Sinners von Enna ================================================================================ Kapitel 2: "Das passiert hier ständig" -------------------------------------- Von Anfang an, wusste sie nicht, was sie erwartet. Sie rechnete damit, dass sie sogar entführt und verschleppt werden könnte. Doch das hat sie nicht kommen sehen. Ein verlassenes Industriegebiet, gesichert wie ein Gefängnis, liegt direkt vor ihr. In der Ferne erkennt sie die Dächer mehrerer Lagerhäuser. Wie Zinnsoldaten sind sie aufgereiht. Bewaffnete Männer stehen an jeder Ecke der gigantischen Anlage und schauen aufmerksam in die Ferne. Alles in einem wirkt der Ort wie ein geheimer Millitärstützpunkt. An dem weit und breit einzigem Eingang steht ein Mann, der gebaut ist wie Schrank. "Yo, Shawn. Bin wieder da", begrüßt Soran den Riesen lässig. "Bringst du wieder jemanden mit?" Shawn's Blick fällt auf Anra. Doch sie lässt sich von ihm nicht verunsichern. "Ich entschuldige mich für die Umstände." Höflich verbeugt sie sich kurz. "Ah, ihre Hand ist verletzt. Das sollt' sich vielleicht wer anschauen." "Alles in Ordnung." Zum Beweis hebt sie die Hand und bewegt die Finger. "Trotzdem könnt' sie mal ne' warme Mahlzeit vertragen. Los wir gehen." Er winkt das Mädchen und den rest seiner Gruppe zu sich, als er langsam an dem riesigen Mann vorbei läuft. "Achja. Kein Wort zu meinem Bruder!", ruft er Shawn noch zu. Die fremden Blicke, die auf ihr liegen, interssieren Anra wenig. Sie schaut stur nach vorne. Allerdings verschafft sie sich aus dem Augenwinkel einen Überblick über die Mitgliederanzahl. Größtenteils junge Erwachsene. Sie sind allesamt nicht älter als 25. Manchem fehlt ein Arm, dem anderen ein Bein. Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen. Selbst als Zivilist war man nicht sicher. Doch trotz allem leben und arbeiten sie hier zusammen. Anra kann niemanden erkennen, der bis gerade eben nicht bei einer Tätigkeit war. Plötzlich klingelt Sorans Handy. Als er kurz auf das Telefon schaut, drückt dieser den Anrufer weg und seufzt laut. "Ich muss weg,. Aber es kommt gleich wer. Also keine Sorge." Und im nächsten Moment stürmt er auch schon davon. Anra sieht ihn nur noch in der Ferne. Sie steht alleine da. An einem ihr völlig fremden Ort, umgeben von fremden Menschen. Doch als sie sich umdreht, schafft sie es im letzten Moment noch einen ihr entgegen fallenden Pappkarton auf zu fangen. "Hoppla. Hab ich jemanden erwischt?" Eine Frau, die noch einen weiteren Karton trägt, schaut sich suchend um. "Alles in Ordnung", versichert Anra. "Gut, hilf mir mal. Folg mir einfach. Ich muss die neue Hardware an allen PC's hier installieren und ich hab's einfach im Rücken grade." Doch schon nach wenigen Schritten bleibt sie wieder stehen und stellt die schwere Fracht ab. Die großgewachsene Frau, mit den kurzen blonden Haaren streckt sich energisch und lässt sich im nächsten Moment einfach auf den Boden fallen. "Ich kann nicht mehr..." Mit ihren großen Augen mustert sie Anra und stellt fest: "Dein Gesicht hab' ich noch nie hier gesehn'!" Doch bevor Anra darauf antworten kann geht der Frau ein Licht auf. "Soran hat dich bestimmt hier angeschleppt, oder? Ständig bringt er irgendwen hier her..." Munter rappelt sie sich auf, klopft sich den Staub von der Kleidung und streckt ihr freundlich die Hand aus. "Ich bin Mai. Und du bist?" Ohne den Handschlag zu erwiedern antwortet sie: "Anra." "Oh, du hast ja noch die Kiste. Tut mir leid, ich wusste nicht, dass du neu bist..." Augenblicklich nimmt Mai ihr den Karton ab und stellt ihn neben den Anderen. Dan streckt sie sich wieder