Unpleasant Truth von Writing_League ================================================================================ One-Shot -------- “16 Stunden, 47 Minuten und 11 Sekunden.”   Es waren die ersten Worte, die Shinichi hörte, nachdem sein Körper unter Qualen zurück in seine geschrumpfte Gestalt gewechselt war. Er selbst war viel zu beschäftigt damit, wieder zu Atem zu kommen, als das ernste, irgendwie bedrückte Gesicht des Mädchens vor sich zu sehen. Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch, während Shinichi – jetzt wieder in der Identität von Conan – sich den Schweiß von der Stirn wischte. Er war zufrieden. Natürlich hätte er es lieber gehabt, wenn er für immer in seinen alten Körper zurückgekehrt wäre, daran arbeiteten sie schließlich. Aber die knapp 17 Stunden, die er zur Verfügung hatte, wurden von ihm gut genutzt. Am Ende hatte er sich gewünscht, er hätte noch ein paar Augenblicke mehr gehabt, doch was er nach all den Malen mit dem Gegengift wusste war, dass man es nehmen musste, wie es kam. Am Anfang hatte er sich jedes Mal wieder geärgert, wenn er – noch viel zu früh – zwangsläufig wieder seine Gestalt wechseln musste. Mittlerweile war er es gewöhnt. Shinichi wusste, dass daran nichts zu rütteln war.   „Was ist?“, fragte er schließlich, als er wieder vom Boden des Labors aufgestanden war, um sich neue, passende Klamotten zu besorgen. Ihr Blick hatte ihn stutzig gemacht. Haibara seufzte leise und schüttelte dann den Kopf. Das bedeutete, es war eindeutig etwas im Busch. „Du hast doch was“, stellte Shinichi klar, als er unter einem viel zu großen, weißen Hemd in seine kurze Hose schlüpfte. Längst hatte sich Haibara weggedreht, um nicht mit ansehen zu müssen, wie er sich das Hemd aufknöpfte und es gegen eins in Kindergröße tauschte.   „Es ist nichts“, merkte Haibara unbekümmert an – die Art von Unbekümmertheit, die sie so oft an den Tag legte. Doch Shinichi glaubte ihr schon lange nicht mehr, wenn sie so tat, als wäre absolut alles in Ordnung, als wäre es ihr schlichtweg egal. Shinichi wusste, dass sie ihre Gefühle selten zeigte und auch ihre Gedanken geheim hielt. Sie konnte ihm nichts mehr vormachen.   „Du solltest nach Hause gehen. Sie macht sich sicher schon Sorgen“, wechselte Haibara das Thema. Natürlich tat sie das, aber Shinichi winkte nur unbeeindruckt ab.   „Ach was. Ich sag ihr einfach, ich übernachte beim Professor, so wie gestern.“   „Glaub bloß nicht, dass sie damit einverstanden sein wird. Du musst morgen schließlich in die Schule. Aber versuch's ruhig. Dann kann ich dir sagen „Ich hab es ja gesagt.“...“ Mit einer vagen Handbewegung verließ Haibara schließlich das Wohnzimmer, trat die Treppe zum Labor herunter und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Nach einem kurzen Telefonat musste er feststellen, dass sie Recht behielt. Ran forderte, dass er sofort nach Hause kommen sollte. Innerlich verfluchte Shinichi sie alle beide – Frauen waren furchtbar anstrengend und schafften es immer wieder, sich miteinander gegen einen zu verbünden...       Am nächsten Tag war Haibara noch immer still und in sich gekehrt – mehr als sonst, wie Shinichi auffiel. Unter dem heiteren Geplapper der anderen Detective Boys in ihrer Mittagspause war es besonders leicht zu erkennen. Es sah auch nicht aus, als hätte sie großartig Appetit, so wie sie in ihrem Essen herumstocherte, mehr als dass sie etwas zu sich nahm. Nicht nur ihm fiel es auf. „Nanu? Ai, hast du etwa keinen Hunger?“, fragte Ayumi verwundert und sah das Mädchen fragend an dabei. Auch Gentas und Mitsuhikos Blicke lagen auf ihr, nicht weniger irritiert.   „Also, wenn es dir nicht schmeckt, dann ess ich das natürlich für dich. Es wäre eine Schande, das gute Essen verkommen zu lassen.“   „Genta, du hast doch schon gegessen. Das ist Ais Mittag. Und sie muss essen, wenn sie groß und stark werden will.“   „Genau! Mitsuhiko hat Recht. Du Willst doch groß und stark werden, oder Ai?“, fragte Ayumi elanvoll – für sie kam nur eine Antwort in Frage. Doch anstatt ihr zu antworten, packte Haibara ihre Bentobox ein, stand auf und ging, womit sie vier fragende Gesichter zurück ließ. Und wieder fühlte sich Shinichi darin bestätigt, dass etwas nicht stimmte, sie war schließlich schon seit dem Vortag so merkwürdig, viel in sich gekehrter als sonst.   „Was hat sie denn? Haben wir etwas Falsches gesagt?“, wollte Mitsuhiko wissen, auch Ayumi sah sorgenvoll hinter ihr her und schien sich ihre Gedanken zu machen. „Vielleicht wird sie krank, vielleicht hat sie aber auch ein anderes Problem.“   „Und was für eins?“   „Ich weiß nicht, aber ich hab mal gehört, dass Mädchen, wenn sie verliebt sind, ihren Appetit verlieren“, erklärte Mitsuhiko, der daraufhin begann von seiner großen Schwester zu erzählen. Einen langen Moment war ihr Gespräch daraufhin in völlig falsche Bahnen abgebogen. Shinichi ließ sie reden, spekulieren und sich in diesen Humbug verrennen. Er selbst war davon überzeugt, dass Haibara nicht verliebt war. In wen auch? Und Haibara? Niemals. Das traute er ihr nicht zu. Es musste eine andere Erklärung für ihr Verhalten geben.   „Was denkst du, Conan? In wen ist Ai verliebt?“, fragte Ayumi schließlich. Er als Superspürnase hatte schon so oft des Rätsels Lösung gefunden, dass sie scheinbar große Hoffnungen auf ihn setzte. Auch die anderen beiden schauten ihn gespannt an, Mitsuhiko schluckte, während Genta genauso ein dummes Gesicht machte, wie sonst, wenn er nichts begriff. „Ich denke, ihr liegt damit komplett falsch. Haibara ist nicht verliebt.“   „Nein? Aber was hat sie dann, Conan?“   „Dann wird sie sicher doch krank“, äußerte Ayumi ihre vorige Vermutung erneut und machte ein nachdenkliches Gesicht.   „Das wäre doof. Ich hoffe, sie ist übermorgen wieder gesund, da ist doch meine Geburtstagsfeier.“   „Stimmt“, stellte Genta fest. „Wenn sie nicht kommen kann, verpasst sie doch den ganzen Spaß.“   Shinichi glaubte, dass Haibara – genau wie er auch übrigens – sehr gut auf Mitsuhikos Geburtstagsfeier verzichten konnte. Sie waren viel zu alt, um sich auf einem Kindergeburtstag zu amüsieren. Vermutlich würde sie sowieso nicht kommen, egal wie sehr der Professor sie auch überreden mochte. Haibara war gut darin, gemeinsame Ausflüge oder andere Aktivitäten mit den Kindern zu meiden, indem sie eine Ausrede parat hatte. Dass sie das allerdings nur spielte, um sich später drücken zu können, glaubte Shinichi trotzdem nicht. So viel Aufwand hatte sie nie gemacht und ihre sonstigen Ausreden waren fern von jeglicher Schauspielerei. „Es wird ihr schon gut gehen, macht euch keine Sorgen um sie“, sagte Shinichi noch, bevor er mit dem Läuten der Schulglocke sein Bento wegpackte und sich in ihren Klassenraum zurück begab.     „Wir müssen reden.