wirklich nichts. Levy lächelte schief zurück und wandte sich wieder ab. Vielleicht sollte sie doch noch reingehen. Aber wer hätte wissen können, dass das so ewig dauerte? Die Schlange vor dem Geldautomaten hatte sie auch erst hinterher gesehen… „Hi, Levy.“ Die kultivierte, tiefe Stimme, die ihr früher so viele angenehme Schauer beschert hatte, ließ sie jetzt erstarren. Doch ihr Ex kümmerte sich gar nicht darum, sondern redete einfach weiter. „Was ein Zufall, dich hier zu treffen.“ Langsam drehte sie sich um und blickte zu ihm hoch. Jace war hochgewachsen und athletisch-schlank, mit kurzgeschnittenem, dunklen Haar, von dem keine Strähne am falschen Platz lag. Er hatte ungewöhnlich blaue Augen und ein attraktives Gesicht, das momentan von einem freundlichen Lächeln geziert wurde. „Hi.“, sagte sie und ihrem frostigen Ton war anzuhören, wie wenig Lust sie auf dieses Treffen hatte. Gut. „Wenn du dann einfach weitergehen würdest.“ Sie machte eine Handbewegung, die ihre Worte noch einmal unterstützte. Wieso kam er auf die blöde Idee, sie würde ausgerechnet mit ihm reden wollen? Aber anscheinend war er zu schwer von Begriff. Oder vielleicht wollte er einfach nicht hören, was ihm nicht in den Kram passte. Damit hatte sie ja schon Erfahrungen gemacht. „Jetzt tu mal nicht so.“, rügte er sie. „Wir haben uns doch schon ewig nicht gesehen, man sollte glauben, das wäre genug Zeit, um darüber hinweg zu kommen.“ „Für dich vielleicht.“, antwortete sie nachtragend und sie konnte spüren, wie all ihre gute Laune, die sie eben erst zurückgewonnen hatte, durch ihre Finger glitt wie feiner Sand. Das hatte ihr gerade noch gefehlt! Erst hatte sie ihre Erster-Advent-Pläne über den Haufen werfen müssen, dann hatte sich ihre neue Begleitung als ein Riesenarschloch herausgestellt. Und kaum hatte sie letzteres aus der Welt geschafft, tauchte dieses andere Riesenarschloch auf, von dem sie allerdings absolut nichts wissen wollte! Denn die Sache mit Arschlöchern war die, dass sie in mehreren Ausgaben kamen. Da waren einmal die, die einfach welche waren, mit denen war leicht umzugehen und man konnte sie getrost vergessen. Dann gab es die, die sich hinterher doch als ganz okay herausstellten oder sogar als noch mehr. Wie etwa Gajeel. Und dann gab es die, die zuerst wirkten, als wären sie ganz okay oder sogar noch mehr, und die sich hinterher als die größten Arschlöcher aller Zeiten entpuppten. Und so eines war Jace. Heute war das Universum echt gegen sie. „Und, wie geht’s dir sonst so? Außer, dass ich dir gerade auf die Nerven gehe?“, redete Jace einfach weiter und früher hatte sie diesen selbstironischen Ton geliebt. Bis sie gemerkt hatte, dass er, wie so vieles andere an diesem Mann, nur eine Front war. Manchmal glaubte sie, dass sie den echten Jace nie kennengelernt hatte. Aber wenn er nicht bereit war, auf sie einzugehen und sich ihr zu öffnen, dann war es seine Schuld – ewig jedenfalls hatte sie das nicht mitmachen wollen. Sie war froh, diesen Abschnitt ihres Lebens endlich hinter sich gelassen zu haben, endgültig. „Besser, seit ich vor ein paar Monaten einigen Ballast losgeworden bin.“, antwortete sie beißend und schenkte ihm einen vielsagenden Blick, um genau zu sagen, wer hier mit ‚Ballast‘ gemeint war. Sie hatte echt keine Lust auf dieses Gespräch. Konnte er nicht einfach verschwinden?! „Sogar ziemlich gut! Und es würde mir noch besser gehen, wenn der Ballast nicht zurückkommen würde.