Calling the Children von Flordelis ================================================================================ Kapitel 1: Ich bin zu Hause --------------------------- Alex' Schritte waren vielleicht lockerer als sie sein sollten, als er seinen Weg antrat, vom hintersten Platz des Busses bis nach vorne zum Fahrer zu kommen. Er selbst war der letzte Passagier im Wagen, weswegen er den dringenden Drang verspürte, mit einem anderen Menschen zu sprechen, um sich nicht so einsam zu fühlen. Er setzte sich auf den vordersten Platz, schräg hinter dem Busfahrer, so dass er diesen im Profil betrachten konnte. Er war ein untersetzter Mann, dessen Job ganz offensichtlich daraus bestand, viel zu sitzen. Seine fleischigen Hände hielten das Lenkrad fest umschlossen und waren durch die Sonne braun gefärbt, obwohl es Herbst war. Neben der dunkelblauen Uniform trug er eine passende Mütze auf seinem Kopf. „Fahren Sie diese Strecke schon lange?“, fragte Alex. Der Fahrer reagierte darauf nicht, aber er ließ sich davon nicht entmutigen. Er sehnte sich gerade so sehr nach menschlicher Interaktion, dass er einfach fortfuhr: „Es ist jetzt vier Jahre her, seit ich zuletzt in Shepherd's Glen war. Ich bin da aufgewachsen, wissen Sie?“ Diesmal reagierte sein unfreiwilliger Gesprächspartner, aber leider nicht wie erwartet: Er hob eine seiner Hände und deutete auf ein Schild knapp über seinem Kopf. Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen. Alex überlegte einen Moment lang wirklich, es sein zu lassen, aber er fuhr dann dennoch fort: „Ich bin ehrlich gesagt ziemlich aufgeregt, wieder nach Hause zu kommen. Ich habe auch schon lange mit niemandem von dort mehr gesprochen.“ Nicht einmal mit seiner Familie. Selbst die Tatsache, dass er heute wieder nach Hause käme, war von ihm mit einem Brief angekündigt und von seinem Vater mit einer kurzen Postkarte bestätigt worden. Dennoch hoffte er, dass zumindest seine Mutter oder Josh sich über seine Rückkehr freuten. Der Fahrer konzentrierte sich auf die Straße, beide Hände wieder auf dem Lenkrad. Unzählige gelbe Blätter klebten auf dem nassen Asphalt, ab und zu kam ihnen ein Auto entgegen, aber ansonsten war dieser Bus das einzige Fahrzeug auf der Straße. Alex redete noch eine Weile weiter, erzählte von seiner Grundausbildung, der kurzen Zeit in der Armee, die er hauptsächlich im Nahen Osten verbracht hatte. Er ließ aber all jene Ereignisse aus, über die er nicht einmal mehr nachdenken wollte. Ob der Busfahrer zuhörte, wusste er nicht, aber allein darüber zu reden tat schon einmal gut, deswegen verstummte er erst, als sie schließlich das Ortsschild von Shepherd's Glen passierten. Wo die Familie an erster Stelle steht stand unter dem Namen der Stadt, Alex musste wieder einmal darüber humorlos lachen. Wenn er daran dachte, wie seine Eltern ihn behandelten – als Teil der Familie – konnte er das nicht so wirklich glauben. Aber er hatte durchaus das Gefühl, dass es überdurchschnittlich viele Familien und wenig Singles oder Alleinerziehende gab. Vielleicht schlug es sich also nur in der Politik nieder und von dieser hatte er denkbar wenig Ahnung. Am Stadtrand hielt der Bus schließlich. Es sah nicht so aus, als wolle jemand einsteigen. Aber das war nun nicht mehr Alex' Problem. Mit einem beherzten Sprung landete Alex auf der Straße. Die Tasche, die er mit sich trug, traf ihn hart in die Seite, aber er störte sich nicht daran. Seine Freude, wieder zu Hause zu sein, war viel zu groß, um sich über Schmerzen Gedanken zu