Alice hinter den Spiegeln - Die tiefgründigste Fortsetzung ever von Drachenprinz ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel 4 - Der ver(w)irrte Soldat --------------------------------------------- Das Rascheln von Stoff und das leise Knarzen einer Tür waren das Erste, was er wahrnahm, als Alice registrierte, dass er nicht mehr schlief. Helle Sonnenstrahlen drangen von draußen durch das große Fenster, und erst einen Moment, nachdem er die Augen geöffnet hatte, wurde er sich darüber bewusst, in welchem Bett er sich befand. Beinahe hätte er es vergessen – er hatte es tatsächlich über sich gebracht, ausgerechnet bei Marilyn zu übernachten, weil angeblich nirgendwo in dessen riesigem Schloss auch nur ein einziger freier Schlafplatz für ihn übrig gewesen war. Glücklicherweise schien er die Nacht wenigstens unbeschadet hinter sich gebracht zu haben. „Bist du wach?“, hörte er die Stimme seines Gastgebers, bevor dieser ihm plötzlich bereits vollständig bekleidet – diesmal natürlich wieder in prachtvoller roter Tracht – und mit erwartungsvoller Miene gegenüberstand. Alice setzte sich widerwillig auf, was sich als noch mühsamer gestaltete als erwartet. Er fragte sich, wie viele Stunden wohl vergangen waren, seit er sich hier hingelegt hatte. Sonderlich viele konnten es nicht gewesen sein. Allerdings vertraute er ohnehin nicht mehr wirklich auf Dinge wie Uhr- oder Tageszeiten. Bis er sich an den Lauf der Zeit und dessen Abstände oder Zusammenhänge zwischen den einzelnen Gebieten des Wunderlandes gewöhnt hatte, konnte wahrscheinlich noch eine Weile vergehen. „Nein, ich bin nicht wach. Ich schlafe mit offenen Augen“, gab er ironisch zurück, während er angestrengt versuchte, irgendein kleines Anzeichen von Müdigkeit oder Unreinheit in Marilyns Zügen zu entdecken. Nichts. Selbst am frühen Morgen sah er genauso perfekt und puppenhaft aus wie immer – abgesehen davon, dass er noch keinen blutroten Lippenstift trug, wie er es sonst zu tun pflegte. Irgendwie unfair, wo er selbst sich gerade mehr wie ein matschiger Untoter fühlte als alles andere. „Das würde mich nicht wundern, so paranoid, wie du gestern Nacht wegen mir warst“, lachte Marilyn offenbar amüsiert und zeigte dann mit einer Hand auf seinen magischen Spiegel. „Tut mir leid, dich aufscheuchen zu müssen, aber lange herumliegen kannst du nicht mehr. Es ist schon recht spät. Du kannst dich auf der Kehrseite umziehen; dort steht ein Kleiderschrank für dich, in dem du sicher ein paar Sachen finden wirst, die dir zusagen. Danach steht dir selbstverständlich mein Badezimmer zur Verfügung. Du weißt noch, wie du dort hinkommst?“ „Ja... ich denke, das kriege ich noch zusammen“, antwortete Alice, ehe er sich notgedrungen von der königlichen Matratze erhob – zugegebenermaßen war es wirklich eines der bequemsten Betten gewesen, in denen er jemals genächtigt hatte – und auf dem Weg zu Marilyns Spiegel versuchte, sich ein wenig zu sammeln. Wenn er heute damit weitermachen musste, bei brütender Hitze die Plakate zu verteilen, war es mit Sicherheit nicht gerade von Vorteil, so müde zu sein, dass er sich wie ein Zombie fühlte. Marilyn war anzumerken, dass er die morgendliche Hektik schon seit Langem gewohnt war. Mit den Worten „Ich bin in der Küche, falls du mich suchst“ hatte er den Raum bereits verlassen, bevor Alice die Gelegenheit gehabt hatte, in irgendeiner Art weiter nachzuhaken. Eigentlich gab es aber auch nichts nachzuhaken. Wenn es sich schon einmal ergab, dass er alleine und ohne Umschweife die Kehrseite aufsuchen durfte, würde er wenigstens dazu kommen, noch einmal ein unauffälliges Vier-Augen-Gespräch mit seiner jüngeren Hälfte zu führen, bevor diese ihrer Hoheit selbst begegnen und irgendeinen unüberlegten Stuss brabbeln konnte. Er musste Lizzy dringend dazu anhalten, nichts von dem ominösen Samuraischwert zu erzählen und sich in Zukunft bloß zusammenzureißen, was das Zerstören von Möbeln und das Belästigen seiner Mitmenschen betraf. Am Ende würde sie sonst beide niemand mehr ernst nehmen können – schließlich waren sie, genau genommen, eine Person. Fast erwartete er schon, sein anderes Ich bei irgendeiner dubiosen Aktion zu erwischen, als er auf die dank des Tageslichts nicht mehr ganz so dunkle Seite des Spiegels trat. Jedoch wurden seine Erwartungen enttäuscht – er bemerkte nichts, rein gar nichts Außergewöhnliches, als er in Alicias ehemaligem Gemach stehenblieb und einen Moment lang in die Stille hineinlauschte. Ob Lizzy noch schlief? Ja, wahrscheinlich tut er das, dachte Alice und ging, um sich selbst davon zu überzeugen und das eigenartige Gefühl zu verdrängen, das schlagartig in ihm aufkam, durch die Tür in den spiegelverkehrten Flur, wo er einen Blick über das Geländer auf die schwarze Couch in der Empfangshalle warf und ein weiteres Mal etwas anderes sah als erwartet – nämlich nichts als Leere. „Komisch... Nach den gestrigen Eskapaden hat er es ernsthaft selbstständig hinbekommen, so früh aufzustehen?“, sagte er leise zu sich selbst, suchte den Saal flüchtig mit den Augen nach irgendeinem Lebenszeichen ab und probierte es schließlich, zwei Mal nach seinem neuen Mitbewohner zu rufen – allerdings erfolglos. „Hoffentlich ist er nicht schon auf die andere Seite gegangen und geht dort irgendwem auf die Nerven...“ Ein wenig geistesabwesend schlenderte Alice zurück zu seinem von nun an höchsteigenen Zimmer, in welchem sich hinter dem zertrümmerten Bett tatsächlich der Kleiderschrank befand, von dem Marilyn gesprochen hatte. Er musste ihn bisher in der Dunkelheit übersehen haben. Jetzt, da es heller war, konnte er auch das Nachttischchen besser erkennen, das offenbar mit den gleichen Schnörkeln verziert war wie sein und Marilyns Nachtgewand. Wie es aussah, hatte hier jemand eine sehr arge Vorliebe für verschnörkelte Muster und Dinge, die solche aufwiesen. Wenn er darüber nachdachte, passte es irgendwie auch zu Marilyn. Alles musste wunderschön und edel sein, um ihm und seinem Anwesen möglichst viel Würde zu verleihen. „Na, mal sehen, wie würdevoll die Klamotten aussehen, die er mir vorerst überlässt“, murmelte Alice, als er die Schranktür aufstieß und diesmal exakt das fand, was er auch erwartet hatte – eine beachtliche Auswahl schwarzer Sachen, die sich gegenseitig an Einfallsreichtum und Freizügigkeit geradezu übertrumpften, was den Schnitt betraf. Im Prinzip also genau das Richtige für ihn. „Den Modegeschmack muss man ihm lassen“, sagte er anerkennend, während er damit anfing, nach etwas zu suchen, das sich für den heutigen Tag anbieten würde. Lange brauchte er dafür nicht. „Perfekt. Das sieht doch gut aus!“ „Aaah!“, machte Marilyn, als er Alice im Rahmen der Küchentür gesichtet hatte, mit einer Stimme und einer Geste, die ebenso gut von einem seiner weiblichen Fans hätten stammen können. „Du überraschst mich immer wieder aufs Neue! Das ist ja noch süßer als das Erdbeertörtchen, das ich zu meinem letzten gefeierten Nicht-Geburtstag bekommen habe...!