Der Drache und die Nacht von Arianrhod- (OneShots) ================================================================================ [April | Zinnie] Erinnerungen und Fundamente -------------------------------------------- Der Himmel war in alle Richtungen hin grau und bedeckt von schweren Wolken. Vermutlich würde es bald regnen, doch noch war alles trocken und das Wetter würde hoffentlich auch noch etwas halten. Ein scharfer, kalter Wind pfiff von Osten heran und wirbelte das frische Herbstlaub durcheinander. Die Blumen neigten ihre bunten Köpfe unter den kräftigen Böen, doch alle Farben wirkten gedeckt und matt, da das richtige Licht fehlte, das diese Jahreszeit golden färbte. Juvia wüsste kein anderes Wetter, das ihre Stimmung so punktgenau wiederspiegeln würde als dieses. Trüb, aber nicht völlig verregnet, dass es depressiv wirkte, oder so eisig kalt, dass die Luft klirrte. Der wahre Schmerz war bereits abgeklungen, nur noch ein leises Pochen, wie ein Hintergrundrauschen, das jedoch niemals wirklich verschwinden würde. Sie verstärkte den Griff um den ovalen Korb mit den Zinnien darin, gelb und pink und rot, dazwischen das helle Grün der Blätter. Warum bringst du mir Blumen, Regenfrau? Was soll ich denn damit?!, konnte sie Gajeels Stimme in Gedanken hören. Ausgerechnet mir…! Sentimentales Weib. Unter der rauen Stimme und dem Hohn konnte sie jedoch die Zuneigung und das Grinsen heraushören. Die Blumen wären trotzdem innerhalb von einer Woche verblüht und vertrocknet. Juvia aber ließ sich nicht beirren, bei jedem Besuch brachte sie Blumen mit. Zinnien waren ihr dabei am liebsten. Sie mochte die Bedeutung dahinter – Gedanken an einen abwesenden Freund. Das passte perfekt und sie wusste jetzt schon, dass sie Zinnien nie wieder in einem anderen Kontext sehen konnte als in diesem. Vielleicht war sie tatsächlich zu sentimental. Aber wer wollte sich beschweren? Juvia hob den Kopf, als sie an der vertrauten Kreuzung ankam, und folgte dem gepflasterten Weg, der nach rechts abzweigte. Jetzt schlug der Wind ihr ins Gesicht und trieb ihre blauen Haare nach hinten. Sie zog ihre Baskenmütze tiefer in die Stirn und marschierte mit festen Schritten an der langen Reihe von Gräbern vorbei. Ihr warmer Rock, der ihr bis zu den Knien reichte, tanzte um ihre Beine und ihre Schritte klangen hell auf dem Stein. Dieser Weg war ihr wohl vertraut und sie fragte sich, was das aussagte über sie. Über Gajeel. Über Gajeel und sie. Sie wohnte nicht weit weg, hatte es nie über das Herz gebracht, die Stadt zu verlassen, da er hier war und nicht mehr wegkonnte. Die meisten ihrer Freunde hatten anderswo ihr Glück gesucht und meistens auch gefunden. Hin und wieder hörte sie von ihnen, Natsu und Lucy, die inzwischen ein Kind hatten, und Erza und Jellal, die sie zu ihrer Hochzeit eingeladen hatten, und Gray, der ein erfolgreicher Architekt geworden war, und Mirajane und Lisanna und Cana und allen anderen… Nur sie war noch hier, aber es gefiel ihr hier und sie wollte nicht gehen. Sie konnte das Grab ihres besten Freundes schon von weitem sehen, das unter den Ästen einer alten Eiche seinen Platz gefunden hatte. Gajeel würde darüber spotten, aber Juvia gefiel es, denn der große Baum mit seinem dicken Stamm und den schweren Ästen erschien ihr so verlässlich und stark wie er. Sie mochte es, Zeit unter ihm zu verbringen und mit ihm dort zu sitzen, einfach nur so oder mit etwas Musik oder einem Buch. Manchmal kam es ihr so vor, als sei ein Stück seiner Seele in den Baum übergegangen, durch die Wurzeln aufgesogen worden, die