“   Irritiert drehte Conan das Gesicht zur Seite, hin zur Quelle des Geflüsters, dessen Hauch er sogar ein Stück weit an seinem Ohr gespürt hatte. Haibara. Haibara, die ihm ziemlich nahe gekommen war, um auch ganz sicher zu sein, dass keines der Kinder etwas davon mitbekommen würde. Jedenfalls nahm Shinichi an, dass sie deswegen so flüsterte. Es war etwas, was nur sie beide etwas anging – möglicherweise nur sie beide überhaupt wüssten. Das Gegengift vielleicht? Wenn er Glück hatte, hatte Haibara einen neuen Prototypen entwickelt, den er testen könnte. Egal was es war, Shinichi nickte erst einmal nur. Als sich die Wege der Detective Boys langsam trennten, nahm Shinichi den zum Haus des Professors, gemeinsam mit Haibara. Es war ungewohnt, nach all der Zeit wieder an denselben Gebäuden vorbei zu kommen, dieselben Straßen entlang zu gehen, die er sonst als Shinichi jeden Tag auf dem Heimweg genommen hatte. Die seltenen Male, die er nun als Conan hier entlang ging, waren jedes Mal wieder seltsam. Er hoffte, dass dies in naher Zukunft endlich ein Ende hatte.   „Also? Worüber wolltest du mit mir reden?“, fragte Shinichi sie schließlich noch auf dem Heimweg, nachdem sie endlich alleine waren und nur noch der Straße folgen mussten, die zum Haus des Professors führte. Bis dahin hatten sie sich angeschwiegen. Eine Antwort bekam er ebenfalls nicht sofort, erst als sie das Gartentor erreicht hatten, zögerte sie. Die Worte, die Shinichi schließlich hörte, hallten noch eine Weile in seinem Kopf nach.   „Ich denke, du musst dir langsam Gedanken machen, wie dein Leben als Conan weitergehen soll.“   Shinichi stockte, musste erst einmal verarbeiten, was er da gehört hatte und wollte es dann doch nicht so recht glauben. Sicher wollte sie ihn wieder auf den Arm nehmen, das hatte sie schon öfter getan. Der Ernst und die mitklingende Gleichgültigkeit jagten ihm allerdings einen Schauer über den Rücken. „Was redest du da? Was soll das heißen? Willst du etwa aufgeben?!“, platzte es aus ihm heraus. Als Folge dessen verdunkelte sich Haibaras Blick ein Stück, trotzdem war einer ihrer Mundwinkel zu einem Lächeln hochgezogen. Shinichi wusste nicht, was daran so lustig sein sollte und kam, so aufgebracht wie er war, nicht einmal auf die Idee, dass sie ihre eigene Zerbrechlichkeit hinter einer Maske verstecken konnte. „Jetzt rede endlich!“   „Ist es dir denn nicht aufgefallen? Hm. Von einem Meisterdetektiv hätte ich ja ein bisschen mehr erwartet“, begann Haibara und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen das Eingangstor. Kurz schloss sie ihre Augen, atmete einmal durch und suchte scheinbar nach Worten. „Die Wirkungszeit, sie ist in den letzten Versuchen gesunken. Erinnerst du dich noch daran, wie du mehr als einen Tag deinen alten Körper zurückbekommen hast? Die letzten Tests waren im Vergleich dazu ein Reinfall. Wir bewegen uns eher zurück als vorwärts.“   „Dann musst du eben an der Zusammensetzung etwas ändern. Du hattest doch schon mal einen Prototyp, der nur ein paar Stunden gewirkt hat. Verwirf das, was du die letzten Male verändert hast und setz wieder da an, wo die Wirkungsdauer am längsten war!“   „Meinst du nicht, dass ich auf so eine Idee auch selbst gekommen wäre? Egal, was ich verändert habe, es hat nicht geholfen. Das eine Mal hab ich dir sogar einen alten Prototypen gegeben, aber das Ergebnis war dieses Mal anders. Die Wirkung ließ viel früher nach als bei der ersten Einnahme. Und wir reden hier nicht von Minuten, Shinichi.“   Das zu schlucken war schwer. Er musste sich erst einmal sammeln, seine Gedanken ordnen und dann würde er versuchen, nach einer Lösung zu suchen. Es konnte doch nicht sein, dass es einfach vorbei sein sollte. Das wollte Shinichi nicht glauben. Bisher hatte er immer geglaubt, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis er seinen alten Körper zurückbekäme. Dass er diesen Gedanken nun aufgeben sollte – er weigerte sich. Es konnte einfach nicht sein.   „Das kann ich nicht glauben“, kam es ohne Einsicht von Shinichi. „Es muss doch noch Möglichkeiten geben. Wenn du weitermachst, dann findest du ganz sicher noch die richtige Zusammensetzung! Und das noch bevor es zu spät sein soll. Wir können hier doch nicht einfach aufgeben!