Fliegenfang von Yosephia (Womit Väter es so zu tun haben) ================================================================================ Kapitel 3: Die Sache mit den Schimpfwörtern ------------------------------------------- „Fick dich!“ Überrascht blickte Sting von den Klaviertasten auf, über die bis eben noch Froschs kleine Finger getanzt waren, um eines der Übungsstücke zu spielen, die Sting für sie aus seinen Notenbüchern heraus gekramt hatte. Sein Blick wanderte zu Lector, der auf dem Teppich am Couchtisch saß und bis eben noch Hausaufgaben gemacht hatte. Jetzt schob er das Schreibheft mit düsterer Miene von sich und verließ dann schnurstracks das Wohnzimmer, um in seinem Zimmer zu verschwinden. Auf der Couch saß Rogue, der sein Buch sinken gelassen hatte, die Stirn missbilligend gerunzelt, der Blick auf die offene Wohnzimmertür geheftet. Sogar Minnie schien die veränderte Stimmung zu bemerken, denn sie fiepte leise und legte ihren Kopf zwischen die Pfoten, obwohl sie vorher so vehement um Rogues Aufmerksamkeit gebuhlt hatte. „Papa, was heißt das, was Lector da gerade gesagt hat?“, fragte Frosch arglos, die sich ebenfalls vom Klavier abgewandt hatte. Beinahe hätte Sting über Rogues finstere Miene gelacht, wenn es ihn nicht selbst so gewurmt hätte, dass seine sechsjährige Tochter bereits mit solch unflätigen Ausdrücken in Kontakt kam. Sicherlich, heute warfen Kinder bedenkenlos mit so etwas um sich, einfach weil es viel zu viele Möglichkeiten gab, wobei man so etwas aufschnappen konnte. Oftmals hatte Sting den Eindruck, dass die meisten Kinder diese Schimpfworte nur nachplapperten, ohne ihren Sinn zu verstehen, geschweige denn zu hinterfragen. Lector allerdings war in solchen Dingen bisher immer ein sehr skeptischer Zeitgenosse gewesen. Er kam nur selten gut mit seinen Altersgenossen zurecht. Freunde hatte er nur in seinem Basketballverein. Dementsprechend hinterfragte er solche Phrasen normalerweise oder ließ sie sich von seinen Vätern erklären. Das schlimmste Wort, mit dem er bisher um die Ecke gekommen war, war Schlampe gewesen, aber da hatte Lector seine Väter abgefangen, als Frosch schon im Bett gelegen hatte, um sie nach der Bedeutung zu fragen. Als Rogue sein Buch beiseite legte, wandte Sting sich eilig an seine Tochter, um den Schaden zu begrenzen. Sanft strich er über ihre grünen Haare, die heute zu einem schlichten Pferdeschwanz hochgebunden waren – immer noch ihre Lieblingsfrisur, weil sie wohl so gerne im Partnerlook mit Rogue ging. „So etwas sagt man nicht, Fro. Das war ein Schimpfwort und du kannst wirklich Ärger kriegen, wenn die falschen Leute so etwas hören.“ Die arglos verwirrte Miene seiner Tochter brachte Sting ganz schön ins Schwitzen. Unter keinen Umständen wollte er seine Tochter jetzt schon darüber aufklären, was die eigentliche Bedeutung dessen war, was Lector gerade gesagt hatte. Eigentlich hoffte er sogar, dass auch Lector nicht darüber Bescheid wusste – zum Teufel noch mal, mit acht Jahren war der Junge viel zu jung für sexuelle Aufklärung! „Werden die Leute dann böse auf Frosch?“ Am liebsten hätte Sting sich irgendwo versteckt. Wieso musste Frosch auf ihre niedliche Art eigentlich so komplizierte Fragen stellen? Wurde jemand böse, wenn man unbestimmt Fick dich in den Raum warf? Wohl eher wenige. Aber einige könnten an so etwas Anstoß nehmen, den Kindern daraufhin dumme Predigten halten oder sie ohne Erklärung bestrafen und dann Sting und Rogue in den Ohren liegen, was für verantwortungslose Väter sie doch wären – homophobische Andeutungen inklusive. Sting wollte das sich und seinem Mann, vor allem aber seinen Kindern ersparen. „Einige Leute denken dann, du wärst unartig“, versucht Sting es vorsichtig und behielt Rogue im Auge, der nach Lectors Schreibheft griff. „Einige sind vielleicht auch beleidigt. Die Lehrer könnten dich dafür bestrafen. Sag' so etwas lieber nicht, verstanden?