sich in den selben Boden gruben, in dem er auch lag. Der Gedanke spendete ihr Trost, dann fühlte sie sich nicht mehr so allein. Doch heute würde sie das nicht sein, stellte sie überrascht fest, und ihre Schritte wurden langsamer, als sie der schmalen Gestalt gewahr wurde. Sie brauchte nur einen Moment, um die Person zu erkennen, klein und zierlich wie sie war, und mit einem Mopp von wirrem, blauem Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel. Vor ihr lag ein Juvia wohlbekannter Grabstein, eine einfache Platte aus schwarzem Marmor, auf der nur Gajeels Name und die beiden Daten zu lesen waren. Daneben stand ein Korb mit Vergissmeinnicht und Herbstzeitlosen, die schon ziemlich mitgenommen aussahen, ein schwarzer Drache aus Altmetall und eine Laterne, in der eine kleine Kerze brannte und die Juvia nicht kannte. Die andere Besucherin schien in einer eigenen Welt verloren zu sein, die Schultern hochgezogen, die Arme vor dem Körper verschränk und den Kopf gesenkt. Sie rührte sich nicht, auch nicht als Juvia nur noch zwei Meter entfernt war und sich endlich ein Herz fasste, die Stimme zu erheben. „Le-Levy…?“, stotterte sie und das andere Mädchen zuckte zusammen und wirbelte herum. Ihre braunen Augen waren riesig und feucht in ihrem zarten Antlitz, aber sie hatte nicht geweint. Ihr Haar fiel weich um ihr Gesicht und ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, was einen scharfen Kontrast zu ihrer sonst herbstblassen Haut bildete. Sie sah jetzt viel besser und gesünder aus als das letzte Mal, als Juvia sie gesehen hatte, und allein das löste ein gutes Gefühl in ihr aus. Keine schwarzen Augenringe, keine graue Haut, kein mattes, kraftloses Haar mehr. Es hatte weh getan, jemanden, der Gajeel so wichtig gewesen war, der Juvia selbst ebenfalls am Herzen lag, so verkümmern zu sehen. Für einen Moment starrte Levy den Neuankömmling nur überrascht an, dann färbte sie sich noch dunkler. „Juvia… Ich…“ Sie räusperte sich. „Ich hätte mir denken sollen, dass du das warst.“ Sie machte eine Bewegung zu dem alten Blumenkorb. „Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich auch etwas mitgebracht habe.“ „Ne-nein, natürlich nicht, Levy!“, versicherte Juvia sofort und trat neben die andere Frau, um auf das Grab hinunterzublicken. Die Buchstaben seines Namens waren einfach und eckig gehalten, sie hatten nichts Elegantes oder gar Leichtes an sich, genauso wie Gajeel gewesen war. Wie immer, wenn sie hier stand, überkam Juvia eine tiefe Melancholie und manchmal erging sie sich in den Fragen nach dem Warum? und dem Was wäre wenn?. Doch heute war dafür kein Platz, nicht mit der jungen Frau neben ihr, die Gajeel so viel bedeutet hatte, mindestens ebenso viel wie Juvia, wenn nicht sogar mehr. Es war nur auf eine völlig andere Art gewesen und Juvia vergönnte es ihnen nicht. Sie hatte sich gefreut, dass er jemanden wie Levy gefunden hatte. Eine Weile standen sie schweigend beisammen, einträchtig und gemeinsam schwermütig. Dann riss Juvia sich aus der Lethargie und ging in die Hocke, um die Blumenkörbe auszutauschen. Sie schnippte ein paar rot und gelb gefärbte Blätter von dem Stein, die der Wind darauf geweht hatte, und riss eine Pflanze aus, die ihre Schlingen darüber ausgebreitet hatte. „Wie geht es dir?“, wollte sie wissen, als sie sich wieder erhob. Levy zuckte mit den Schultern. „Besser. Gut.“, erklärte sie ehrlich, aber in ihrer Stimme war zu hören, dass sie nicht weiter darüber reden wollte. „Und dir? Ich habe gehört, dass dich alle hier sitzen gelassen haben, das tut mir leid…“ „Es war Juvias eigene Entscheidung. Sie haben Juvia mehrmals angeboten, nachzukommen, sogar ihr eine Wohnung und einen Job zu finden.