Form of Thought von Flordelis ================================================================================ Prolog: Prolog: Ich bin endlich hier. ------------------------------------- Eine der wichtigsten Lektionen, die Luan im Waisenhaus lernte, war zugleich die grausamste seines jungen Lebens: Man konnte auch einsam sein, wenn man von Menschen umgeben war. Tagsüber war es unangenehm, wenn er mit den anderen im Speisesaal war, im Klassenzimmer, im Aufenthaltsraum. Wenn er umgeben war von all den lachenden und spielenden Kindern, die ihn mieden und ignorierten, als wäre er keine Person sondern lediglich ein Fleck kalter Luft. Aber nachts, wenn sie alle gemeinsam im Schlafsaal schliefen, wurde es unerträglich. Sobald er den Chor des gleichmäßigen Atmens hörte, vielleicht ein leises Pfeifen in der einen Ecke, ein kaum hörbares Murmeln in der anderen, und er sich vorzustellen versuchte, dass er ein Teil dieser Gemeinschaft war, gelang ihm genau das nicht. Selbst seine eigenen Gedanken grenzten Luan von den anderen Waisenkindern ab, verhinderten, dass er sich vorstellte, dass der morgige Tag schöner werden könnte, weil sie dann endlich gemeinsam spielten. Genausowenig könnte er jemals ein Teil einer normalen Familie werden. Wann immer mögliche Personen für eine Adoption oder zumindest eine Pflegestelle zu Besuch kamen, waren sie ebenfalls ein Teil jener Personengruppe, die ihn ignorierte. Sie gingen stets hastig an ihm vorbei, den Blick stur nach vorne gerichtet als wollten sie nicht einmal seine Anwesenheit anerkennen. Das war derart deprimierend, dass er irgendwann versuchte, damit aufzuhören. Stattdessen konzentrierte er sich auf etwas anderes, etwas Schöneres, das nicht versuchte, ihn zum Weinen zu bringen. Wenn er nachts damit anfing, endete das nur in Ärger mit den Betreuern und darauf wollte Luan verzichten. Gerade weil ihn niemand mochte, wollte er nicht zusätzlichen Ärger verursachen. Er wollte nicht wissen, was sie, wenn sie sich nun schon widerwillig um ihn kümmerten, mit ihm täten, wenn er noch mehr Arbeit machte. Also schloss er die Augen, nachdem er auch in dieser Nacht mehrere Stunden – jedenfalls fühlte es sich so an – damit verbracht hatte, an die Decke zu starren. Doch statt zu schlafen rettete er sich wieder in seine Traumwelt, die einzige Hilfe für ihn, um nicht zu verzweifeln. Er stellte sich jene Frau vor, die für ihn das Idealbild einer Mutter darstellte, lange blonde Haare, die ihre schlanke Figur umspielen, grüne Augen voller Güte und Sanftmut, Arme, die immer bereit sind, ihn zu trösten oder einfach nur an sich zu drücken, wann immer er sich nach Nähe sehnte. Die Sehnsucht in seinem Inneren nach dieser Frau war derart groß, dass er an nichts anderes denken konnte. Ihre Anwesenheit in seinen Gedanken war das einzige, was ihn in seiner Einsamkeit zu trösten vermochte. Aber schöner wäre es, wenn sie ihn wirklich umarmen könnte, wenn sie bei ihm sein könnte, wenn er ihren Geruch einatmen könnte. Plötzlich glaubte er zu wissen, dass jemand neben seinem Bett stand. Er spürte das unangenehme Gefühl fremder Blicke auf sich, gleichzeitig war die Aura aber auch vertraut und angenehm. Dennoch traute er sich nicht, die Augen zu öffnen, er glaubte nicht, dass etwas Gutes dabei herauskam, mit Sicherheit war er auch ohnehin nur im Halbschlaf. Die Matratze senkte sich ein wenig zur Seite, jemand hatte sich auf sein Bett gesetzt, noch immer hielt er die Augen geschlossen, aus Furcht vor dem Anblick, der sich ihm bieten könnte. Oder dass sich da nichts befand und er einsehen müsste, dass er sich das alles nur einbildete. Wäre das nicht auch verständlich, nach all der Einsamkeit? Doch dann spürte er, wie jemand ihm mit der Hand durch das Haar fuhr, zärtlich, liebevoll, genau wie eine Mutter es täte – oder wie er sich die Berührung einer Mutter eben vorstellte. Die Neugier und die Sehnsucht übernahmen sein Handeln und Denken, deswegen öffnete er die Augen – und sah wirklich seine perfekte Mutter über sich gebeugt. Er konnte es kaum fassen, starrte sie einfach nur an, statt etwas zu sagen. Dafür öffnete sie den Mund und sagte mit einer glockenhellen Stimme: „Ich bin endlich hier, Luan. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Kapitel 1: Es gibt keine Monster. --------------------------------- Cathan seufzte zufrieden, als das Auto endlich vor seinem Haus hielt. Es ging bereits auf Mitternacht zu, und sein einziger Wunsch bestand darin, endlich ins Bett fallen zu können und bis zum Morgen zu schlafen. Fast schon sehnsüchtig blickte er zu seinem Heim hinüber, hinter einem der Fenster glaubte er, noch gedämpftes Licht ausmachen zu können. „Das war doch wieder eine erfolgreiche Schicht, was?“ Die Stimme seines Fahrers lenkte Cathans Aufmerksamkeit auf diesen. Genau genommen war der Mann auf dem Fahrersitz nicht nur sein Fahrer, sondern auch sein Partner und – noch wichtiger – sein Zwillingsbruder, auch wenn man ihnen das – sehr zu Lowes Leidwesen – nicht ansehen konnte. Cathans Haar war schwarz, das von Lowe braun; Cathans Augen dunkelblau, fast schwarz, die von Lowe einfach nur blau; Cathans Körperbau war relativ normal, der von Lowe wesentlich athletischer. Noch dazu war Cathan einen Tick größer als Lowe, aber das empfanden sie beide als unerheblich – auch wenn Lowe dazu neigte, Schuhe mit hohen Sohlen zu tragen, um die wenigen Zentimeter wieder auszugleichen. „Na ja, was man unter erfolgreich verstehen möchte.“ Cathan griff nach seinem Gurt, um diesen zu lösen, dabei wanderte sein Blick über sein einstmals weißes Hemd, das nun von dem Dreck zeugte, durch den er sich heute hatte wälzen müssen. Er war im Hauptquartier noch zum Duschen gekommen, aber hatte keine Kleidung zum Wechseln mehr im Spind aufbewahrt – wenigstens war sein brauner Trenchcoat verschont worden, da er ihn vor der Verfolgungsjagd ausgezogen hatte. „Aber wir haben ihn doch immerhin erwischt“, erwiderte Lowe. „Also würde ich das äußerst erfolgreich nennen. Meinst du nicht?“ „Na ja, es hätte schlimmer ausgehen können.“ Er musste sich nur daran zurückerinnern, wie er bei einem Einsatz einmal mit Batteriesäure bespritzt worden war, aber noch besser war ihm der anschließende Aufenthalt in der Notaufnahme im Gedächtnis geblieben; Lowe hatte stundenlang versucht, sich einen Scherz über die Situation einfallen zu lassen, nur um glorreich daran zu scheitern. Selbst heute, nach fast einem Jahr, wusste er immer noch keinen guten Witz darüber. „Morgen bin ich mit fahren dran, oder?