Hunger von Luca-Seraphin ================================================================================ Kapitel 1: 22.12.1916 --------------------- Heinrichs Magen krampfte. Blut rauschte in seinen Ohren. Ihm wurde schwindelig und schlecht. Kraftlos sank seine Hand herab. Am Rande seines Bewusstseins bemerkte er, dass ihm der Pinsel aus den Fingern glitt. Nur nicht an den Hunger denken … Er presste den Arm gegen seinen Bauch. Es half. Trotz allem zuckten Lichtreflexe vor seinen Augen. Druck entstand hinter seiner Stirn. Er schloss die Lider, sperrte das fahlweiße, winterliche Tageslicht aus. Ihm wurde kalt. „Wolff, hören Sie mich?“ Die Stimme kam von weit her. „Wolff, Heinrich, Junge …“ Er blinzelte. Das Bild verschwamm und klärte sich. Der helle Fleck vor ihm nahm die Konturen von Fräulein Driesen an. Das hagere Gesicht der alten Dame drückte Sorge aus. Stockend atmete er ein und ließ die Luft langsam wieder durch den Mund entweichen. Die Übelkeit dämpfte das Tosen in seinen Ohren, der Krampf blieb. Um sich hörte er vereinzelt Stimmen, bemerkte die Wärme anderer Körper, die ihn dicht umstanden. Er wollte die ausgezehrten, müden Gesichter seiner Freunde und Kommilitonen nicht sehen müssen, schließlich ging es allen schlecht. Heinrich schluckte bitteren Speichel. „Es geht wieder, Fräulein Driesen.“ Sie griff sacht nach seiner Schulter. Ihre eigenen dünnen, gichtigen Finger besaßen kaum Fleisch. „Ruhen Sie sich einen Augenblick aus, Heinrich.“ Ihr Blick glitt zu einer anderen, verlassenen Staffelei. Heinrich folgte der Bewegung, obwohl er wusste, wen sie meinte. Rudolf Heimkes Platz war seit der vergangenen Woche leer. Er hatte hier das Bewusstsein verloren. Hunger, wie bei allen anderen. Heinrich war aber nicht annähernd so zierlich wie Heimke. Er konnte wiederstehen. „Ich mache gleich weiter, Fräulein Driesen.“ Ihre Brauen zuckten zweifelnd hoch. „Mir wäre es lieber, wenn Sie sich ausruhen würden, Heinrich.“ „Nein.“ Er lächelte. Wahrscheinlich wirkte es falsch. „Es geht gleich wieder.“ Das war eine Lüge. Er versuchte Stärke zu demonstrieren, die er nicht in sich trug. Momentan konnte er sich nicht einmal vorbeugen um den Pinsel wieder aufzuheben, geschweige aufzustehen um nach Hause zu gehen. Verunsichert trat sie zurück. Sie sagte nichts mehr, befahl aber auch keinem, sich zu setzen. Konrad kniete sich neben ihn und stützte sich mit beiden Unterarmen auf Heinrichs Oberschenkel ab. Ähnlich wie die Professorin wirkte er sehr besorgt. „Soll ich dich heimbringen?“, fragte er leise. Unter Heinrichs Ellbogen bewegte sich sacht seine Hand, schlecht geschützt vor den Blicken anderer. Konrad streichelte ihn. Diese offene Geste elektrisierte Heinrich. Die Reste der Übelkeit verschwanden unter seiner Angst. Er schob seinen Freund von sich. „Nein Löb. Bitte gib mir nur den Pinsel.“ In der Mimik seines Freundes veränderte sich etwas. „Ich meine es nur gut mit dir, Wolff!“ Seine Kiefermuskeln zuckten. Offenbar knirschte er mit den Zähnen. Heinrich tat es leid ihn zurückzuweisen, schließlich liebte er ihn. Konrad erhob sich und warf ihm einen bösen Blick zu. Für einen Moment wirkte es, als wollte er noch etwas sagen, aber er entschied sich dagegen. Diese Reaktion tat weh. Heinrich wollte sich entschuldigen, konnte es aber nicht. Müller neigte sich nach unten, nahm den Pinsel auf und hielt ihn ihm hin. „Hier, Wolff. Aber ich bin Löbs Meinung, du hast hier nichts zu suchen und müsstest dich ausruhen.“ Heinrich sah an seinem hochgewachsenen, hageren Freund hoch, der seine Brille zurechtrückte. „Lass es meine Entscheidung sein, in Ordnung?“ Verärgert zuckte Müller mit den Schultern. „Mach was du willst.“ Heinrich entspannte sich erst, als alle wieder an ihren Staffeleien arbeiteten. Mit jedem Moment den er ruhig saß, ging es ihm besser. Der Schwächeanfall hatte sich zurückgezogen. Es war nicht der erste und sicher nicht der letzte. Sein Vater und er hatten wenig zu essen, aber Hector und Ludwig, deren Familien groß waren, hatten sicher noch größere Probleme. Der Krieg schadete nicht nur den Soldaten. Er sah sich in der ausgedünnten Gruppe um. Acht junge Männer - die Heimatfront - vor denen niemand Respekt hatte, weil sie nicht kämpften. Niemand fragte nach dem Grund. Bei vielen, wie bei Hector und Ludwig, fürchteten ihre Eltern sie an die Franzosen und Engländer zu verlieren. Vor drei Tagen erst hatte das entsetzliche Ende der Schlacht bei Verdun verdeutlicht, dass die deutschen Truppen keinen Fuß breit Land erkämpfen konnten. Bislang stand nicht fest, wie viele Soldaten gefallen waren und welches Leid tatsächlich über der Welt hereingebrochen war. Aber das wurde weder in den Propaganda-Filmen, noch in der Presse angesprochen. Sie erfuhren es von den Totenlisten, die täglich veröffentlicht wurden. Heinrich verabscheute den sinnlosen Kampf für einen Boden, der mit Blut getränkt war. Was er von den Soldaten unter den Familienmitgliedern seiner Freunde gehört hatte, musste es schrecklich sein. Sie sprachen vom Dauerfeuer der Mörser über Stunden hinweg, von unerträglichem, tagelangem Durst und Hunger, dem Regen, dem Gestank der Toten und der Tierkadaver, und vom Versagen ihrer Waffen. Entsetzen, Schmerz und Verstümmelung waren die Wirklichkeit. Und diesen Irrsinn unterstützte er, indem er Plakate malte, die stolz und heroisch aussehen mussten. Dieser Arbeit haftete der bittere Beigeschmack tiefen Widerwillens an. Aber sie waren junge Künstler. Für Ruhm und Ehre des deutschen Kaiserreiches mussten auch sie ihren Beitrag an der Heimatfront leisten – lächerlich! Ludwig und er waren Pazifisten, Anhänger von Karl Liebknecht! Heinrich wusch den Pinsel aus und betrachtete das angefangene Plakat. Ein graubeiger, breiter Strich ging vom Helm des Landsers mitten durch sein Gesicht und brach knapp über den vorgezeichneten Buchstaben ab. Am liebsten hätte er es von der Staffelei gerissen und weggeworfen, aber die Aussicht noch einmal anfangen zu müssen und den Text in Fraktura neu zu ziehen, schreckte ihn ab. Die militärische Stelle des Auswärtigen Amtes übte Druck aus, denn das Abgabedatum war bereits überschritten. Was für ein Widerstandsheld er doch war … Er wässerte das Plakat an der Stelle durch und tupfte die Farbpigmente mit einem Tuch ab. Natürlich hatte sich ein guter Teil des weichen Bleistiftstrichs