Der Drache und die Nacht von Arianrhod- (OneShots) ================================================================================ [April | Schneeglöckchen] Hoffen -------------------------------- „Fräulein Lucy! Komm doch wieder zurück!“ Die zu schrille Stimme von Spetto, ihrer Amme, ließ Lucy zusammenzucken. Hastig kroch sie hinter einen der Büsche, die überall im Garten verteilt waren. Mit der Hand blieb sie an einem Dorn hängen, der eine blutige Schramme hinterließ, doch sie achtete kaum darauf. Wenn Spetto sie fand, würde sie sie mit zurück in die Kemenate nehmen und Lucy wollte jetzt auf keinen Fall in die stickigen Räumlichkeiten zurück. Dort betrachteten alle sie mit sorgenvollen, mitleidigen Blicken und sprachen mit gedämpften Stimmen. Hier draußen konnte sie wenigstens frei atmen und die Kälte für das Brennen in ihren Augen verantwortlich machen. Es war ein schöner Ort, still und abgelegen, mit vielen Pflanzen, hohen Bäumen und Sträußen, die im Sommer leckere Beeren trugen. Im Moment war jedoch alles braun und grau vom Winter, die meisten Äste waren kahl und an vielen Flecken lag noch Schnee. Das Gras der Wiesen wirkte verdorrt und spärlich. Doch an einigen Stellen streckten schon vorwitzige junge Pflänzchen ihre Köpfe hervor. Farbenfrohe Krokusse und niedliche Schneeglöckchen bildeten dichte Teppiche auf den Wiesenstücken. Manchmal konnte man sogar schon eine frühe Narzisse entdecken. Vor ein paar Wochen erst hatte Jonah ihr das allererste Schneeglöckchen des Jahres gezeigt und ein paar Tage später hatte er ihr einen kleinen Strauß davon gebracht. Außer den Gärtnern kamen nur wenige Leute hierher, war der Garten doch der adligen Familie und ihren persönlichen Gästen vorbehalten. Eingefasst von den hohen Mauern der Burg und überschattet von dem Bergfried lag er direkt hinter der Kemenate im südlichsten Teil der Festung. Damit die Sonne gut hineinscheinen konnte, hatte Mama erklärt. „Fräulein Lucy, wo bist du?“ Lucy liebte es, die langen, hell gekiesten Wege entlangzustürmen, obwohl Spetto immer behauptete, adlige Damen und Fräuleins würden nicht rennen. Sie liebte die Tiere, die hier wohnten, die vielen Vögel, die kleinen Eichhörnchen in den Bäumen und die Hofkatzen, die hier ihre Schläfchen hielten. Sie liebte sogar die junge Füchsin, die irgendwie ihren Weg hier hereingefunden hatte und im hinteren Winkel des Gartens ihren Bau gegraben hatte. Inzwischen war sie auch gar nicht mehr scheu, zumindest nicht den Kindern gegenüber, und kam manchmal zum Spielen wie einer der Schoßhunde ihrer Mutter. Lucy war sie nicht mehr besuchen gegangen, seit… seit sie allein gehen musste. Sie brachte es einfach nicht über sich zu gehen, weil Jonah das Tier doch so geliebt hatte. Er war der erste gewesen, von dem sie sich hatte streicheln lassen. „Fräulein Lucy!“ Missmutig kauerte sie sich unter ihrem Busch zusammen, zog die Beine an und schlang die Arme darum. Sie würde jetzt nicht zu Spetto gehen. Sie wollte nicht in den blöden Unterricht oder doofe Stickereien machen und sie wollte jetzt nicht einmal süße Kuchen essen. Sie wollte nicht zurück in die Kemenate, wo sie sich fühlte, als würde sie ersticken. Sie wollte niemanden sehen, außer ihrem kleinen Bruder, aber Jonah war nicht mehr da. Sie schniefte laut auf und presste sich dann erschrocken die Hand auf den Mund. Hatte Spetto sie gehört? „Lucy! Jetzt sei nicht so störrisch und komm raus!