“, fragte Cathan. „Dann werde ich dich abholen.“ „Geht klar~.“ Lowe lächelte, gut gelaunt wie immer, trotz der späten Stunde. „Schlaf gut.“ „Du auch.“ Damit stieg Cathan bereits aus, winkte Lowe noch einmal zu und ging dann auf die Haustür zu, wobei er den Trenchcoat enger um sich zog, um sich vor dem kalten Oktoberwind zu schützen. Hinter sich hörte er den Motor aufheulen – dabei hatte er seinem Bruder oft genug gesagt, dass er das um diese Zeit nicht mehr tun sollte, immerhin sahen die Nachbarn das nicht gern – aber er drehte sich nicht noch einmal um. Nachdem er den Schlüssel aus seiner Tasche gefischt hatte, schloss er auf und betrat das Haus. Er wurde direkt von einer angenehmen, ihn willkommen heißenden Aura eingehüllt. Es war der vertraute Geruch seiner kleinen Familie, den er immer so sehr vermisste, wenn er tagsüber unterwegs war. Aber irgendwie musste man ja Geld verdienen. Neben der Tür befand sich ein Schlüsselbrett, an dem er seinen Schlüssel aufhing, darunter stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem er seine Marke und seine Brieftasche ablegte, genau wie die Brille, die er manchmal tragen musste, wenn es um Details ging. Nachdem er auch noch seine Schuhe ausgezogen hatte, warf er einen kurzen Blick in die dunkle Küche, stellte zufrieden fest, dass sie aufgeräumt und sauber war, und ging dann die Treppe hinauf. Unter der ersten Tür auf der rechten Seite konnte er einen schwachen Lichtschein wahrnehmen. Genau wie er es auch von draußen durch das Fenster gesehen hatte. Deswegen öffnete er die Tür leise und warf einen Blick hinein. Es war ein typisches Kinderzimmer. Dunkelblaue Vorhänge mit aufgestickten Halbmonden und Sternen, verhängten die Fenster, Filmposter von Superhelden (inklusive Emmet und seinen Freunden) hingen an der hellblau gestrichenen Wand, das Bücherregal war gefüllt mit Büchern über abenteuerliebende Kinder, mitten im Zimmer, auf dem grauen Teppich, war mit dem Bau einer Lego-Burg begonnen worden, ehe die Schlafenszeit ihn eingeholt hatte. In der Ecke des Zimmers stand ein Hochbett, mit einem integrierten Schreibtisch – und einem hohlen Untergrund, so dass man sich dort ohne Weiteres eine Burg bauen konnte. Und genau das war auch an diesem Tag wieder geschehen. Die Höhle war mit einer dichten Decke verhängt, aber man konnte dennoch einen Lichtschein wahrnehmen. Leise ging Cathan hinüber, kniete sich hin und schob die Decke beiseite. Im Inneren fand er eine Matratze, die sie einst dort hingelegt hatten, mehrere Kissen, eine Lampe – und einen neun-jährigen schwarzhaarigen Jungen, der von seinem Buch aufsah. „Was machst du da, Kieran?“, fragte Cathan sanft. „Lesen“, kam die zurückhaltende Antwort. „Verstecken.“ „Wovor versteckst du dich?“ „Vor den dunklen Monstern.“ Cathan verzog das Gesicht ein wenig, kroch ebenfalls in die Höhle hinein und setzte sich neben Kieran auf die Matratze, damit er einen Arm um ihn legen konnte. Die Decke fiel hinter ihm wieder zu. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass es keine Monster gibt“, versuchte er dann, ihn zu beruhigen. Kieran warf ihm einen skeptischen Blick zu, während er mit der Ecke einer Seite seines Buchs herumspielte. „Aber wenn ich sie doch schon gesehen habe?“ „Wo hast du sie denn gesehen?“ „Vor meinem Fenster.“ Cathan sah automatisch zu den Decken, die ihm den Blick nach draußen verwehrten – aber auch verhinderten, dass irgendetwas hereinsah. Insofern war das wirklich ein gutes Versteck. „Du hast wirklich etwas gesehen? Aber die Vorhänge sind doch zu.“ „Es schaut durch die Lücken herein.“ Kieran schloss das Buch. „Und es beobachtet mich.“ Cathan hatte immer gehofft, ein solches Gespräch niemals führen zu müssen, jedenfalls nicht mit seinem eigenen Sohn. Er erinnerte sich daran zurück, wie er damals das erste Mal eines dieser Wesen gesehen hatte, wie ängstlich er gewesen war. Lediglich die Anwesenheit von Lowe, in dessen Bett er sich danach verkrochen hatte, war ein Grund für ihn gewesen, sich nicht unter dem Bett zu verstecken. Lowe war immer schon furchtlos gewesen, etwas, das Cathan auch heute noch manchmal an ihm bewunderte. Aber Kieran fehlte diese Möglichkeit, er hatte keine Geschwister, deswegen musste er sich wohl oder übel unter dem Bett verstecken. Insofern war dieses Hochbett eine gute Wahl gewesen. „Du weißt doch, dass ich niemals zuließe, dass eines dieser Monster dir etwas tut, nicht wahr?“ „Aber du warst doch nicht da.“ Es lag kein Vorwurf in seiner Stimme, es war lediglich eine Feststellung. „Du konntest mir also nicht helfen.“ Cathan benötigte einen Moment, um sich darauf etwas einfallen zu lassen, das nicht nur nach einer hohlen Phrase klang. Selbst ein Kind konnte das ganz einfach durchschauen, besonders so eines wie Kieran, deswegen gab er sich nie mit so etwas zufrieden. „Du weißt doch, was der Job deines Dads ist, oder?“ „Ja. Du fängst die bösen Monster und machst sie unschädlich.“ Was genau darunter zu verstehen war, hatte Cathan ihm noch nicht erklärt, aber er war überzeugt, dass Kieran es ohnehin bereits wusste. Es war jedenfalls genug, damit er sich stets sicher fühlen könnte. „Das ist richtig. Also selbst wenn ich bei der Arbeit und nicht zu Hause bin, beschütze ich dich. Sollte dich jemals ein Monster entführen, werde ich dich sofort retten.“ Kieran legte die Stirn in Falten, während er darüber nachdachte. Doch schon nach wenigen Sekunden entschied er sich dafür, ihm einfach zu glauben. „Versprichst du mir das wirklich?“ Cathan hielt ihm den kleinen Finger hin. „Ich verspreche es dir.“ Ohne zu zögern hakte Kieran seinen eigenen kleinen Finger ein. „Wenn du den Schwur brichst, musst du tausend Nadeln schlucken.“ „Wenn wir so viele finden~.“ „Ganz bestimmt.“ „Gehst du jetzt dann wieder ins Bett? Draußen ist auch kein Monster mehr.“ Kieran nickte. Er legte das Buch sorgsam neben sich, dann krabbelte er als erstes nach draußen. Cathan folgte ihm, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Inzwischen hatte Kieran das an seinem Bett befestigte Licht eingeschalten, damit sie nicht gänzlich im Dunkeln standen. Erst nachdem Cathan ebenfalls draußen war, kletterte Kieran die Leiter hinauf und legte sich dann richtig auf sein Bett, aber nur halb unter die Decke. Da Cathan genau die richtige Größe für dieses Bett hatte, deckte er ihn sorgfältig zu. „Und? Denkst du, du kannst jetzt schlafen?“ „Ich versuche es.“ „Wenn du doch noch Angst hast, komm ins Schlafzimmer, ja?“ Kieran nickte und schloss die Augen. „Gute Nacht, Papa.