“ „Mir war heute nach einem etwas japanischeneren Look“, entgegnete Alice und zupfte, wie um diese Aussage zu unterstreichen, an seinem mit einigen kleinen Schleifchen versehenen Oberteil, das er mit einem ausgefransten Faltenrock, Plateustiefeln und flauschigen Armstulpen – alles in schwarz – kombiniert hatte, ehe er den Rest, wie geplant, in Marilyns Badezimmer erledigt hatte. Erstaunlicherweise fiel es ihm nach einem Jahr, das er dieses Schloss nicht mehr von innen gesehen hatte, kein bisschen schwer, sich in den Räumlichkeiten zurechtzufinden. „Ich hätte da nur eine ganz kleine Bitte an Euch: Könnten wir, wenn es Euch nichts ausmacht, vielleicht im Garten frühstücken? Ich habe das Gefühl, dass ich ein bisschen frische Luft gut gebrauchen könnte...“ Nur kurz machte Marilyn ein leicht irritiertes Gesicht, schien seine Erklärung jedoch nicht großartig weiter hinterfragen zu wollen. „Klar, das können wir machen!“, antwortete er schließlich und deutete beschwingt auf den Tisch, an dem sie einen Tag zuvor gemeinsam zu Mittag gegessen hatten – zumindest Marilyn hatte das getan. Er selbst hatte im Grunde lediglich daneben gesessen und ein wenig von dem gebratenen Gemüse probiert. „Suche dir einfach etwas aus und nimm es mit nach draußen! Meine Diener sind gerade damit fertig geworden, es anzurichten. Sie müssten ebenfalls noch irgendwo vor dem Schlosstor mit Frühstücken beschäftigt sein.“ „Das kommt doch gut. Dann können wir ihnen ja einfach ein bisschen Gesellschaft leisten oder so“, gab Alice zurück, griff sich, ohne viel Zeit vor dem Tisch zu verschwenden, einen Bagel und steuerte mit diesem wieder auf den Ausgang zu. Besser sie entfernten sich voerst so weit wie möglich von Marilyns Spiegel. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lizzy sich irgendwo auf der Kehrseite versteckt hielt, war, so wie er sein jüngeres Ich einschätzte, doch größer als die Wahrscheinlichkeit, dass er unbemerkt auf die helle Seite herübergegangen war und sich noch immer hier aufhielt. Nein, mit Sicherheit war er auf der Kehrseite, weil er dort irgendetwas entdeckt hatte, das ihn faszinierte, oder weil die finstere und abgewrackte Hälfte des Schlosses schlichtweg eine solche Anziehungskraft auf ihn ausübte, dass er nicht anders konnte, als dort jeden nur erdenklichen Winkel zu erkunden. Um Lizzys Denkweise vollständig zu verstehen, musste er bloß sich selbst gut genug kennen, nichts weiter. Vielleicht würde ihm draußen ein noch besserer Einfall kommen, wie er ihn abfangen und in ein Gespräch verwickeln und nebenbei auch noch die Kehrseite genauer unter die Lupe nehmen könnte, ohne dass er von jemandem dazu gedrängt wurde, seine absolut sinnlose Aufgabe fortzuführen. „Du hast es aber eilig!“, hörte er Marilyn hinter sich rufen, als er bereits dabei war, das Schlosstor zu öffnen, und sah ihn, als er sich umdrehte, mit einer Art rosa Cupcake in der Hand hinter sich herhechten – wobei 'hechten' nicht ganz das richtige Wort war, denn das war in diesem Aufzug unmöglich. „Warte auf mich! Findest du es nett, mich dumm herumstehen zu lassen, nachdem ich dir extra einen Platz in meinem Schlafzimmer gewährt habe?“ „Hah! Ihr habt doch selbst gesagt, dass wir uns beeilen und nicht lange herumtrödeln sollen“, entgegnete Alice, während sie durch das Tor an Wache Nummer Zwei und Wache Nummer Vier vorbeischritten, die beide, abgesehen von der Farbe der Glasur, die den einzigen Unterschied darstellte – bei der Wächterin war es ein leuchtendes Grasgrün und bei Wachmann Mercury ein stechendes Blau – den gleichen Cupcake dabei hatten wie Marilyn. Wahrscheinlich hatte Wachmann Mercury die Dinger selbst gebacken. Jedenfalls konnte Alice sich das gut vorstellen. „Guten Morgen, Eure Hoheiten!“, begrüßte besagter Wächter sie fröhlich, während dessen Kollegin bloß mit einem stummen Grinsen winkte, weil sie anscheinend gerade auf einem Stück Cupcake kaute. Etwas abseits von ihnen entdeckte Alice nun auch Floyd, der jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte oder irgendetwas anderes tat als unbeteiligt an der Wand des Schlosses zu lehnen und geradeaus zu schauen. „Ich hoffe, ihr hattet eine erholsame Nacht?“, fügte Wache Nummer Vier gut gelaunt hinzu, als sie ihren Bissen heruntergeschluckt hatte. Marilyn ging, offenbar nicht weniger gut gelaunt, an ihr vorbei und blieb dann vor einem Rosenstrauch stehen, nur um mit beinahe besessenem Blick dessen Duft einzuatmen. „Oh ja, die hatten wir in der Tat“, sagte er verträumt. „Eine sehr angenehme Nacht.“ „Denkt jetzt bloß nichts Falsches!“, ergänzte Alice klarstellend an die beiden Wachen gewandt, ehe er sich mit gemischten Gefühlen etwas von ihnen entfernte, ein Stück von seinem Bagel abbiss und sich so bequem es möglich war an die Schlossmauer lehnte, nahe der Stelle, an der auch Floyd schweigend herumstand. Offensichtlich konnte dieser sich noch immer nicht zu einer Begrüßung durchringen, schien aber zu versuchen, einen flüchtigen Blick auf ihn und seinen Bagel zu erhaschen – vermutlich, weil er selbst an der Zubereitung beteiligt gewesen war und nun sehen wollte, ob es ihm schmeckte oder nicht. „Weißt du, Alice...“, begann Marilyn, als er den Strauch in Frieden ließ und sich wieder zu ihm gesellte, „... du magst von mir ja halten, was du willst, aber als du gestern durch den Spiegel in mein Gemach kamst – du weißt schon, was ich meine –, da hast du mich ganz schön genau angesehen.“ „Es gibt nun mal etwas, das sich 'Reflex' nennt! Jeder hätte Euch in dem Moment genau angesehen, allein schon, um... Ach, vergesst es“, unterbrach Alice sich selbst, widmete sich wieder seinem Bagel und hatte dabei die Erkenntnis, dass es ihm zukünftig mehr als schwer fallen würde, Marilyn weiterhin als Königin zu betrachten. „Außerdem... war ich doch bestimmt nicht der Erste, der eine solche Begegnung mit Euch hatte, nicht wahr? Nur so aus Neugierde: Wie viele gab es schon vor mir, die diesen Anblick zu Gesicht bekommen haben?“ „Also wirklich, was denkst du denn gleich von mir? Bin ich derjenige, der sich bei unserer Hochzeit vor dem gesamten Publikum exhibitioniert hat – oder du?“ „Hey, das war ein Unfall, falls Ihr es vergessen habt!“, verteidigte er sich schnell. „Und 'exhibitionieren' würde ich das jetzt nicht nennen, Eure übertreibende Majestät. Der Einzige, der hier bisher mehr von mir gesehen hat, ist General Floyd!“ „W-was?!“, zeigte Floyd nun endlich auch eine Reaktion – und noch dazu eine wirklich Herrliche. „Er... er lügt, Majestät! Das ist Verleumdung...!“ „Ach, tatsächlich?“, erwiderte Marilyn hörbar skeptisch. „Und warum wirst du dann gerade so nervös?“ Alice konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, weil er es wirklich derart leicht bewerkstelligt hatte, sich dem Mittelpunkt Marilyns Aufmerksamkeit zu entziehen. Auch wenn diese kleine Sache damals – sein latent ungünstiger Versuch, im Schottenrock auf Black Beautys Rücken zu steigen – im Grunde ebenso unbeabsichtigt gewesen war wie der Unfall auf der Hochzeit. Aber das war nebensächlich. „Also... das... Wenn er ständig in solch unsittlichen Kleidern herumläuft und sich meinem Sichtfeld geradezu aufdrängt, ist das ja wohl nicht meine Schuld!