und jammert: "Warum muss ich sowas immer nur allein machen..." Augenblicklich nimmt Mai sie bei der Hand und lächelt sie an. "Lass uns was essen gehn. Du siehst so aus, als hättest du Hunger!" Die Sonne verschwindet gerade am Horizont, als Mai mit Anra an der Hand einen dunklen, fensterlosen Raum betritt. Als die junge Frau das Licht einschaltet, erblickt Anra einen unordentlichen, kleinen Raum. Verschiedene Bücher liegen auf dem Boden. Die Regale sind fast alle leer und riesige Mengen an Kabeln schlängeln sich über den gesammten Boden. "Die Kantine ist schon zu. Aber ich hab hier immer Fertignudeln für den Fall der Fälle..." Sie murmelt, während sie eine der unzähligen Kisten durchsucht. Plötzlich sind in er Ferne einige Schüsse zu hören. Anra zuckt instinktiv kurz zusammen. "Keine Sorge, keine Sorge. Das ist sicher nur Lory. Wir sagen ihr immer sie soll erst die Fragen stellen und dann schießen, aber irgendwie ist ihr das ziemlich egal.... " "Achja, wo wir beim Thema sind." Augenblicklich gibt sie die Suche auf. So als wäre ihr im letzten Moment noch etwas wichtiges eingefallen und setzt sich an den klapprigen Tisch in der Mitte des Raumes, an dem Anra bereits Platz genomen hat. "Nach Sonnenuntergang solltest du das Gelände nicht mehr verlassen. Lory, unsere Anführerin der Nachtwache schießt nämlich auf alles, was sich bewegt." Mai lächelt freundlich, als hätte sie gerade einen harmlosen Witz erzählt. "Gibt es da noch etwas, das ich beachten sollte?" "Hm... Rauchen ist auf dem Gelände verboten. Offenes Feuer oder Feuerzeuge sind generell nicht erlaubt." Angesterngt überlegt sie eine Weile. "Also, wenn du dich daran hällst, dann bist du außer Lebensgefahr. Denk ich." Doch als plötzlich mehrere Explosionen zu hören sind, verliert Mai völlig die Fassung. "Was stimmt nicht mit diesem Mädchen?!" Energisch greift sie nach ihrem Funkgerät und schreit: "Sag mal, hast du sie nicht mehr alle, Lory?" Erst einige Sekunden später antwortet eine genervte, weibliche Stimme: "Sorry, wir haben hier grad' ein Problem." Erneut sind Einschläge zu hören. Der Boden wird dadurch so sehr erschüttert, dass die letzten Gegenstände aus den Regalen fallen. "Und die löst du, indem du das ganze Gelände in die Luft sprengst?! Wo bekommst du sowas überhaupt her?" Man hört Lory kurz kichern. "Vorsicht! Sie sind auf dem weg zu dir, Mai!" Doch ihre Warnung kommt zu spät, denn im nächsten Moment schlägt jemand die Tür auf. "Ihr tut was ich sage oder in knall' ihn ab!" Ein Mann steht im Raum. In seinem Arm hällt er einen Jungen, dem er eine Gewehr an die Schläfe hällt. Verzweifelt ringt das Kind nach Luft. "Gebt mir all' euere Festplatten und es passiert nichts!", fordert er. Doch Mai denkt nicht einmal daran sich zu bewegen. Sie sitzt einfach da und lächelt den Fremden an. "Wenn du denkst, dass du ein Kind erschießen kannst, dann mach es doch." Unbeeindruckt provoziert sie ihn. Der Eindringling wird langsam nervös. "Ich schwörs! Ich mach das! Ich erschieß ihn!" Doch die Frau lächelt nur und streckt sich müde. "Nur zu. Ich halt' dich nicht auf." Verzweifelt wandert sein Blick zu Anra, die teilnahmslos neben Mai sitzt. "Du! Beweg dich oder willst du etwa, dass der Kleine hier stirbt?" Anra schaut erst zu Mai und dann zu dem fremden Mann. "Tut mir Leid, aber damit habe ich nichts zu tun. Ich bin nur Gast hier", entgegnet sie kalt. Zitternd tritt er einige Schritte zurück. "Was für gestörte Weiber hier si-." Doch ein lauter Knall unterbricht ihn. Kraftlos fällt er zu Boden. "Kommst einfach hier rein, bedrohst und beleidigst meine Leute... Für wen hällst du dich