Caelum von Writing_League ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Du hast dich überhaupt nicht verändert.“   Arata schmunzelte, ein seltenes, sichtbares Grinsen auf dem Gesicht bei seinem Kommentar, während Aoi vor Überraschung über seine eigenen Füße stolperte und sich beinahe der Länge nach auf den kirschblütenblättergepflasterten Gehweg legte. Er lachte leise, nervös, als könnte er seinen Patzer damit irgendwie überspielen. Im Grunde war es egal; es war nicht, als würde Arata dem zu viel Bedeutung beimessen, und im Stillen war er dankbar darum. „F-findest du?“ – „Mh-hm. Wenn man von der Größe absieht bist du immer noch der Gleiche.“   Es war ein Kompliment. Aoi kannte seinen Freund lange genug, um zu wissen, was in seinen Worten steckte, und in diesem Fall war es etwas Positives – ich bin froh, dass du immer noch du bist. Ich mag dich, wie du bist. Bleib so. Es schnürte ihm trotzdem den Hals zu. Er presste die Lippen zusammen, während er zusah, wie um sie herum Kirschblüten fielen, wie sich kleine, zartrosa Blütenblätter in Aratas Haar verfingen. Kirschblüten.   Veränderung.   Sie hatten immer Veränderung bedeutet für Aoi. Sie markierten die Zeitspanne des Schuljahreswechsels. Weg von alten Kameraden und hin zu neuen. Ob nun nur eine Klassenstufe höher, oder eine ganz neue Schule, es war jedes Jahr ein spürbarer Wandel. Bisher war es eine simple Selbstverständlichkeit gewesen – es gehörte einfach dazu. Doch mit einem Mal wirkte die Veränderung, die die Kirschblüten ankündigten, während sie still und leise zur Erde tanzten, groß und angsteinflößend, und Aoi wünschte sich, er könnte die Zeit anhalten, sie daran hindern, zu fallen und damit eine neue Ära einzuläuten, für die er noch nicht bereit war. Vielleicht würde er nie bereit sein.   Er versuchte, den Gedanken von sich zu schieben, doch es war beinahe unmöglich. Sein Blick kehrte von dem rosafarbenen Tanz in der Luft zu seinem Freund zurück. Aratas Blick war längst wieder zu üblicher Neutralität zurückgekehrt, eine Augenbraue kaum merklich erhoben, abwartend und auffordernd. „Ich komme“, rief Aoi ihm mit einem leisen Lachen zu, das ihm halb in der Kehle stecken blieb. Arata schob die Hände in die Hosentaschen und wandte sich um, trottete weiter den Weg entlang. Es dauerte nur ein paar Schritte, bis Aoi zu ihm aufgeschlossen hatte. Ganz selbstverständlich verfielen sie ins gleiche Schritttempo, liefen im gleichen Takt – es war schon immer so gewesen, und es würde sich wohl auch nicht ändern. Muskelgedächtnis, eine Routine, die längst viel zu sehr in Fleisch und Blut und Selbstverständlichkeit übergegangen war, um jemals verloren zu gehen. Es war seltsam tröstlich, dass da Dinge waren, die ewig bleiben würden, wie sie waren. Dinge, die sich nicht verändern würden, obwohl so vieles andere nicht gleich bleiben konnte.   Arata hatte sich schon verändert.   Es waren Kleinigkeiten.   Er hatte aufgehört, zu heulen, wenn er einen Horrorfilm sah. Schon vor vielen, vielen Jahren. Aber Aoi erinnerte sich noch, wie sie einmal in kindlichem Übermut nachts den Fernseher eingeschaltet hatten, statt zu schlafen – und natürlich bei einem Horrorfilm gelandet waren. Sie hatten beide geweint, und während Arata heute keine Miene mehr verzog, obwohl er Horrorfilmen noch genauso wenig zugetan war wie damals, war Aoi immer noch der Typ, der sich viel zu schnell aufwühlen ließ und lieber die Flucht ergriff. Er hatte aufgehört, ständig seinen Vorrat an Leuchtstäben wieder aufzufüllen, weil er sie schlicht nicht mehr