“, brachte Floyd irgendwann merklich empört hervor, ehe er sich von Marilyn ab- und dafür ihm zuwandte. „Du scheinst wirklich nicht gerade darum bemüht, dir einen anständigen Ruf als Autoritätsperson aufzubauen!“, zeterte er, offenbar ganz in seinem Element. „Bei deinem anstößigen Auftreten ist es kein Wunder, wenn man dich nicht respektiert!“ „Das hat mich jetzt aber hart getroffen!“, gab Alice unbeeindruckt zurück. „Schon mal darüber nachgedacht, dass es möglicherweise nicht an mir liegt? Vielleicht sind Sie ja auch einfach nur unsagbar prüde.“ „... Prüde? Das reicht jetzt langsam!“, wandte Floyd halbherzig ein, drehte sich dann zur Seite und setzte einen erstaunten Blick auf. „Die Königin ist gar nicht mehr hier...“ „Lenken Sie nicht vom Thema ab!“, warf Alice dazwischen, ohne auf die Feststellung seines Gegenübers einzugehen. „Wissen Sie... Nur weil meine Vorgängerin Sie irgendwann vor Äonen einmal grob behandelt hat, heißt das nicht, dass Sie jetzt den Spieß umdrehen und mit mir umspringen können, wie Sie wollen. Mich die ganze Zeit über konstant zu ignorieren, ist nämlich auch nicht gerade sehr freundlich!“ „Warte! Du verstehst das falsch...!“, hörte er Floyd ihm zögerlich hinterherrufen, als er bereits kehrtgemacht und ihn und die Wachen vor dem Schloss alleine zurückgelassen hatte, um nach irgendeinem Hinweis dafür Ausschau zu halten, was hier nun schon wieder los war. Es stimmte. Marilyn war nicht mehr anwesend – aber wo war er hingegangen? Entweder bildete er es sich ein oder es war wieder einmal irgendetwas nicht so, wie es eigentlich sein sollte. Bevor er länger darüber hätte nachdenken können, registrierte er allerdings schon ein grelles Leuchten aus dem Augenwinkel, das nur von einem der Schutzpatronen rühren konnte. Und er hatte Recht mit seiner Vermutung. „Eure Majestät!“, empfing The Spaceman ihn, diesmal ungewohnterweise ohne seinen Zwilling, mit einer untertänigen Verbeugung. „Es gibt wichtige Neuigkeiten! Ihr müsst sofort mitkommen und Euch das selbst ansehen!“ „Ich muss sofort- Was geht hier eigentlich schon wieder ab? Bevor ich irgendwohin mitkomme, möchte ich erst mal eine Erklärung!“ „Es ist etwas Unglaubliches geschehen“, sagte The Spaceman mit einem bewegten Funkeln in seinen geschminkten Augen. „Das Wunderland... Nach so langer Zeit hat es endlich wieder selbstständig neue Kinder geboren! Zwei! Wir dürfen zwei neue Mitbewohner bei uns begrüßen!“ Ein wenig verdattert starrte Alice den wie verzaubert vor sich hinschwärmenden Freak an, dann versuchte er, das, was ihm gerade durch den Kopf ging, in Worte zu fassen. „Das Wunderland hat also... Nachwuchs bekommen? Jetzt gerade? Aber ich dachte... ich dachte, seit die Frauen zurück sind, wäre es hier sowieso schon zu voll?“ „Deshalb müssen wir uns ja darum kümmern, Majestät! Mein Bruder und die Königin sind bereits zu einem der Neuankömmlinge aufgebrochen. Jetzt liegt es an uns, für den anderen der Beiden zu sorgen. Haltet Euch an mir fest!“ „Wenn es weiter nichts ist...“, antwortete Alice ein Fünkchen misstrauisch, hielt sich, wie aufgetragen, an einem Arm des Schutzpatronen fest, und kaum, dass er nach ihm gegriffen hatte, spürte er plötzlich ein seltsames, nicht zu ortendes Ziehen. Weniger als drei Sekunden später stellte er fest, dass sie sich nicht mehr im Schlossgarten befanden. „Wie ist das- Hast du mich an einen anderen Ort teleportiert?“ „Unser neuester Trick!“, zwinkerte Spacey selbstsicher. „Ab hier müsst Ihr den Weg alleine weiterbeschreiten. Ihr wisst sicher, was zu tun ist. Ich wünsche Euch viel Erfolg!“ „Welchen Weg? Hey, bleib hier!“, rief Alice irritiert, als der Kerl sich doch tatsächlich schon wieder aus dem Staub machen wollte. „Ich dachte, ihr Zwillinge wärt für die Neuankömmlinge zuständig? Wieso muss ich das denn jetzt alleine machen?“ „Nun, es ist richtig, dass normalerweise wir dafür zuständig sind“, antwortete The Spaceman lächelnd. „Doch jetzt, da Ihr auf Eure Fähigkeiten als Herrscher unserer Welt geprüft werdet, legen wir einen Teil unserer Aufgaben in Eure Hände, um zu sehen, ob Ihr der Verantwortung gewachsen seid. Schaut Euch einfach hier um und entscheidet selbst, wie Ihr weiter verfahren wollt! Ich vertraue auf Euch, Majestät!“ Noch im selben Augenblick, in dem er den Satz zu Ende gesprochen hatte, war er auch schon wieder in einem abermals gleißenden Leuchten verschwunden, bevor Alice ihn hätte aufhalten können. Gut. Kein Problem. Er war der König, das war vollkommen richtig – also konnte er sich auch selbst um wichtige Angelegenheiten kümmern! „Okay... Wo bin ich hier überhaupt?“ Zunächst nahm er an, in einem Bereich gelandet zu sein, den er bisher noch nicht aus der Nähe gesehen hatte. Bei genauerem Betrachten jedoch kam ihm seine Umgebung nicht unbekannt vor – konnte es sich hierbei möglicherweise um dieselbe Lichtung handeln, auf der er vor einem Jahr das erste Mal... dem bösen Phantom begegnet war? „Oh, verflixt, wo ist es nur hingefallen?“, wurden seine Gedanken von einer verärgerten und zugleich besorgten Stimme unterbrochen, die von ein paar Metern weiter links zu kommen schien. Bingo, dachte Alice. Schon hatte er gefunden, weshalb er hier war. Er brauchte keinen langen Weg zu beschreiten, wie The Spaceman es ausgedrückt hatte. Einige Schritte reichten aus, und er glaubte, den Neuen bereits von Weitem sehen zu können – falls es denn wirklich der Richtige war. Andererseits kannte er mittlerweile, wenn er sich nicht täuschte, jede männliche Person, die im Wunderland lebte. Und den jungen Mann, der dort vorne scheinbar ein wenig verzweifelt auf dem Boden herumkrabbelte, hatte er, soweit er sich erinnerte, noch nie hier gesehen... obwohl... „Nein. Das ist bestimmt eine Verwechslung“, sagte er zu sich selbst, ehe er näher auf den Fremden zulief und dabei das Gefühl hatte, auf irgendeinen Gegenstand getreten zu sein, der wohl verdeckt im Gras gelegen haben musste. Neugierig beugte sich Alice auf den Boden und hob ein merkwürdiges quietschgelbes Plastikteil auf, das danach aussah, als habe ein Kind es hier verloren. Es machte einen recht billigen Eindruck. Ob dieses Ding das war, wonach der Neue gerade so konzentriert suchte? „Ähm... Entschuldigen Sie“, begann er, als er auch die restlichen Meter hinter sich gebracht hatte und nun direkt vor dem Fremden stand, der noch immer die Erde abgraste, als hinge sein Leben davon ab. Er sah ein wenig aus wie ein Soldat – jedenfalls sein beigefarbener Mantel ließ Alice irgendwie an das Militär denken. Die hellbraunen Haare, die ihm glatt über die Schultern fielen, passten dafür eher weniger zu dieser Assoziation. „... Hm?“, machte sein Gegenüber, als er endlich bemerkt zu haben schien, dass man mit ihm sprach. „Was ist los? Ich bin beschäftigt...“ „Kann es sein, dass das hier Ihnen gehört?