bitte?!" Derjenige, der gerade in der Tür erschienen war und den Eindringling hinterrücks erschossen hatte, ist für Mai kein Fremder. Mit einem Seufzen murmelt sie: "Wurd aber auch mal Zeit. Aber, dass ausgerechnet du kommst, hätt' ich nicht gedacht." "Was ist das denn für eine Begrüßung? Ich hab euch grade das Leben gerettet." Genervt steht sie auf und nimmt den Jungen, der ängstlich am Boden kauert bei der Hand. "Der hätt' doch eh nicht geschossen..." Schon im nächsten Moment lächelt sie wieder freundlich, so als wäre nichts weiter gewesen. "Komm wir holen dir erst einmal ein Eis, ja?" Vorsichtig streichelt sie dem Jungen über das Haar. Ein Funkspruch ist zu hören. Es ist Lory's Stimme. "Alles wieder sauber!" "Siehst du, es ist alles wieder gut." Mai nimmt ihn behutsam auf den Arm, als er wieder anfängt zu weinen. "Bis dann, Luke. Pass auf unseren Gast auf, ja?" Und auf einmal herscht wieder Stille, wie nach einem Sturm. Die Schüsse, die Explosionen und der Mann, der direkt vor ihren Augen erschossen wurde. All das lässt sie kalt. Ihr Blick verharrt einzig und allein auf dem Schützen, der sie freundlich anlächelt. "Eigentlich hab' ich ja keine Zeit für sowas. Aber ohne meine Administratorin würd' hier echt nix laufen." Während er eine Nachricht auf seinem Smartphone tippt, schiebt er beiläufig die Leiche auf dem Boden beiseite. "Wer bist du?" Erstaunt schaut er auf, als er die Frage hört. "Oh? Du kannst sprechen?" "Zur Kommunikation werden keine Worte benötigt." Ohne ihre Augen von ihm zu lösen, verfolgt sie seine Bewegungen. Gelassen lässt sich der junge Mann auf einem Stuhl nieder. "Anra, oder? Ich bin Luke." Für einen Augenblick schaut sie ihn erstaunt an, während er sie freundlich anlächelt. "Hier gibt es keinen, der mich nicht kennt. Aber ich wusste ja nicht, dass ich außerhalb des Zauns so bekannt bin..." "...Du bist der Anführer der 'Lost'." "Aber, aber. So werd' ich wirklich nicht gern bezeichnet. Schließlich sind wir hier ja alle eine große Familie!" Vergnügt kichert er vor sich hin. "..Aber das weißt du ja schon, meine werte Spionin." Erschrocken springt Anra auf und macht sich bereit zum Angriff. "Entspann dich! Ich wusste von dir, bevor du überhaupt hier warst. Aber ich mach' dir keine Vorwürfe..." Verunsicherung zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. Sie war noch nie so einem Mann begegnet. "...Wir wollen doch alle Leben. Wie viel Geld haben sie dir versprochen?" Misstrausich schweigt sie ihn an. "Ich bin nur neugierig. Wie viel sind diese Schweine vom Staat bereit zu zahlen, nur um mehr Macht zu bekommen...?" Luke's freundliches Lächeln verschwand auf der Stelle. Wütend ballte er seine Hände zu Fäußten. "Fünfzigtausend..." Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Das konnte sie spüren. "Verstehe." Seine Gelassenheit kehrte allmälich zurück. "Keine Sorge. Du kannst ruihg hier bleiben." "Bitte?" Anra kann ihm nicht ganz folgen. "Ich seh dich nicht als Gefahr, Anra. Wir sind uns sogar gar nicht so unähnliches." Missmutig entgegnet sie: "Wie kannst du dir da so sicher sein?" "Lost. Wir sind alle hier, weil wir etwas verloren haben. Du hast doch sicher auch was verloren, hab' ich recht?" Schweigend sahen sie sich an. Auf einmal klingelte Luke's Handy. "Ja?... Ich bin unterwegs." Er holt tief Luft und steht auf. "Also dann. Die Arbeit ruft... Ich schick dir jemanden. Sollang kannst du dich schon mal auf dem Gelände umschauen." An der Tür deutet er noch einmal auf den leblosen Körper. "Darum kümmert sich gleich jemand. Das passiert hier ständig." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)