“ „Schlaf gut, Little Blacky.“ Er löschte das Licht und verließ den Raum leise wieder. An der Tür stellte er noch einmal sicher, dass sein Sohn vollkommen ruhig im Bett lag, dann lehnte er sie an, statt sie ganz zu schließen, und schlich zwei Türen weiter zum Schlafzimmer. Dank des Teppichs, der seine Schritte ohnehin verschluckte, war es auch kein Problem, sofern er nur daran dachte, dem knarrenden Bodenbrett auszuweichen. So leise wie möglich betrat er das Schlafzimmer, das er mit seiner Frau teilte – und stellte im Inneren fest, dass er sich ganz umsonst die Mühe gemacht hatte, leise zu sein. Sie war zwar im Bett, aber sie saß aufrecht gegen die hölzerne Kopfstütze gelehnt, die Leselampe über ihr eingeschalten, und las ebenfalls in einem Buch. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Zopf geflochten, ihre Augen huschten über die Zeilen, statt die Präsenz ihres Ehemannes wahrzunehmen. Mancher wäre davon sicher angegriffen und verletzt gewesen, aber für Cathan war es genau das, was er an seiner Frau so sehr liebte. Dass sie sich derart in einem gänzlich anderen Leben, selbst wenn es nur fiktional war, verlieren konnte, empfand er als derart bezaubernd, dass er sie andauernd dabei beobachten könnte. Da er in dieser Nacht aber noch schlafen wollte, wechselte er in seinen Pyjama und setzte sich dann auf das Bett. Erst als er neben ihr saß, bemerkte sie seine Anwesenheit. Sie löste ihren Blick von ihrem Buch und lächelte ihn erfreut an. „Cath, schön, dass du wieder da bist~.“ „Hab ich dich wachgehalten?“ Sie schüttelte mit dem Kopf, und legte das Buch auf den Nachttisch. „Ich habe mich einfach nur in dem Buch verloren. Es war gerade so spannend~.“ Ihr Blick ging zur Tür. „Hast du mit Kieran gesprochen?“ „Ja. Ich sagte ihm, es gibt keine Monster. Anscheinend hat er wieder eines gesehen.“ „Sie trauen sich immer näher ans Haus“, bestätigte sie. „Ich habe heute auch eines gesehen.“ Das stimmte ihn unruhig. Bei Kieran war es nur eine Frage der Zeit gewesen, aber bei Granya, die über keinerlei Kräfte verfügte, war es sehr ungewöhnlich. „Ich werde mich mal darum kümmern in den nächsten Tagen, mach dir keine Sorgen.“ „Ich mache mir keine. Du bist immerhin bei mir.“ Für diese Worte gab er ihr einen raschen Kuss auf die Wange, dann lehnte er seinen Kopf an ihre Schulter. Er war ihr nah genug, um ihren Atem auf seinem Gesicht zu spüren und ihren Herzschlag zu hören, was ihn mit einem angenehmen Gefühl von Zufriedenheit erfüllte. Sie hob die Hand und fuhr ihm damit durch das Haar. „Wie war dein Tag heute?“ „So wie üblich. Viele Gespräche mit Lowe, viel im Dreck herumliegen, Monster einfangen … Du kennst das ja schon.“ „Mein kleiner Held“, sagte sie lächelnd. „Du gibst immer dein Bestes, selbst bei mir. Ich bin froh, dass gerade du mir damals auf dieser Brücke begegnet bist.“ Auch wenn es ihre erste Begegnung war, dachte er nicht gern daran zurück. Er war nur zufällig auf dieser Brücke gewesen, aber sie war dort hingegangen, um sich das Leben zu nehmen. Davon abgekommen war sie dann nur, weil er so lange auf sie eingeredet hatte, bis die, von einem besorgten Beobachter gerufene, Polizei gekommen war, um sie direkt beide mit aufs Revier zu nehmen. Man kam sich erstaunlich nah, wenn man zusammen in einem Vorzimmer darauf wartet, befragt zu werden. Seitdem waren sie ein Paar und so gut wie unzertrennlich. Cathan war glücklich darüber, dass alles so gut ausgegangen war, aber wann immer er an jenen Tag zurückdachte, musste er unweigerlich darüber nachdenken, was geschehen wäre, hätte er damals nicht den Weg über die Brücke gewählt, sondern einen anderen. In solchen Situationen wünschte er sich die Unbekümmertheit seines Bruders. „Wir sollten jetzt schlafen“, bemerkte sie plötzlich, und hauchte ihm einen Kuss auf das Haar. „Du musst erschöpft sein, Liebling.“ „Ja, ein wenig.“ Nur widerwillig ließ er wieder von ihr ab, um sich hinzulegen. Sie folgte seinem Beispiel, und löschte auch das Licht. Dann schmiegte sie sich an ihn. „Schlaf gut, Liebling.“ „Gute Nacht, Granya.“ Er legte einen Arm um sie, damit sie auch garantiert nicht mitten in der Nacht entwischen könnte. Zwar glaubte er nicht, dass sie das wirklich vorhatte, aber man wusste ja nie, ob es nicht eine fremde Macht geben könnte, die versuchte, sie von ihm wegzureißen, gegen seinen und auch ihren Willen. Manchmal träumte er davon, nur um dann aufzuwachen und glücklich festzustellen, dass es ein Albtraum gewesen war. Aber er hoffte, dass es nicht eine solche Nacht würde. Er wollte nur in Ruhe schlafen, nicht mehr an jene Dinge denken, die er tagsüber sehen musste. Mit dieser Hoffnung in seinem Inneren, schloss er die Augen, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen von Granya, die beneidenswert schnell einschlief, und wartete darauf, dass auch ihn der Schlaf endlich einholte. Kapitel 2: Ich hege keinen Zweifel mehr. ---------------------------------------- Seine Hoffnung erfüllte sich, Cathans Nacht ging ohne jeden Albtraum vorüber. Jemand anderes war wohl aber nicht derart glücklich gewesen, denn noch vor dem Frühstück bekam er einen Anruf, dass er und Lowe einen Einsatz im Livio Waisenhaus hätten. Tagsüber einen Einsatz zu haben war schon schlimm genug, da er normalerweise nur abends oder nachts arbeitete, was bedeutete, dass etwas sehr Schlimmes geschehen war, aber dass der Ort des Geschehens auch noch ein Waisenhaus war, gefüllt mit so vielen unschuldigen Kindern … der Gedanke behagte ihm derart wenig, dass er nicht einmal für Lowes Scherze aufgelegt war. „Ich würde mir keine Gedanken machen“, sagte sein Bruder schließlich, nachdem er gemerkt hatte, wie abgelenkt Cathan war. „Wenn einem der Kinder etwas geschehen wäre, hätten sie bereits am Telefon etwas gesagt.“ „Findest du es okay, dass es dann möglicherweise eine Betreuerin ist? Oder ein Betreuer? Der Koch?“ Cathan schnaubte. „Gerade dort hat es keiner von ihnen verdient.“ „Du weißt das doch gar nicht“, erwiderte Lowe. „Vielleicht ist das Opfer ein schlechter Mensch gewesen.“ Darauf sagte Cathan nichts mehr, da er bezweifelte, dass es etwas an Lowes Denkweise änderte. Aber im Moment kam es ihm eher so vor, als versuche sein Bruder etwas zu verdrängen, und er wollte nicht derjenige sein, der ihm eine brutale Wahrheit vor Augen führte. Als sie, dank dem GPS, endlich in das Viertel kamen, in dem sich das Waisenhaus befand, seufzte Lowe. „Mann, hier sieht es nicht mehr so aus wie früher. Wie traurig.