“   „Du bist dir dessen ja ziemlich sicher“, merkte Haibara an und seufzte. Irgendwie war es ihr scheinbar auch vorher klar gewesen, dass Shinichi nicht einfach klein beigeben würde. Nach all der Zeit. „Wenn du willst, dann mach ich weiter. Aber sei dir bewusst, dass die Chancen, ein Gegenmittel zu finden, drastisch gesunken sind. Nach all der Zeit, die vergangen ist, hat sich dein Körper langsam an die neue Zellstruktur gewöhnt. Und so oft, wie du das Gegengift mittlerweile eingenommen hast... Wir kämpfen hier gegen zwei Komponenten.“ Mit diesen Worten stieß sich Haibara langsam von dem Gartentor ab, drehte sich und öffnete es, um hindurch zu gehen und sich mit einem „Also bis dann“ zu verabschieden. Sie ließ einen sprachlosen Shinichi zurück, der viel zu sehr damit beschäftigt war, das Gehörte zu verarbeiten. Und natürlich einen Ausweg für ihre Situation zu suchen. Bei allem Optimismus, aber er war sich bewusst, dass die Lage ernst war, so wie Haibara es beschrieb. Aufgeben wollte er dennoch nicht.         Es vergingen einige Wochen und ein paar weitere Tests, die allesamt nicht sonderlich erfreulich ausgefallen waren. Haibaras Gesicht war emotionslos, als sie die Zeiten in ihrem Notizbuch notierte. Shinich konnte erahnen, was sie dachte. Sie hatte es ihm ja gesagt. Und dennoch gab er nicht auf, wollte nicht aufgeben, konnte es auch nicht. Er lief seinem alten Leben als Oberschüler hinterher, in dem Ran und er sich längst ihre Liebe gestanden hatten. Und wieder konnte er sie nur vertrösten, bis zu dem Tag, an dem er endlich zurückkehren würde. Dieses Mal für immer. Aber mit den neuesten Testergebnissen rückte es weiter in die Ferne als je zuvor. Die Stimmung war bedrückend. Einzusehen, dass es bald möglicherweise wirklich vorbei sein könnte – es zog ihn runter, genau wie die Beziehung, die er und Haibara zueinander hatten. Ihre Gespräche wurden kürzer, am Ende redeten sie nur noch das Nötigste miteinander. Nicht, weil Shinichi sie nicht mehr mochte, aber... Er wusste nicht mehr viel zu sagen, war regelrecht kleinlaut geworden und der eine Versuch, als er ganz hilflos begann über das Wetter zu reden, wurde von Haibara eiskalt abgeblockt.   Shinichi wollte nicht, dass es zwischen ihnen so blieb, aber genau wie der Körper, in dem er gefangen war, konnte er auch dieser Situation nicht entkommen. Haibara war dafür viel zu stur.   So blieb die Situation bis zum nächsten Morgen. Als Shinichi feststellte, dass Haibara nicht zur Schule kam, machte er sich seine Gedanken dazu – ein wenig von Sorge begleitet waren sie. Es war an der Zeit sich mit ihr auszusprechen, wie er fand. Mehr als nötig war es sogar. In der Mittagspause rief Shinichi bei Professor Agasa an, um sich nach Haibara zu erkundigen. Vielleicht war sie dieses Mal ja wirklich krank, auch wenn er noch nicht ganz dran glaubte. Vermutlich tat sie nur so, um nicht in die Schule zu müssen. Oder sie tat nicht einmal so, sondern äußerte lediglich, dass sie nicht gehen würde, denn ernsthaft, Haibara war kein Kind, das den Grundschulunterricht noch nötig hatte. Es dauerte etwas bis der Professor abnahm.   „Ah, Shinichi, was gibt es? Müsstest du nicht in der Schule sein?“   „Bin ich, Professor, aber-“, sprach er leise in das Ohrringhandy, mit dem er sich wieder einmal auf der Toilette verschanzt hatte. „...Wie geht es Haibara?“   „Nun, wie soll es ihr gehen? Müsstest du das nicht am besten wissen?“   „...Wie meinen Sie das, Professor?“   „Sie ist bei dir... oder nicht?