“, wiegelte sie ab. Sie hatte diese so freundlichen Angebote niemals annehmen können, auch nicht nach über sechs Jahren, die inzwischen vergangen waren. „Außerdem ist ‚alle‘ übertrieben. Pantherlily ist auch noch da, wir treffen uns oft auf einen Drink, und Kinana.“ Sie holte tief Luft und schenkte Levy dann ein Lächeln, ein wenig zittrig, aber ehrlich. „Juvia geht es gut.“ Die Andere blickte sie für einen Moment lang forschend an, dann nickte sie. „Das ist schön.“ Wieder senkte sich Schweigen zwischen sie, aber wie vorhin auch war die Stille nicht unangenehm, eher kameradschaftlich. Sie hatten mit Gajeel beide jemanden verloren, der ihnen ungeheuer wichtig und unersetzbar war. Aber sie beide hatten die niederschmetternde Trauer überwunden und lebten weiter. Levy war es, die zuerst wieder die Stimme erhob. „Ich hätte auch bleiben sollen. Bei ihm und…“ Sie hielt inne und schniefte kurz, wischte sich mit einem Taschentuch die Nase ab. „Aber es war alles zu viel.“ Vorsichtig legte Juvia der anderen Frau eine Hand auf die Schulter. „Es ist okay. Juvia versteht das schon. Jeder muss mit so etwas auf seine eigene Weise fertig werden. Juvia wünschte nur, es wäre niemals nötig gewesen.“ „Und ich erst!“, seufzte Levy auf und schob ihre Hände in die Taschen ihres Mantels, den Blick weiterhin betrübt auf den Namen gerichtet. Dann schaute sie plötzlich wieder auf und ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich bin froh, dass ich dir begegnet bin.“, sagte sie. „Eigentlich wollte ich sofort wieder verschwinden, aber es war gut, dich wiederzusehen.“ Juvia erwiderte das Lächeln und schob den Korb, den sie auf ihrer Hüfte abgestellt hatte, höher, damit er nicht herunterfiel. „Fand Juvia auch.“ Sie leckte sich über die Lippen und überlegte, was sie noch sagen konnte, während sie der anderen ein beinahe schüchternes Lächeln schenkte. Es freute sie wirklich, Levy wiederzusehen, und sie wollte nicht so schnell schon wieder getrennter Wege gehen. Schließlich gab sie sich einen Ruck. „Hast du noch Zeit? Juvia kennt eine gute Bar in der Nähe…“ ~~*~~❀~~*~~ Das Sabertooth war ein kleiner, gemütlicher Pub, der etwas abseits der Hauptstraßen lag, mit einem authentischen Charme, in dem oft irgendwelche Veranstaltungen und Events stattfanden. Nachmittags an einem Wochentag war allerdings so gut wie nichts los und auch am Abend herrschte nicht übermäßig viel Betrieb. Die beiden jungen Frauen hatten sich dennoch einen Platz etwas abseits gesucht, der etwas versteckt im hinteren Bereich lag. Zuerst hatten sie sich eine Mahlzeit gegönnt, nichts Außergewöhnliches, aber erstaunlich gut für einen solchen Laden. Das war einer der Gründe, warum Juvia gerne hierher kam, entweder für einen Happen zu Essen, wenn ihr Zuhause die Decke auf den Kopf fiel, oder mit Pantherlily, wenn sie gemeinsam Gajeels Grab besuchten, oder einfach für einen Mädelsabend mit Kinana. Daher kannte sie die Belegschaft inzwischen recht gut und sie fühlte sich heimisch hier. Vor Gajeels Tod war es eine stinkende Kneipe gewesen, die für jeden in der näheren Umgebung ein echtes Ärgernis gewesen war. Aber nachdem die Tochter des damaligen Besitzers sie übernommen hatte, hatte sie sich zu einem beliebten Treffpunkt in der Nachbarschaft entwickelt und die Qualität von Essen, Getränken und Unterhaltung war erstaunlich hoch und das Personal zuvorkommend und freundschaftlich. Jetzt mit Levy ebenfalls herzukommen, fühlte