machen. Er fuhr herum, um sich von dem Busfahrer zu verabschieden. Eigentlich erwartete er, dass dieser es kaum erwarten konnte, ihn loszuwerden, aber tatsächlich blickte er ihn abwartend an. Als sich ihre Augen trafen, salutierte der Fahrer locker mit zwei Fingern, Alex erwiderte die Geste gewohnt militärisch. „Passen Sie auf sich auf, Soldat“, sagte der Busfahrer noch, ehe er die Tür schloss, den Wagen startete und dann einfach davonfuhr. Alex sah ihm hinterher, bis er den Bus aus den Augen verlor, dann erinnerte er sich daran, weswegen er überhaupt zurück gekommen war. Ich sollte nach Hause gehen. Da der Fahrer ihn in der Craven Avenue abgesetzt hatte, war es auch nicht sonderlich schwer, den Heimweg zu finden. Er müsste einfach immer nur nach Norden gehen. Natürlich trug er seinen Kompass hier nicht bei sich – aber er war immerhin in dieser Stadt aufgewachsen, also benötigte er so etwas auch nicht. Mit federnden Schritten folgte Alex der Straße. Jedes Gebäude schien Erinnerungen in ihm zu wecken, die sich wie ein warmes Getränk in seinem Inneren ausbreiteten – ohne dass dafür seine Kehle brannte, weil er den Kaffee viel zu heiß trinken musste, ehe seine Schicht bei der Wache begann. Als er an der Statue vor der Stadthalle vorbeikam, hielt Alex nur einen kurzen Moment inne. Sein Blick wanderte suchend umher, um zu erfahren, ob Elle hier irgendwo war. Da ihre Mutter hier arbeitete, war sie früher immer mal wieder auch hier anzutreffen gewesen. Aber nicht an diesem Tag. Vielleicht, so überlegte er, arbeitete Margaret Holloway auch nicht mehr als Richterin. Immerhin war er zwei Jahre weg gewesen, da konnte einiges geschehen. Nachdem er einige altbekannte Gesichter gegrüßt hatte, ohne Elle zu entdecken, setzte er seinen Weg fort. Irgendwo hörte er Hunde bellen. Als er am Park ankam, zu dem auch ein Spielplatz gehörte, und er das Lachen der spielenden Kinder hörte, beschloss er, einen Umweg zu gehen. Seine Eltern erwarteten ihn sicher nicht mit klopfendem Herzen und schwitzenden Händen, also warum dorthin eilen? Er betrat den kleinen Spielplatz durch ein schmiedeeisernes Gitter. Rund um den quadratischen Sandkasten standen zahlreiche Bänke auf denen Mütter, Väter, ältere Geschwister und auch einige Kindermädchen saßen und sich allesamt in kleinen Grüppchen miteinander unterhielten. Nicht selten waren sie dabei, Kaffee zu trinken oder waren mit ihren Handys beschäftigt. Einige Personen erkannte er wieder, aber sie schienen derart beschäftigt, dass er sie nicht stören wollte. Also widmete er sich lieber dem Sandkasten selbst. Mehrere Spielgeräte, wie eine Rutsche, Schaukelpferde und auch ein Karussell befanden sich darin, aber es war dennoch genug Platz, dass die Kinder, die sich nicht damit befassen wollten, sich mit dem Sand beschäftigen konnten. Zwischen diesen fand Alex schließlich auch die Person, nach der er gesucht hatte: „Josh!“ Ein Junge, geradezu abnormal schlank, mit dunkelbraunem Haar und den gewohnt wachen Augen, hob den Kopf, um sich umzusehen. Er sah genauso aus, wie Alex ihn in Erinnerung hatte, er war also wirklich vollkommen genesen. Das erleichterte Alex mehr als er je geglaubt hätte. Als Josh ihn schließlich entdeckte, schien sein gesamtes Gesicht zu leuchten. Er sprang sofort auf und lief ihm eilig entgegen. „Alex!“ Josh war gewachsen, das war das eindeutigste Merkmal, das zeigte, wie viel Zeit vergangen war. Früher hatte Alex ihm problemlos den Kopf tätscheln können, inzwischen ging Josh ihm schon bis zur Brust, so dass er diesmal wirklich den Arm hebe musste, um seinem kleinen Bruder mit der Hand ruppig durch die Haare zu fahren. „Hey, Kleiner. Wie geht es dir?