abgelöst – wie konnte es anders sein. Er stöhnte auf. Seine anfängliche Begeisterung für diese Arbeit konnte er nicht mehr nachvollziehen. Der Krieg zog sich bereits seit zwei Jahren. In der Zeit hatte er ein gutes Dutzend Bekanntmachungen für Mobilmachungsbefehle und die Einberufung des Landsturms gemalt und gelettert. Anfangs hatte es ihm gefallen seine Illustrationen überall an Litfaßsäulen und Anschlägen in der Stadt hängen zu sehen. Aber dieses Gefühl hatte sich rasch geändert. Es wiedersprach seiner Gesinnung. Darüber hinaus brachte die Propaganda seinem arbeitslosen Vater und ihm nichts zu essen auf den Tisch. Seit einer Weile arbeiteten sie alle an Plakaten für Kriegsanleihen. Er betrachtete das aufgeweichte Papier und die vorgezogene Schrift. Zeichnet die Kriegsanleihe! Heer und Flotte erwarten es von Dir! Was sollten die Menschen noch geben? Sie hatten nicht mehr viel von Wert. Alles wurde gegen Nahrungsmittel getauscht. Für das, was die Bauern noch aufbringen konnten, verlangten sie zu viel. Der starke Regen im Herbst hatte die Felderträge vergammeln lassen und Britannien hungerte Deutschland aus. Von russischer Seite war seit der Kriegserklärung im August 1914 auch nichts mehr zu erwarten. Sah denn niemand wie klein und verloren die Alliierten gegenüber der Entente waren? Sie konnten nicht gewinnen. Vermutlich wollte das niemand hören. Heinrich hatte die Weltkarte deutlich vor Augen. Bulgarien, Österreich-Ungarn, die Osmanen, Deutschland und die wenigen Teile Südwest-Afrikas, standen in keinem Verhältnis zu der französisch-russischen Allianz und der Verpflichtung der Triple-Entente. Seit dem Ende der Schlacht um Verdun gingen Gerüchte um, dass es keinerlei Hoffnung mehr auf einen Sieg der deutschen Seite gab. Karl Liebknecht hatte recht gehabt. Auf seiner Kundgebung Anfang Mai in Potsdam hatte er etwas Wahres gesagt: „Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ Ludwig hatte Liebknecht auf der Osterkonferenz der Jugend sprechen gehört und verehrte diesen Mann – eine Meinung, die Heinrich nur teilen konnte. Er bedauerte es, Liebknecht nicht selbst gesehen und gehört zu haben. Leider teilte er dieses Geheimnis seiner Ansichten nur mit Ludwig Müller und Peter Jürges. Konrad wollte nichts über Pazifismus und einen Umsturz in der Politik hören, denn er sehnte sich nach Abenteuern und Ruhm, Hector Oppermann verdrängte seine Ängste, indem er sich in die Welt der Filme flüchtete und Rudolf Heimke wollte davon nichts hören, weil es ihn ängstigte. Ihnen gegenüber behielt Heinrich seine Gedanken für sich. Etwas piekte in seine Seite. Er wandte sich um. Ludwig zog seinen Pinselschaft zurück und hob eine Braue. „Was ist los?“, flüsterte er. „Hast du irgendwelche anderen Probleme?“ Ja, mein Geliebter ist verärgert, weil ich ihn von mir gestoßen habe und ich kann mich nicht bei ihm entschuldigen … Nein, diesen Gedanken konnte er nicht aussprechen, auch Ludwig gegenüber nicht. Keiner seiner Freunde wusste von seinen Neigungen. Es war furchtbar so zu leben, aber es brachte nichts, sich darüber Gedanken zu machen – wenigstens für den Moment. Er lächelte matt und schüttelte den Kopf. „Ich habe Konrad nur wieder beleidigt.“ Ludwig zog die Brauen zusammen und hob die Schultern. „Ist ja nichts Neues bei ihm“, entgegnete er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Eisiger Wind wirbelte den Schnee auf und trieb ihn durch die offene Tür in die Halle der Fakultät. Ludwig zog den Kopf zwischen die Schultern und schützte mit einer Hand seine Brille, während er die Tür aufhielt. Heinrich trat hinter Hector und Peter auf das Podest. Konrad fehlte. Er war oben geblieben. Das Gefühl schmerzte. Er mochte es jeden Abend neben ihm nach Hause zu gehen, besonders jetzt, in der dunklen Jahreszeit. Ohne ihn fehlte etwas. Die Kälte kroch Heinrich unter den Mantel und kühlte ihn bis auf die Knochen aus. Bereits im Zeichensaal war es so frostig gewesen, dass das Kondenswasser von innen an den Scheiben gefroren war. Beim Malen hatte er seine Finger kaum gespürt weil sie steif und blau gefroren waren. Jetzt war es weitaus unerträglicher. Heinrichs Zähne klapperten aufeinander. Er schlug den Kragen seines Mantels hoch und vergrub sein Gesicht so tief er konnte im Schal. Anschließend verschränkte er die Arme und klemmte die Hände unter die Achseln. Seit heute früh hatten Kälte und Schneefall nicht abgenommen. Als sie alle noch die Volksschule besucht hatten, wäre der Anblick schön gewesen. Schneeballschlachten, rodeln, Schneemänner bauen, auf dem Rhein eislaufen; aber heute? Dem Gedanken haftete Bitternis an. Dieser Winter war für alle unerträglich. Peter trat neben ihm auf die Stufen zur Straße und zog ihn ein Stück an sich heran. „Komm schon, meine Frau wartet. Sie hat sicher einen warmen Tee mit Rum für uns alle.“ Ludwig wandte sich überrascht um. An seinen Brillengläsern rann geschmolzener Schnee hinunter und troff auf seine geröteten Wangen. „Ist das eine Einladung, Jürges?“ „Bei dem Wetter ist jeder Schritt zu viel, Müller. Und wir müssen erst den Berg runter, um einen anderen wieder hochzulaufen.“ Peter zog die Nase hoch und grinste unsicher. „Das ist doch in Ordnung, oder?“ Unsicher sah er von Ludwig zu Hector und schließlich zu Heinrich. Seine großen Ohren wirkten rot und dunkel, genauso seine prominente Nase. Obwohl Peter von ihnen allen seine Zukunft am Besten im Griff zu haben schien, sah Heinrich immer noch den großen, rundlichen, schüchternen Jungen, der Peter in der Schule gewesen war. Eine Freundschaft fürs Leben, genau wie die zu Ludwig. Bei Konrad und Hector zweifelte er manchmal daran. Trotz des unangenehmen Gedankens lag etwas erschreckend Greifbares in der Vermutung. „Von mir aus gern“, sagte Hector lächelnd. Er strich sich die Nässe aus seinem dünnen Oberlippenbärtchen. „Tee mit einem Schuss Rum wäre genau das richtige. Füllt den Bauch und macht warm.“ Er lüpfte kurz seinen Hut. „Außerdem will ich deiner hübschen Madame meine Aufwartung machen.