“ In ihrer Kindheit waren sie oft mit ihren Eltern in dieser Gegend gewesen, weil es damals einen Laden voller bunter Süßigkeiten hier gegeben hatte. Heute existierte er nicht mehr, genausowenig wie irgendein anderer. Die Geschäfte waren verlassen, die Schaufenster voller Staub oder von Steinen eingeworfen. Auf den Straßen war niemand zu sehen, also kam auch niemand mehr her. „Das ist eigenartig“, bemerkte auch Cathan. „Damals war es eine sehr lebhafte Gegend.“ Was könnte nur in gerade einmal knapp 15 Jahren geschehen sein, um dieses Viertel derart verwahrlosen zu lassen? Normalerweise kümmerte Cherrygrove sich gut um jedes Gebiet und ließ einen solchen Verfall nicht zu. „Fragen wir mal im Waisenhaus“, schlug Lowe vor. „Da muss man es doch wissen.“ Wenig später hielten sie bereits vor dem Gebäude, das wirklich wie ein guter Ort für Kinder wirkte – wenn man von dem Aufgebot an Polizisten und dem Absperrband am Gartentor absah. Das Gelände war umzäunt, im Vorgarten war ein Spielplatz zu sehen, aber auch der Hinterhof, sofern Cathan jedenfalls einen Blick darauf ergattern konnte, war mit einem großzügigen Platz zum Spielen versehen. Fast schon ein Traum. Bei den Polizisten, die das Absperrband bewachten, zeigten Cathan und Lowe ihre Marken vor, worauf das Band für sie ein wenig gehoben wurde, und sie sich darunter hindurchbücken konnten. „Es wundert mich, dass noch keine Presse da ist“, sagte Lowe, nachdem er vergeblich nach dem entsprechenden Van Ausschau gehalten hatte. „Bei so viel Polizei kommen sie normalerweise angeflattert, bevor wir eintreffen.“ „Vielleicht will nicht mal ein Reporter auf der Suche nach einer guten Story in dieses Viertel.“ Der Beamte an der Eingangstür nickte ihnen zu, als sie an ihm vorbeigingen. In der Eingangshalle herrschte noch wesentlich mehr Aufruhr. Polizisten wiesen Angestellte wiederholt an, die Kinder nicht in die Nähe des vermeintlichen Tatorts kommen zu lassen, ein in Weiß gekleidetes Team der Spurensicherung lief durch die Halle in die hinteren Räume. Ein Detective der Mordkommission, gekleidet in einen edlen Anzug, befragte gerade eine der Angestellten und notierte sich ihre Aussage auf einem kleinen Block. Cathan fühlte sich in seiner Kleidung – dem weißen Hemd und der schwarzen Stoffhose, dazu der Trenchcoat – eigentlich ziemlich richtig am Platz. Aber er fragte sich, wie Lowe es schaffte, in Jeans, T-Shirt und einer Jacke aufzutauchen, ohne sich Gedanken darum zu machen, ob er vielleicht under-dressed wäre. Darum machte er sich aber sicher niemals Sorgen, so war er nicht. Cathan und Lowe warteten darauf, dass der Detective Zeit für sie fand, um sie in die Situation einzuweihen und sie zum Tatort zu führen. Einfach der Spurensicherung zu folgen wäre zwar möglich, wurde aber nicht gern gesehen, außerdem fehlten ihnen dann die Einzelheiten, die ihnen oft halfen, die Situation wirklich – und richtig – einzuschätzen. Während sie warteten, ließ Cathan den Blick schweifen. Rechts führte eine Treppe nach oben, links gab es einen verglasten Rezeptionsbereich, der gerade unbesetzt war. Ein Computer wartete nur darauf, bedient zu werden, das altertümlich wirkende, kastenförmige Tastentelefon war still. Neben der Treppe, gegenüber der Rezeption, standen mehrere Stühle. Zwei Türen führten je nach links (vermutlich in den Rezeptionsbereich) oder rechts, waren im Moment aber geschlossen. Gegenüber der Eingangstür gab es einen Gang, der tiefer ins Gebäude führte, und auch von den Leuten der Spurensicherung betreten worden war. Schließlich beendete der Detective sein Gespräch, überreichte der Angestellten seine Karte und kam zu ihnen herüber. Er richtete sich die Brille, als er ihnen gegenüberstand. „Cathan, Lowe ...“ „Hey, Joe~“, grüßte Lowe ihn lächelnd, während Cathan ihm nur zunickte. Joe – eigentlich Joseph – Romero war meistens der Detective, mit dem sie an solchen Fällen arbeiteten, daher kannte man sich inzwischen recht gut. Joseph war stets korrekt vom Verhalten und adrett in seiner Kleidung, wie der dunkle Anzug und auch die schwarzen Handschuhe verrieten, sein schwarzes Haar war sorgsam zurückgekämmt, die Brille immer säuberlich geputzt, seine braunen Augen musterten stets alles und jeden besonders aufmerksam. „Danke, dass ihr so schnell kommen konntet.“ „Worum geht es?“, fragte Cathan. „Am Telefon hieß es nur, dass es einen Mord gegeben hat, der eher unserer Kragenweite entspricht.“ Joseph bedeutete ihnen, ihm zu folgen, während er der Spurensicherung in die hinteren Räume folgte. Schon nach dem ersten Schritt begann er zu erzählen: „Wir bekamen heute Morgen einen Notruf. Als der Direktor zur Arbeit kam, fand er eine seiner Erzieherinnen erhängt in seinem Büro.“ Cathan runzelte die Stirn. „Erhängt? Das klingt nach einem klassischen Suizid.“ Und damit nicht einmal ein Fall für die Mordkommission, zu der Joseph gehörte. „Das dachten wir zuerst auch, als der Notruf hereinkam“, stimmte Joseph zu. „Aber du wirst gleich sehen, warum wir das ziemlich sicher ausschließen konnten.“ Sie betraten ein Büro, das, laut dem Schild neben der Tür, das des Direktors war. Mehrere Fenster deuteten auf den großen Hinterhof hinaus, auf dem es einen weiteren Spielplatz und einen Sportplatz gab, an den Wänden standen Bücherregale und Aktenschränke. Die Leute von der Spurensicherung knieten auf dem Teppichboden, um Beweise zu suchen, einer machte Fotos von dem Raum, der viel zu luxuriös für ein Waisenhaus wirkte. Vor dem großen – teuer wirkenden – Schreibtisch, auf dem neben einem Computer auch allerlei Akten und Dokumente gestapelt waren, lag ein Stuhl auf dem Boden. Darüber hing ein lebloser Frauenkörper, den er im Moment nur von hinten sehen konnte. Sie hatte einen ihrer Schuhe verloren, eine Schlinge um ihren Hals, deren anderes Ende am Ventilator befestigt war, ließ ihren Kopf in einem seltsamen Winkel abstehen. Im ersten Moment sah es wirklich nach einem einfachen Suizid aus. Aber als der Körper der Frau sich drehte, erkannte Cathan zumindest die Anzeichen, wegen denen die Mordkommission auf den Plan gerufen worden war: Ihre Augen waren ausgekratzt worden als hätte jemand mit großer Wut und einem mindestens ebenso großen Messer immer wieder über die obere Hälfte ihres Gesichts geschnitten. Er wusste aber immer noch nicht, weswegen sie gerufen worden waren. Joseph deutete auf die bislang von Cathan unbeachtete Wand neben der Tür. Dort waren Worte an die Tapete geschrieben worden, mit etwas, das im ersten Moment aussah wie rote Farbe. „Ist das Blut?