“ Josh wedelte mit den Armen, um ihn wieder abzuschütteln. „Ich wusste nicht, dass du heute wiederkommst! Mum und Dad haben das nie gesagt.“ Hätte Alex sich das nicht bereits gedacht, wäre das eine sehr schmerzhafte Aussage gewesen, aber so zuckte er nur mit den Schultern. „Meine Grundausbildung und mein erster Einsatz sind vorbei. Da habe ich mich entschlossen, die Truppen zu verlassen.“ Besonders da er bei seinem Einsatz verletzt worden war. Er war nicht kampfunfähig, aber er hatte es doch für besser befunden, zu gehen, wenn er lediglich eine hässliche Narbe auf seinem Bein mitnahm, statt zu bleiben, bis er irgendein Körperteil verlor. „Dann bleibst du jetzt hier?“, fragte Josh mit vor Aufregung sich überschlagender Stimme. Als Alex nickte, vollführte sein Bruder einen Siegessprung. „Gehst du dann-“ Josh wurde unterbrochen, als einer seiner zurückgebliebenen Freunde nach ihm rief. Alex folgte der Stimme, aber er erkannte den anderen Jungen nicht. „Ich komme gleich!“, rief Josh zurück, ehe er sich wieder an Alex wandte: „Ich muss zurück. Aber wir sehen uns nachher ja zu Hause. Stimmt's?“ „Ganz genau, Kleiner.“ Josh gab ihm noch einmal ein zufriedenes Nicken, dann fuhr er herum und kehrte eilig zu seinen Freunden zurück. Anscheinend waren sie gerade mit irgendwelchen Sammelkarten beschäftigt, von denen Alex auch schon einiges gehört hatte. Allerdings interessierte er sich für solche Dinge nicht, daher merkte er sich auch die Namen dieser Kartenreihe nicht. Es tat aber wirklich gut, zu sehen, dass es Josh wieder gut ging und dass er den Sturz und Alex' Abwesenheit derart gut verkraftet hatte. Es hätte auch ganz anders verlaufen können. Alex wandte sich ab, um den Spielplatz wieder zu verlassen, da fiel sein Blick auf eine alte Frau, die ihm zuvor nicht aufgefallen war. Sie sah vollkommen harmlos aus, wie sie da auf einer Bank saß und etwas strickte. Ihre blauen Augen hinter ihrer Brille waren vollkommen auf die flinken Bewegungen ihrer Hände konzentriert, ihr lockiges Haar war weiß und schon etwas licht. Aber obwohl sie derart harmlos aussah, fuhr es Alex bei ihrem Anblick kalt den Rücken hinab. Er verspürte den Wunsch, sich dieser Frau zu nähern und gleichzeitig das tiefe Verlangen, weit wegzulaufen. Er kam schließlich zu dem Kompromiss, dass er seinen Heimweg fortsetzte, Josh aber später nach dieser Frau fragte. Vielleicht war sie eine neue Bewohnerin oder hatte hier einen Enkel und er hatte nur eine Überreaktion. Vielleicht war er aber auch nur müde. Kaum hatte er den Park wieder verlassen und befand sich wieder auf der Straße, fühlte er sich schon um einiges besser. Vielleicht war er nach dem, was er alles gesehen hatte, wirklich nur angespannt und es gab nichts zu befürchten. Ja, so musste es sein, ganz sicher. Die Straße verlief nun am Ufer des Toluca Lake, deswegen hörte er das Gluckern von Wasser, das immer wieder gegen seine Grenzen schwappte. Besonders im Herbst und im Winter, war dieser See der Grund dafür, dass Shepherd's Glen so oft im Nebel lag. Man lebte damit, wenn man hier aufgewachsen war, da man es nicht anders kannte. Und für Alex war es immer der perfekte Schutz gewesen, um nicht von irgendwem bei seinen Untaten entdeckt zu werden. Heute käme ihm das natürlich nicht mehr in den Sinn, es gab an diesem Tag auch keinen Nebel. Vor der Holztür, die in den Vorgarten seines