“ „Und warum hat Lector das dann gesagt?“, fragte Frosch, nachdem sie artig genickt hatte. „Er ist frustriert“, meldete Rogue sich endlich zu Wort. Zu Stings Erleichterung war seine Miene nicht mehr finster, stattdessen lag ein Hauch von Sorge darin. Er stand mit dem Schreibheft auf. Als Minnie ebenfalls aufsprang, kraulte er sie besänftigend hinterm Ohr, ehe er ihr bedeutete, zu ihrem Korb zu gehen, was sie auch sofort bereitwillig tat. Dafür dass er vorher so gut wie gar keine Erfahrungen mit Hunden gehabt hatte, kam er erstaunlich gut mit Minnie zurecht. Aus irgendeinem Grund hatte die Hündin einen Narren an ihm gefressen, dabei war Rogue auch derjenige, der am strengsten zu ihr war. „Frosch, spiel' noch ein bisschen, dein Vater und ich müssen mit Lector reden.“ „Seid ihr böse auf Lector?“, fragte Frosch und ihre Stirn legte sich in winzige Falten. Wenn es darum ging, Lector in Schutz zu nehmen, war Frosch überraschend hartnäckig und eigenwillig. Auch wenn sie schon seit drei Jahren bei Sting und Rogue lebten, an ihrem engen Geschwisterverhältnis hatte sich nie etwas geändert – es war höchstens noch stärker geworden. „Nein, Frosch, wir wollen Lector helfen“, erklärte Rogue und kam zum Klavier, um sich zu Frosch herunter zu beugen und ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben. „Und wir werden ihm vernünftig erklären, warum er so etwas auch dann nicht sagen darf, wenn er frustriert ist. Keine Sorge, wir schimpfen nicht mit ihm.“ Nur kurz blickte Frosch zwischen ihren Vätern hin und her, dann nickte sie gutmütig, rutschte aber vom Klavierhocker, um stattdessen mit Minnie zu kuscheln. Schwanz wedelnd stupste diese das Mädchen mit der Nase an und rieb ihren Kopf an Froschs Bauch. In dem Wissen, dass Frosch bei Minnie in guten Händen – oder vielmehr Pfoten – war, folgte Sting seinem Mann in Lectors Zimmer. Wie so oft lagen auf dem Boden alle möglichen und unmöglichen Sachen herum. Dabei hatte der Junge weder übermäßig viele Spielsachen, noch war es so, dass er keinen Platz hatte, um eben diese ordentlich zu verstauen, aber Lector hatte diese Eigenart, seine Sachen einfach dort fallen so lassen, wo er gerade stand, wenn er sie nicht mehr brauchte. Sein Ranzen lag umgekippt neben dem Schreibtisch, daneben verteilten sich mehrere Schulbücher und -hefte. Über dem Stuhl und darum am Boden verteilt lagen Klamotten. Ein paar Zauberwürfel in verschiedenen Varianten verteilten sich durch den halben Raum und die halb gepackte Sporttasche stand am Fußende des Bettes, daneben ein Basketball, handsigniert von der gesamten Mannschaft der Basket Dragons – den Ball hatte Lector bei einer Verlosung gewonnen. Lector lag im Bett, die Decke so weit über sich gezogen, dass nur sein rotbrauner Haarschopf hervor lugte. Er machte einen furchtbar verlorenen und verletzlichen Eindruck. So hatte Sting ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gesehen und es schnitt ihm genau wie damals ins Herz. Darauf achtend, dass sie sich nichts eintraten, gingen Sting und Rogue gemeinsam zum Bett und setzten sich auf dessen Kante. Als Sting vorsichtig versuchte, die Decke weg zu ziehen, klammerte Lector sich geradezu krampfhaft daran fest und rutschte sogar von seinen Vätern weg. „Lec, wir wollen nur mit dir reden“, versuchte Sting es mit Worten. „Lasst mich in Ruhe“, murmelte Lector gedämpft. Seine Stimme klang gequält, was Stings Herz zusammen presste. Fragend blickte er zu Rogue, der ihm das Schreibheft gab und dann weiter vor rutschte, um durch Lectors Haare streichen zu können. Zuerst versuchte Lector, der Hand auszuweichen, aber als Rogue nach rückte, gab er es auf. Sein schlaksiger Körper erzitterte unter der Decke und dann konnte Sting ihn leise weinen hören. Schwer schluckend blickte er auf das Heft hinunter. Auf der aktuellen Seite stand immer nur ein einziges Wort: Mädchen. Die gesamte Seite war auf allen Zeilen vollständig mit diesem einen Wort gefüllt. Die