“   In seinem Kopf begann es zu arbeiten. Wenn sie nicht hier war, aber der Professor nicht darüber Bescheid wusste... Er schluckte, schaltete die Karte samt Ortungsgerät seiner Brille an und suchte die Umgebung ab. Das kleine Signal, dass er von ihren Mikroremittern erhielt, ignorierte er, zoomte heraus und fand ein weiteres in der Nähe. Haibaras Mikroremitter. Er war in Professor Agasas Haus. „Shinichi, warum antwortest du nicht?“   „Professor, sind Sie sich ganz sicher, dass sie nicht bei ihnen ist?“, fragte Shinichi hektischer, lauter, unbeherrschter.   „Also... Ich kann mal nachsehen, aber sie hat heute Morgen das Haus verlassen und ist zur Schule gegangen. Heißt das“, stockte die Stimme am Telefon. „Dass sie nicht dort ist?“   „Ich melde mich wieder!“, sagte Shinichi noch, dann legte er auf und schaltete die Ortung seiner Brille aus. Es war sinnlos, wenn sie ihren Mikroremitter nicht dabei hatte, er würde sie ohne aufspüren müssen. So wie er Haibara allerdings kannte, war es Absicht, dass sie ihn zuhause hatte liegen lassen. Und dieser Gedanke führte nur dazu, dass er sich sicher war, sie sei geplantermaßen abgehauen. Es machte sich zwar auch ein wenig die Sorge breit, dass ihr etwas passiert war, aber nein, das konnte nicht sein. Sie hätte ihren Mikroremitter dabei gehabt. Sie hätte sie anfunken können, damit sie ihr zur Hilfe kamen. Aber er lag zuhause. Es musste einfach Absicht sein.   Und das war strenggenommen genauso ein guter Grund zur Sorge.   Shinichi verließ rennend das Schulgebäude sowie das umliegende Gelände und versuchte sich auszumalen, wo er sie finden könnte. Wenn sie wirklich weggelaufen war, dann könnte sie mittlerweile überall sein. In der Gestalt eines kleinen Mädchens würde es ihr zwar schwer fallen, Tickets für weite Fahrten ohne Hinterfragen zu erhalten, aber es war nicht auszuschließen, dass sie trotzdem mit dem Bus oder der Bahn weit genug weg kam, immer ein kleines Stück weiter mit jeder Fahrt. Ob sie genug Geld dabei hatte? Vermutlich. Shinichi glaubte nicht, dass sie so ungeplant an diese Sache herangegangen war. Bevor er sich allerdings darin verrannte, wie aussichtslos die Suche sein konnte, sammelte er im Kopf alle Orte, an denen sie sein könnte – wenn er Glück hatte. Und ein Ort stand dabei ganz weit oben auf seiner Liste.   Als Shinichi nicht mehr viele Schritte weit weg war, sah er sie. Sie stand einfach nur da und sah zu dem Haus, ein melancholischer Blick lag auf ihrem Gesicht. Es war das Haus, in dem sich die Wohnung von ihrer Schwester, Akemi Miyano, befunden hatte. Er war selbst schon hier gewesen, einmal hatte er Haibara hergeführt gehabt. „Du hättest wissen müssen, dass ich dich hier als erstes suchen würde“, merkte er an, während er weiter auf sie zuging. Haibara zuckte zusammen, dann wandte sie sich zu ihm und lächelte ein kühles, ergebendes Lächeln. Sie hätte genauso gut wegrennen können, aber das verbot ihr vermutlich ihr Stolz.   „Ich hab damit gerechnet. Und trotzdem bin ich das Risiko eingegangen.“   „Weil du in Wirklichkeit gar nicht weglaufen willst.“   „Nein. Das hast du falsch interpretiert, Herr Meisterdetektiv“, sagte Haibara und strich sich mit einer Hand die Haare hinters Ohr. Shinichi sah sie nicht einmal überrascht an, stattdessen hatte er dasselbe Pokerface aufgesetzt wie sie. Als würde ihn ihre Antwort nicht im Geringsten beeindrucken. Streng genommen tat sie das auch nicht, denn er kannte sie mittlerweile so gut, dass er wusste, wann sie eine Maske aufsetzte. Er war sich sicher, dass dies einer dieser Momente war.   „Komm schon, Haibara, mach keinen Quatsch. Wo willst du überhaupt hin? Du weißt doch selbst, dass die Idee hirnrissig ist.