“, fragte Lowe. Joseph nickte, aber über diesen Punkt war Cathan schon lange hinaus, er betrachtete lieber die Worte an sich, die ihn scharf einatmen ließen. Mein Zorn, jenseits aller Grenzen. Jetzt seht ihr, wie es ist, machtlos zu sein. Nur wer sich an meine Regeln hält, überlebt. Und wer mich findet, erhält Gnade. Darunter war ein Symbol, das er nicht entziffern konnte und ihm auch nicht bekannt vorkam, aber es erinnerte ihn an ein asiatisches Schriftzeichen. Zu dumm, dass er keine der dort vorkommenden Sprachen beherrschte. Lowe holte sein Smartphone aus seiner Tasche und machte ein Foto von der Wand an sich und dann noch nur von dem Symbol. Er wirkte dabei mehr wie ein zufällig vorbeikommender Schaulustiger, statt wie ein Ermittler. „Und?“, fragte Joseph. „Denkst du jetzt, dass es der richtige Fall für eure Spezialeinheit ist?“ „Ich hege keinen Zweifel mehr“, antwortete Cathan. „Wir kümmern uns darum.“ Auch wenn er sich fragte, warum ein Dämon ausgerechnet die Sekretärin eines Waisenhaus-Direktors angreifen sollte. Normalerweise töteten sie nur auf Befehl ihres Beschwörers – oder sie brachten denjenigen selbst um, wenn sie ihn nicht als würdig erachteten. Aber die Schrift ließ eher auf die erste Situation schließen. Nun müsste man nur noch herausfinden, warum jemand diese Frau umbringen wollte. „Wir kümmern uns um die Befragungen“, versicherte Cathan. „Gut.“ Josephs Schultern hoben sich ein wenig. „Ich habe lediglich Zeugenaussagen für das Auffinden aufgenommen. Alles andere überlasse ich euch.“ „Geht klar. Die Spurensicherung soll uns einfach alles schicken, wie üblich.“ Nachdem Joseph dem zugestimmt hatte, verabschiedeten sie sich voneinander. Seine Arbeit war vorerst erledigt, die von Cathan und Lowe fing jetzt erst an. Glücklicherweise ist der Fall nicht so brutal wie schon ganz andere Beispiele. Er musste da nur an den besessenen Serienmörder denken, der seine Opfer ausgehöhlt hatte, um mit dem Inneren Zimmer zu dekorieren. Oder der eine Dämon, der bei einer Beschwörung einfach seinen Meister zerfetzt hatte. Nein, das hier war glücklicherweise noch im Rahmen. Aber er fragte sich, was genau ihm die Schrift sagen sollte. „Was hältst du davon?“, hakte Lowe nach. Cathan verschränkte die Arme vor seinem Körper. „Mhm, der Beschwörer scheint eine Agenda mit dem Opfer zu haben. Und anhand des verwendeten Plurals gehe ich davon aus, dass es noch mehr geben wird, wenn wir ihn nicht vorher erwischen.“ „Ich gehe davon aus, dass das bedeutet, wir stehen unter Zeitdruck.“ Cathan nickte grimmig. „Sogar einem sehr großen.“ Nachdem die Spurensicherung fertig und auch die Leiche entfernt worden war, hatten sie das Büro vorerst versiegelt. Cathan und Lowe waren dazu übergegangen, die meisten der Angestellten im Speisesaal zu versammeln. Nur einige Erzieher ließen sie bei den Kindern, damit diese nicht zu viel von dem mitbekamen, was gerade vor sich ging. Aber keiner der Angestellten schien wirklich gern hier zu sein. Keiner wirkte sonderlich bedrückt, vielmehr genervt, dass sie nun eine solche Befragung über sich ergehen lassen mussten. Das half ihm nicht gerade, den Kreis der möglichen Täter zu verkleinern. „Danke, dass Sie alle kommen konnten“, sagte Cathan, als die Augen der Angestellten und des Direktors endlich auf ihm ruhten. „Mein Name ist Cathan Lane, ich bin von einer Spezialeinheit des Cherrygrove Police Departments.“ Um seine Worte zu unterstreichen, hielt er seine Marke hoch, genau wie Lowe, den er auch direkt vorstellte, ehe er fortfuhr: „Wie Sie alle wissen, ist es letzte Nacht in Ihrer Einrichtung zu einem Mord an ...“ – er warf einen kurzen Blick auf seine Notizen – „Ms. Agatha Stoker, der Sekretärin des Direktors, gekommen. Infolge der Ermittlungen möchten wir mit jedem von Ihnen über Ms. Stoker und auch über die Umstände ihres Todes sprechen. Bitte versuchen Sie, sich an alles zu erinnern, was in der letzten Nacht vorgefallen ist, wann Sie Ms. Stoker das letzter Mal gesehen haben und bitte informieren Sie uns auch, wenn Ihnen irgendetwas anderes Ungewöhnliches aufgefallen ist in den letzten Tagen. Jeder von Ihnen wird meine Karte bekommen, damit Sie mich auch jederzeit anrufen können, falls Ihnen erst später etwas einfallen sollte. Vielen Dank.“ Er wartete einen kurzen Moment, aber die Gesichter der Anwesenden waren immer noch finster, was ihn nur verunsicherte. „Gibt es denn noch Fragen?“ „Ja“, meldete sich eine der Erzieherinnen. „Bedeutet das, wir sind auch in Gefahr?“ „Das können wir zu diesem Zeitpunkt leider weder ausschließen noch bejahen. Es wäre durchaus möglich, dass der Mörder auch noch andere Personen in diesem Raum anvisieren wird. Auch deswegen ist es in Ihrem Interesse, uns alles zu sagen, was Sie wissen, damit wir den Täter fangen können, ehe er die Gelegenheit hat, noch mehr anzustellen.“ Allgemeines Murmeln erhob sich unter den Anwesenden, offenbar war jeder von ihnen äußerst kritisch, was diese Sache anging. Cathan konnte es ihnen nicht verübeln, immerhin war nicht jeden Tag ein Mörder in ihrer Umgebung unterwegs – und dann wurde der Fall auch noch von einer Spezialeinheit untersucht, von der man noch nie etwas gehört hatte. Er wäre da auch misstrauisch. „Soll ich einen Witz erzählen?“, fragte Lowe ihn flüsternd. „Um die Atmosphäre aufzulockern?“ Cathan warf ihm einen kurzen Blick zu, der ihm wohl bereits sagte, was er wissen musste, denn er hob entschuldigend die Hände und zog sich sofort ein wenig zurück. „Mein Partner und ich“, fuhr Cathan fort, um das Gemurmel zu übertönen, „werden Sie nun befragen. Danach gehen wir zu den Erziehern, die im Augenblick nicht hier sind. Wir versuchen, es so schnell wie möglich hinter uns zu bringen, damit Sie sich wieder Ihren Aufgaben widmen können.“ Nach weiterem Murmeln teilten Cathan und Lowe die Anwesenden unter sich auf. Während Lowe mit der Köchin zu sprechen begann, damit die Kinder rechtzeitig ihr Essen bekämen, blieb es an Cathan, den Direktor, Gereon Livio, zu befragen. Schon nach wenigen Minuten konnte er aber auf jeden Fall sagen, dass er diesen Mann nicht sonderlich mochte. Etwas an seinem ganzen Verhalten war reichlich … unsympathisch für Cathan. Aber das durfte keinen Unterschied für ihn machen. Im Gegensatz zu Joseph schrieb er nicht auf einem normalen Notizblock, sondern auf einem elektrischen Gerät, das an ein Smartphone erinnerte, aber mit einem Touch-Pen bedient wurde, der wie ein normaler Stift funktionierte. Damit wurden die aufgeschriebenen Informationen direkt ans Hauptquartier weitergeleitet, das sie sofort archivieren konnte, so dass sein Zugriff erleichtert wurde – und er sich Zeit sparte, indem er nicht alles selbst abtippen musste. „Also ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Cathan, nachdem er die grundsätzlichen Dinge, wie Namen und Alter, notiert hatte. „Nein“, antwortete er kurzangebunden, entschied sich dann aber wohl doch anders: „Jedenfalls nichts, was mit Ms. Stoker im Zusammenhang steht.