“, wies Alice ihn auf das undefinierbare Kinderspielzeug hin und zeigte mit seiner freien Hand auf ebendieses, was den seltsamen Kerl vor ihm dazu veranlasste, einen merklich erleichterten Laut von sich zu geben und etwas ungeschickt wieder auf die Beine zu kommen. „Gott sei Dank, ich habe es wieder!“, lächelte er, als er das gelbe Ding entgegennahm. „Ich dachte schon, es sei auf ewig verloren... Hoffentlich funktioniert es noch!“ Alice erwiderte sein Lächeln höflich, musterte das Teil eingehend und überging gekonnt die Tatsache, dass er eben versehentlich daraufgetreten war. „Es sieht auf jeden Fall heil aus“, entgegnete er gespielt unschuldig. „Was soll das eigentlich sein, wenn ich fragen darf?“ „Aber mein Herr...!“, stieß der komische Kauz erstaunt aus. „Haben Sie etwa noch niemals ein Kazoo gesehen? Man sieht es ihm vielleicht nicht an, aber es ist ein wirklich grandioses Instrument, das wahrhaft liebliche Töne erzeugen kann, wenn man es richtig verwendet!“ Na, toll, dachte Alice mit einer unguten Vorahnung. Noch so ein Flötenfetischist. „Außerdem verbinde ich sehr viel mit diesem kleinen Wunderwerkzeug“, erzählte der Typ schwelgerisch weiter. „Damals... da habe ich es von der Königin bekommen, als Geschenk, zusammen mit dieser Medaille, die ich an meiner Jacke trage! Es war eine Belohnung für meinen Sieg über- Hmm, welches Land war es doch gleich? Egal. Aber ich bin mir sicher, dass es ein ehrenhafter Sieg gewesen ist!“ „Augenblick mal... Ein Geschenk von... der Königin?“, wiederholte Alice, bevor der Kerl weiter von seinen fraglichen Taten schwafeln konnte. „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Ich dachte, Sie wären gerade erst hier angekommen – oder geboren worden oder wie auch immer man das jetzt nennen soll. Wie können Sie da schon die Königin kennen?“ „Mein Herr, soll das vielleicht heißen, hier gibt es auch eine Königin?“, erwiderte der Typ überrascht, was Alice stark vermuten ließ, dass er nicht von Marilyn gesprochen hatte. Es hätte ihn auch eigentlich schwer verwundert, wenn Marilyn einem offenbar verwirrten Pseudo-Soldaten irgendeine Medaille und ein komisches Instrument geschenkt hätte. „Ich will nicht unhöflich sein, aber... was ist das hier überhaupt für ein Ort? Eigentlich war ich gerade auf dem Weg, meine liebe Mutter zu besuchen, da wurde plötzlich alles schwarz und... an mehr kann ich mich nicht erinnern.“ Ein wenig ratlos betrachtete Alice sein Gegenüber und stellte sich unweigerlich die Frage, ob es wohl jedem Angehörigen der ersten Bevölkerung so ergangen war. Und kurz darauf fiel ihm wieder ein, dass es doch geheißen hatte, die erste Bevölkerung sei nur durch die Fantasien der Menschen dort draußen ins Leben gerufen worden. Waren diese Erinnerungen an eine angebliche Königin und seine Mutter, von denen der Fremde da redete, also nichts weiter als Hirngespinste? „Oh, Verzeihung!“, räusperte er sich auf einmal und reichte ihm lachend eine Hand. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Clegg. Corporal Clegg, um genauer zu sein!“ Alice zögerte nur kurz, ehe er auf diese Geste einging und sich ebenfalls vorstellte. „Ich bin Alice, der Auserwählte und seit gestern Gemahl der Herzkönigin. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, und willkommen im Wunderland, Clegg!“ Mit einem Gesichtsausdruck, der absolut nicht zu deuten war, starrte der Neue ihn an, blickte sich dann ausschweifend in der Umgebung um und seufzte anschließend. „Das Wunderland also... Jetzt ergibt es Sinn.“ „Was ergibt Sinn?“, fragte Alice, und mit einem Mal kam es ihm so vor, als würde der verschrobene Typ eine unheimliche Melancholie ausstrahlen. „Alles“, antwortete er mit einem irgendwie traurigen Lächeln. „Alles... und gleichzeitig nichts.“ Eine Weile lang sagte keiner von ihnen mehr ein Wort, bis Alice beschloss, langsam aber sicher Taten sprechen zu lassen anstatt bloß sprachlos in der Gegend herumzustehen – so skurril die Situation im Moment auch sein mochte, er war trotz Allem nicht zum Spaß hier. „Hören Sie...“, begann er in einem möglichst optimistischen Tonfall, „... ich werde Sie jetzt erst einmal zum Schloss bringen, in Ordnung? Bis wir dort angekommen sind, könnte es sowieso ein bisschen dauern. In der Zwischenzeit erkläre ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen... und dann sehen wir weiter, was meinen Sie?“ „Das ist sehr freundlich!“, entgegnete Clegg, bevor er ihm schließlich folgte und sie sich gemeinsam auf den Weg zurück zum Hof machten. „Ich danke Ihnen, Herr Alice!“ Marilyn war nirgendwo zu sehen, als sie den Schlossgarten irgendwann wider Erwarten ohne große Komplikationen erreicht hatten. Das bedeutete also, dass er es tatsächlich geschafft hatte, diese Aufgabe noch vor der Königin zu erfüllen. Ob Marilyns Neuankömmling wohl Probleme machte? Zu gerne hätte Alice gewusst, ob der zweite neugeborene Wunderlandbewohner wohl mehr oder weniger verrückt war als der, den er selbst eben aufgegabelt hatte. „Wow...! Dieses Anwesen ist ja wirklich unglaublich schön!“, rief Clegg sichtlich begeistert, als er das riesige Gebäude beäugte, das wahrlich majestätisch vor ihnen aufragte. Wache Nummer Zwei und Wache Nummer Vier warfen einen interessierten Blick zu ihm herüber, was Alice als Anlass nahm, die beiden in ein kurzes Sechs-Augen-Gespräch zu verwickeln und ihnen ein paar Fragen zu stellen. „Hi. Wie man sieht, habe ich jemanden mitgebracht“, sagte er mit einem Fingerzeig neben sich selbst, wo er vermutete, Clegg stehen zu sehen – allerdings war der Kerl offenbar schon wieder wer-weiß-wo hingegangen, wahrscheinlich um sich mit seinem neuen Zuhause ein wenig vertrauter zu machen. „... Naja, ähm... Dieser Typ in dem Offiziersfummel oder was das auch sein soll – das ist jedenfalls Clegg, unser neuer Mitbewohner. Ich hörte, die Königin sei mit einem der Zwillinge losgezogen, weil es noch einen zweiten Sprössling gibt, der gerade das bunte Licht unserer Welt erblickt hat. Ist sie noch nicht wieder zurück?“ Wachmann Mercury machte ein grüblerisches Gesicht, während Wache Nummer Vier grinsend in die Richtung sah, in die Clegg aller Wahrscheinlichkeit nach abgedampft war. „Bisher habe ich sie zumindest nicht hier vorbeikommen sehen“, antwortete er nachdenklich. „Es ist recht ungewöhnlich, dass sie so lange weg bleibt. Ich glaube zwar nicht, dass ihr etwas passiert ist, aber irgendetwas scheint sie aufzuhalten!“ „Ah... Clegg heißt der hübsche Mann also...“, murmelte Wache Nummer Vier abwesend, was ihren Kollegen offenbar dazu bewog, in die gleiche Richtung zu starren und ihren neuen Mitbewohner genauestens zu betrachten, als dieser, umgeben von einer rastlosen Aura, erneut an ihnen vorbei- und im selben Moment General Floyd über den Weg lief, der anscheinend gerade von der anderen Seite aus um die Ecke gebogen war. Erst jetzt fiel Alice auf, dass das Gehen dem Neuen irgendwie schwerzufallen schien – zumindest sah es danach aus, als würde er leicht sein linkes Bein nachziehen. Floyd blieb abrupt stehen und wirkte nur für einen winzigen Augenblick irritiert – scheinbar bemühte er sich, schnellstmöglich wieder sein Pokerface aufzusetzen –, als sein Gegenüber ihn aus welchem Grund auch immer von oben bis unten musterte. „Hm“, machte Clegg gedankenversunken. „Sagen Sie... Kennen wir uns?