“ Jace ignorierte den Hint wie immer und schob die behandschuhten Hände in die Taschen seines schicken Wollmantels. „Schön zu hören. Ich hoffe, mit deiner Masterarbeit läuft alles glatt. Bei mir ebenfalls. Ich bin vor einem Monat befördert worden und meine Schwester hat geheiratet.“ Säuerlich starrte sie ihn an, die Brauen zusammengezogen, und schob sich die Hände in die Jackentaschen. Vielleicht würde er gehen, wenn sie ihm nicht mehr antwortete. Aber noch war es nicht so weit, denn er redete einfach weiter, sein Tonfall geradezu freundschaftlich: „Und was treibt dich an diesem kalten Tag hier raus? Ich meine mich an deine Tradition zu erinnern, dass du den ersten Advent immer mit Tee und einem neuen Buch begangen hast.“ Sie knirschtet mit den Zähnen, aber sie wusste, dass sie sich nicht mehr lange halten konnte. Warum begriff er nicht, dass sie nach allem, was vorgefallen war, nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte? Nach all den Lügen und den Halbwahrheiten und den Ausflüchten… Und jetzt kam er an, als wären sie einfach gute alte Freunde, die sich seit Jahren nicht gesehen hatten und sich zufällig auf der Straße wiedersahen. „Ich zeige dem besten Freund meiner Mitbewohnerin die Stadt.“, erklärte sie unwirsch. „Eine Mitbewohnerin, die ich übrigens nur habe, weil du mich auf dem verbindlichen Versprechen, in eine Wohnung zu ziehen, die viel zu teuer für mich allein ist, und der Kaution dafür hast sitzen lassen, du Arsch!“ Sie starrte ihn finster an und schob die Hände tiefer in ihre Jackentasche. Ansonsten würde sie ihm noch eine reinhauen. „Übrigens lässt es sich angenehmer mit ihr leben, als es je mit dir war, also hatte ich da wohl Glück im Unglück.“ Überrascht blickte er auf sie hinunter. „Jetzt tu nicht so.“, rügte er sie. „Ich dachte, dir wäre das so lieber.“ „Das hast du ständig gesagt, aber in Wirklichkeit tust du nur das, was für dich am besten ist.“, zischte sie und ballte die Hände zu Fäusten, so dass sie ihre Fingernägel selbst durch die Wolle ihrer Handschuhe spüren konnte. „Ach, Levy, du…“, begann Jace mit einer weiteren seiner Ausflüchte, in denen er so gut war und die immer so toll klangen, dass es einfach war, sie ohne weitere Fragen hinzunehmen. Doch eine tiefe, grollende Stimme schnitt ihm das Wort ab. „Hey, das ist mein Zwerg, such dir einen eigenen.“ Einen Moment später legte Gajeel seinen Ellbogen auf ihrem Kopf ab, wie um sich darauf abzustützen. „Was?“, wollte Jace verwirrt wissen und trat reflexartig einen Schritt zurück. Das lag vermutlich an Gajeels Raubtiergrinsen und der Anspannung in seinem anscheinend relaxten Körper. Und an der Tatsache, dass er aussah, als könnte er selbst Jace in der Mitte zerbrechen wie einen Zahnstocher. „Du hast mich schon verstanden.“ Gajeels Grinsen wurde breiter und seine Stimme grollender. „Verpiss dich, dich braucht keiner hier. Wer auch immer du bist.“ Ungläubig blickte Jace von ihm zu Levy. „Ist das dein Ernst?“, wollte er wissen und klang geradezu bestürzt. „Du hast mich gegen so einen… so einen… den da eingetauscht?“ „Von ‚eintauschen‘ kann hier wohl kaum die Rede sein.