Familienheims führte, hielt er wieder inne. Das stattliche Shepherd-Haus, das von einem der vier Gründer der Stadt gebaut worden war, sah genau so aus wie in seiner Erinnerung. Eine hölzerne Veranda führte um das gesamte Haus herum, die weiße Farbe blätterte an einigen Stellen bereits von dem Holz ab, aber noch lohnte sich das Streichen nicht so wirklich. Die Fenster wirkten allesamt wie große Augen, die in die Seele des Besuchers zu starren schienen – und im Nebel wirkte es wirklich unheimlich. Aber an diesem Tag schien die Sonne, wenn auch nicht allzu heiß, also gab es keinen Grund, sich vor diesem Haus zu fürchten – wenn man von der Lieblosigkeit absah, die Alex hier in seiner Kindheit widerfahren war. Im Moment war das aber nicht mehr wichtig. Er war zu Hause, er war in der Army gewesen, ab sofort wurde alles besser, davon war er in diesem Moment überzeugt. Nun musste sein Vater ihn doch einfach akzeptieren. Alex ließ die Gartentür hinter sich und ging mit festen Schritten auf die Eingangstür zu. Sein Blick schweifte dabei über den Rasen, der wie üblich gut gepflegt war, sicher kümmerte sein Vater sich an seinen freien Tagen noch immer darum, damit allen anderen ein guter Eindruck erhalten blieb. Hauptsache nach außen hin gut aussehen. Wie verrottet es im Inneren ist, muss ja keiner wissen. Der alte Ärger und die Wut wollte wieder hochkochen, aber er ließ es nicht zu. Bevor es geschehen konnte, dachte er an seine Ausbilder in der Army, seine Vorgesetzten. Ein Wutanfall gegenüber diesen Personen wäre alles andere als klug gewesen – und dasselbe galt für seinen Vater. Deswegen beherrschte er sich, beschloss aber, bei Gelegenheit mit seinen Eltern über alles zu sprechen. Er wollte die Ereignisse der Vergangenheit nicht so stehen lassen. An der Tür angekommen, hielt er wieder inne. Im ersten Moment wollte er einfach hineingehen, aber vielleicht war dieses Haus nicht mehr seine Heimat. In diesem Fall dürfte er nicht einfach hineingehen. Also klopfte er laut und vernehmlich gegen die Tür und wartete. Die Sekunden zogen sich wie Stunden, er überlegte bereits, was er tun sollte, wenn er nicht mehr willkommen wäre. Seine Eltern wussten zwar von seiner heutigen Rückkehr, aber das bedeutete nicht, dass sie gewillt waren, ihn wieder aufzunehmen. Wohin sollte er in diesem Fall gehen? Er überlegte bereits, wo es sich in der Stadt am besten draußen schlafen ließe, da hörte er Schritte von der anderen Seite der Tür, sie wurde geöffnet – und seine Mutter stand vor ihm. Lillian Shepherd war stets eine sehr altmodische und ungesund aussehende Frau gewesen, die aber trotzdem Freude am Leben und dem Ausüben ihrer Hobbies verspürte. Wie üblich war ihr dunkelbraunes Haar zu einem Dutt hochgebunden, aus dem sich einige Strähnen gelöst hatten. Die hellen Flecken auf ihrem dunklen Rock verrieten Alex, dass er sie gerade beim Backen gestört hatte. Er wagte erst gar nicht zu hoffen, dass sie für ihn backte. Sie war immer noch ungesund blass, aber ihre dunklen Augen musterten ihn aufmerksam. Da sie nichts sagte und die peinliche Pause damit immer länger wurde, beschloss Alex, endlich das Wort zu ergreifen: „Hey, Mum. Ich bin zu Hause.“ Entgegen seiner Erwartungen breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und ihre Stimme war voller Wärme, als sie seinen Namen sagte. Ehe er sich darauf einstellen konnte, umarmte sie ihn bereits und gab ein erleichtertes Seufzen von sich. „Willkommen zu Hause, Alex.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)