“ Er zwinkerte Peter zu. Heinrich verdrehte die Augen. Seit einer Weile versuchte sich Hector in der Rolle des charmanten Dandys, um Damen-Bekanntschaften zu machen. Bärtchen, Brillantine, Duftöl - woher er die Sachen organisierte, verriet er nicht. Wahrscheinlich hatte Hector sich diese Anregungen aus Filmen in den großen Lichtspielhäusern geholt und versuchte nun Johannes Riemann oder Bruno Decarli zu imitieren. Obwohl Heinrich die affektierten, großen Gesten der Schauspieler nicht gefielen, hörte er den Erzählungen Hectors gern zu. Die Zusammenfassung von Das wandernde Licht hatte Heinrich bislang am meisten beeindruckt. Hinter ihnen flog die Tür auf. Heinrich wandte sich um. Konrad geleitete Fräulein Driesen hinaus. In dem schäbigen Fuchsfellkragen fingen sich Flocken. Sie schritt auf viel zu dünnen Sohlen und in Sommerstiefeletten in den tiefen Schnee. Der Saum ihres grauen, knöchellangen Rockes sog sich voll Wasser. „Vielen Dank, Herr Löb“, sagte sie herzlich, wobei sie mit der Linken ihre Tasche an sich drückte und der Rechten ihre Kleidung minimal raffte, um besser zu sehen, wohin sie ging. Peter wandte sich zu ihr. „Kommen Sie, Fräulein Professor. Wir bringen Sie noch zur Bahn. Heimke kann sie ja vorläufig nicht mehr begleiten.“ Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Lassen Sie nur, Herr Jürges. Ihre Frau wartet doch sicher auf sie.“ Daraufhin zuckte Peter nur mit den Schultern. Er knöpfte seinen Mantel auf und legte ihn dem Fräulein um. Die alte Dame war zu dünn gekleidet und trug nur leichte Sommerhandschuhe. Peters Zähne schlugen aufeinander, aber er war der Wohlgenährteste und seine Martha würde ihn sicher zu gern versorgen, wenn er sich erkältete. „Nein, das kann ich nicht annehmen!“, sagte sie entschieden, während sie den Wollmantel abstreifte und ihn zurückgab. Milder fügte sie hinzu: „Ihre Frau würde es mir nicht verzeihen.“ Er lächelte und schlüpfte wieder in seinen Überzieher. „Gestatten Sie uns trotz allem, Sie nach Hause zu bringen?“, fragte Heinrich. „Es kann nicht angehen, dass eine Dame allein von der Universität nach Hause geht.“ Er hielt ihr einen Arm hin, den sie mit einem dankbaren und charmanten Lächeln annahm. Heinrich spürte wie mager sie unter Bluse und Mantel war. Sie zitterte. Wortlos legte Konrad ihr seinen Schal um und nahm ihren Arm auf der anderen Seite. Verlegen sah sie in den Schnee. Wahrscheinlich empfand sie Scham. In ihrer Jugend wäre solch ein Verhalten nicht schicklich gewesen. Aber es war Dezember, kurz vor Weihnachten und jeder der ein Herz hatte, rückte näher an andere Menschen heran. Heinrich suchte Peters Blick. „Trinken wir an einem anderen Abend bei dir und Martha Tee. Jetzt bringen wir unser Fräulein Driesen heim.“ Die alte Dame bewohnte ein einzelnes kleines Zimmer unter dem Dach eines Wohnhauses an der Kaiserstraße. Als sie hinter Fräulein Driesen das Gebäude betraten, empfing sie eine weitläufige Marmorhalle mit Alkoven, in denen kleine Wandleuchter mit Kristallen Licht spendeten. Ovale Spiegel reflektierten die Helligkeit. Heinrich sah sich bewundernd um. Selbst an Hector ging der Zauber nicht vorbei. Sie alle stammten aus dem Kästrich, wo die Gebäude hoch und beengt waren, die Treppenhäuser kaum genug Platz boten um mit zwei Kohleeimern nach oben zu gehen und die Wohnungen oft überbelegt waren. Als sie aber mit dem messing- und glasverkleideten Aufzug bis in die vierte Etage fuhren, erwartete sie eine weitere, beengte Stiege, die zwischen zwei verglasten Wohnungstüren hinaufführte. Gespannt folgte Heinrich dem Fräulein. Hinter ihm murmelte Konrad. „Sie lebt eigentlich gut.“ „Glaube ich nicht“, entgegnete Ludwig ernst. Heinrich sah sich nach seinen beiden Freunden um. Er sah einen schwachen Lichtreflex über Ludwigs nasse Brillengläser huschen. Sie schwiegen beide. Heinrich wandte sich um und holte zu Fräulein Driesen auf. Sie atmete schwer. Ihre Gestalt war nur ein Schemen in dem schlecht ausgeleuchteten Gang. Scheinbar suchte sie nach ihrem Schlüssel. Nach einer Weile zog sie etwas Unförmiges hervor. Sie schob ihn in das Schloss einer niedrigen, unlackierten Tür. Heinrichs Augen gewöhnten sich an das schlechte Licht. Ihm fiel auf, dass in der vierten Etage noch Teppich gelegen hatte, hier standen sie auf abgenutzten, nackten Dielen. Als sie die Wohnung betrat, ließ sie die Tür offen. Nach einigen Sekunden flackerte schwaches Laternenlicht aus dem Raum. „Was habe ich gesagt?“, murmelte Ludwig halblaut. Konrad hatte sich nah an Heinrich geschoben, feuchte Wärme stieg von ihm auf. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht, zugleich war es blass und rot gefleckt. „Wir sollten lieber wieder gehen“, flüsterte er. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie alle übertraten eine Grenze, den Abstand zwischen einer Respektsperson und ihnen. Heinrich nickte still. Er wollte nicht sehen, was sich dort drin verbarg. „Treten Sie doch ein, meine Herren.“ Das Fräulein trat halb auf den Gang. Mit sich brachte sie wie eine Woge von starken Kartoffelgeruch, das schale Aroma von Alter und Medikamenten, aber auch einen leichten, kaum wahrnehmbare Duft von Veilchenparfum. Instinktiv atmete Heinrich flacher. Dieser Einladung mussten sie folgen, wenn sie sich nicht noch schlechter benehmen wollten. In Heinrichs Hals saß ein harter Kloß. Er atmete die staubig kalte Luft ein und trat zu ihr. Der ohnehin angeschlagene Schein des Prunks zerbrach endgültig. Seine Augen gewöhnten sich schnell an das schummrige Licht der Grubenleuchte, die auf ihrem Tisch stand. In der Kammer befand sich ihr Bett neben einem kleinen Kanonenofen, mit dem sie heizte und vermutlich auch kochte. Der Kohleeimer stand daneben. Feiner, schwarzer Dreck zog eine pudrige Schicht über die Dielen. Über einer Sisalleine, die sich diagonal durch den Raum zog, hingen mehrere dünne, bestickte Sommerdecken. Sie dienten vermutlich als Raumteiler, denn das Fräulein zog sie rasch zu. Eine Staffelei und ein wuchtiger Schrank, der den Rahmen des Zimmers zu sprengen schien, dominierten den vorderen, wohl gesellschaftsfähigen Teil des Zimmers. Bilder hingen an den Wänden, erkennen konnte Wolff nichts. Es war zu dunkel und das Schutzglas spiegelte. Der Eindruck dessen was Fräulein Driesen Heim nannte, wirkte auf ihn ernüchternd und erstickend. Hatte eine alte Dame nichts Besseres verdient, wenn sie ihr ganzes Leben an die künstlerische Erziehung junger Menschen verschenkt hatte? Das alles war falsch. Heinrich schluckte trocken und suchte nach Anzeichen von Unwohlsein in den Gesichtern seiner Freunde. Hector war offenkundig entsetzt. Er trug es nicht wie in einem Film vor sich her, machte