“ „Das wage ich zu bezweifeln“, erwiderte Floyd auf seine typische kühle Art, was Clegg jedoch nicht davon abzuhalten schien, ihn weiterhin anzugaffen wie ein Tier in einem Zoo. „Da ich Sie hier noch nie zuvor gesehen habe und es vor dem Wunderland für Sie und mich absolut nichts anderes gab, ist es unmöglich, dass Sie irgendeinen der hier Anwesenden kennen. Ach, und... wozu eigentlich dieser Aufzug? Falls Sie vorhaben sollten, ein Soldat meiner Armee zu werden, muss ich Sie leider enttäuschen. Sie sind nämlich kein Hammer.“ „Armee?“, wiederholte Clegg, als er anscheinend einen Geistesblitz hatte. „Ah, so ist das also! Sie sind hier der Lieutenant, nicht wahr? Und Sie kämpfen also mit Streithämmern?“ Floyds Pokerface wich schlagartig einem Gesichtsausdruck, der vieles hätte aussagen können, wahrscheinlich aber bedeutete, dass er sich beleidigt fühlte. „... Erstens: General! Nicht Lieutenant!“, gab er langsam und gedehnt zur Antwort. „Zweitens: Nein. Ich kämpfe nicht mit Streithämmern. Haben Sie überhaupt irgendeine Ahnung von dem, was Sie da reden? Oder haben Sie ihre Uniform bei einem Faschingsverkauf geklaut?“ „Mein Herr, wissen Sie denn gar nicht, wen Sie da vor sich haben?“, entgegnete Clegg mit einem Hauch von Empörung. „Sehen Sie die Medaille auf meiner Jacke? Auf Ihrer sehe ich keine, was mich doch ein wenig an Ihrer Glaubwürdigkeit zweifeln lässt!“ „Medaille? Sie meinen den bunten Papierschnipsel, der da auf Ihrem Mantel klebt? Sie sind wohl ein kleiner Komiker, was?“, konterte Floyd mit einem dezent spöttischen Unterton, ehe er Clegg ebenso dezent beiseiteschob. „Ich habe keine Zeit für solche Mätzchen. Lassen Sie mich vorbei, damit ich mich wichtigeren Dingen widmen kann!“ „Nicht so schnell, General Floyd!“, mischte sich Alice dazwischen, als ihm spontan ein grandioser Einfall gekommen war, während er mit wachsender Faszination die Unterhaltung zwischen den beiden verfolgt hatte. Wenn er sich recht an die Worte des Schutzpatronen erinnerte, durfte er frei darüber entscheiden, wie es fürs Erste mit der Aufnahme des Neuen im Volk des Wunderlandes weitergehen sollte. Zum Hof gebracht hatte er ihn bereits. Es ging also sicher in Ordnung, wenn er diese Verantwortung vorerst jemand Qualifizierterem übergab, oder? „Ich habe gerade einen Entschluss gefasst. Und zwar befehle ich Ihnen, unseren Neuen, Clegg, ein bisschen im Wunderland herumzuführen, damit er sich zukünftig auch hier zurechtfindet!“ „Wie bitte?“, gab Floyd ungläubig zurück. Begeisterung sah anders aus. „Entschuldige, aber... die Befehle der Herzkönigin sind die einzigen, die ich entgegennehme. Glaubst du vielleicht, ich lasse mich von dir durch die Gegend scheuchen?“ „Tja, das werden Sie wohl oder übel müssen“, grinste Alice siegessicher. „Da ich von einem der Zwillinge – die in der wunderländischen Rangfolge über Ihnen stehen, wenn ich mich nicht irre – den Auftrag bekommen habe, für das Wohl unseres Neuankömmlings zu sorgen, um meine Fähigkeiten als König unter Beweis zu stellen, bin ich momentan auch in der Position, Entscheidungen zu treffen wie ein König. Und als Solcher befehle ich Ihnen, Clegg unsere Welt ein wenig näherzubringen. Ich schätze, bei Ihnen ist er am besten aufgehoben.“ Mit den Augen eines herrenlosen Welpen blickte Clegg zu Floyd herüber, der wiederum danach aussah, als würde er sich am liebsten auf der Stelle erschießen. „Schön“, gab er schließlich widerwillig nach. „Eigentlich bin ich ja der Meinung, dass ich etwas mehr Ruhe verdient hätte, nachdem ich gestern den ganzen Abend damit verbracht habe, diesen unmöglichen Knirps im Zaum zu halten... Aber wenn ich von jetzt an häufiger dazu degradiert werde, den Aufpasser für irgendwelche verirrten Schafe zu spielen, dann muss ich damit wohl leben!“, sagte er an Alice gerichtet, bevor er sich seufzend Clegg zuwandte und bereits ein Stück vorauslief. „Kommen Sie...! Ich wäre gern möglichst schnell wieder zurück im Schloss.“ „Vielen Dank!“, entgegnete Clegg mit einem absolut ehrlichen Lächeln – so ehrlich, dass Alice sich fragte, ob es wohl ratsam wäre, ihn jemals ganz alleine auf das trügerische Wunderland loszulassen. Er war vielleicht ein komischer Vogel, aber er schien aufrichtig zu sein. Blieb nur zu hoffen, dass er sich nicht von jemandem, der weniger aufrichtig war, übers Ohr hauen oder zu irgendwelchen unlauteren Dingen verleiten ließ. „... nachdem ich gestern den ganzen Abend damit verbracht habe, diesen unmöglichen Knirps im Zaum zu halten...“, hallten Floyds Worte nachträglich in seinem Kopf wider, als Alice dabei zusah, wie die beiden den Hof verließen, und es erinnerte ihn daran, dass er wirklich dringend auf der Kehrseite nach dem Rechten sehen musste. Er hatte Lizzy heute noch kein einziges Mal gesehen und wollte sich lieber nicht vorstellen, wie es wohl enden würde, wenn niemand ein Auge auf ihn hatte. Eigentlich war jetzt, wo Marilyn nicht hier war und er das Schloss für sich hatte, die beste Gelegenheit dazu. „Ich bin gleich wieder da... Muss nur kurz was im Schloss erledigen!“, sagte er zu den Wachen, die ihn mit einem zur Kenntnis nehmenden Nicken durch das Tor ließen, und beeilte sich, sobald es wieder hinter ihm geschlossen worden war, in Marilyns Gemach und somit durch den Spiegel auf die dunkle Seite des Wunderlandes zu gelangen. Kaum dass er die Kehrseite betreten hatte, kam es ihm wie ein Traum vor, dass er mit den anderen unter dem blauen Himmel im Garten gestanden und sich unterhalten hatte. Es war ein eigenartiges Phänomen, das er nur schwerlich hätte in Worte fassen können. Obwohl es in diesem Raum, genau wie in Marilyns rot-gestrichenem Gegenstück, ein großes Fenster über dem Bett gab, erreichten nur wenige Sonnenstrahlen das Innere des düsteren Gemachs. Damals, als er sich das erste Mal heimlich hinter dem Spiegel umgesehen hatte, war es sogar noch dunkler gewesen. Selbst bei Tag war es hier so schwarz gewesen, dass man hätte annehmen können, dieser Bereich absorbiere jegliches Licht und verschlänge jeden mit Haut und Haaren, der sich unüberlegt hineinwagt. Jetzt, da die Königin davon sprach, die Kehrseite 'wieder aufleben zu lassen', schien zumindest ein Teil des Lichtes wieder hierher zurückgekehrt zu sein. Als würde der Ort hinter dem Spiegel nach seinem Tode wiederauferstehen, wie der Phönix aus der Asche – bloß dass es bisher noch wesentlich mehr nach Asche als nach einem Phönix aussah. Aus irgendeinem Grund darauf bedacht, keinen allzu auffälligen Laut zu verursachen – möglicherweise, weil er sich einbildete, noch immer die Präsens des Showmasters in der stickigen Luft zu spüren –, schlich Alice durch die spiegelverkehrte Empfangshalle, deren Treppe offenbar glücklicherweise nicht mehr so widerlich knarzte wie beim letzten Mal, das er sie überquert hatte, und blieb dann mitten im Saal stehen, als er bemerkte, dass das Schlosstor einen spaltbreit offenstand. Konnte es sein, dass Lizzy nach draußen gegangen war, um sich ein wenig im Garten der Kehrseite umzusehen? Natürlich, dachte er mit einem Mal überzeugt. Wenn die Welt hinter dem Spiegel eine von vorne bis hinten auf den Kopf gestellte Version des Wunderlandes darstellte, dann beschränkte es sich demnach nicht nur auf das Schloss sondern auch auf alles, was dahinter und um die königlichen Mauern herum lag. Seltsamerweise war ihm das bis jetzt nie wirklich bewusst gewesen. Aber wenn es tatsächlich so war, wie er es im Augenblick vermutete, gab es folglich genauso viele Möglichkeiten, wo sein jüngeres Ich sich aufhalten konnte, wie es verschiedene Bereiche im hellen Teil des Landes gab – wenn Lizzy denn überhaupt dort draußen war. „Nein... Bloß nicht zu viel nachdenken!