“ Die Amme schien langsam die Geduld zu verlieren, aber keine Strafe, die sie sich ausdenken konnte, würde Lucy jetzt aus ihrem Versteck locken. Wenigstens schien sie noch keine Ahnung zu haben, wo ihr Schützling steckte. Das Mädchen schob vorsichtig die Zweige des Busches auseinander und späte zwischen den dunkelgrünen Blättern in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Amme, eine plumpe, aber stets freundliche Matrone mit dunklen, zu einem strengen Zopf gebundenem Haar, stand in der Nähe auf einem der großen Wege, wo ein schmalerer Pfad abzweige und unter einigen kahlen Apfelbäumen hindurchführte. Suchend blickte sie sich um und rang die Hände. „Lucy, bitte, komm wieder zurück. Deine Mutter macht sich Sorgen.“ Das Mädchen zuckte zusammen und presste ihre Hände über die Ohren. Sie wollte nicht, dass ihre Mama traurig war und letzter Zeit war sie es viel zu oft. Aber sie wollte jetzt auch nicht herauskommen. Sie wollte hierbleiben, wo es kühl und frisch war und die Luft nach Schnee roch. Spetto seufzte und schüttelte vor sich hinmurmelnd den Kopf, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte und weiterging. Bald war sie zwischen einigen hohen Hecken verschwunden, deren dunkelgrünes Laub auch jetzt noch glänzend und dicht war. „Fräulein Lucy!“, erklang noch ihre Stimme, doch das Mädchen kümmerte sich nicht weiter darum. Lucy kroch aus ihrem Versteck heraus, wobei ihr Rock an den Ästen hängen blieb. Mit einem energischen Ruck befreite sie den Stoff und rappelte sich auf, um in die entgegengesetzte Richtung von ihrer Amme davonzulaufen. Sie blieb auf den kleinen Pfaden, die sie immer tiefer in den Garten hineinführten, bis sie an einen kleinen Teich kam. Schilf säumte die Ufer, eine alte Trauerweide ließ ihre Zweige hineinhängen und aus dem Wasser ragte ein steinerner Schrein mit einer kleinen Figur obendrauf. Lucy war immer mit ihrem Bruder hierhergekommen, um flache Kiesel über das Wasser hüpfen zu lassen. Jonah hatte es nie geschafft, aber er hatte immer laut gejubelt, wenn ihrer gesprungen war, egal wie oft, selbst wenn es nur einmal gewesen war. Einmal hatte sie es sogar geschafft, dass er bis an das andere Ufer gehüpft war. Lucy grub ihre Stiefel in den vereisten Schnee, der noch am Ufer lag, und starrte für einen Moment auf das Wasser. Es war von einer dünnen Eisschicht überzogen, die nur dort unterbrochen war, wo die Pflanzen herausragten. Unter ihr konnte sie verzerrt die leuchten orangeroten Silhouetten der Goldfische erkennen, die im Wasser ihre Kreise zogen. „Hier bist du also.“ Die sanfte Stimme ihrer Mutter ließ Lucy zusammenzucken und sie fuhr erschrocken herum. Dort neben der hohen Statue der Kriegerkönigin stand Layla von Heartphilia. Ihr gütiges Gesicht war umrahmt von den beiden Strähnen, die links und rechts auf ihre Schultern fielen, und die Sorge hatte tiefe Linien hineingegraben. Der Rest ihres goldblonden Haares war zu einem langen Zopf geflochten und um ihren Kopf gewunden worden. Ihre sanften, braunen Augen, die von tiefen Ringen gezeichnet waren, blickten erleichtert und vorwurfsvoll zugleich auf ihre Tochter hinunter, doch hinter all dem lag die Traurigkeit, die ihr seit einiger Zeit anhaftete. „Spetto macht sich Sorgen um dich.“ Die Röcke ihres langen, dunkelvioletten Kleides raffend kam sie herüber, aber Lucy zog nur die Schultern hoch und schniefte. „Ich will Jonah zurück.“, verlangte sie, auch wenn sie wusste, dass sie wie ein kleines Kind klang. Und sie war ganz sicher nicht mehr klein! Sie war schon groß, fast erwachsen. Aber im Moment fühlte sie sich winzig und hilflos und sie wollte nur in die Arme ihrer Mutter flüchten und sich vor der Wirklichkeit verstecken. Aber sie war schon groß und stark, wie sie ihrem Vater versprochen hatte, sie musste jetzt tapfer sein. Darum drehte sie sich um, damit Mama die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte. Aber Layla schien es irgendwie zu wissen, denn sie legte ihrer Tochter vorsichtig eine Hand auf die Schulter und drehte sie um, damit sie sie richtig in die Arme nehmen konnte. „Ich auch.