daraus keinen Bühnenzauber. Seine Augen hatten sich lediglich geweitet und in seiner Mimik lag Gefühl: Wärme, Mitleid und Verständnis. Er erwiderte Heinrichs Blick mit einiger Entschlossenheit. Was ging in Hectors Kopf vor? Er schien an einer Idee zu arbeiten. Hier war nicht der passende Ort ihn zu fragen. Ludwig putzte sich die Brille auffallend lang und intensiv, eine Reaktion die Heinrich bei ihm kannte, wenn er sich unwohl fühlte. Empfindungen waren nicht Ludwigs Welt. Er teilte sie, schon weil sie hier störten, Dinge sahen, die privat und intim waren. Jetzt war der Moment sich dezent zu verabschieden. Fräulein Driesen legte Handschuhe, Schal und Mantel ab, zog die Nadeln aus ihrem Hut und bettete ihn behutsam über ihren Kleidern. Sie wandte sich um, die Hände gefaltet, mit dem treuesten und ergreifendsten Ausdruck, zu dem sie fähig war. Ihre schmalen Lippen klafften auf, zitterten. Die Fältchen in ihrem Gesicht wirkten tief. Peter räusperte sich. „Fräulein Professor, wir sollten nun nach Hause gehen. Aber meine Frau arbeitet im Lazarett und kommt an Medikamente.“ Er deutete auf eine nicht etikettierte Flasche. „Sie müssen mir nur aufschreiben, was Sie brauchen.“ „Machen Sie sich keine Umstände, Herr Jürges.“ Sie lächelte müde, faltete den Schal zusammen und legte ihn auf dem kleinen Tisch ab. „Vielen Dank, meine Herren.“ Ihre Stimme zitterte leicht. Dann wandte sie sich an Heinrich. „Seit meiner Jungend bin ich nicht mehr so freundlich hofiert worden. Vielen Dank.“ Ihre Augen schimmerten feucht. Sie meinte was sie sagte. Heinrich deutete eine leichte Verneigung an. „Es war uns eine Ehre, Fräulein Driesen. Ihnen ein schönes Weihnachtsfest.“ Er sah zu Hector, Ludwig und Konrad. „Gehen wir.“ Auf dem Flur vor ihrer Tür blieb er stehen. Etwas kribbelte in seinem Nacken. Das unangenehme Ziehen kannte er. Zumeist fühlte es so an, wenn ihn jemand anstarrte. Hinter ihm knackte der Schlüssel im Schloss. Das Fräulein hatte abgeschlossen. All seine Freunde, ausgenommen Konrad, der auf ihn wartete, gingen die Treppe hinunter. Ein kalter Hauch streifte Heinrichs Wange. Der Geruch nach ungewaschenem Mann umfing ihn. Hinter sich fühlte er einen warmen Körper, der ihn nicht berührte. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Sein Herzschlag beschleunigte sich und pumpte Hitze durch seine Adern. Hinter ihm stand jemand! Er fuhr herum. Nichts. Ungläubig blinzelte er und ging einen Schritt tiefer in die Dunkelheit. Er tastete um sich. Unter seinen Fingern fühlte er die grob verputzte Wand, nichts weiter. Erneut streifte ihn kalter Wind und vertrieb den Geruch. Hatte er sich getäuscht? In seiner Kehle saß ein Kloß. Er sah sich nach Konrad um, der sich nicht bewegt hatte. Wahrscheinlich irrte Heinrich sich. Sicher stand die Dachbodentür offen, oder das alte Fräulein lüftete. Trotzdem ließ dieses beklemmende Gefühl nicht nach, dieser Eindruck von einer unbestimmbaren Gefahr. Vielleicht sollte er noch einmal bei Fräulein Driesen klopfen, sich versichern, dass es ihr gut ging? Er hob die Hand. Just in diesem Moment löste Konrad sich vom Geländer und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Was wollte er? Sah er etwas?! Bevor sich Heinrich umdrehen konnte, umfing ihn Konrad und zog ihn zu sich. Unsanft presste er ihn gegen die Wand. „Das bist du mir schuldig!“ Überrascht keuchte Heinrich. Er spürte deutlich die Härte von Konrads Glied. Sein Freund rieb sich an ihm, genoss offensichtlich die Gefahr der Entdeckung. Sein Blick hatte sich – soweit Heinrich es sehen konnte - umwölkt. Die klaren, strengen Züge Konrads wirkten weich und lüstern. Er öffnete die Lippen und presste seinen Mund gegen Heinrichs. Der Kuss kam sicher nicht unvorbereitet, aber in jeder Hinsicht unpassend. Sofort löste Heinrich sich von ihm und sah sich um. Das Kribbeln in seinem Nacken hatte nicht nachgelassen. Bemerkte Konrad denn nichts? Der Flur verfing sich in beiden Richtungen in dunstigem Nichts. Möglicherweise gab es hier oben weitere Zimmer wie das des Fräuleins, vielleicht eine Toilette. Wenn sie jemand sah – kaum auszudenken! Selbst wenn Peter, Hector und Ludwig noch einmal hochkamen und nachsahen wo sie blieben … Sein Magen zog sich bei der Vorstellung zusammen. Er schluckte seinen und Konrads Speichel. Ungehalten knurrte sein Freund. Er schob ein Bein zwischen Heinrichs Schenkel und drängte es gegen seine Hoden. Sacht bewegte er sich. Das heiße, sehnsüchtige Ziehen erwachte. Heinrich liebte es, wenn Konrad ihm so nah war, sein Glied nur durch die Enge des Liebesspiels hart wurde und sie alle Hemmungen fallen lassen konnten. Aber nicht hier! Rasch schob Heinrich ihn von sich. Bevor Konrad wieder auffahren konnte, streichelte er ihm sanft über die Wange. „Das ist der falsche Ort.“ Die Hitze, die in dem kurzen Moment entstanden war, hielt an bis sie sich von Peter, Ludwig und Hector verabschiedet hatten. Scheinbar war der aufwallende Ärger Konrads endgültig heimlicher Vorfreude gewichen. Allerdings empfand Heinrich noch immer diese Unruhe, die ihn nicht mehr losließ seit sie Fräulein Driesen verlassen hatten. Offenbar steckte er Konrad mit seiner Nervosität an. Die Spannung zwischen ihnen zerfiel. „Was ist los, Heinrich?“, fragte Konrad, nachdem er sich mehrfach umgedreht und im Wechsel immer wieder über die weitläufige Kupferbergterrasse, in die Drususstraße und die schwach beleuchtete Mathildenstraße geschaut hatte. Auf der freien Fläche der Aussichtsterrasse war noch spärlicher Betrieb. Arbeiter kamen aus Brauerei oder Sektkelterei zurück. Eine ihrer Nachbarinnen schob sich mit vollem Wäschekorb träge durch den Schnee, gefolgt von ihrer Tochter, die am Rande des Laternenscheins stehen blieb. Heinrich fühlte ihren Blick auf sich, ohne dass er sagen konnte, ob sie ihn wahrnahm. Sie war etwas … naiv. Die junge Frau, die immer noch einem Kind glich, hob eine Hand und winkte schwerfällig und sagte etwas, bevor sie wieder hinter ihrer Mutter herschlich. Der Schnee dämpfte ihre Stimme über die Entfernung zu einem Windhauch. Konrad hatte diese Szene ebenfalls mitbekommen. Er räusperte sich. „Irgendetwas macht dich nervös und es ist nicht dieses zurückgebliebene Mädchen.