“, antwortete Levy kühl und konnte fühlen, wie Gajeel sein Kinn auf der Hand aufstützte, sein Arm noch immer auf ihrem Kopf. Er stand so nah neben ihr, dass seine Körperwärme durch ihre Jacken sickerte, und sein Aftershave roch herb, aber nicht unangenehm. Vermutlich wuchs sein Grinsen gerade noch weiter, immer noch bedrohlich. „Außerdem mag er ein Grobian sein, aber wenigstens ist er ehrlich.“ „Aber…“, wiederholte Jace, doch jetzt beugte Gajeel sich vor und sagte langsam: „Verpiss dich. Oder soll ich dir das aufschreiben, dass du es auch verstehen kannst?“ Jace‘ Blick fand hilfesuchend Levys, doch da sie sich im Moment nichts Besseres vorstellen konnte, als ihn loszuwerden, antwortete sie gezwungen unbeeindruckt, obwohl sie noch immer kurz davor war, aus der Haut zu fahren: „Du hast ihn gehört.“ Dann wandte sie sich an ihren Begleiter. „Lass uns gehen, Gajeel.“ Gemeinsam wandten sie sich ab und ließen ihren Exfreund einfach stehen. Hoffentlich kam er nicht auf die Idee, ihnen zu folgen, ansonsten würde sie ihm doch noch eine reinhauen. Aber als sie einen Blick über die Schulter warf, konnte sie Jace nur noch in der Menge verschwinden sehen, die sich auf der Einkaufsmeile bummelte. Gut, sie hatte jetzt wirklich keine Lust, sich noch weiter mit ihm auseinanderzusetzen. Apropos, auf was sie jetzt ebenfalls keine Lust hatte… In eine Seitengasse tretend, um nicht mehr völlig im Mittelpunkt zu stehen, wandte sie sich Gajeel zu. Eigentlich hatte sie ihm ruhig sagen wollen, was ihr nicht passte, stattdessen brach aus ihr heraus: „Ich bin nicht dein Zwerg, du Arsch!“ Gajeel zog eine Augenbraue hoch und zog seinen Rucksack an dem Träger wieder höher über die Schulter. „Okay und wessen Zwerg bist du dann?“ Sein Tonfall war so trocken, dass er ihr allen Wind aus den Segeln nahm. Zum Teil ungläubig, zum Teil verärgert und zum Teil belustigt starrte sie ihn an. Meinte er das etwa ernst?! Dieser… dieser… dieser verdammte, gehässige, derbe, bescheuerte, süße Grobian! Sie warf die Arme hoch. „ARG, du bist unmöglich!“ Aber ihr Ärger war verschwunden. Statt einer Antwort grinste Gajeel auf sie hinunter, hocherfreut. Levy zog ein finsteres Gesicht, bereits zu einer weiteren heftigen Antwort ansetzend, als sie eine Erleuchtung hatte. Davon hatte sie heute erstaunlich viele. „Du machst das mit Absicht!“ Mit jedem Wort piekte sie ihm den Zeigefinger vor die Brust. „Lass das sein! Was hast du überhaupt davon?“ „Du bist noch niedlicher, wenn du dich aufregst.“, erklärte er, als läge das auf der Hand, und schenkte ihr das breiteste, selbstzufriedenste und großspurigste Grinsen, das sie sich vorstellen konnte. Dann wandte er sich um und kehrte wieder auf die Hauptstraße zurück. Sie starrte ihm nach, schwankend darüber, was sie tun sollte – eigentlich wollte sie immer noch sauer sein, aber wie konnte sie das, wenn er auf seine eigene Art versuchte, sie wieder aufzumuntern? Wobei er Glück hatte, dass sie ihn inzwischen gut genug verstand, um das alles nicht in den falschen Hals zu bekommen! Über die Schulter warf er ihr ein aufreizendes Grinsen zu. „Kommst du?“ Warum genau fand sie diesen Typen eigentlich so heiß?! Er war ein Arschloch! Aber gut zu wissen, dass diese Anziehung nicht einseitig war. Geschlagen folgte sie ihm und reihte sich wieder neben ihm ein. „Warum hast du das überhaupt getan?