“ „Womit stand es dann im Zusammenhang?“ Livio nestelte an seinen Manschetten. „Es gibt da diesen Jungen, Luan Howe, der reichlich seltsame Anflüge zeigt. Das ganze Personal und selbst die anderen Kinder haben Angst vor ihm.“ Cathan notierte sich das und ließ sich nicht anmerken, dass er sich fragte, was einen Jungen wohl derart unheimlich machen könnte, dass alle hier Angst vor ihm bekamen. „Was genau verstehen Sie darunter? Was tut Luan denn?“ „Er tut gar nichts.“ Livio schnaubte wütend. „Es ist einfach seine ganze Aura. Sie verstünden es, wenn sie ihn kannten.“ Vielleicht sollte er ihn dann wirklich noch aufsuchen. Auch wenn er bezweifelte, dass der Fall wirklich derart leicht werden könnte – aber hoffen durfte man doch. „Haben Ms. Stoker und Luan denn irgendwelche gemeinsamen Berührungspunkten gehabt? Sie war immerhin Ihre Sekretärin, ich nehme nicht an, dass sie dann auch mit den Kindern zu tun hatte.“ „Nicht regelmäßig. Aber manchmal musste sie meine Termine mit den Kindern organisieren.“ Das klang wiederum nach einem guten Direktor, der sich auch Zeit für seine Schützlinge nahm. Aber für Luan empfand er wohl nicht sonderlich viel, denn er rümpfte gleich wieder die Nase. „Sie hat sich oft darüber beklagt, dass er ihr irgendwelche Bilder gebracht hat. Solche, wie Kinder sie oft malen. Aber die von Luan waren … anders.“ Wahrscheinlich ebenfalls unheimlich, ergänzte Cathan für sich selbst. Darauf müsste er auch noch einen Blick werfen. Als er das dem Direktor mitteilte, erwiderte dieser, dass die Bilder in der Schreibtischschublade von Ms. Stoker lägen und er sie auch gern einfach mitnehmen könne. Die weiteren Fragen brachten Cathan keine neuen Erkenntnisse. Livio war Ms. Stoker nicht sonderlich nahegestanden, wusste nichts über ihre Familie oder ihr sonstiges Umfeld, konnte sich aber nicht vorstellen, dass jemand dieser harmlosen, fast unauffälligen Frau grollen könnte. Ähnlich sah es auch bei den anderen Personen aus, die Cathan nach Livio befragte. Selbst die Empfangsdame, Mrs. Martel, die ein wenig mehr Kontakt mit Ms. Stoker gepflegt hatte, berichtete von der Verstorbenen als strenge, aber gerechte Person, die für ihre Enkel Pullover strickte, wenn nichts zu tun gewesen war. Auf und ihrem Schreibtisch hatte Cathan auch lediglich nur Luans Bilder und einige zerlesene billige Krimis entdeckt, die vermutlich schon alt gewesen waren, als sie in ihre Hände übergegangen waren. Keine dunklen Geheimnisse, nicht einmal Anzeichen dafür, auch nichts, was darauf schließen ließ, weswegen sie länger als sonst üblich bei der Arbeit geblieben war. „Aber sie alle kommen immer wieder auf diesen Luan zurück“, bemerkte Lowe, als sie sich nach Beendigung der Befragung zur Nachbesprechung trafen. Da es für die Kinder Zeit zum Abendessen geworden war – sie hatten schon das Mittagessen in ihren Klassenzimmern verbringen müssen – hatten Cathan und Lowe sich in den Innenhof zurückgezogen. Dort saßen sie auf den Schaukeln, die Krägen gegen die Herbstkühle hochgeschlagen, und blickten auf die erleuchteten Fenster des Waisenhauses. „Man könnte meinen, er sei der leibhaftige Teufel“, sagte Cathan. „Als ob wir hier in einer Fortsetzung von Das Omen wären.“ „Jep, und das ist jetzt Damians Sohn.“ Lowe seufzte. „Dabei ist das doch nur ein kleiner Junge. Der ist bestimmt total harmlos.“ „Nicht zwingend. Vielleicht wird er von einem Dämon begleitet.“ „Davon habe ich nichts gemerkt.“ Cathan auch nicht, aber … „Es könnte sein, dass er gut darin ist, sich zu verbergen. Wir sollten morgen mal mit dem Jungen sprechen.“ Es war bereits spät und die Kinder waren mit Sicherheit schon aufgeregt genug. Da wäre es besser, das nicht noch zusätzlich auszureizen, immerhin könnte das den Dämon nur dazu bringen, noch einmal anzugreifen. Es war unwahrscheinlich, dass er direkt zweimal hintereinander angriff, wenn man ihn in Ruhe ließ, derart viel Kraft besaßen die wenigsten Dämonen, besonders wenn man sie ohnehin nicht sofort spüren konnte. Noch dazu waren sie beide nach einem ganzen Tag der Ermittlungen erschöpft, da war es sinnlos, noch weitermachen zu wollen. Außerdem hatte er Granya versprochen, sich um die Wesen zu kümmern, die sich ihrem Haus näherten, deswegen war es wichtig, auch einmal rechtzeitig zu seiner Familie zu kommen. „Dann kommen wir morgen wieder“, sagte Lowe. „Ich hoffe, bis dahin wurde auch das Symbol analysiert, dann wissen wir vielleicht, womit wir es zu tun haben.“ Cathan gab ein zustimmendes Geräusch von sich und öffnete die Mappe, in der sich Luans Bilder befanden. Ms. Stoke hatte sie fein säuberlich darin gesammelt, und Luan war nett genug gewesen, auf jedes einzelne das Datum zu schreiben, damit man auch eine bestimmte Reihenfolge beim Betrachten einhalten konnte. Aber auf den ersten Blick sah er darin keinen Unterschied zu jenen Kinderbildern, die Kieran manchmal malte – abgesehen davon, dass die von Luan wesentlich besser aussahen. Allerdings wurde es auch schon dunkel, weswegen ihm die Details verwehrt blieben. Er müsste sich das zu Hause bei mehr Licht und weniger Kälte ansehen. Also schloss er die Mappe wieder und erhob sich von der Schaukel. „Fahren wir heim, für heute haben wir genug getan.“ Lowe stand wesentlich enthusiastischer auf, aber an seinen leicht verzögerten Bewegungen erkannte Cathan, dass auch er eigentlich müde war. Wirklich zum Essen gekommen waren sie auch noch nicht, keine guten Voraussetzungen für die Arbeit. „Morgen bin ich dann wieder mit Fahren dran“, sagte Lowe, während sie zu dem Weg gingen, der vor das Waisenhaus führte. „Ich denke, ich hole uns dann erst einmal einen starken Kaffee, bevor ich zu dir komme. Ich kenne da diesen tollen Laden, in dem kriegst du Karamellsirup ...“ Lowes Stimme, als er über dieses Geschäft zu reden begann, wurde zu einem Hintergrundrauschen, als Cathan plötzlich ein eisiges Schauern überfiel. Ohne innezuhalten, ließ er den Blick zum Gebäude schweifen. Im oberen Stockwerk, wo sich die Zimmer der Kinder befanden, glaubte er, jemandem am Fenster stehen zu sehen. Aber die Person verschwand, als sie seinen Blick bemerkte, bevor er sie genauer mustern konnte. Lediglich, dass es ein Kind war, das sich eigentlich gerade im Speisesaal befinden sollte, konnte er erkennen. Schulterzuckend wandte er sich auch wieder ab. „Ein Kaffee wird dringend notwendig sein.