sich richtig an, und es war befreiend, endlich wieder richtig zu lachen. Manchmal merkte man gar nicht, wenn man etwas vermisste, weil es sich so still und heimlich aus dem Leben geschlichen hatte, als wäre es nie da gewesen. Zuerst hatten sie sich gegenseitig auf den neuesten Stand gebracht, was die beiderseitigen Bekannten anging. Natürlich hatte Levy in diesem Bereich mehr zu erzählen, denn die letzten beiden Jahre hatte sie in der Stadt verbracht, in der auch die meisten ihrer anderen Freunde lebten, die irgendwie früher oder später alle dorthin gedriftet waren. Juvia konnte nur von Kinana berichten, die Levy allerdings kaum kannte, und natürlich Pantherlily, dessen Tochter nun schon in die dritte Klasse ging. Gajeel war noch ihr Patenonkel gewesen und hatte das kleine Mädchen regelrecht verhätschelt. Sie rang Levy das Versprechen ab, den alten Freund noch zu besuchen, ehe sie wieder nach Magnolia zurückkehrte. Nach dem Essen hatten sie einen Kaffee getrunken und dann einen zweiten und sich schließlich auch noch einen Nachtisch gegönnt, während sich das Gespräch immer weiter und weiter ausdehnte. Keine von ihnen wollte schon aufstehen und gehen, sich wieder trennen. Juvia wollte diese Vertrautheit zwischen ihnen noch ein wenig festhalten und bewahren und den wertvollen Augenblick nicht so schnell zwischen den Fingern davongleiten lassen. Inzwischen saßen sie nebeneinandergequetscht auf der hinteren Bank, um nicht so laut sprechen zu müssen. Auf diese Weise hatte sich der Tonfall zu einem vertrauensvollen Gemurmel gesenkt und sie teilten kurze Blicke, die nur für die andere bestimmt waren. Schließlich war das Gespräch zu der langen Reise umgeschwenkt, die Levy nach Gajeels Tod angetreten hatte – um Abstand zu kriegen, eine neue Perspektive zu gewinnen und dabei vielleicht zu lernen, mit seiner endgültigen Abwesenheit klarzukommen. Sie hatte es offensichtlich geschafft, doch nichts und niemand konnte ihr das kleine, traurige Lächeln nehmen, das sich auf ihr Gesicht legte, wenn sie von dieser Zeit berichtete, von den Erlebnissen, den Menschen, die sie getroffen hatte, und ihren langen Aufstieg aus der Trauer. Sie hatte sich an einem schlechten, finsteren Ort befunden, doch diese Reise hatte ihr geholfen, wieder zu sich selbst zurückzufinden. Also nahm Juvia nur ihre Hand und verschränkte Levys Finger mit ihren eigenen, um sie festzuhalten. Levy erwiderte den Druck dankbar, aber ihr Blick war starr auf das Weinglas gerichtet, das sie delikat zwischen den Fingern hielt. Danach änderte sie einfach das Thema. Nach dem Nachtisch waren sie zu Alkohol umgeschwenkt. Erst eine Flasche Wein, dann diverse Cocktails und inzwischen reihten sich mehrere Gläser vor ihnen auf und ihre Laune hatte sich wieder gehoben. Das Gespräch lag immer noch auf Gajeel, aber es waren Erinnerungen an ihn, die sie sich bewahrt hatten, Erlebnisse, die sie mit ihm geteilt hatten. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nicht mehr die einzigen Gäste waren – Menschen tummelten sich in dem Barraum, ihr Gelächter und ihre Stimmen drangen zu ihnen herüber, es war warm und freundlich. Zwei Kellner flitzten zwischen ihnen herum und hinter dem Tresen stand ein Barkeeper, der kaum zur Ruhe kam. Trotzdem fühlte sich Juvia, als wären sie und Levy in ihrer eigenen Welt, getrennt von allen anderen wie durch eine Glasglocke, und sie wollte es auch gar nicht anders. Die Vertrautheit zwischen ihnen war seltsam intensiv, auch wenn sie früher kaum mehr als Gajeel verbunden hatte. Die Trauer um ihn brachte sie ironischerweise näher zusammen, ließ zu, dass sie sich besser verstanden, als jemand anderes dies hätte tun können. „…unseren ersten Jahrestag. Er hat mir schließlich das Päckchen in die Hand gedrückt und dann ist er davongestapft, als hätte ihn jemand tödlich beleidigt.