“ Mit einer Kopfbewegung wies er in die Richtung in der die beiden Frauen nur noch als dunkle Silhouetten erkennbar waren. Trotzdem gewann Heinrich den Eindruck, dass sich die junge Frau immer wieder zu ihm umsah. Das war nicht ihre Art … er schüttelte den Gedanken ab. „Etwas bei Fräulein Driesen“, bestätigte Heinrich. „Da war etwas …“ „Als ich dich geküsst habe?“ Konrads Lauern klang deutlich aus seinen Worten heraus. „Das hat sich eher angefühlt, als hättest du Angst gehabt dass uns jemand beobachtet.“ „Auch“, gestand Heinrich. „Aber ich hatte das Gefühl angestarrt zu werden.“ Er zuckte die Achseln. „Als wäre etwas in der Dunkelheit gewesen und hätte auf mich gelauert.“ Spöttisch verzog Konrad die Lippen. Offenbar nahm ihn sein Freund nicht ernst. Wie Heinrich das hasste. „Ich bin sicher“, sagte er mit Nachdruck. Konrad winkte ab und strich sich eine Strähne aus den Augen. „Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber wahrscheinlich gibt es da oben nur eine Toilette und den Dachbodenzugang. Mach dich deshalb doch nicht verrückt.“ „Das reicht um sich zu verstecken“, sagte Heinrich leise. Konrad blinzelte. Seine Selbstsicherheit schmolz. „Glaubst du wirklich?“ Nervös leckte Heinrich sich über die trockenen, spröden Lippen. Er zögerte kurz, bevor er fragte. „Hast du vorhin nicht den Luftzug gespürt?“ Nachdenklich senkte Konrad den Kopf. „Doch, die Kälte habe ich bemerkt. Ich habe es auf ein offenes Bodenfenster geschoben.“ „Wie ich auch - im ersten Moment.“ Langsam trat Heinrich näher an ihn heran. „Aber wenn die Bodentür offen gewesen wäre, hätten wir es sicher bemerkt.“ Er unterbrach sich, bevor er sagte: „Ich hatte das starke Gefühl, dass jemand hinter mir stand.“ Konrad hob die Schultern. „Gesehen habe ich keine andere Person. Du warst allein.“ Er zögerte. „Sind wir beobachtet worden?“ „Das weiß ich nicht, aber es könnte sein.“ Während Heinrich es aussprach, rann ein eisiger Schauder durch seine Adern, der sich erst in seinen Fingerspitzen verlief. Auch Konrad wirkte nervös. „Ich würde am liebsten zurückgehen und nachschauen“, murmelte er. Langsam nickte Heinrich. „Das sollten wir vielleicht wirklich.“ Er zog am Kragen von Konrads Mantel. „Wenn uns jemand fragt, was wir im Haus machen: Wir holen nur deinen Schal von Fräulein Driesen.“ Heinrichs Atem stockte. Das Eckhaus, in dem Fräulein Driesen lebte, wurde von starken Scheinwerfern beleuchtet, die auf den Automobilen aufgeschraubt worden waren. Gendarmen mit Pickelhauben und bodenlangen Mänteln standen vor dem Eingang des Gebäudes und drängten Schaulustige, Fotografen und Journalisten fort, andere sperrten den Gehweg bis hinüber zum Park und der Christuskirche, die mitten in der Kaiserstraße lagen. Der gesamte Verkehr stand. Die Glocke einer Straßenbahn klingelte, dann gab es der Schaffner auf. Aus der Kabine strömten verärgerte Menschen und wurden sofort von einigen Gendarmen verscheucht. Nervös beobachtete Heinrich sie. Jeder der uniformierten Männer wies eine beeindruckende Größe oder zumindest viel Gewicht auf. Es war ein Großaufgebot, wie bei einem schweren Verbrechen. Konrads Hand umschloss die seine. Er drängte vorwärts. Soweit es ihnen möglich war, schoben sie sich durch die Menge. Dicht an dem Haus fanden sie einen Platz, von dem aus sie etwas sehen konnten. Mit in den Nacken gelegtem Kopf starrte Konrad hinauf. Heinrich folgte seinem Blick. Die meisten Zimmer waren hell erleuchtet und auf beiden Seiten der Prunk-Allee standen Männer und Frauen in Hausmänteln oder Straßenkleidung auf den Balkonen. „Was ist denn passiert?“ Irritiert sah Heinrich zu einer erschöpft wirkenden, blassen Frau in einem schäbigen, fleckigen Wollmantel. Sie musste eine Arbeiterin sein, denn sie trug darunter eine Hemdhose. Scheinbar hatte sie seinen Blick bemerkt. Ihre Finger krampften sich fester um ihren Kragen. Sie sah zu Boden. „Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, mein Fräulein“, entgegnete er. „Wir sind auch eben erst vorbei gekommen.“ Sie nickte rasch, ohne noch einmal den Kopf zu heben. Ein älterer Mann wandte sich an sie. Im Gegensatz zu ihr trug er gute Kleidung und einen Zylinder. Die Dame an seinem Arm hatte sich in Pelz und Abendrobe gehüllt. „Ich fürchte, mein Fräulein, dass in diesem Haus ein Verbrechen geschehen ist.“ Er wies mit seinem aufgespannten Schirm in die generelle Richtung des Hauses. „Ja, da ist wer umgebracht worden“, bestätigte ein anderer Mann. Er hielt die Hände in den Hosentaschen und den Mantel weit offen. Seine erloschene Zigarre wippte im Mundwinkel. In die Gendarmen kam plötzlich Bewegung. Wolff sah an den Leuten vorbei zum Haus. Die Doppelflügel der Tür wurden von zwei Uniformierten geöffnet. Heraus traten drei sehr ungleiche Männer, einer davon war vermutlich der Hausmeister. Er trug den typischen, grauen Kittel und wirkte unbeholfen, als wäre ihm unwohl in seiner Haut. Der Zweite war ein älterer Herr in elegantem Rock mit Zylinder und Gehstock. Er trug noch den typischen, außer Mode gekommenen Kaiser-Wilhelm-Bart. Obwohl der dritte von ihnen besonders klein und mager war, fiel er Heinrich am stärksten auf. Er besaß eine körperlich spürbare Präsens. Auch er musste die Fünfzig überschritten haben, aber er besaß denselben wachen, scharfen Blick, der auch Ludwig zu eigen war. Heinrich kniff die Augen zusammen und schirmte den Blick gegen den Schnee ab. Der kleine Mann blieb auf der Schwelle stehen, sodass die anderen Beiden gezwungen waren ebenfalls innezuhalten. Er rückte seine Brille zurecht und wies auf einen Lastkraftwagen mit abgedeckter Pritsche. Ohne dass er etwas sagen musste, wandte sich ein Gendarm zu dem Fahrer des Wagens um, winkte und rief etwas, das in dem Gemurmel der Schaulustigen unterging. Zwei weißgekleidete Männer sprangen von der Ladefläche herab und brachten eine Trage ins Haus. „Ich habe ein ungutes Gefühl“, wisperte Konrad. Heinrich spürte, wie die Hand seines Freundes schweißfeucht wurde. Besorgt musterte er ihn. Konrad wirkte in der künstlichen Beleuchtung wächsern weiß. Sacht legte er seine freie Hand über Konrads und drückte sanft zu. Er versuchte Sicherheit auszustrahlen. Wahrscheinlich scheiterte der Versuch kläglich, denn er war noch immer nervös. Das Kribbeln im Nacken hatte zugenommen, seit er hier stand. Vorsichtig ließ er den Blick über die breite Allee schweifen. Rund um die Fahrzeuge sammelten sich immer mehr Menschen. Wer von einem der benachbarten Häuser einen guten Blick erhaschen