Fliegenfang von Yosephia (Womit Väter es so zu tun haben) ================================================================================ Kapitel 4: Die Sache mit der Trauer ----------------------------------- Die Musik dröhnte über das Eis und vermischte sich mit dem Stimmengewirr der vielen Menschen, die sich in der großen Eishalle tummelten – die meisten auf dem Eis, doch viele auch an den Fressbuden, die sich an den Längsseiten aufreihten. Die Gerüche von Glühwein, gebratenen Äpfeln und gebrannten Mandeln lagen in der Luft und vermittelten zusammen mit den eisigen Temperaturen, die den Eisgeneratoren zu verdanken waren, und dem Kunstschnee, der zuweilen von der Decke rieselte, eine weihnachtliche Atmosphäre. Dabei war es Ende Februar und draußen gab es nicht einmal mehr Schneematsch. Beinahe wirkte die Eishalle wie eine Zeitblase. Und Frosch liebte es. Lachend schlitterte sie auf ihren Schlittschuhen über das Eis, mit Argusaugen überwacht von ihrer Patentante Yukino und ihrem Onkel Rufus, die sich nie mehr als einen Meter von ihr entfernten und mit ihr immer dorthin strebten, wo am wenigsten los war. Ihr Bruder raste übermütig mit Orga durch das Gewühl. Seine Knie und sein Hintern waren weiß, weil er sich schon mehrmals lang gelegt hatte, aber er war jedes Mal sofort wieder aufgestanden und hatte von Ohr zu Ohr grinsend weiter gemacht. Sting war heilfroh, dass seine drei Freunde Zeit gehabt hatten, um mit ihnen hierher zu kommen. Minerva wäre auch gekommen – wenn auch nur, um von der Bande aus zu zusehen –, aber sie musste arbeiten. Genauso wie Loke, im Zodiac Kitchen war durch Grippe bedingten Personalmangel momentan die Hölle los. Da konnte man nichts machen. Bei so einer großen Gruppe war es ganz normal, dass nicht immer alle zur gleichen Zeit konnten. Was Sting jedoch die Laune verdarb, war die Abwesenheit seiner Cousine Lucy. Als er sie angerufen hatte – und sie nach dem fünften Versuch auch endlich mal erreicht hatte –, hatte sie ihn kurz angebunden abgewimmelt. Sie müsste noch einen Artikel fertig schreiben und an dem Konzept für die nächste Ausgabe des Magnolian History & Today arbeiten. Ihre Stimme hatte matt und monoton geklungen und es war Sting schwer gefallen, bei dieser Stimme überhaupt an Lucy zu denken. Seine Lucy… seine kleine Cousine, die ihm so teuer wie eine Schwester war… Sie waren von Kindesbeinen an zusammen gewesen. Es gab Bilder, auf denen er als Einjähriger Lucy als Baby fest in den Armen hielt und seine Wange an ihre drückte. Als Kleinkinder waren sie von ihren Müttern oft im Partnerlook gekleidet worden. In der Grundschule hatten sie den Lehrern gemeinsam Streiche gespielt und einander zu allerlei Abenteuern angestiftet. Sting hatte mal einen Jungen geschlagen, der Lucy an den Haaren gezogen hatte. Lucy wiederum hatte damals, als Sting Rogues wegen so durch den Wind gewesen war, Stunden lang mit ihm telefoniert und ihm immer geduldig zugehört und genau die richtigen Nachfragen gestellt. Sie hatte eine Engelsgeduld mit ihm gehabt und sie war fast ausgeflippt vor Freude, als Sting ihr erzählt hatte, dass er endlich mit Rogue zusammen war… Diese Lucy hatte Schlittschuhlaufen geliebt. Diese Lucy war ein Wirbelwind gewesen. Immer in Bewegung, immer voller Leben und Abenteuerlust und Freude. Sie hatte alle um sich herum mit ihrer Begeisterung angesteckt und die Leute hatten sich reihenweise nach ihr umgesehen, weil sie so eine umwerfende Ausstrahlung gehabt hatte. Und diese Lucy hätte ihre Arbeit einfach verschoben im guten Glauben daran, dass sie das auch später noch rechtzeitig schaffen konnte, um die Gelegenheit zu nutzen, Zeit mit ihren Freunden zu verbringen. Diese Lucy würde jetzt Frosch Tipps geben oder sich mit Lector und Orga ein Wettlaufen liefern oder Yukino über das Eheleben aushorchen… Vor allem aber hätte diese Lucy ihren Cousin vor zwei Wochen niemals so harsch angefahren, als er an ihrem Geburtstag versucht hatte, sie zu einer Party zu überreden. Zwar hatte sie sich danach sofort entschuldigt, aber ihr Blick hatte unmissverständlich klar gemacht, dass sie sich nicht einmal zu einem gemütlichen Beisammensein mit den Freunden überreden lassen würde. Die Lucy von damals und die Lucy von heute waren zwei grundverschiedene Personen – und obwohl er wusste, dass er alles in seiner Macht stehende getan hatte, um diese Spaltung zu verhindern, fühlte Sting sich doch schuldig. Ihm war danach zumute, einfach nach Hause zu gehen, sich ins Bett zu verkriechen und diesen Scheißtag an sich vorüber ziehen