“, erzählte Levy gerade und brach in mädchenhaftes Gekicher aus, als die an das Ereignis dachte. Juvia konnte sich die Szene gut vorstellen und gestattete sich ein Lächeln. Gajeel war schon immer etwas ruppig gewesen und zu stolz für sein eigenes Wohlergehen, darum war es ihm schwergefallen, einfach einmal nett und aufmerksam zu sein. Levy hatte sehr schnell begriffen, wie sie mit ihm umzugehen hatte, was Juvia ihr immer hoch angerechnet hatte. Es war schwer gewesen, ihn zu verstehen, aber sie beide hatten es irgendwie geschafft, seine Sprache zu sprechen. Levy lehnte sich zurück und kratzte sich an der Nase. „Ich frage mich immer noch, wie er wusste, dass ich genau dieses Buch wollte.“ Juvia versteckte ihr Lächeln hinter ihrem Glas. „Juvia hat es ihm gesagt.“, gab sie zu. Überrascht blickte die andere auf. Die Lampen zauberten Lichtblitze in ihre Rehaugen und sie zog die Brauen hoch. Für einen kurzen Schockmoment fragte Juvia sich, ob sie das lieber hätte für sich behalten sollen, um Levy diese geliebte Erinnerung an ihn nicht zu zerstören. Doch dann gestattete die Kleinere sich ein Halbgrinsen und wandte sich mit einem Kopfschütteln und einem leisen Lachen ab. „Das hätte ich mir denken können. Er hat sich immer auf dich verlassen.“ Juvia nippte nachdenklich an ihrem Glas und lehnte sich zurück. Ihre Schulter presste sich gegen Levys und ihre Hände lagen so eng nebeneinander auf der Bank, dass sie die Wärme der jeweils anderen spüren konnten. „Juvia hat sich auch immer auf ihn verlassen.“ Sie nickte bekräftigend und hob wieder das Glas an die Lippen. Levy gab ihr einen kleinen Schubs mit der Schulter. „Was meinst du? Das klang, als würdest du an etwas ganz Bestimmtes denken.“ Juvia lächelte wehmütig und streckte den Arm aus, um das Glas auf den Tisch stellen zu können, ohne sich ansonsten zu bewegen. Sie wollte diese Wärme nicht verlieren, die ihr bis in die Knochen sickerte. „Er hat Juvia immer beschützt, seit dem Waisenhaus. Auch dann noch, als sie es schon längst selbst konnte. Er hat immer so getan, als wäre es nur ein Zufall, oder als wollte er gerade in diesem Moment mit den Typen, die Juvia geärgert haben, Streit anfangen, aber Juvia wusste es besser.“ Sie blickte auf ihre Schuhe hinunter, tiefblaue Schnürstiefel. „Und später… Naja, er sagte einmal, dass er weiß, dass Juvia keinen Schutz braucht, aber das ist ja noch lange kein Grund, sie sich selbst zu überlassen.“ „Er hat immer ein großes Herz gehabt. Auch wenn er es immer versteckt hat, dieser Grummel.“, stimmte Levy zu und jetzt klang sie, als wäre ihr gerade wieder bewusst geworden, wie groß ihr Verlust tatsächlich war. Sie blinzelte hastig, aber Juvia konnte aus dieser Nähe trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse die Tränen in ihren Wimpern erkennen. Sie griff wieder nach ihrem Glas, stellte fest, dass es leer war, und winkte dem Kellner, während Levy sich wieder unter Kontrolle brachte. Unauffällig wischte die Kleinere sich die Feuchtigkeit aus den Augen. „Wu-wusstest du, dass ich am Anfang ein wenig eifersüchtig auf dich war?“, redete sie ein wenig zu schnell los, als könnte sie es nicht erwarten, das Thema zu wechseln. „Auf Juvia?!