konnte, tat das; alle anderen kamen herunter. Ihm fielen Fotografen auf, Männer mit wuchtigen Kisten auf Dreibeinen, Stativen, die sich erhöht auf den Stufen der Kirche postiert hatten. Einige ihrer Assistenten verteilten Blitzpulver auf den Pfannen und entzündeten den Papierstreifen. Die ersten Lichter flammten auf. Heinrich blinzelte. Das Magnesium brannte sich in seinen Kopf und hinterließ ein schwarzes Nachbild, auf dem sich die Menschenmenge weiß in dem schwarzen Schnee abzeichnete. Er blinzelte. Im gleichen Moment gewann das Ziehen in seinem Nacken eine unerträglich intensive Qualität. Er spürte heißen Atem, der seine Haut streifte und nahm den metallenen Geruch von frischem Blut wahr, den er aus der Zeit kannte, in der seine Vater noch die Metzgerei besessen hatte. Jemand berührte seinen Rücken … Er fuhr herum. Hinter ihm stand ein großer, muskulöser Soldat in feldgrauer Uniform und Mantel, das Gewehr mit Bajonett auf dem Rücken. Sein Blick bohrte sich in Heinrichs. Er verströmte Kälte, Härte und Wut, Eindrücke die ihn wie ein unterschwelliges Aroma umgaben. Heinrich fror bei seinem Anblick nur noch mehr. In den Zügen des Landsers rührte sich nichts. Seine Mimik blieb starr, ähnlich wie sein Blick, den er nicht abwandte. Trotz der beinah klaren Schönheit empfand er den Mann als abstoßend. Trocken schluckte Heinrich. Seine Zunge klebte am Gaumen. Dieser Mann hatte nur Augen für ihn und das Gefühl, was er vermittelte … er hatte sie belauert! Kalt fuhr der Gedanke in Heinrichs Verstand und stach in seine Brust. Dieser Mann war es gewesen … Nein, sicher nicht. Er war zu nervös. Mühsam verdrängte er seine Angst und löste sich aus dem Blick. In seinem Kopf drehte sich alles. Mit weichen Knien griff er nach Konrads Arm. „Heinrich, alles in Ordnung? Wieder ein Schwächeanfall?“ Konrad klang besorgt. Ihm war nichts aufgefallen. Er sah seinen Freund an und schüttelte den Kopf. „Alles in Ordnung.“ Er schaute nach vorn zur Tür. Was hinter ihm war, wollte er nicht sehen. Wahrscheinlich irrte er sich mit seinem Eindruck ohnehin – oder? Dieses grausame Gefühl ließ nicht nach. Er roch den Gestank nach Blut … „Da, es wird jemand rausgebracht!“, rief jemand weiter vorn. Die Menge kam in Bewegung. Konrad reckte sich. „Oh Gott, lass es bitte nicht unser Fräulein sein“, wisperte er atemlos. Heinrich umschloss seine Hand fester. Sie zitterte. Wie Konrad versuchte auch er einen Blick auf die offene Tür zu erhaschen. Es kam Bewegung in die Menge. Die Reporter schoben sich voran, zwängten sich durch die Absperrung und wurden von der Phalanx Gendarmen mit Knüppeln zurückgedrängt. Erneut kam Unruhe in die Masse. „Die schlagen die Männer blutig!“, schrie jemand mit überschnappender Stimme. Im gleichen Moment rammte jemand Heinrich von hinten. Er stolperte gegen die Frau in der Hemdhose und riss Konrad mit sich, der in die Knie ging. Sie fing sich ab und fuhr herum. Tumult brach an verschiedenen Stellen los. Rasch sah sie sich wieder um und stellte sich auf die Zehenspitzen. Heinrich half seinem Freund. Auch der Landser griff zu. Er packte Konrad unter einem Arm und zog ihn hoch, als würde er nichts wiegen. Dabei wirkte er unbewegt und kühl, aber wenigstens menschlicher. Der Eindruck eines starrenden Monsters verschwand und machte einem hilfsbereiten Mann Platz. Konrad bedankte sich mit einem Kopfnicken, ohne genauer hinzusehen. Ihn interessierte zu sehr was im Hauseingang passierte. Heinrich musterte den fremden Mann, der wieder ruhig dastand und seinen Blick erwiderte. Tatsächlich war alles Unheimliche von ihm abgefallen. Bei ihm handelte es sich um einen einfachen Heeressoldaten. Wie Konrad wirkte er markant und attraktiv, war aber wesentlich älter. Über seine von der Kälte rissigen Lippen huschte ein freudloses Lächeln, bevor auch er sich wieder reckte um mehr zu sehen. Heinrich wandte sich um und fand eine gute Position, um zwischen den Schaulustigen hindurchzuspähen. Das Kribbeln im Nacken blieb, aber es war nicht mehr unangenehm. War alles nur Einbildung gewesen? Er fuhr sich mit der Hand unter den Schal und löste ihn. Trotz der Kälte schwitzte er. Die Bahre wurde hinausgetragen. Erneut sorgten die Gendarmen für Platz. Sie drängten unsanft die Menge auseinander. Heinrich konnte nicht viel erkennen, nur die beiden breitschultrigen Männer, die sie zu ihrem Fahrzeug brachten, gefolgt von dem elegant gekleideten Herrn und seinem kleinen Begleiter. Wahrscheinlich handelte es sich bei den beiden um Kriminalbeamte. Nervöse Erregung erfasste ihn. „Siehst du was?“, fragte Konrad und schob sich vor Heinrich. In dem Moment berührte ihn etwas am Rücken, dieses Mal war es kein Stoß, nur eine leichtes, sanftes Streicheln. Wie eine erste scheue Berührung eines Liebhabers. Heinrich erstarrte. Ein Schauder durchrann ihn, der seine Wirbel hinab kroch und in seine Lenden zog. Schwindel erfasste ihn. Er wollte sich umschauen, konnte aber nicht. Etwas flüsterte und wisperte unter dem Lärm, schob sich unterschwellig in sein Bewusstsein. Das war nicht normal! Mühsam streifte er die Empfindungen ab. In dem Moment geriet die Masse erneut in Aufregung. Ein Uniformierter trat dicht an sie heran, hob drohend seinen Schlagstock, sodass die Frau und alle, die um ihn herumgestanden hatten, zurückwichen. Die Menge wich aus. Er wurde angestoßen, konnte sich aber fangen. „Oh mein Gott!“, schrie eine Frau links von ihm. „Das Tuch ist voller Blut!“ „Schrecklich!“, stöhnte eine andere, dichter bei ihm. „Was ist denn nur passiert?“, fragte jemand. Plötzlich ging ein Aufschrei durch die ersten Reihen. Konrad fuhr zurück und drehte sich um. In seinen Augen schimmerte reines Entsetzen. Seine Wangen hatten den letzten Rest Farbe verloren. Seine fahlen Lippen zuckten, ohne dass er ein Wort sprechen konnte. Konrad packte seine Oberarme. Er zitterte. Alle Eindrücke wichen tiefem Schrecken. Heinrichs Mund wurde trocken. „Sie ist es?“, flüsterte er. Wiederwillig nickte Konrad. „Komm mit!“, presste er hervor. „Komm einfach mit mir.“ Es brauchte viel zu lang, bis Konrad sich wieder bewegen konnte. Heinrich zog ihn erst mit sich, schließlich stützte er ihn. Erst als sie den Schillerplatz erreichten, schien das Leben in Konrad zurückzukehren. Er stützte sich auf dem Zaun um die Schillerstatue ab und ließ den Kopf nach vorn fallen. Seine Mimik hatte sich verkrampft. Behutsam streichelte Heinrich über den Rücken seines Freundes. Die Muskeln unter dem nassen Wollstoff hatten sich verhärtet. Leise fragte er: „Konrad, was hast du gesehen?