zu lassen. Jedes Mal, wenn eines der Kinder zu ihm herüber sah, musste er sich krampfhaft zu einem Lächeln zwingen. Zum Glück hatten Rogue und die Anderen schnell geschaltet, als sie mitbekommen hatten, wie Stings Telefonat mit Lucy ausgegangen war, und sich gleich die Kinder geschnappt, um Sting die Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fangen. Jetzt saß er schon zwei Stunden auf der Bank, seine Schlittschuhe lagen unbeachtet neben ihm und er fühlte sich mit jeder Minute miserabler. Als sich zwei Hände von hinten auf seine Schultern legten, zuckte er überrascht zusammen. Am Druck der Hände erkannte er jedoch sofort, wer da hinter ihm stand. Diese Hände hätte er jederzeit und überall wieder erkannt. Als er den Kopf in den Nacken legte, blickte er zu den roten Augen seines Mannes auf. Unverhohlene Sorge lag in ihnen. Eine der Hände legte sich an Stings Wange und strich sanft darüber – und ganz automatisch lehnte Sting sich Trost suchend an diese Hand. „Lass’ uns raus gehen“, sagte Rogue mit gedämpfter Stimme. „Aber die Kinder…“ „Ich habe mit Rufus gesprochen. Sie passen auf die Kinder auf“, erklärte der Schwarzhaarige und zog seine Hand wieder von Stings Wange, um ihn von der Bank zu schieben. Schuldbewusst blickte Sting zum Eis, wo seine Kinder sich noch immer vergnügten, doch er protestierte nicht, als Rogue seine Hand ergriff und ihn an den anderen Bänken vorbei zum Ausgang zog. Sie hatten Tagestickets, also konnten sie nachher auch problemlos wieder rein kommen. Draußen wandte Rogue sich nach links, fort von den Parkplätzen und der dicht befahrenen Straße. Hinter der Eishalle lag ein kleiner, verwilderter Park, der aufgrund des leichten Nieselregens, der schon den ganzen Tag anhielt, wie ausgestorben war. Als er sicher sein konnte, dass sie alleine waren, blieb Rogue stehen und drehte sich zu seinem Mann herum. Hilflos stand Sting vor ihm und rang mit den Händen. Er wollte sich nicht so gehen lassen. Das mit Lucy war nichts Neues. Daran hatten sie alle zu knabbern. Sogar Lector und Frosch hatten das schon bemerkt. Die Tante Lu, die ihnen tolle, ausgefallene Geschenke besorgte und mit ihnen Brett- und Kartenspiele spielte oder mit Frosch malte, war eine Rarität geworden. Die Kinder konnten sich aber sehr wohl daran erinnern und sie vermissten diese Tante Lu von ganzem Herzen. So wie Yukino und Loke ihre Freundin vermissten, die ihnen so viele Schubse gegeben hatte. „Lass’ es einfach raus“, sagte Rogue leise und schlang die Arme um Sting. „Du frisst das schon seit zwei Wochen in dich hinein.“ Ganz unwillkürlich lachte Sting gequält auf. „Ich fresse das schon seit fünf Jahren in mich hinein, Rogue!“ „Ich weiß.“ „Seit fünf verdammten Jahren!“ Stings Stimme drohte auf einmal über zu schnappen. „Seit dieser verdammten Diagnose! Das ist, als hätte ich damals gleich zwei Familienmitglieder verloren!“ „Ich weiß.“ „Sie war meine beste Freundin. Wie eine Schwester! Sie hat so viel für mich getan, sie hat Wochen lang bei mir übernachtet, als Ma gestorben ist!“ „Ich weiß.“ „Ich verliere sie“, krächzte Sting und sein Körper begann zu zittern. „Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll. Sie geht vor meinen Augen ein und egal, was ich auch versuche, es ändert sich nicht das Geringste…“ „Ich weiß…“ „Ich will sie nicht verlieren.“ Stings Körper wurde von einem Schluchzer gebeutelt, den er mühsam zu unterdrücken suchte. Er wollte sich nicht so gehen lassen. Er war nicht derjenige, dem es so schlecht ging. Er war derjenige, der etwas unternehmen müsste. Wortlos zog Rogue ihn noch fester an sich und blickte unablässig in seine Augen. Auf einmal ging Sting auf, dass auch Rogue drohte, eine Freundin zu verlieren. Lucy hatte sich in ihren Freundeskreis integriert, war sogar ganz bewusst nach Magnolia gezogen, um dort zu studieren und in der Nähe ihrer neuen Freunde zu sein. Das hier war nicht bloß Stings Problem. Es war ihrer aller Problem. Der Gedanke war das Tröpfchen, welches das Fass zum Überlaufen brachte. Schluchzend drückte Sting sein Gesicht auf Rogues Schulter und ergab sich seinen Tränen. Es war sogar noch schlimmer als vor fünf Jahren, als die ganze Sache ihren Anfang genommen hatte. Damals war ihm ja auch noch nicht klar gewesen, was für weitreichende Folgen die ganze Sache haben würde. Damals war er zuallererst geschockt gewesen. Heute jedoch trauerte er. Um seine Tante. Um seine Cousine. Und um all das, was er und alle Anderen mit ihnen zu verlieren drohten… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)