“, sagte Alice zu sich selbst, während er das pechschwarze Tor ansteuerte, es ein Stückchen weiter aufstieß und schließlich selbst in den umgekehrten Schlossgarten trat, der schon auf den ersten Blick einen so tristen und grauen Eindruck machte, dass es ihn kein Bisschen mehr wunderte, warum sein Gemach trotz Tageslicht so düster blieb. Alles wirkte kalt. Leblos. Es war, als befände er sich unter einer mechanischen Kuppel oder in einer stillstehenden Schneekugel – mit dem Unterschied, dass hier kein Schnee lag – und als müsse erst irgendein Rädchen im Getriebe eingesetzt oder ein Knopf betätigt werden, damit dieses Gebiet wieder in Gang kam. Diese Vorstellung fing aus irgendeinem Grund an ihn zu gruseln, je länger er sich damit beschäftigte. „Mal überlegen“, murmelte er, um auf andere Gedanken zu kommen. „Wo würde ich als Erstes hingehen, wenn ich alle Zeit der Welt hätte, mich hier umzuschauen?“ Zuerst fiel sein Blick auf das Heckenlabyrinth, welches er jedoch eigentlich nur ungern alleine in dieser seltsamen Dunkelheit durchqueren wollte. Die Dunkelheit der Nacht auf Marilyns Seite des Spiegels war nicht zu vergleichen mit der, die auf dieser Seite anscheinend fortwährend herrschte. Das hier war anders. Bedrohlich, auf irgendeine Art und Weise, wenn er diese Weise auch nicht wirklich hätte benennen können. Ob Lizzy es genauso empfand wie er? Offenbar nicht, denn wie es aussah, schien er es sich irgendwo an diesem merkwürdigen Ort gemütlich gemacht zu haben. Vielleicht ist er an der Klippe, kam es ihm plötzlich in den Sinn, und er war sich nicht sicher, ob diese Idee ihn beruhigen sollte oder eher nicht. Alicia war von der Klippe magisch angezogen worden, wenn es stimmte, was er bisher über sie gehört hatte – daher war es naheliegend, dass auch Lizzy eine gewisse Faszination verspürte, was die Grenze des Wunderlandes betraf. Wenn er sich dort aufhielt, musste er wenigstens nicht lange nach ihm suchen. Es blieb nur zu hoffen, dass die unsichtbare Wand vor der endlosen Tiefe auch hier existierte oder dass sein Doppelgänger wenigstens vorsichtig genug war, nicht allzu nah an den Abgrund heranzugehen. Wenn er dort hinunterfiel, würde das nur für unnötigen Aufruhr unter den anderen sorgen – und gerade jetzt, wo zwei Neue hinzugekommen waren, deren Wohl momentan an oberer Stelle stand, war es besser, so etwas zu vermeiden. Mit etwas schnelleren Schritten als zuvor lief Alice an einer Seite der Schlosswand entlang, um möglichst zügig besagte Klippe zu erreichen, hielt jedoch irritiert an, als ihm etwas ins Auge stach, das irgendwie falsch wirkte. Bei genauerem Betrachten des Bodens kam er auch darauf, was es war. Die kleine Tür, die für gewöhnlich den Notausgang verdeckte, durch den man rückwärts in den Kerker und wieder zurück in den Garten gelangen konnte, war geöffnet und gab die Sicht auf den darunter befindlichen Gang frei. Allerdings sah es nicht nach dem Notausgang aus, den er aus dem Bereich auf der hellen Seite des Spiegels kannte. Im Gegensatz zu diesem war es hier keine Leiter, die nach unten führte, sondern eine mit Moos bewachsene Steintreppe... und es schien außerdem noch etwas tiefer hinunterzugehen als bei dem Gang, der ihm bisher bekannt gewesen war. „Interessant.“ Nur kurz wägte er ab, ob es wohl zu gefährlich war, sich den Raum am anderen Ende der Treppe von innen anzusehen, ehe er beschloss, dass ein flüchtiger Abstecher bestimmt nicht schaden konnte, und die Stufen leise hinabstieg, bis er in einer irgendwie antik anmutenden Kammer angelangt war, an deren grünlichen Wänden ein paar brennende Fackeln prangten, fast als wolle dieser Raum einen dazu einladen, hineinzukommen und ein Weilchen zu bleiben. Ihm fiel auf, dass hier unten wieder mehr Farbe – mehr Leben – um ihn herum zu sein schien, als es oben, in dem verlassenen Garten, der Fall gewesen war. Das Auffälligste aber war das rostige Gebilde, das in der Mitte des Raumes vom Boden bis zur Decke hin aufragte und ihm aus seiner ursprünglichen Welt im Jahre 2001 noch wohlbekannt war – ein Fahrstuhl. Auch wenn dieses Exemplar so alt und modrig wirkte, dass er bezweifelte, ob es noch intakt war, konnte er es sofort als einen solchen identifizieren. „Vielleicht gibt es in dieser Welt doch noch mehr zu entdecken, als ich dachte.“ Alice ging ein Stück weit um den Fahrstuhl herum, um zu überprüfen, ob dieser auch wirklich das Einzige war, wofür dieser Raum existierte, und widmete sich schließlich der Vorrichtung an sich, als er zu dem Schluss kam, dass er mit dieser Vermutung richtig lag. Sonst schien es hier nichts zu geben – und es war mit Sicherheit nicht verboten, das Ding ein wenig zu untersuchen, wenn es hier schon derart öffentlich zur Schau gestellt war. Von Nahem jedoch sah es so aus, als... stünde die Tür bereits einen Spalt breit offen? „... Ach nein. Hätte ich mir ja denken können, dass du hier bist!“, sagte er feststellend, als er die Aufzugtür noch etwas weiter aufgeschoben hatte und genau das hinter ihr entdeckte, weswegen er ursprünglich hierhergekommen war. „Hä? Was machst du denn hier?“, entgegnete Lizzy, der offenbar gerade damit beschäftigt gewesen war, die in der Wand angebrachten Knöpfe zu malträtieren, geistreich. „Ich dachte, du hättest irgendwelche wichtigen Dinge zu erledigen? Hat die Königin dich geschickt, nach mir zu suchen?“ „Ganz im Gegenteil“, erklärte Alice möglichst geduldig. „Die Königin ist gerade nicht da, was auch der Grund dafür ist, dass ich mich überhaupt vor meiner dämlichen Arbeit drücken kann. Sobald sie zum Hof zurückkommt, wäre ich allerdings auch gerne wieder dort, weshalb ich dich bitten würde, mir kurz zuzuhören und dann mit mir auf die andere Seite zu kommen... bevor man dich noch vermisst.“ Nicht sicher, ob seine jüngere Hälfte auch nur in irgendeiner Weise daran interessiert war, ihm zuzuhören – eine Reaktion bekam er jedenfalls nicht –, beobachtete er eine Weile lang, wie Lizzy, noch immer voll und ganz auf die Knöpfe fixiert, erst nachdenklich und dann zunehmend wilder auf diesen herumprügelte, als würde das wirklich dabei helfen, den Fahrstuhl in Bewegung zu versetzen. Unglaublich, dachte Alice, wie beharrlich er dabei vorging. „Was zum Teufel machst du da eigentlich die ganze Zeit? Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mit diesem brutalen Rumgekloppe irgendwas erreichst?“ „Aber irgendwie muss man das Ding doch in Fahrt kriegen!“, rief Lizzy ärgerlich und ließ für einen Moment von den Knöpfen ab, um ihm einen frustrierten Blick zuzuwerfen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur zur Zierde hier rumsteht... und ich will unbedingt wissen, wo es einen hinführt, wenn man es geschafft hat, damit zu fahren!“ „Das würde ich auch gerne wissen, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für sowas! Das Wunderland hat zwei neue Freaks geboren, und es wirft nicht gerade ein gutes Licht auf mich als neuen König, wenn ich mich hier unten herumtreibe, während Marilyn alle Hände voll mit einem... verirrten Schaf zu tun hat“, gab Alice zurück, die Worte aufgreifend, die Floyd passenderweise benutzt hatte, und trat nun selbst zwei Schritte in den Fahrstuhl hinein, um Lizzy wie ein stures Kind – was er in gewisser Weise auch zu sein schien – am Arm hinter sich herzuzerren. „Auf dich wirft es übrigens auch nicht das beste Licht. Also, los jetzt! Komm mi-“ Weiter kam er nicht, denn im selben Augenblick, in dem er die Gerätschaft verlassen wollte, knallte die Tür völlig unerwartet mit einem lauten Krachen vor ihm zu, und unmittelbar danach hatte das Teil von allen Seiten begonnen, heftig zu rumpeln und zu rattern, sodass man beinahe hätte annehmen können, dass es jeden Moment würde zu Boden stürzen. Der Fahrstuhl trug sie nach unten – wie auch immer sie das angestellt hatten. „Wie hast du das gemacht?!“, brachte Lizzy fassungslos hervor, fast als habe er seine Gedanken gelesen. Alice zuckte die Schultern und bemühte sich, sein Gleichgewicht zu halten, was bei der Geschwindigkeit, mit der das Teil scheinbar hinabraste, gar nicht so einfach war. „Ich weiß auch nicht!“, antwortete er etwas lauter, damit es das beunruhigende Gerumpel übertönte, das anscheinend gar kein Ende mehr fand. „Vielleicht habe ich etwas gesagt, das irgendwas bei dem Teil bewirkt hat... oder es reagiert nur auf mich, weil ich der Auserwählte bin.“ „Ich bin doch auch der Auserwählte!!“ „Was weiß ich. Dann ist dein Herz vielleicht nicht rein genug!“ Schmollend wandte Lizzy sich ab, nur um kurz darauf unsanft auf dem Boden zu landen, als der Fahrstuhl urplötzlich zum Stehen kam. Einige Sekunden lang tat sich nichts mehr – dann öffnete die rostige Tür sich automatisch, was ein schauriges Knarzen verursachte und den Blick schließlich auf etwas noch viel Schaurigeres freigab. „... Boah“, machte Lizzy nach einer Weile des Schweigens, nachdem er wieder aufgestanden war und nun scheinbar voller Bewunderung die eigenartige Stadt betrachtete, die sich mit einem Mal wie selbstverständlich vor ihnen erstreckte. „Das hatte ich jetzt nicht erwartet!“ „Nein. Ich auch nicht“, dachte Alice und hätte es auch ausgesprochen, wäre er in diesem Moment nicht ausnahmsweise absolut sprachlos gewesen. Vor ihnen lag tatsächlich eine ganze Stadt, über die bisher niemand, den er aus dem Wunderland kannte, auch nur ein einziges Wort verloren hatte, und von der er sich ernsthaft fragte, wo sie herkam und wer sie so tief unter der Erde überhaupt gebaut haben sollte. Es war keine gewöhnliche Stadt, wie er sie aus seiner ursprünglichen Welt gekannt hatte, mit Häusern, Geschäften und Straßen – es war mehr wie ein riesiger, heruntergekommener Platz voll merkwürdiger Ruinen und gigantischer Steinstatuen, die hier und da hoch über der Erde aufragten und dem Ort eine irgendwie gefährliche Atmosphäre verliehen. Etwas an diesem Platz schien unheimlich verdächtig. Was ihn jedoch am meisten verunsicherte, war das Schild, das neben einem alten Holzbogen nicht weit von ihnen stand und auf dem in großen, verschmierten Buchstaben offenbar der Name der Stadt geschrieben stand. Die Farbe war ein wenig verlaufen, doch es war trotzdem ganz eindeutig, was der Schriftzug bedeuten sollte: Dragontown. „Dragon... Town...“, murmelte er, mit einem Mal von einer seltsamen und vereinnahmenden Verwirrung gepackt, was Lizzy dazu veranlasste, sich fragend zu ihm umzudrehen. „'Dragontown'?“, wiederholte er irritiert. „Das hast du nicht wirklich gerade aus dem Geschmiere auf diesem Schild da vorne gelesen, oder? Das kann man doch überhaupt nicht entziffern...!“ Natürlich konnte man das – wenn das Wort einem derart vertraut war, weil es auf einem Song, einem Album und einer Tour beruhte, die man kürzlich erst selbst auf die Beine gestellt hatte. Aber dass sein Doppelgänger nicht sofort dieselbe Assoziation wie er in Bezug auf die Bedeutung des Schriftzuges gehabt hatte, war kein Wunder, in Anbetracht der Tatsache, dass er zu seiner Zeit – diese Formulierung klang so absurd im Zusammenhang mit einer jüngeren Version von sich selbst – wahrscheinlich nicht einmal geahnt hatte, dass er einmal ein Werk mit diesem Titel herausbringen würde. Nein. Für Lizzy war dieses Wort nur der Name einer eigenartigen Stadt, die sie eben entdeckt hatten, nichts weiter. „Schon gut. Ist auch egal“, sagte Alice, um möglichst schnell zu einem anderen Thema zu wechseln. Vielleicht war das Ganze auch bloß ein komischer Zufall. Jedenfalls hatte er keine Lust, mit seinem anderen Ich endloslange Diskussionen über sein derzeitiges Album und seine Karriere zu führen – was definitiv der Fall sein würde, wenn er ihm jetzt erklärte, warum das Wort 'Dragontown' ihn ein wenig stutzig machte. „Lass uns einfach wieder nach oben fahren und auf die andere Seite zurückgehen, ja? Wir sollten nicht so lange hier unten bleiben, wenn es jederzeit sein könnte, dass die Königin zurückkehrt und uns – in erster Linie mich – drüben beim Schloss erwartet.“ „Und wie kommen wir wieder nach oben, wenn wir die richtige Taste oder das Lösungswort oder was-auch-immer-uns-vorhin-hierhergebracht-hat gar nicht kennen?“, erwiderte Lizzy berechtigterweise skeptisch. Alice überlegte einen Moment, weil ihm nicht sofort eine Antwort darauf einfiel. „Wenn wir nach unten gelangt sind, müssen wir auch irgendwie wieder nach oben gelangen“, sagte er und versuchte, es sicherer klingen zu lassen, als er sich im Augenblick fühlte. „Besser, wir probieren es einfach aus, als gar nichts zu tun und bis morgen in dieser Grotte rumzuhängen, oder nicht?“ „Hmm, wie du meinst“, gab Lizzy scheinbar nicht sonderlich begeistert zurück, während er ihm wieder in das Innere des Fahrstuhles folgte, aus dem er ein Stück herausgetreten war, nachdem sie hier unten angekommen waren. Alice entging nicht das leise geflüsterte „Spießer!“, das seine nichtsnutzige jüngere Hälfte nachträglich hinzufügte, ehe sie beide erneut ratlos in dem dunklen Aufzug standen und wenig sinnvoll auf die Wände starrten. „Was habe ich vorhin gesagt, kurz bevor das Teil plötzlich angesprungen ist?“, fragte Alice, in der Hoffnung, Lizzy könnte zur Abwechslung einmal hilfreich sein und sich an etwas möglicherweise Entscheidendes erinnern. „... Keine Ahnung“, antwortete er – eigentlich war es nicht anders zu erwarten gewesen –, schien die Situation ein paar Sekunden später aber doch im Geiste rekonstruieren zu können. „Du warst gerade dabei, mich sehr grob und unfreundlich nach draußen zu zerren. Ich glaube, du hast sowas gesagt wie... „Komm jetzt“ oder „Los jetzt“!