“ „Was glaubst du wohl?“ Konrads Stimme klang heiser. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich von dem – was immer er gesehen haben mochte – befreien. „Sie war es.“ „Ich weiß.“ Eigentlich wollte Heinrich nicht mehr wissen, aber Konrad musste loswerden, was ihn belastete. Er trat an die Seite seines Freundes. „Was ist passiert? Vor uns standen viele Menschen und die Leiche war abgedeckt, als sie nach draußen gebracht wurde.“ Konrad presste die Lippen aufeinander, was seinem markanten Gesicht einen noch härteren Zug verlieh. Seine Kiefer mahlten. Nach einem Moment wandte er sich an Heinrich, wobei er sich auf der Umfriedung schwer abstützte. „Das Geschrei der Frauen vorhin hast du ja gehört, oder?“ Er klang bemüht ruhig. „Ja.“ Heinrich fühlte sich plötzlich sehr schlecht. „Hat jemand die Decke weggezogen?“ Knapp nickte Konrad. „Und das bisschen, was ich davon sehen konnte, war entsetzlich.“ Er legte den Kopf in den Nacken und sah kurz in den Himmel, bevor er sich Heinrich endgültig zuwandte. „Sie ist zerhackt oder zerschnitten worden“, murmelte Konrad tonlos. „An ihr war nichts mehr an einem Stück.“ Bei diesen Worten versteifte Heinrich sich. Die Gewissheit, dass sie nicht allein gewesen waren, dass er sich die starrenden Blicke nicht eingebildet hatte, verdrängten Schock und Schrecken. Er schwieg. Wie konnte das sein – in so kurzer Zeit? Sie hatten doch sicher bis zum Kästrich keine zwanzig Minuten Zeit benötigt und noch weniger um zurückzukommen, denn die Strecke zur Kaiserstraße führte bis zum Schillerplatz bergab. Viel Zeit konnte der Mörder nicht gehabt haben. Er massierte seine Schläfen. Warum tat das jemand einer alten Frau an? Vielleicht war es ein Raubmord? Fräulein Driesen besaß – soweit Heinrich vorhin gesehen hatte - kaum etwas von Wert, nichts was solche Grausamkeit rechtfertigte. Aber Rache? Wem konnte diese Frau je etwas angetan haben? In seinem Mund hatte sich bitterer Speichel gesammelt. Dieser dünne Arm, mit dem sie sich bei ihm untergehakt hatte – er spürte noch ihre Gegenwart roch das Veilchenparfum und hörte ihre helle, brüchige Stimme. Vor nicht einmal einer Stunde hatten sie alle in ihrem Zimmer gestanden. Hätte er sich nur nicht von Konrad ablenken lassen! Hilfloser Zorn mischte sich unter die Fassungslosigkeit, die ihn lähmte. Er stöhnte auf. Konrad setzte zum Sprechen an. Seine Lippen bebten. Es kostete ihn Überwindung. Schließlich flüsterte er: „Was ist, wenn die Gendarmen meinen Schal finden? Meine Haare sind dran …“ „Du und ich – wir beide gehen zur Polizei und werden zu Protokoll geben, dass wir sie mit Müller, Jürges und Oppermann zusammen heimgebracht haben, dass es dein Schal ist und ich das Gefühl hatte, dass wir belauert werden!“ Die Worte kamen zu hart und gefühllos bei Konrad an. Er zuckte zusammen und blinzelte irritiert. „Aber dann geraten wir unter Verdacht!“ Er hob beide Hände. „Hörst du dich selbst reden? Das ist Wahnsinn!“ „Mag sein“, entgegnete Heinrich. Kühle Ruhe durchströmte ihn. „Aber uns haben dutzende Leute mit Fräulein Driesen auf der Straße gesehen. Nur einer muss die morgigen Artikel in den Zeitungen lesen, die Bekanntmachungen und zur Gendarmerie gehen. Wir wären schnell gefunden. Dem beuge ich vor, Konrad. Lieber gehe ich selbst und sage, dass ich gegen mein schlechtes Gefühl gehandelt habe und gegangen bin!“ Bevor Konrad einlenken konnte, sagte Heinrich: „Du und ich können diese Konsequenzen eher tragen, als alles was passiert, wenn wir schweigen.“ Mit gesenktem Kopf nickte Konrad. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Er leckte sich über die spröden Lippen um sie zu befeuchten und atmete zweimal tief ein und aus. „Willst du jetzt sofort zur Gendarmerie?“ Heinrich nickte. „Ja, fraglos.“ In Konrads Gesicht arbeitete es. Er zog die Nase hoch. Nach einer Weile sagte er: „Bitte morgen früh. Ich will unsere Freunde noch informieren. Dann können wir gemeinsam hingehen. Außerdem möchte ich meinen Vater deswegen sprechen und …“ „Morgen früh spätestens“, fiel ihm Heinrich ins Wort. „Wenn du dich anders entscheiden solltest und heute noch hin willst, ich bin mit Sicherheit wach und bereit.“ Er machte eine Kopfbewegung fort von der Schillerstatue zur Emerich-Joseph-Straße. „Lass uns gehen.“ Heinrich nagte an seiner Unterlippe und starrte in seine Teetasse. „Junge.“ Die ruhige, warme Stimme seines Vaters tat gut und beruhigte. Mit seiner großen Hand umschloss er Heinrichs Finger und drückte sie. Seine schwielig trockene Haut fühlte sich rissig an. Heinrich atmete tief ein. Der Geruch nach Kräutern lag in der feuchtwarmen Luft, die sich unter der hohen Küchendecke in Dampfwolken gesammelt hatte. Er sah seinem Vater in die Augen. Sein sanfter Blick traf ihn und fing ihn auf. Über das gerötete, runde Gesicht huschte ein Ausdruck von Sorge und Liebe. „Du hattest das Gefühl angestarrt zu werden?“ „Ja“, murmelte Heinrich. „Es blieb und wurde unerträglich stark, als Konrad und ich wieder in der Menge standen.“ „Das sagtest du bereits.“ Sein Vater strich sich mit der freien Hand über den unrasierten Kiefer und das Doppelkinn. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Glaubst du, dass es dieser Heeressoldat war?“ Heinrich nickte. „Selbst wenn kann ich das bei der Gendarmerie nicht angeben. Was mein Eindruck ist, interessiert nicht.“ „Kannst du den Mann zeichnen, Junge?“ Heinrich löste seine Hand sacht aus der seines Vaters und erhob sich. „Vielleicht, ich habe ihn aber nur kurz gesehen. Meinst du, dass er der Gendarmerie bekannt ist?“ Sein Vater hob die Schultern. „Vielleicht. In jedem Fall können die Kriminalbeamten das Bild nutzen um im Mordhaus zu fragen, ob jemand diesen Mann bemerkt hat. Damit würdest du den Gendarmen helfen.