ansatzweise so oft brauchte wie früher, als er noch die Zeit gehabt hatte, selbst Fan statt Idol zu sein. Er hatte angefangen, ein deutliches Interesse an Mädchen zu entwickeln; etwas, das an Aoi immer noch vorbeizog. Natürlich bekam er Liebesbriefe, und alleine aus Respekt heraus beantwortete er sorgfältig jeden einzelnen, aber er selbst sah sich noch lange kein Interesse an den Mädchen haben, die ihm schöne Augen machten. Und gut, bei allem Interesse, es war nicht, als peilte Arata eine Beziehung an, aber trotzdem war es eine Veränderung: Er hatte begonnen, sich für Dinge zu interessieren, von denen Aoi immer noch rote Ohren bekam, wenn er nur daran dachte. Er hatte begonnen, Bekanntschaften zu schließen, die über gemeinsamen Freundeskreis hinausgingen.   Es waren Kleinigkeiten. Noch waren sie zusammen, in allem, was sie taten. Arbeit. Studium.   Irgendwann würde sich das auch ändern.   Sie waren ihr Leben lang den gleichen Weg gelaufen, und Aoi würde ihn womöglich ewig weiterlaufen, während Arata irgendwann eine Abzweigung finden würde, die ihn auf einen anderen Pfad brachte, einen Pfad, den er nicht  mehr mit ihm teilte. Mit einem eigenen Leben, einem anderen Beruf, einem neuen Freundeskreis und einer eigenen Wohnung.   „Aoi. Hey, was ist los?“ Aratas Worte ließen ihn kurz innehalten. Er sah auf, sah in das vertraute Gesicht seines Freundes, und hätte er nicht aus jahrelanger Erfahrung gewusst, dass sie da war, er hätte die Sorge in Aratas Blick nicht gesehen. „Es ist nichts“, gab er zurück, seine Mundwinkel zuckten automatisch zu einem Lächeln, „Ich habe nur nachgedacht.“ Was sollte er sonst sagen? Ich habe Angst, dich zu verlieren. Weil du dich veränderst, und ich mich nicht. Weil die kleinen Dinge, die heute anders sind, irgendwann einmal nicht mehr klein sondern groß sein werden, groß genug, um eine Kluft zu sein, die zwischen uns liegt. Weil irgendwann nicht mehr ich derjenige sein werde, den du morgens als ersten begrüßt und abends als letzten verabschiedest. Nein. Das funktionierte einfach nicht. Das konnte er Arata gar nicht sagen. Was würde das mit ihrer Freundschaft machen? Würde Arata wütend werden? Ihn auslachen? Sich bedrängt fühlen von Aois Ängsten und Unsicherheiten?   Nein. Es war unfair, so etwas überhaupt zu denken. Solche Reaktionen wären überhaupt nicht Aratas Art!   Wie er reagieren würde, das konnte Aoi bei aller Arata-Kenntnis aber auch nicht abschätzen. Vielleicht war es seine eigene Angst vor der Antwort, die ihn daran hinderte, das übliche Verständnis aufzubringen. Vielleicht war es auch einfach eines der Dinge, die Arata so gut verbarg, das selbst Aoi sie nicht sah; seine Nervosität blieb ihm schließlich auch oft verborgen. „Worüber?“ Aoi schüttelte den Kopf, schüttelte Gedanken und Gefühle ab, sah Arata mit einem strahlenden Lachen an, das halb aufgesetzt und halb ehrlich war, und vollkommen seine Angst verbarg.   „Nicht wichtig.“   Es war ein Thema, vor dem Aoi lieber fortlaufen wollte, als sich ihm zu stellen.     ***     „Yuzuru-San hat uns Karten zur Vorpremiere geschickt.“   Vor seiner Nase wedelten ein paar Eintrittskarten herum, deren Sinn Aoi gerade gar nicht erkennen konnte. Er blinzelte von dem bedruckten Papier zu Arata hinüber, der ihn wenig aussagekräftig beobachtete. In seinem Blick lag kaum sichtbar eine stumme Aufforderung; die Frage, ob er mitkommen wollte. Mitkommen wohin? Aoi blinzelte verwirrt, schüttelte desorientiert den Kopf. „Bitte?