“, flüsterte sie und ihre Stimme klang erstickt. Lucy konnte nicht mehr anders, sie brach in Tränen aus und drückte sich eng an ihre Mutter, das Gesicht in ihre Kleider pressend. Layla strich ihr beruhigend über die Haare und ließ sie weinen, hielt sie ganz fest und flüsterte beruhigende Worte. Lucys Schultern zuckten und ihr ganzer Körper wurde unter den bitteren Schluchzern geschüttelt. Sie fühlte sich allein, seit ihr Bruder nicht mehr da war, der sie auf Schritt und Tritt begleitete. Der mit leuchtenden, blauen Augen zu ihr aufschaute. Der nervig und jungenhaft und laut und dreckig war und sie nie in Ruhe ließ. Der allerdings auch immer an sie glaubte, sie stets aufmunterte und immer lachte. Egal, wie lästig er sein konnte, er war immer noch ihr süßer kleiner Bruder, den sie an dem Tag im Arm gehalten hatte, als er geboren worden war, der manchmal nachts zu ihr ins Bett kroch, weil er schlecht träumte, der ihr erst vor ein paar Wochen die neuen Kinder ihrer Lieblingskatze gezeigt hatte, der einmal Steine nach einem frechen Bengel geworfen hatte, weil der sie an den Haaren gezogen hatte, und der ihr immer Blumen brachte, wenn er welche für sie fand. Schließlich versiegten ihre Tränen und Layla beugte sich herunter, um ihr mit einem Taschentuch die Feuchtigkeit aus dem Gesicht zu wischen. Vorsichtig führte sie Lucy zu einer Bank, die unter einer mächtigen Eiche stand, und schob sie darauf, um neben ihr Platz zu nehmen. „Ich vermisse ihn auch.“, versicherte Layla ihr leise, ihre Stimme sanft. Unwillkürlich schlang Lucy die Arme um sie und drückte sich an sie. „Und wir tun alles, um ihn zu finden. Dein Vater und die Garde sind jetzt seit zwei Wochen unterwegs, sie haben bestimmt schon eine Spur gefunden. Wer weiß, vielleicht sind sie in diesem Moment auf dem Heimweg, mit deinem kleinen Bruder sicher bei ihnen.“ Lucy schniefte nur als Antwort und wischte sich mit dem Taschentuch ihre Augen ab. Ihre Mutter nahm ihre Hand und drückte sie. „Wir werden ihn wiederfinden. Er wird nach Hause zurückkommen.“ „Versprochen?“ Layla schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Versprochen.“ Lucy starrte sie für einen Moment stirnrunzelnd an, die Lippen fest zusammengepresst. Ihre Mutter hielt ihrem Blick stand, fest und sicher, aber da war etwas in ihren Augen – Schmerz, Verzweiflung, Angst, Beklommenheit… Es war ganz und gar nicht gewiss, ob ihre Worte der Wahrheit entsprachen. Tatsächlich glaubte sie nicht wirklich daran. Sie wollte nur ihre Tochter beruhigen, für die die Entführung ein schwerer Schlag war. Lucy wandte den Blick ab und starrte auf ihre mit Dreck verschmierten Lederstiefel hinunter. Sogar der Pelz, mit dem sie verbrämt waren, war teilweise verschmutzt. Spetto würde wieder mit ihr schimpfen, wenn sie das sah. Sie schniefte. „Oh, Lucy…“, flüsterte ihre Mutter neben ihr. „Ich… Es ist auch nicht leicht für mich, aber du musst jetzt tapfer sein. Wenn Jonah zurückkommt, wird er fürchterliche Angst haben, weil schlimme Dinge passiert sind, und du musst ihn unterstützen und für ihn da sein. Kannst du das tun?