“ Heinrich verließ die Wohnküche, um aus seiner Schlafkammer Skizzenblock, Bleistift und Spitzmesser zu holen, blieb aber neben der Tür an die Wand gelehnt stehen. Im Gegensatz zu seinem Vater war er sich nicht sicher mit einer Zeichnung helfen zu können. Es wirkte verdächtig auch noch einen möglichen Mörder zu präsentieren, den sicher niemand erkannte, einfach weil Heinrich sich nur noch schwach an das Gesicht des Landsers erinnern konnte. Er blieb im Flur stehen und rieb sich über die Lider. Wie sah der Mann aus? Klare, kalte Augen, scharfer Blick, markante Züge … aber traf das nicht auch auf Konrad zu? Verdammt! Er musste sich jedes noch so kleine Detail in Erinnerung rufen, Augenform und Abstand, den Schwung der Brauen und Lippen, die Länge der Nase, Gesichtstyp und Haar. Aber da war nichts, nur dieser starre Blick und die schlecht verhaltene Erregung, die das Ziehen in Heinrichs Lenden verursacht hatte. Großer Gott, das kannte er nicht an sich. Allein die Vorstellung auf diese abstoßende Gier und Gewalt zu reagieren, die er im Angesicht des Soldaten zu fühlen geglaubt hatte, war widerlich. Aber es hatte ihn aufgeregt, so sehr, dass er wieder spürte, wie er hart wurde. Er blinzelte zur Lampe hinauf. Das war wiedernatürlich! Rasch durchschritt er den schummrigen Flur. Unter seinen Schuhen knarrten die Dielen. Er senkte den Blick, als er das Bild seiner Mutter passierte. Vor ihr, einer Toten, die er nicht kannte, fühlte er sich ehrlos. Rasch stieß er die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Mit elektrischem Summen flammte die Glühbirne hinter der weißen Alabasterschale auf und tauchte seine Kammer in fahle Helligkeit. Der Raum wirkte bedrückend eng durch seine hohen Wände, die einfachen, groben Möbel und die geringe Fläche. Das farblose Licht-und Schattenspiel zwischen Bett, Schrank, Tisch und Stuhl verstärkte den Eindruck. Heinrich lehnte sich von innen gegen die Tür und sah zum Fenster. Wie ein Spiegel reflektierte das Glas seine Gestalt; abstoßend, kalt, hart. Passte das nicht auch auf den Landser? Heinrich zog die Brauen zusammen. Vielleicht half es, wenn er sein eigenes Gesicht als Grundlage für die Zeichnung nahm und anpasste, was ihm einfiel. Mehrfach hatte er auf diesem Weg Gesichter aus seiner Erinnerung rekonstruieren. Es passierte wie von selbst. Heinrich stieß sich ab und trat an seinen Tisch. Er zog Papier aus der Schublade und ergriff den Stift. Mit wenigen groben Strichen skizzierte er seine eigene Gesichtsform und das lockige Haar, die Augen und … Das alles wirkte zu weich. Die Züge des Landsers unterschieden sich in einem ausgeprägten Kinn und Kiefer, hohen Wangenknochen und tiefliegenden Augen unter fast aufgeworfen, wulstigen Brauen. Der Mund war nicht sinnlich voll sondern schmallippig und breit, vollkommen gerade und zwischen seinen Brauen über der langen, geraden Nase stieg eine steile Falte auf, die ihm eiserne Strenge verlieh. Eine neue Form der Erregung erfasste ihn und ließ die Striche auf das Blatt fließen. Er erinnerte sich mit jedem Moment mehr, fing den Mann ein und bannte ihn auf das Papier. Nach einer Weile starrte ihm der Soldat entgegen, durchdringend und hasserfüllt. Das war der Blick, den er gespürt hatte; diese Augen waren es gewesen, die ihn und Konrad belauert hatten. Dieser Mann kannte ihr Geheimnis und … und was? Heinrich wusste es nicht. Alle Euphorie wich aus ihm. Er ließ den Stift sinken und tippte mit dem Ende auf den Block. Warum sprach dieser Kerl seine Instinkte an? Heinrich befeuchtete seine Lippen und stützte sich auf der Tischplatte ab. Besser er zeigte seinem Vater die Zeichnung. Vielleicht hatte er ihn schon gesehen – auch wenn Heinrich daran zweifelte. In der Mimik seines Vaters änderte sich im ersten Moment wenig. Lediglich die Sorge vertiefte sich stark. Nach einer Weile zog er die Brauen zusammen. Seine Stirn kräuselte sich. Er schwieg und nahm die Linien in sich auf. Mit einer Hand griff er nach seiner Schnapsflasche. Nach einem langen, tiefen Zug sagte er: „Ein brutales Gesicht. Solche Kerle hatte ich einige Male als Gesellen und Lehrlinge in der Schlachterei. Das ist die Sorte, die Spaß am Töten und Quälen hatten.“ Er setzte die Flasche erneut an. Seine Augen wurden feucht. „Sie wären nie gute Metzger geworden.“ Heinrich hätte mit anderen Worten gerechnet. Sie passten nicht zu dem Ausdruck seines Vaters. Irgendetwas ging in ihm vor. Heinrich legte ihm beide Hände in den Nacken und massierte seine breiten Schultern. Er sah an seinem Vater vorbei auf das Blatt. Jetzt, mit etwas Abstand betrachtet, war er sicher, dass der Landser genauso ausgesehen hatte. „Brutal“, murmelte Heinrich, „aber sicher kommen solche Männer gut bei Frauen an. Sie sind keine solchen Burschen wie ich.“ Sein Vater schniefte. „Sag das nicht, Junge.“ Mit einem milden Lächeln wandte er sich um. „Du bist deiner Mutter ähnlich, Junge. Sei froh, dass du nicht so abstoßend bist, wie ich.“ „Unsinn.“ Heinrich empfand ihn nicht als hässlich, nur als liebevoll. Er besaß wunderschöne, braune Augen, die seine Natur wiederspiegelten und ein herzliches Lachen. Der Klang seiner Stimme war warm und volltönend. Nein, an ihm war gar nichts falsch und das musste auch seiner Mutter klar gewesen sein, denn auf den wenigen gemeinsamen Fotografien strahlte sie dieselbe Freude aus. Sacht schüttelte er den Kopf. „Sie hätte sich auch nicht für ihn erwärmen können.“ Tiefe Bitternis legte sich über die Züge seines Vaters. Behutsam tätschelte er Heinrich die Hand. „Vielleicht, Heinrich.“ Seine Stimme blieb ein Flüstern, dann sagte er: „Geh Morgen mit Konrad, Ludwig und Hector zur Gendarmerie und zeig ihnen das Bild. Ich bin überzeugt, dass sie diesen Mann kennen.“ Was immer das Gespräch oder die Zeichnung bei seinem Vater ausgelöst hatte, es zog eine tiefgreifende Änderung mit sich. Heinrich hörte ihn im Schlafzimmer auf und ab gehen und weinen. In diesem Zustand konnte Heinrich ihn nicht zurück lassen. Er stand auf. Im dunklen Flur sah er Licht unter der Tür. Er klopfte. „Vater, brauchst du etwas, kann ich dir helfen?“ Drin endeten die Schritte. Sein Vater schnäuzte sich die Nase. Als er endlich öffnete, spürte Heinrich seine nackten Zehen auf den Dielen kaum noch. Der Anblick ließ ihn zusammenfahren. Tränen und Schweiß überzogen das Gesicht seines Vaters. Äderchen waren geplatzt. Er bebte. Noch immer trug er seine Straßenkleidung, aber sie war unter den Armen und an Hals und Nacken nass. In der Hand hielt er die Kornbrand-Flasche. Wortlos umarmte er Heinrich und zog ihn in den Raum. „Vater …“ „Bleib heute Nacht hier.“ Seine Stimme klang klar. Er war nicht betrunken. „Bleib, dann kann ich schlafen.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)