“ „Karten“, wiederholte Arata noch einmal. Jetzt mischte sich Sorge in seine Stimme – Aoi war selten so unaufmerksam. „Für die Vorpremiere. Der neue Film? Du erinnerst dich? Der, mit dem Iku uns in den Ohren gelegen hat, weil ihn das Thema so sehr interessiert?“ Es war irgendetwas Sportliches, das wusste Aoi noch. Ein Drama über einen High-School-Sportler, der aus Gründen, die Aoi sich nicht gemerkt hatte, mit dem Sport aufhören musste, und schließlich Jahre später eine neue Chance bekam. Es müsste Leichtathletik gewesen sein, oder etwas Ähnliches zumindest; irgendwoher musste Ikus gesteigertes Interesse an dem Film doch kommen. Natürlich erinnerte Aoi sich noch. Er merkte sich, was seine Freunde bewegte. Mit einem verlegenen Lachen blinzelte er Arata kleinlaut zu. „Entschuldige, Arata. Dass wir Karten bekommen haben, ist sehr nett von Mikazuki-San!“   Ah.   Das war es. Das hatte Aoi so aus der Bahn geworfen. Er blinzelte verblüfft, suchte Aratas Blick. Außer Verwirrung begegnete ihm nichts – nichts Fremdes vor allem. Das war immer noch Arata. Als hätte sich gar nichts verändert. „Ich wusste nicht, dass ihr auf Vornamenbasis seid“, platzte er heraus, ehe er sich überlegen konnte, ob das wirklich eine so kluge Idee war. Es war natürlich keine kluge Idee, etwas, das ihm auch bewusst wurde, kaum, dass die Worte ihm herausgerutscht waren, aber – nun war es auch schon zu spät. Arata schien die Worte zuerst nicht einmal zu begreifen. Er sah Aoi mit einem kaum sichtbaren Hauch von Verwirrung an, hob die Augenbrauen, ließ sie im nächsten Moment wieder sinken. Verwirrung wich Verstimmtheit, während er die Karten zur Seite legte und sich selbst rücklings in seine Kissen warf. Die Bewegung war so vertraut, dass sie Aoi trotz aller flauen Gefühle lächeln ließ. „Er hat angefangen“, gab Arata zurück. Trotz des immer noch eher monotonen Tonfalles erkannte Aoi das unverwechselbare Meckern in seiner Stimme. Erleichtert lachte er auf, lehnte sich zu Arata hinunter und grinste ihn ungeniert neckend an. „Es stört dich nicht wirklich.“ Es war beängstigend, dass aus Mikazuki-San, dem ungeliebten Mentor, ein Freund geworden war.   Es war tröstend, dass Arata nicht den ersten Schritt auf diesen neuen Pfad getan hatte.   Aois Lachen verblasste, als Arata spielerisch nach ihm schlug, begleitet von dem Kommentar „Du bist doch nur neidisch“.   Es war absolut furchterregend, dass jemand anderes die Kraft hatte, Arata auf einen neuen Pfad zu ziehen.     ***     Der Tag war viel zu lang gewesen. Aoi seufzte schon erschöpft, als die automatischen Türen zur Lobby hinter ihm zufielen. Der Portier grüßte ihn, ein Gruß, den er selbst nur mit einem vagen Murmeln beantwortete. Selbst nach all den Jahren verschätzte er manchmal noch den Aufwand, der hinter einem einzelnen Job stecken konnte. Und dieses Mal hatte er radikal danebengelegen. Gut, er hatte es aber auch nicht ahnen können. Mit Menschen zusammenarbeiten zu müssen, die er überhaupt nicht kannte, war einfach wie Russisch Roulette. Die meiste Zeit war es eine unglaublich spannende Erfahrung, von der er profitierte, und manchmal zerrte es einfach nur an seinen Nerven, ließ ihn gefrustet und müde zurück, weil das kleine Grüppchen Fremder, das sich da zusammenfand, einfach gar nicht harmonierte.   Als er auf der richtigen Etage aus dem Fahrstuhl stieg, war sein einziges Ziel sein Zimmer, um möglichst schnell ins Bett zu fallen. Eigentlich wollte er mit Arata reden, aber selbst dafür war er gerade noch zu müde. Es war nicht das erste Mal, dass einer von ihnen nach einem Job oder einem Meeting nichts anderes mehr tat als schlafen zu gehen, also war es nicht schlimm. Kein Grund zur Sorge. Ein schlechtes Gewissen hatte Aoi trotzdem, als er müde in Richtung Wohnzimmer schlurfte, um dort auf dem Tisch nur noch die Bücher abzulegen, die er sich zu Recherchezwecken von Hajime geliehen hatte.   