“ Bevor Alice ihm in dem Punkt „grob und unfreundlich“ widersprechen konnte, hatte der Boden bereits wieder, begleitet von einem markerschütternden Rattern, zu beben begonnen; die Tür krachte abermals quietschend hinter ihnen zu und der Aufzug schoss mit einem schwindelerregenden Tempo zurück an die Erdoberfläche. Der Gedanke, dass der Erbauer dieser Gerätschaft ein verrückter Sadist gewesen sein musste, rückte immer präsenter in sein Bewusstsein. Den darauffolgende Gedanken, dass es vielleicht Marilyn gewesen war, versuchte er rasch wieder zu verdrängen. „Dann reagiert der Aufzug, wie es aussieht, auf- Nein, vielleicht sollte ich es nicht sagen“, unterbrach Alice sich selbst, ehe das alte Teil, dessen unerbittliches Geruckel ihn beinahe ein wenig an das Gefühl erinnerte, das man bei einem Ritt auf Miss Flugsau erleben durfte, endlich wieder zum Stehen kam. „... Ich möchte nicht freiwillig riskieren, dieses Ding während der Fahrt auch noch zu verwirren, indem ich das... Zauberwort öfter ausspreche als unbedingt nötig.“ „Du meinst-“ „Wage es nicht...!“ Mit einem amüsierten Grinsen schlängelte Lizzy sich an ihm vorbei und stieß die schwere Metalltür mühevoll auf, ohne das Innere des Fahrstuhls aus den Augen zu lassen. „L-O-S“, buchstabierte er, während er seitlich einen Schritt aus dem teuflischen Gebilde heraustrat und sich offenbar geradezu daran weidete, sein älteres Ich auf die Palme zu bringen. Nicht dass es etwas Neues gewesen wäre. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien diese spezielle Alice-Version von Natur aus eine verzogene Bratze zu sein, und er war leider – zumindest bisher – nicht imstande dazu, irgendetwas dagegen zu tun. Außer vielleicht, sich unbemerkt eine der Bratpfannen aus Marilyns königlicher Küche zu schnappen und seinem Doppelgänger damit eins über die Rübe zu ziehen. Allerdings war die Chance, dass dessen Schaden sich dadurch nur verschlimmerte, geringfügig zu hoch. „Was auch immer das für ein komischer Ort ist, den wir da unten gerade spontan gefunden haben – ich wäre dafür, dass das vorerst unter uns bleibt, okay?“, gab Alice vorsichtig zu Bedenken, als sie die antike Kammer hinter sich gelassen und den leblosen Schlossgarten am oberen Ende der Treppe wieder erreicht hatten, um auf die schönere Seite des Schlosses zurückzukehren. Lizzy sah ihn verständnislos an. „Warum? Meinst du, wir haben gerade was Verbotenes getan?“, fragte er mit seiner üblichen Naivität. Alice überlegte einen Moment, wie er ihm seinen Standpunkt am besten begreiflich machen sollte, und kam zu dem Schluss, dass er den Grund für diesen Gedanken selbst nicht einmal wirklich wusste. „Ich... Ich weiß auch nicht genau. Ist nur so ein Gefühl. Vielleicht ist es tatsächlich verboten, da unten rumzuschleichen“, gab er wahrscheinlich eher wenig überzeugend zurück. „Ich meine, warum sonst hat bisher noch niemand auch nur ein Wort über diese seltsame Stadt verloren? Ich, als König, müsste immerhin darüber Bescheid wissen, wenn ich die komplette Kehrseite irgendwann regieren soll. Da fällt mir ein... Dieses Schwert, mit dem du mich gestern um meinen Schlafplatz gebracht hast – ich würde wetten, das hast du auch irgendwo da unten gefunden. Gib es zu!“ „Das Schwert?“ Für einen winzigen Moment sah Lizzy ernsthaft so aus, als habe er keine Ahnung, wovon überhaupt die Rede war. „Ach, das Schwert!“, erinnerte er sich kurz darauf zum Glück doch an das von ihm selbst verursachte Dilemma, als sie gerade dabei waren, zügig auf die große Treppe zuzusteuern, die zu Alicias ehemaligem Gemach führte. „Ja, also... Das sollte eigentlich mein Geheimnis bleiben, aber du hast Recht. Ich hab es in dem Aufzug gefunden, als ich gestern Nacht schon mal hier war. Deshalb hatte ich auch beschlossen, später nochmal wiederzukommen und den Aufzug näher zu untersuchen. Das Schwert fand ich erst mal irgendwie interessanter... Willst du es dir mal ausleihen?“ „... Nein, danke“, antwortete Alice, nicht sicher, ob er über diese Frage oder eher über den Umstand den Kopf schütteln sollte, dass sein jüngeres Ich sich so leicht von einer Waffe begeistern ließ, die womöglich auch noch extra dort platziert worden war, um gutgläubige Idioten wie ihn anzulocken und in irgendwelche Schwierigkeiten zu bringen, die er sich im Augenblick lieber nicht allzu detailliert ausmalen wollte. „So ein Samuraischwert hat schon seinen Reiz, ja... Aber ich habe zurzeit mit genug anderen Sachen zu tun und bin übrigens der Meinung, dass wir das mit dem Schwert genauso für uns behalten sollten wie das mit der Kammer da unten – zumindest solange, bis wir mehr darüber herausgefunden haben.“ Lizzy machte ein nachdenkliches Gesicht, hielt aber erstaunlicherweise doch einmal den Mund, bis sie auf der anderen Seite des Schlosses angelangt waren – wahrscheinlich jedoch nur, weil er es nicht darauf anlegen wollte, sich bei dem Gang durch den Spiegel an dem flüssigen Glas zu verschlucken. „Sag mal...“, fing er an, als sie das knallrot-gestrichene, große Tor beinahe erreicht hatten, „... du hast doch vorhin irgendwas davon gesagt, dass das Wunderland irgendwen geboren haben soll oder so... Wie hab ich das jetzt eigentlich genau zu verstehen?“ „Ich glaube, das siehst du dir am besten selbst an“, wollte Alice gerade antworten, während er nach dem Knauf langte und das Tor öffnete, um zu der Stelle im Garten zurückzukehren, an der er die Hälfte der besagten Neuankömmlinge – Clegg – das letzte Mal gesehen hatte, ehe dieser mit seinem neuen Aufpasser irgendwo in den Tiefen des Wunderlandes verschwunden war... als er mit einem Mal ziemlich unverhofft der Königin gegenüberstand, die offenbar die andere Hälfte im Schlepptau hatte. Und es war bei Weitem nicht das, womit er gerechnet hatte, als von 'zwei neuen Mitbewohnern' die Rede gewesen war. „Alice!“, stieß die Königin auf eine scheinbar überraschte Weise erfreut aus. „Und Lizzy hast du auch dabei! Wo kommt ihr Zwei überhaupt plötzlich her? Nun ja... Das ist jetzt nicht weiter wichtig.“ Bevor einer von ihnen beiden auch nur irgendeine Art von Erklärung vorbringen konnte, redete Marilyn bereits überschwänglich weiter und störte sich – zu seinem Glück – offenbar gar nicht daran, dass die Arbeit mit den Plakaten am heutigen Tage noch keinerlei Fortschritt gemacht hatte. „Es gab ein paar Komplikationen...“, erzählte er mit beinahe kindlicher Aufregung, „... aber letztlich ist alles gutgegangen, und wir dürfen eine besonders hübsche, junge Dame als neues Mitglied unserer Gemeinschaft begrüßen!“ „Hi“, sagte das Mädchen mit den auffälligen, bunten Haaren und den noch auffälligeren Augen, das schüchtern neben Marilyn herumstand, und hob zaghaft eine Hand zum Gruß. „Ich bin Lucy... Freut mich, euch kennenzulernen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)