“, rief diese erstaunt aus und blinzelte verdutzt. „Aber…“ Sie verstummte und runzelte die Stirn. Das kam sehr überraschend für sie. Einen Grund für Eifersucht hatte es für Levy doch nie gegeben! Doch ehe sie etwas sagen konnte, stand der Kellner vor ihnen, ein hübscher junger Mann mit wildem, blondem Haar und funkelnden, blauen Augen. „Soll ich euch noch etwas bringen?“ Er warf einen vielsagenden Blick auf die Ansammlung an Gläsern vor ihnen. „Oder habt ihr schon genug?“ „Wir halten mehr aus, als es wirkt!“, belehrte Levy ihn streng und Juvia grinste. „Sting, wir erinnern uns an Gajeel. Da ist das erlaubt! Er würde das nicht anders wollen. Das ist seine Freundin, Levy!“, stellte sie etwas zu enthusiastisch vor. Die blauen Augen huschten von ihr zu ihrer Freundin und zurück. Dann zuckte er mit den Schultern. „Also schön, aber ich sammel alle eure Autoschlüssel ein. Ihr könnt sie morgen abholen.“ Er begann, die Gläser zusammenzuraffen und auf seinem Tablett zu deponieren. „Was wollt ihr?“ „Hmmm.“ Juvia legte nachdenklich den Finger auf das Kinn. „Etwas Süßes.“, warf Levy ein und Juvia stimmte zu: „Überrasch uns.“ Sie angelte ihren Autoschlüssel aus der Handtasche und überreichte ihn ohne weiteres Zögern, während Levy etwas zögerte. Juvia stieß sie an. „Levy kann bei Juvia übernachten, kein Problem.“ „Also gut…“ Auch die Kleinere gab nun ihren Schlüssel ab und drohte ihrer Freundin dann mit dem Finger. „Aber du wohnst besser in der Nähe.“ Sting sammelte die Schlüssel ein, nahm sein Tablett auf und verschwand mit einem kurzen „bis gleich“ wieder in der Menge. Juvia blickte ihm hinterher, bis Levy neben ihr unkontrolliert zu kichern begann. Sie boxte ihrer Banknachbarin mit einem spitzen Ellbogen gegen die Rippen. „Gajeel wäre schon hackedicht. Ich meine, wir sind auch nicht mehr ganz nüchtern, aber er hat einfach gar nichts vertragen.“ „Er mochte keinen Alkohol.“, stimmte Juvia mit einem leichten Lächeln zu. Dahinter lag natürlich ein tieferer Grund, über den sie beide Bescheid wussten und über den er nicht gerne gesprochen hatte. Aber er hatte es auch nie geschafft, irgendwie Toleranz aufzubauen, egal, wie sehr es ihn geärgert hatte, dass so gut wie jeder ihn unter den Tisch trinken konnte. „Absolut nicht.“ Levy kicherte wieder los und Juvia stimmte ein, als sie sich an diverse Situationen mit einem betrunkenen Gajeel erinnerte. „Einmal hat er Juvia auf die neuen Schuhe gekotzt.“ Damals hatte sie sich maßlos darüber aufgeregt, aber jetzt brachte sie es nur noch stärker zum Lachen. Levy fand es ebenfalls ungeheuer witzig. „Er hat mich auch mal angekotzt. Nicht wegen Alkohol, sondern weil er unbedingt den starken Mann markieren musste.“ Sie lächelte liebevoll und noch immer ein kleines bisschen verliebt. „Du weißt doch, was für Probleme er mit Achterbahnen hatte.“, gab sie einen Hinweis und Juvia riss erstaunt Augen und Mund auf. „Wie… Wie hast du es geschafft, ihn in eine hineinzukriegen?!“, entfuhr es ihr und sie schaffte es nur unter größten Mühen, ihre Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen. Levy breitete die Hände aus. „Wie gesagt, er wollte den starken Mann markieren. War eines unserer ersten Dates. Und als ich, unschuldig wie ich damals war, gesagt habe, ich wollte Achterbahn fahren. Er hat es einfach nicht zugeben können, dass das nichts für ihn ist.“ „Juvia kann sich das gut vorstellen…“, gab sie zu und ließ ihren Blick gedankenvoll zur Seite wandern. Das hatte ihm ähnlich gesehen! Sting war es, der sie unterbrach, als er ihr neuen Getränke brachte. Levys Gesicht hellte sich auf, als sie das bauchige Glas mit der bunten Flüssigkeit entgegennahm. Juvias Getränk war klar, mit einer Limette am Rand und echter Minze als Verzierung. „Ruft mich, falls ihr noch etwas braucht.