Mikazuki saß auf dem Sofa, so selbstverständlich, als hätte er nie etwas anderes getan.   Arata saß ihm gegenüber. Die beiden waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft; sie bemerkten nicht einmal, dass Aoi eingetreten war, der verdutzt kurz hinter der Tür stehen blieb. Aoi konnte sich nicht erinnern, dass jemals einer von ihnen Besuch mitgebracht hatte. Gut. Familienmitglieder. Kais Geschwister kannte er der Reihe nach vom Sehen her, weil sie doch das ein oder andere Mal hier gewesen waren. Chihiro war ab und zu hier gewesen, genau wie Aratas Schwester. Einige Eltern. Ikus Familie hatte sogar den Familienhund dabei gehabt, der sich direkt mit dem gesamten Kleinzoo angefreundet hatte, der sich hier im Wohnheim tummelte. Familie war etwas anderes. Niemand hatte bisher Freunde mitgebracht. Nicht einmal You und Yoru, die sich regelmäßig mit Mattsun trafen. Weil der Kerl zu verschiedenen Gelegenheiten bei Auftritten gewesen war, kannte Aoi ihn inzwischen ziemlich gut. Er war nett. Er war ein guter Freund, der oft präsent war, und trotzdem war er nicht hergekommen.   Es war ein ungeschriebenes Gesetz: Ins Wohnheim nahm man niemanden mit. Die einzigen Ausnahmen waren Familienmitglieder.   Und Beziehungspartner. (Bisher war es eine theoretische Ausnahme gewesen. Niemand hatte je Gebrauch davon gemacht.)   Aoi stand da, unbemerkt, während Aratas Lachen den Raum erfüllte, und genauso unbemerkt, still und leise, zerbrach seine Welt. Arata hatte es ihm nicht gesagt. Arata, mit dem er seit schon immer alle Geheimnisse geteilt hatte, hatte zum ersten Mal im Leben ein Geheimnis vor ihm, ein ernsthaftes, großes Geheimnis. Eines, von dem Aoi immer geglaubt hatte, dass er der erste sein würde, der davon erführe. Er schluckte hart um einen Kloß herum, presste die Lippen aufeinander, während seine Gedanken hektisch umeinander rasten. Warum? Wann war es passiert? Die Vorpremiere war schon seit Monaten vorbei, und seitdem hatte Aoi gar nichts mehr von Mikazuki gehört, das über ein paar höfliche Grüße und Glückwünsche zu entsprechenden Anlässen hinausgegangen war. Hatte Arata es gezielt verheimlicht? Dass er ihn hierher eingeladen hatte, zeigte doch, dass es nichts sein konnte, das erst seit gestern lief.   Veränderung. Da war sie. Die Veränderung, vor der er sich gefürchtet hatte. Der Moment, an dem etwas geschah, das sie unmissverständlich trennte, das ganz deutlich zeigte, dass ihre Pfade nun unterschiedlich verliefen. Arata hatte einen eigenen Weg gefunden. Einen anderen Weg. Einen neuen Weg. Einen Weg, den er mit Mikazuki teilen würde, statt mit Aoi. Er wollte sich abwenden und weglaufen, bevor ihn noch jemand bemerkte. Damit er gar nicht hören musste, was er ohnehin schon sichtbar vor sich sah.   „Yuzuru-San und ich sind zusammen. Wir haben es eben schon den anderen erzählt.“   Es passte nicht zu Arata! Bisher hatte Aoi keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln, dass sie sich immer alles erzählen würden. Und Arata, obwohl er so aussah, war gar kein guter Geheimniskrämer. Hätte er es wirklich so lange vor Aoi geheim halten können? Warum? Es passte gar nichts zusammen. Eine andere Erklärung gab es auch nicht.   Es war vorbei.   „Aoi-San?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)