davor ebenfalls. Es war deutlich zu sehen, dass Lector am Anfang tatsächlich eine Verbesserung zustande gebracht hatte, aber auf der zweiten Seite wurde sein Schrift krakelig, mitunter fast vollkommen unleserlich, und es schlichen sich immer mehr Fehler ein. Mal fehlten die Ä-Punkte, mal wurde aus dem Ä ein E, mal war das M klein geschrieben oder das N verschwunden. Sting blätterte weiter vor und erkannte, dass ein kurzes Übungsdiktat geschrieben worden war. Im Grunde hatte Lector dabei gar nicht so viele Fehler gemacht, auch wenn seine Schrift sehr unsauber war, dennoch hatte der Lehrer mit dem Rotstift viele überkritische Bemerkungen an den Rand geschrieben und als Hausaufgabe mehrere Wörter aufgelistet, die jeweils zweiseitig zu wiederholen seien. Insgesamt sechs Wörter. Das machte zwölf Seiten. Bei einem Achtjährigen... Sting warf das Schreibheft beiseite und zog den immer noch weinenden Lector samt Decke zu sich. Rogue rutschte näher und schließlich lag Lector so halb auf ihren beiden Schößen und versuchte, seine Tränen fortzuwischen. „Warum hast du uns nicht gesagt, dass du so viele Aufgaben bekommen hast?“, fragte Rogue sanft. Lector presste die Lippen zusammen und wich ihren Blicken aus. Sein Körper zitterte in Stings Armen und dann schniefte er wieder. „Ich wollte nicht, dass ihr denkt, dass ich dumm bin...“, krächzte er heiser. „Das würden wir niemals denken, Lec“, begehrte Sting auf und wollte seinen Sohn enger an sich ziehen, aber Rogues ruhige Hand auf seiner Schulter brachte ihn zur Besinnung. Es half nicht, den Jungen zu bedrängen. „Lector, wie kommst du auf so etwas? Du weißt doch, dass du immer zu uns kommen kannst“, sagte Rogue und legte seine Hand nun auf Lectors Knie. „Mister Yuri hat gesagt, dass ich dumm bin“, schniefte Lector und zog sich die Decke wieder übers Gesicht. Sting versteifte sich. Von diesem Yuri hatte er nun schon so einiges gehört. Der wäre auch beinahe Froschs Klassenlehrer geworden, wenn Sting und Rogue sich nicht vehement dagegen eingesetzt hätten. Dass Lector dieses Fossil in Fiorianisch hatte, hatten sie leider nicht verhindern können. Auch so hatten sie sich bei der Schulleitung bereits ganz schön unbeliebt gemacht. Bislang war es aber noch nie zu einem derartigen Vorfall gekommen. Sting trieb es vor Wut beinahe die Galle hoch. Erst als Rogue Lector zu sich auf den Schoß zog, rief Sting sich zur Ordnung. Mit seiner Wut konnte er seinem Sohn jetzt auch nicht helfen, schalt er sich. Schuldbewusst beobachtete er, wie Rogue die Arme fest um Lector schlang und sich mit diesem leicht hin und her wiegte. Irgendwann ließ der Junge die Decke los und klammerte sich an Rogue, das Gesicht nun in dessen Pullover vergraben, um die Schluchzer zu unterdrücken. Vorsichtig rutschte Sting näher an die Beiden heran und strich durch Lectors Haare, seine Schulter an Rogues gelehnt, um etwas von seiner Ruhe zu erhaschen. Als Lector sich endlich etwas beruhigt hatte, zog Rogue sein Gesicht am Kinn vorsichtig vom Pullover weg, damit Lector einem von ihnen in die Augen blicken konnte. „Du bist nicht dumm. Du bist in der Schule, um zu lernen. Zum Lernen gehören Fehler. Wir haben auch Fehler gemacht. Dein Lehrer hat als Schüler auch Fehler gemacht. Und es war ein Fehler von ihm, dich als dumm zu bezeichnen und dir diese übertriebene Strafarbeit aufzugeben.“ Lector schniefte wieder lautstark, aber Sting konnte spüren, wie sein Sohn sich endlich etwas entspannte. Rogues Worte waren zu ihm durchgedrungen. Sting war heilfroh, dass sein Mann so viel besser mit Worten war! Vorsichtig drückte Rogue ihm Lector in die Arme und verließ das Kinderzimmer. Liebevoll schloss Sting die Arme um den Jungen und lehnte sich mit ihm an die Wand. Matt kuschelte Lector sich an ihn und Sting strich ihm immer wieder beruhigend durch die ohnehin schon wirren Haare. „Wo hast du eigentlich dieses Schimpfwort gelernt?