“   Sie zuckte mit den Schultern und drehte sich ein wenig von ihm weg. „Wer weiß, wohin es mich zieht. Weit weg, wo mich niemand kennt und mein Geheimnis ebenso wenig.“   „Wo dich niemand versteht, meinst du wohl“, korrigierte Shinichi sie und seufzte. Warum musste dieses Mädchen immer so stur sein? War es nicht offensichtlich genug, dass ihre Idee daneben war? „Wieso willst du das hier aufgeben? Der Professor und ich kennen dein Geheimnis, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich mache das Selbe durch. Willst du das wirklich aufgeben, nur, weil du dich wieder entschlossen hast, davonzurennen? Ich dachte, das hattest du längst verworfen.“   „Dinge ändern sich eben“, sagte Haibara kalt und winkte ab. Shinichi wollte sich am liebsten die Haare raufen. Sie machte es ihm aber auch nicht leicht. Das tat sie selten, er erinnerte sich noch an die ersten Male, bei denen er sie förmlich zwingen musste, ihr Leben nicht zu verschwenden. Er dachte, sie wären damit durch. Offensichtlich lag er falsch. „Also dann, mach‘s gut, Shinichi.“   Hastig griff eine Hand ihren Unterarm. Er hatte nicht vor, sie gehen zu lassen. Als Haibara sich umdrehte, teils verärgert, teils überrascht, trafen sich ihre Blicke. Einen Augenblick lang sahen sie sich nur in die Augen, irgendwie sprachlos, während sich ihr eigenes Antlitz in den fremden Augen spiegelte. „Lauf nicht weg. Ich hab doch versprochen, dich immer zu beschützen. Außerdem hab ich darüber nachgedacht, wie mein Leben als Conan aussehen soll, wie du gesagt hast. Du warst ein Teil davon“, sagte Shinichi schließlich ernst, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte. Haibara dagegen regte sich immer noch nicht, ihr Blick war starr und wurde sie etwa ein wenig rot? Es machte ihn ziemlich nervös, so sehr, dass er das Gefühl hatte, ein Kloß schnürte ihm die Kehle zu. Plötzlich zuckten ihre Mundwinkel ein Stück nach oben, was ihn nur noch nervöser machte. Und er wusste nicht einmal, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.   „Und ich hab dir gesagt, dass ich keins von diesen Prinzesschen bin, die sich nicht alleine helfen können“, gab Haibara amüsiert zurück. Wie von Zauberhand löste sich die Last von seinen Schultern und gab seine Kehle wieder frei. Ihre Stimmlage verriet, dass das Gröbste geschafft war. „Dann bleib trotzdem bei mir, damit ich mich davon auch überzeugen kann.“   „Wie du willst. Aber beklag dich später nicht.“   „Niemals“, sagte Shinichi, legte seine Hand um ihr Handgelenk und begann sie daran sanft mitzuziehen, damit sie endlich wieder nach Hause gehen konnten – gemeinsam. „Weißt du“, begann er wieder, nachdem sie die ersten Schritte getan hatten und das gemeinsame Gehen langsam flüssiger wurde. „Die Kinder wären ziemlich traurig gewesen, wenn du einfach so verschwunden wärst.“   „Du klingst wie ein Vater, der gerade versucht hat, seine Frau aufzuhalten, damit sie ihn und ihre Kinder nicht verlässt. Wenn du so weiter machst, überleg ich es mir doch nochmal anders...“   Shinichi musste schmunzeln und schließlich tat es auch Haibara. Natürlich waren es nicht ihre Kinder, aber nach all der Zeit waren sie doch so etwas wie eine Familie geworden. Eher wie die große Schwester und der große Bruder, aber das war nicht, worauf es ankam. So sehr er sich sein altes Leben zurückgewünscht hatte, so war er doch froh, diese Familie zu behalten. Egal wie anstrengend sie beizeiten auch sein mochten. Sie gehörten längst zusammen und das Schicksal würde sie nicht mehr trennen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)