“, verabschiedete er sich wieder und ging zu einem anderen Tisch hinüber. Juvia nahm ihr Getränk auf und rührte mit dem Strohhalm darin herum, ehe sie einen Schluck davon nahm. Es war stark und brannte in ihrer Kehle, doch das Gefühl konnte nicht den bitteren Geschmack überdecken, der auf ihrer Zunge zurückblieb. Nicht schlecht – Sting hatte wirklich eine Ahnung von Alkohol und seinen Gästen. „Ich dachte zuerst, meine Gefühle für ihn wären fruchtlos.“, sagte Levy auf einmal neben ihr und spielte mit ihrem Strohhalm. „Weil ich dachte, früher oder später würde er sich seine Gefühle dir gegenüber endlich eingestehen und ihr würdet ein Paar werden.“ Sie machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. „Wie aus einer von diesen romantischen Komödien, verstehst du? Der grobe Rüpel und das niedliche Mädchen, die ewig umeinander herumtanzen und sich dann doch irgendwie finden. Es war offensichtlich, wie viel ihr euch bedeutet habt, und es hat eine Weile gedauert, ehe ich bemerkt habe, dass das nur auf einer rein freundschaftlichen Ebene lief. Und, naja… Meine eigene Unsicherheit muss da auch mit reingespielt haben. Ich meine, du bist so schön, wie könnte ich mit jemandem wie dir konkurrieren?“ Levy seufzte, zuckte mit den Schultern und nahm endlich einen Schluck von ihrem Cocktail. Sie zog erfreut-erstaunt die Augenbrauen hoch und wollte etwas sagen, doch Juvia steckte immer noch bei ihrem letzten Satz fest. „Ju…Juvia ist nicht schön.“, winkte sie schließlich verlegen ab und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, und hoffte, dass Levy es auf den Alkohol schieben würde, oder das Licht. „Lu-Lucy oder Mirajane, die sind es, aber doch nicht Juvia.“ Doch Levy warf ihr nur einen amüsierten Blick zu. „Hast du dich mal im Spiegel angeschaut.“, sagte sie trocken und es war nicht einmal eine Frage. „Ich weiß, wir sehen uns immer etwas anders als andere Menschen das tun, aber du bist echt schlimm. Du hast so tolle Augen und die blasse, zarte Haut, die jeder will. Weißt du, wie oft ich mir anhören musste, wie Lucy sich darüber in Neid ergangen ist?“ Sie lachte laut heraus. Juvia starrte sie an – das hatte sie nicht gewusst! Der Gedanke, dass ausgerechnet Lucy auf irgendetwas an ihr neidisch gewesen war, rief ein befriedigendes Gefühl in ihr wach, auch wenn sie sich selbst dafür schalt. Doch Levy wurde rasch wieder ernst. „Ich weiß, ich wollte Gajeel, aber ich bin bisexuell und habe Augen im Kopf und du brauchst dich echt nicht hinter Lucy oder Mira zu verstecken. Hab ein wenig mehr Selbstvertrauen.“ Juvia fühlte, wie noch mehr Blut in ihren Kopf schoss. Vermutlich glich sie inzwischen einer Tomate. „Ju-Juvia wusste das nicht.“, versuchte sie abzulenken. Levy schnaubte belustigt. „Das merke ich. Aber ich dachte nicht, dass du so eitel bist, um es nochmal zu hö-“ „Nei-nein“, unterbrach sie, weil Levy sie offensichtlich falsch verstanden hatte, und spezifizierte: „dass du bi bist.“ Erstaunt blickte Levy auf, ihre braunen Augen riesig in ihrem Gesicht. „Oh.“ Verlegen lachend fuhr sie sich durch die Haare. „I-ich hab eine Weile gebraucht, um das zu akzeptieren.“, gab sie zu. „Gajeel wusste es und Lucy, aber … ich hab es nicht mal meinen Eltern erzählt, es spielte so lange einfach keine Rolle.“ Juvia nickte. „Juvia versteht.“, gab sie zu und fügte in Gedanken an besser, als du wissen kannst. Sie blickte zur Seite und lenkte sich mit ihrem Glas ab. Schließlich stützte sie sich mit den Unterarmen auf den Tisch und erklärte verschmitzt: „Ab-aber der grobe Rüpel hat sein niedliches Mädchen trotzdem bekommen.