“, unterbrach er die Stille schließlich. In seinen Armen rührte Lector sich unsicher und er zögerte mit der Antwort. „Als ich bei Tante Mi in der Kaserne war, hat das einer der Soldaten gesagt“, erklärte Lector schließlich nuschelnd. „Tante Mi ist deshalb böse geworden und hat dem Soldaten richtig Angst gemacht.“ Nur mit Mühe konnte Sting sich ein Grinsen verkneifen. Gerade die Schwarzhaarige hatte wahrscheinlich mehr Schimpfwörter auf dem Kasten als irgendjemand sonst in Stings Freundes- und Bekanntenkreis, aber wenn es um ihre Patenkinder ging, war sie schon immer ein Softie gewesen – und gleichzeitig so etwas wie eine Löwenmutter, mit Laserblicken und Feuer speiend und größer als Godzilla, keiner würde sich jemals mit ihr anlegen, wenn sie sich für Lector und Frosch einsetzte. „Hat sie dir auch erklärt, dass man so etwas nicht sagt?“, fragte er, als er sicher sein konnte, sich wieder im Griff zu haben. „Ja, hat sie… Aber als ich diese doofen Aufgaben gemacht habe…“ Seufzend schloss Sting seinen Sohn noch fester in die Arme und drückte sein Gesicht in die rotbraunen Haare. „Du warst frustriert, das kann ich gut verstehen. Aber versuch’ so was nicht noch mal in Fros Gegenwart zu sagen, ja?“ Wortlos nickte Lector und hob eine Hand, um sich die Tränen fort zu wischen, ehe er zaghaft aufblickte. „Ihr seid wirklich nicht böse?“ Unwillkürlich musste Sting daran denken, wie Lector ihm genau dieselbe Frage vor drei Jahren gestellt hatte, nachdem Frosch in ihrer ersten Nacht bei ihnen ins Bett gemacht hatte. Damals hatte Lector Angst um Frosch gehabt, sein ganzes Denken hatte sich nur darum gedreht, sie zu beschützen. Eine viel zu große Aufgabe für einen Fünfjährigen, aber er hatte sie dennoch auf sich genommen. Jetzt jedoch war Lectors Angst anderer Natur und Sting begriff, wie wichtig es seinem Sohn war, dass er und Rogue nicht schlecht von ihm dachten. Lector wollte ihnen ein guter Sohn sein. Dieser kleine Dummkopf. Das war er doch schon immer gewesen! „Niemals“, erklärte Sting voller Inbrunst. „Manchmal müssen wir streng sein, damit du und Fro etwas Wichtiges versteht, aber wir werden euch niemals böse sein. Und wenn du denkst, dass wir es sind, dann frag’ uns lieber, damit wir es dir erklären können. Abgemacht?“ Erleichterung breitete sich auf Lectors jungen Zügen aus und er nickte hastig, ehe er sich wieder an seinen Vater kuschelte. So eng umschlungen verblieben sie schweigend, bis Rogue mit einem Tablett mit vier dampfenden Tassen ins Zimmer kam, aus denen es himmlisch nach Schokolade duftete. Frosch und Minnie folgten ihm, in Froschs Hand eine Packung mit Lectors Lieblingskeksen. In ihren großen Augen stand eine besorgte Frage, aber als sie aufs Bett kletterte und ihren Bruder umarmte, erwiderte dieser die Geste einfach nur dankbar und Frosch entspannte sich wieder. Zu viert machten sie es sich auf dem Bett bequem und Sting war froh, dass Lector damals auf ein großes Bett bestanden hatte statt auf eines in seiner Größe. Ein Kinderbett hätte ihr gemeinsames Gewicht wohl nicht halten können. Als sie alle bequem saßen, sprang Minnie auf eine freie Stelle und rollte sich zusammen, um ihre Schnauze dann auf Lectors Schoß zu legen und gutmütig zu ihm aufzublicken. In Anbetracht der Umstände verzichtete Rogue darauf, die Hündin wieder zu Boden zu schicken. „Ich werde morgen mit Mister Yuri und dem Schuldirektor reden“, erklärte Rogue, nachdem er alle Tassen verteilt hatte. Sting verkniff sich ein Grinsen. Die Pädagogen würden morgen nichts zu lachen haben. Wenn es um die Kinder ging, konnte Rogue wirklich gruselig werden. Und selbst in seiner Wut war Rogue vernünftig genug, dass ihm niemand widersprechen konnte. In der Hinsicht war er seinem hitzköpfigen Partner um Längen voraus. „Danke“, nuschelte Lector in seine Tasse und lehnte sich wieder gegen Sting. „Ihr seid die besten Papas der Welt.“ „Frosch denkt das auch!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)