“ Lucy nickte heftig, doch erneut füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre Unterlippe zitterte. Sie fühlte, wie das Schluchzen in ihr aufstieg und ihr die Kehle zuschnürte. Aber sie wollte jetzt nicht mehr weinen! Sie wollte stark und tapfer sein, wie Mama und Papa es ihr aufgetragen hatten! Sie wollte daran glauben, dass Jonah bald Zuhause sein würde! Aber nicht einmal die warme Präsenz ihrer Mutter neben ihr half ihr, die Tränen zu unterdrücken. Sie krampfte ihre behandschuhten Finger zusammen. Doch schon lösten sich die ersten und rannen ihr erneut die Wangen herab, tropften auf ihren Rock. Layla wischte sie vorsichtig mit den Daumen weg und schenkte ihrer Tochter ein aufmunterndes Lächeln. Dann legte sie etwas Hartes in Lucys Hände. Abgelenkt wischte das Mädchen sich über die Augen, um besser sehen zu können, und hob den Gegenstand hoch. Es war eine lange, feine Kette aus Gold mit einem runden Anhänger. Es war ein ebenfalls goldener Ring, der etwa so groß war wie eine Dolamünze, doch der innere Teil bestand aus durchsichtigem Glas. Darin war eine kleine Blüte eingefasst, weiß, mit länglichen Blütenblättern, von denen ein paar grüne Markierungen hatten. „Ein Schneeglöckchen?“, erkannte sie und blickte fragend zu ihrer Mutter auf. „Es soll dir Trost geben.“, wisperte Layla, aber Lucy konnte sie trotzdem deutlich verstehen. „Es ist das Symbol von Aimathea, der Göttin des Frühlings, der Hoffnung und der Neuanfänge. Sie spendet Trost und neues Leben und wie das Schneeglöckchen blüht auch sie unter den widrigsten Bedingungen, trotzt allem Schnee und der Kälte und jedem Sturm, den das Leben bereithält. Sie hat ein großes Herz für uns Menschen, wenn wir uns in schwierigen Lagen befinden und besonders, wenn es Kinder sind.“ Sie schloss Lucys Finger um den Anhänger. „Halte das hier fest und denke daran, dass sie eine Hand über Jonah halten wird. Es verbindet dich mit ihm. Wir werden derweil alles tun, um ihn zu finden. Das verspreche ich dir.“ Sie küsste Lucy vorsichtig auf die Stirn und das Mädchen lehnte sich gegen sie. Der Anhänger in ihrer Hand fühlte sich schwer an, aber warm, und als sie die Finger leicht öffnete, konnte sie zwischen ihnen hindurchspicken auf das Glas und das kleine Schneeglöckchen darin. Sie schloss die Augen und die Finger um den Anhänger und dachte ganz fest an Jonah. Es war ihr, als würde das Schmuckstück warm in ihren Händen, wie eine Bestätigung, ein kleiner Trost, eine Verbindung zwischen ihr und ihrem kleinen Bruder. Er wusste, dass sie jetzt ganz fest an ihn dachte! Daran glaubte sie ganz fest und vielleicht spendete es ihm Trost, das zu wissen. Nach einigen Augenblicken nahm die Wärme wieder ab und sie blickte mit einem kleinen Lächeln zu ihrer Mutter hoch. Ihre Augen waren wieder trocken. „Ich werde ihn ganz fest in die Arme nehmen, wenn er wieder da ist!“, versprach sie Layla und deren Lächeln wurde breiter. „Soll ich dir das umhängen?“, wollte sie dann wissen und nahm ihr die Kette vorsichtig wieder aus den Fingern. Lucy beugte sich vor, so dass ihre Mutter sie ihr um den Hals legen konnte. Vorsichtig zog sie Lucys langen Haare darüber und strich ihr über den Kopf. Lucy blickte auf ihre Brust hinunter, wo der Anhänger auf ihrem Mieder lag und blickte dann stolz zu ihrer Mutter auf. „Ich werde ganz fest an ihn denken und ihm Mut schicken, so dass er ganz tapfer ist und weiß, dass wir kommen werden.“, versprach sie und ihre Mutter lächelte. „Das ist gut.“ Laylas Augen schimmerten feucht. Sie stand auf und griff nach der Hand ihrer Tochter, um sie mit sich zu nehmen. „Und jetzt komm, damit Spetto nicht noch die ganze Burg abreißt bei dem Versuch, dich zu finden.“ Lucy kicherte bei dem Gedanken daran, wie ihre Amme die mächtigen Steine der Burg davontrug, und die Finger ihrer freien Hand schlossen sich fester um den Anhänger. Eines Tages – hoffentlich bald! Morgen schon! – würde sie ihren Bruder wiedersehen. Dann würde sie ihn ganz fest in die Arme nehmen und ihm diese Kette geben, damit er immer etwas hatte, dass ihn tröstete, selbst wenn sie nicht da war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)