“ Kapitel 3: Ich werde dich niemals enttäuschen. ---------------------------------------------- Nur wenig später hatte Cathan seinen Bruder nach Hause gebracht und war dann selbst heimgekehrt. Es war bereits stockdunkel, als er endlich ankam, die Straße war vollkommen leer, abgesehen von den geparkten Autos – und natürlich von ihm. Er fragte sich, ob es an der Kälte oder der Dunkelheit selbst lag, dass niemand sich um diese Zeit draußen aufhielt. Oder sie spürten doch noch etwas anderes. Etwas Finsteres, das nach ihnen griff und sie zu verschlingen versuchte. Dunkle Monster, wie Kieran sie zu nennen pflegte, taten so etwas. Sie wurden nicht beschworen, sie existierten einfach, ohne dass es sich jemand erklären konnte. Ehe Cathan sein Haus betrat, blickte er sich suchend um. Nirgends war ein Dämon oder auch nur ein Schatten von einem solchen zu sehen. Auch als sein Blick zu den Nachbarhäusern schweifte, konnte er nichts entdecken, was ihm verdächtig vorkommen müsste. Zu spüren war ebenfalls nichts. Aber er glaubte nicht, dass Kieran oder Granya logen, sie waren beide vernünftig und vertrauten ihm, deswegen konnte er sicher davon ausgehen, dass sie die Wahrheit sagten. Vielleicht waren sie auch nur in der heutigen Nacht nicht hier. Da er jedoch im Moment nichts sehen oder spüren konnte, gab es keinen Grund für ihn, noch länger draußen zu bleiben und dem kühlen Wind ausgesetzt zu sein. Deswegen ging er lieber hinein und ging einfach davon aus, dass es den Monstern ebenfalls zu kalt geworden war. Cathan hielt erst einmal inne, als die Haustür hinter ihm zufiel und hob schnuppernd die Nase in die Luft. Es roch nach Pizza, aber keiner selbstgemachten – bei Granyas Kochkünsten wäre es nur noch ein rauchendes Stück Kohle – sondern einer vom Lieferservice. Er legte Marke und Trenchcoat ab, warf auf dem Weg ins Esszimmer einen Blick in die verlassene – und vor allem saubere – Küche und fand Granya und Kieran dann am Esstisch mit einer Pizzaschachtel zwischen ihnen. Als Kieran ihn im Türrahmen entdeckte, ließ er das Pizzastück in seiner Hand auf den Teller fallen, sprang auf und umarmte ihn mit einem begeisterten „Papa!“-Ausruf. Cathan hob ihn lachend hoch und wirbelte sich mit ihm einmal um die eigene Achse, damit er Kierans Lachen hören konnte. Dann setzte er sich mit ihm auf einen Stuhl am Tisch, wo sein Sohn auf seinem Schoß verblieb. Die Mappe mit Luans Bildern legte er auf dem Tisch ab. „Du bist heute früh zurück“, stellte Granya lächelnd fest, nachdem sie ihn begrüßt hatte, und reichte ihm auch ein Stück Pizza, Kieran bekam sein eigenes von ihr zurück. „Ja, die Befragungen haben so geendet, dass es sich nicht lohnte, noch mehr zu ermitteln. Die Kinder brauchen ein wenig Ruhe.“ „Kinder?“, hakte Granya mit zusammengezogenen Brauen nach. „Wo war dein Einsatz denn?“ In knappen Worten erzählte er ihr, dass der neueste Fall – welcher Natur er genau war, ließ er aus Rücksicht auf Kieran aus – ihn ins Livio Waisenhaus geführt hatte. „Ich habe den ganzen Tag mit dem Direktor und Erziehern und anderen Angestellten gesprochen.“ Auch ohne zu wissen, worum genau es ging, zeigte Granyas Gesicht ernsthafte Besorgnis. Er wusste allein anhand dessen bereits, dass sie später noch mehr Fragen stellen würde. Aber im Moment konzentrierte er sich lieber auf sein wohlverdientes Essen. Kieran kaute ebenfalls, sah dabei aber zur Seite hinüber, wo er die Mappe entdeckte. „Was ist da drin, Papa?“ „Ein paar Bilder, die ein Junge aus dem Waisenhaus gemalt hat.“ „Darf ich sie mir ansehen?“ Cathan war geneigt, es ihm zu verbieten, immerhin waren das Beweismittel in einem Mordfall. Aber er hatte sie auch schon gesehen – wenn auch nur oberflächlich – und wusste daher, dass nichts Schlimmes darauf zu sehen war. Außerdem könnte Kieran mit seinem unvoreingenommen Kinderblick etwas entdecken, das Cathan möglicherweise entging. „Sicher“, sagte er und zog die Mappe heran, dann klappte er sie auf. „Aber sei vorsichtig damit, die Bilder muss ich wieder zurückbringen.“ Während Kieran sich in die Bilder vertiefte, bemerkte Cathan Granyas kritischen Blick, den er mit einem Kopfschütteln entkräften konnte. Als ob er ihm je etwas gezeigt hätte, das sich gefährlich auf seine Entwicklung oder sein Seelenheil auswirken könnte. Cathan aß weiter und blickte über Kierans Kopf hinweg auf die Bilder. Sie waren eindeutig von einem begabten Kind gezeichnet, nicht so stümperhaft wie seine eigenen Werke in diesem Alter. Sie zeigten meistens ein Gebäude, das entfernt an ein Waisenhaus erinnerte, dazu viele Kinder davor und auch den ein oder anderen Angestellten. Cathan konnte manche sogar zuordnen. Was ihn allerdings ein wenig beunruhigte, war die Tatsache, dass ein braunhaariges Kind immer etwas abseits von den anderen stand. Als einziges auf den Bildern lächelte es auch nicht, sondern schien eher traurig zu sein. Cathan fiel dabei auf, dass Kieran dieses Kind immer am längsten und intensivsten betrachtete. Außerdem bemerkte er aber auch, dass jedes Bild ein wenig düsterer von den Farben wurde. Waren sie beim ersten noch bunt und grell, so wurden sie mit jedem weiteren immer matter und gedeckter, als legte man einen altertümlichen Filter darüber. Erst nachdem Cathan sein Pizzastück gegessen und Kieran ebenfalls zu essen ermahnt hatte, deutete er bei dem aktuellen Bild auf den einsamen Jungen. „Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich denke, das ist Luan.“ Das passte jedenfalls zu den Außenseiter-Geschichten, die ihm von den Angestellten erzählt worden waren. Es war bedrückend, sich anzusehen, wie er von Bild zu Bild trauriger wurde und wie die anderen gleichzeitig immer glücklich blieben. Ein neunjähriges Kind sollte nicht so sein. „Warum ist da immer ein dunkles Monster hinter Luan?“ „Was?“ Kieran deutete auf einen Punkt hinter Luan, genauer gesagt auf seine Schulter. Cathan musste das Blatt in die Hand nehmen und es bis knapp vor seine Augen halten – vielleicht benötigte er wirklich eine Brille – um zu erkennen, was sein Sohn meinte: An Luans Schulter, kaum wahrnehmbar, war wirklich etwas zu sehen, das wie ein Schatten aussah – ein Schatten mit rot glühenden Augen. Es war aber so klein, dass es ihm ohne Kieran wahrscheinlich nie aufgefallen wäre. „Also?