“, wollte sie wissen, noch immer ein wenig verschnupft. Er zuckte mit den Schultern und antwortete beiläufig: „Leute vertreiben, das kann ich gut.“ „Das glaube ich dir aufs Wort. Aber das war meine Sache! Ich habe deine Hilfe nicht gebraucht!“ „Hab ich nie behauptet.“, wehrte er ab. „Aber du sahst halt so aus, als wolltest du dich keinen Moment länger mit dem Typen herumschlagen, also dachte ich, ich greif dir mal unter die Arme.“ „Das hättest du nicht tun müssen.“, wiederholte sie. „Na und? Heißt nicht, dass ich es nicht kann. Ich wollte dir nur den Ärger ersparen. Wenn du willst, kannst du ihm folgen und ihm anständig die Meinung geigen. Ich misch mich dann auch nicht nochmal ein.“ Misstrauisch starrte sie ihn von unten her an, als könnte sie herausfinden, ob das ein Witz gewesen war. Sie beschloss, es als einen solchen zu nehmen, denn Jace auch noch freiwillig zu folgen, aus welchem Grund auch immer, nachdem sie ihn erstmal losgeworden war, kam nicht in Frage. „Damit du eine kleine Show bekommst, oder was? Das könnte dir so passen.“ Gajeel kicherte erneut sein seltsames Lachen. „Ich sehe, wir verstehen uns. So, und was gibt’s hier jetzt noch zu sehen in diesem Kaff?“ ~~*~~☃~~*~~ „Darüber geht’s zum Schwimmbad.“ Levy deutete einen kleinen Fußweg hinunter, der zwischen mehreren Grundstücken hindurchführte und, wie sie aus Erfahrung wusste, auf einem großen Parkplatz endete. „Ich glaube, das war der Hauptgrund, warum Juvia sich bei mir als Mitbewohnerin beworben hat.“ Inzwischen war es dunkel geworden und das helle Licht der Straßenlaternen wurde verstärkt von dem Schnee, der während der letzten zweieinhalb Stunden, die sie in der Stadt und auf dem Nachhauseweg verbracht hatten, gefallen war. Noch immer tanzten Flocken durch die hellen Lichtkegel und schimmerten im Schein der Lichterketten, die Häuser, Bäume und alles mögliche andere Zeug zierte. „Sieht ihr ähnlich.“, stimmte Gajeel zu. „Nette Gegend, das hier. Ganz anders, als was ich sonst so gewohnt bin.“ „Hm-mh.“, machte Levy unbestimmt und fragte sich, was für Viertel er sich sonst so aussuchte. Dieser Bezirk hier war eher ruhig, weit mehr Ein- oder Zweifamilienhäuser und Wohnhaushälften als große Apartmentkomplexe. Es gab einen Park, mehrere Spielplätze und eine schöne Fußgängerzone am Flussufer entlang. Sogar eine kleine Einkaufsmeile war entstanden, doch bestand sie eher aus behaglichen Cafés, kleinen Second-hand-Geschäften und weniger kommerziellen Bauern- und Handwerkerläden, in denen man noch echte Handarbeit und selbstangebautes Gemüse fand. Levy liebte es, auch wenn es etwas teuer war für ihre Verhältnisse. Aber, hatte sie sich getröstet, als Jace und sie die Wohnung ausgesucht hatten, bald hatte sie ihre Masterarbeit und dann bald auch einen Job, mit dem sie die Miete doppelt bezahlen konnte. Was weder ein Grund sein würde, umzuziehen noch Juvia rauszuwerfen. Nein, was sie anging, war ihr Leben im Moment eigentlich perfekt, auch wenn es seit Jace keine Beziehung beinhaltete, wie Lucy ihr während der letzten Wochen wieder und wieder in Erinnerung gerufen hatte. Aber, fuhr es ihr durch den Kopf, als sie Gajeel einen Seitenblick zuwarf, wer wusste schon, ob sich das nicht gerade änderte? Sie jedenfalls hätte nichts dagegen… Vielleicht war der Advent wirklich die Zeit der Liebe? Lucy konnte ja nicht so falsch damit liegen. „So…“, begann Gajeel neben ihr plötzlich und er klang seltsam verlegen. „Huh?