“ Sie warf Levy einen Seitenblick zu und konnte den Moment sehen, an dem die Bedeutung der Worte bei ihr ankamen. Levys bereits zart gerötete Wangen wurden dunkler, ihr Blick huschte verlegen zur Seite und ihre Mundwinkel zuckten zu einem unwillkürlichen Lächeln nach oben. Aber sie sagte nichts dazu, sondern setzte sich nur gerade hin, dass sie ebenfalls in den Barraum blicken konnte. Doch ihr warmer Körper presste sich enger gegen Juvias, so dass sich nicht nur ihre Schultern berührten, sondern auch ihre Arme und Oberschenkel, und Juvia fragte sich, wo das hinführen würde. Seltsamerweise hatte sie keine Angst davor, keine Zweifel und auch keine Gewissensbisse. Das war nichts, dass sich ereignen würde, ereignet haben könnte, wenn Gajeel noch leben würde. Nicht, weil er zwischen ihnen gestanden hätte, sondern weil sein Tod sie beide verändert hatte. Der Schmerz seines Verlustes saß tief und er hatte etwas Grundlegendens in und zwischen ihnen umgewandelt. Vielleicht, weil die jeweils andere die Einzige war, die diesen Schmerz irgendwie hatte nachvollziehen können. Alle anderen hatten Verständnis gezeigt und sie behandelt wie rohe Eier, aber ihre Leben waren weitergegangen. Nur sie beide, Gajeels Mädels, waren auf der Stelle getreten. Juvia blickte auf, um etwas zu sagen, und sah direkt in Levys freundliche, tiefbraune Augen. Sie trug einen rosafarbenen Lipgloss, bemerkte Juvia, und alle Worte erstarben auf ihrer Zunge. Sie waren wie weggewischt aus ihrem Verstand und selbst als sie es versuchte, drang kein Ton über ihre Lippen. Doch das war auch nicht mehr nötig und plötzlich lag Levys Mund auf ihrem in dem süßesten, zartesten Kuss, den sie je bekommen hatte. Er schmeckte nach ihrem Cocktail und der leichten Vanillenote von Levys Lipgloss und er bestand nur aus zarten Bewegungen der Lippen gegeneinander. Levys Finger berührten leicht ihre Wange und der Daumen streichelte über ihren Wangenknochen. Das Glas war kühl in ihrer Hand und Levys Berührungen wie Glut auf ihrer Haut. Sie jagten einen Schauer über ihren Rücken und für einen Moment war sie gefangen. Levys Lider flatterten, als sie sie schloss, und ein leises Seufzen entschlüpfte ihr, das von Juvias Mund aufgefangen wurde, ehe jemand anderes es hören konnte. Dann ließ Juvia die Finger über Levys Nacken gleiten, bis sie die feinen Härchen dort spüren konnte, und schloss die Augen. Auf diese Weise waren die Gefühle noch intensiver, der Kuss zärtlicher und die Berührungen heißer und sie fühlte sich überwältigt. Sie ließ sich einfach fallen in diese Emotionen, die so befreiend wirkten. Nachher wusste sie nicht mehr, wie lange sie dort gesessen und sich geküsst hatten, doch als sie sich voneinander lösten, war es, als würden sie sich noch immer gegenseitig anziehen, denn der Abstand zwischen ihnen bestand nur aus Zentimetern. Juvia presste ihre Stirn gegen Levys und wagte kaum, unter ihren Wimpern aufzublicken in diese braunen Rehaugen, die sie verwirrt, verunsichert und kühn gleichzeitig anblickten. „Das ist verrückt.“, flüsterte Levy gegen ihre Lippen, doch sie wich nicht zurück, sondern küsste Juvia erneut. ~~*~~❀~~*~~ „Wann wirst du wieder nach Magnolia zurückgehen?“ „Ich weiß nicht… Ich… So-soll ich ehrlich sein?“ „Juvia hört dir zu.“ „Ich… ich weiß nicht, was wir hier haben… Aber ich bin willens, es auszuprobieren. … Wenn du mitmachst.“ „…“ „…“ „JA!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)