“, machte sie aus den Gedanken gerissen, und blickte zu ihm auf. Doch er sah sie nicht an, stattdessen rieb er sich den Nacken. „Ob du’s glaubst oder nicht, ich fand den Nachmittag jetzt nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtet habe…“, begann er und Levys Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln. „Vielen Dank für das Kompliment.“, antwortete sie, aber zum Glück war ihr jetzt klar, dass das so etwas wie die Zeit mit dir hat mir echt Spaß gemacht bedeuten sollte. „Du Grobian.“ Er schaute auf sie hinunter, aber sein Grinsen war nur schwach. „Gern geschehen, Zwerg. Jedenfalls dachte ich, wir könnten das vielleicht mal wiederholen. Du kannst mir die guten Bars hier zeigen oder so.“ Mit großen Augen blinzelte Levy ihn an. Ihr erster Reflex war es zu sagen Solltest du nicht Juvia danach fragen? Immerhin ist sie deine beste Freundin und sie kennt sich hier auch aus. Sie biss sich gerade noch so auf die Lippen, ehe ihr die Worte herausrutschten, denn im selben Moment wurde ihr klar, dass das gajeelisch war für Willst du mit mir ausgehen? Wer hätte gedacht, dass sie eine ganze Fremdsprache an einem einzigen Tag lernen konnte? Sie riss den Blick von seinem Profil los und schaute die Straße hinunter, die zu dem kleinen Haus führte, das sie mit Juvia teilte. In der großen Laterne, die vor der Tür stand, flackerte eine Kerze, was bedeutete, dass ihre Mitbewohnerin bereits zuhause war. „Willst du deine beste Freundin einfach sitzen lassen, nachdem sie es war, die dich eingeladen hat?“, wollte sie wissen, den Ton sorgfältig neutral haltend. „Ah… Juvia wird das schon verstehen.“, lenkte Gajeel ab. Levy blickte ihn nicht an, ansonsten würde sie vermutlich losprusten. Stattdessen schlug sie vor: „Wir könnten sie mitnehmen, das würde ihr sicher auch Spaß machen!“ Sie konnte seinen entsetzten Blick spüren. „Das ist nicht so ganz das, was ich mir vorgestellt habe.“ „Ach ja? Dann muss ich dich falsch verstanden haben. Erklär mir nochmal genau, was dir so vorschwebt.“ Jetzt konnte sie den amüsierten Ton nicht mehr aus der Stimme halten und verriet sich damit selbst. Er packte sie an der Schulter und drehte sie zu sich um, so dass sie ihn ansehen musste. „Du ziehst mich auf!“ Sie konnte sich einfach nicht mehr halten und kicherte los. Aber das geschah ihm ganz recht, nachdem er ihr den ganzen Tag so zugesetzt hatte! „Man, jetzt mach mir das nicht so schwer, du Hexe.“ „Hexe, Zwerg, was ist es denn nun?“, stichelte sie zurück und kicherte heftiger. Er starrte sie finster an, doch um seine Mundwinkel zuckte es. „Also gut, das habe ich verdient. Aber du hast mich ganz genau verstanden, also? Wiederholen werde ich mich nicht.“ Sie kicherte immer noch, als sie sich abwandte. „Wir können das gerne mal versuchen.“, stimmte sie zu und lächelte zu ihm hoch. „Ich hätte nichts dagegen, dich näher kennenzulernen. Lass uns mal sehen, wo das hinführt, okay?“ Sein Gesicht hellte sich auf und zum ersten Mal schenkte er ihr nicht sein Grinsen, sondern ein ehrliches Lächeln. Am liebsten hätte sie sich ein Foto davon gemacht. Diesen Ausdruck sah man bei ihm ganz sicher nicht oft und er war einfach hinreißend. „Abgemacht!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)