“, beharrte sein Sohn auch gleich auf seine Frage. „Warum ist da ein Monster?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete Cathan. „Aber ich werde mich morgen auf jeden Fall darum kümmern.“ Er hoffte, dass die Befragung von Luan wirklich zu neuen Erkenntnissen führte, denn bislang hatten sie absolut keinen Hinweis, abseits des Zeichens und auf das allein wollte Cathan sich nicht verlassen. Die Chancen standen gut, dass es sich nur um die Form des Wesens handelte, aber nicht den Beschwörer, den sie aber finden müssten, wenn sie das alles aufhalten wollten. Kieran wandte den Kopf ein wenig, damit er ihn ansehen könnte. „Sagst du Luan dann Grüße von mir?“ „Aber du kennst ihn doch gar nicht“, sagte Cathan verwundert. „Egal. Niemand sollte ganz allein sein müssen, besonders nicht, wenn ein dunkles Monster hinter ihm steht.“ „Du hast Kieran wirklich gut erzogen.“ Cathan sah Granya überrascht an, als sie das plötzlich sagte. Das Abendessen war schon wieder einige Stunden her, Kieran war bereits im Bett und sie saßen zusammen auf dem Sofa und sahen sich die Wiederholung irgendeines drittklassigen Films an, für den sich eigentlich keiner von ihnen so recht interessierte. Aber so spät am Abend, kurz bevor er selbst ins Bett ging, wollte er nicht noch etwas sonderlich Anspruchsvolles ansehen. Sie wollten einfach nur zusammen sein. „Was meinst du?“, hakte er nach. Ihr Blick blieb unablässig auf den Bildschirm gerichtet, dabei war Cathan überzeugt, dass sie auch nicht wusste, worum es eigentlich gerade ging. Dennoch antwortete sie: „Na, er möchte sogar, dass du einem ihm unbekannten Jungen grüßt, weil er nicht allein sein soll. Was sollte es sonst sein als gute Erziehung?“ „Die er aber bestimmt nicht von mir hat. Er sieht mich doch kaum.“ Leider. Eigentlich wäre es ihm anders auch lieber. So hatte er stets den Eindruck, viel zu viel von seinem eigenen Sohn und dessen Entwicklung zu verpassen. Aber solange der Notstand bei den einsatzfähigen Leuten blieb, musste er jeden Tag arbeiten. Granya störte sich nicht an seiner Erwiderung. „Er bewundert dich sehr. Irgendwann wird er bestimmt auch ein Teil dieser Einheit.“ Die Tonlage ihrer Stimme änderte sich nicht, aber er wusste dennoch, dass sie davon nicht angetan war. Nicht nur, weil sie schon oft darüber gesprochen hatten, sondern auch weil er seine Frau gut genug kannte, um das zu bewerten. „Du weißt, dass diese Arbeit wichtig ist“, sagte er leise. „Nicht jeder kann in diese Spezialeinheit – und wir brauchen jeden, den wir bekommen können.“ Endlich wandte sie den Blick vom Fernseher ab, um ihn anzulächeln, aber es war kein herzliches Lächeln, sondern jenes aufgesetzte, das sie nur allzugern zeigte, wenn sie nicht streiten wollte, aber seine Meinung nicht der ihren entsprach. „Das ist in Ordnung. Ich habe ja noch einige Jahre, um mich daran zu gewöhnen, bis er wirklich beitreten darf.“ Das Eintrittsalter betrug 16 Jahre, dann gab es erst einmal eine zweijährige Ausbildung. Es würde also noch neun Jahre dauern, bis Kieran einen ersten, ernsthaften Einsatz durchführen dürfte, mit einer dienstälteren Person natürlich. „Nicht ganz“, widersprach sie, nachdem er diesen Gedanken geäußert hatte. „Es sind nur noch acht Jahre, zwei Monate und elf Tage.“ „Du denkst wirklich viel darüber nach, hm?“ Sie hob die Schultern ein wenig, ihr Lächeln änderte sich um eine Nuance, die eine Entschuldigung andeuten sollte. „Er ist immerhin mein Sohn. Natürlich mache ich mir da Sorgen.“ Er legte seine Hand auf ihre, in der Hoffnung, sie damit beruhigen zu können. „Es wird schon alles gut werden. Kieran ist ein guter Junge und wenn er jetzt schon derart empfänglich ist, dann ist er auch ein sehr begabter. Mit ein wenig Fleiß wird er einer der besten der Truppe.“ „Ich hoffe es. Ich will doch nur, dass ihr beide sicher bleibt.“ Cathan lehnte sich ein wenig zu ihr hinüber und legte einen Arm um ihre Schultern, damit er sie an sich drücken konnte. „Keiner von uns wird dich je verlassen, Granya, das verspreche ich dir.“ Zuerst sträubte sie sich gegen seine Nähe, wurde nach wenigen Sekunden aber bereits ruhiger und schmiegte sich auch an sie. „Ich verlasse mich darauf, Cath. Wehe, du enttäuschst mich.“ Ihre Drohung war schwach, aber das wusste sie wohl selbst, deswegen lachte er nicht, er schmunzelte nicht einmal, denn er verstand durchaus, dass es ihre pure Verzweiflung war, die da aus ihr sprach. Er und Kieran waren der Grund für ihre Existenz geworden – wenn sie verschwanden, gab es auch keinen Grund mehr für sie zu leben. Aber es gab noch mehr Gründe, Kieran zu beschützen. Immerhin liebte Cathan seinen Sohn ebenfalls, was sich nie ändern würde, nicht einmal wenn die Pubertät ihm auch nur halb so übel mitspielte, wie damals Cathan selbst. „Ich werde dich niemals enttäuschen, Granya.“ Solange er atmete, würde er immer zu ihr zurückkehren – und auch sicherstellen, dass Kieran wieder heimkehrte. Kapitel 4: Warum ist es auf jedem deiner Bilder? ------------------------------------------------ „Meinst du, sie wird sich wirklich daran gewöhnen?“, fragte Lowe am nächsten Morgen im Wagen. Wie angekündigt war er vor dem Abholen seines Bruders in einem Coffee Shop gewesen, sein Becher befand sich in einer Halterung an seinem Armaturenbrett, damit er die Hände frei hatte zum Fahren. Lediglich an Ampeln griff er wieder danach. Cathan nutzte seinen Kaffee hauptsächlich, um sich daran die Hände zu wärmen. Obwohl die Heizung lief, kam es ihm vor als verfolge ihn die Kälte von draußen. Auf seinem Schoß lag die Mappe mit Luans Bildern. Nach genauerer Betrachtung hatte er festgestellt, dass dieser Schatten hinter dem Jungen noch auf anderen Bildern zu sehen war – und er wollte Luan heute danach fragen, was es damit auf sich hatte. „Ich weiß es nicht“, antwortete er schließlich. „Aber ich sollte endlich überlegen, wie ich es Parthalan erklären soll, wenn sie sich nicht daran gewöhnt.“ Ihr Vizeanführer wäre sicher nicht erfreut darüber, zu erfahren, dass ein potentielles neues Mitglied nicht anfangen könnte, weil seine Mutter es verbot. Besonders wenn dieses Mitglied so vielversprechend war wie Kieran. „Kennst du eigentlich die Gerüchte, dass Parthalan unwillige Mitglieder einfach entführen und einer Gehirnwäsche aussetzen lässt?“ „Das ist doch Schwachsinn.“ Cathan sah zu Lowe hinüber. „Wer verbreitet diese Gerüchte denn?“ „Irgendjemand auf dem Revier“, antwortete sein Bruder schulterzuckend. „Ich war neulich dort, weil Joseph an einem Tatort was gefunden hatte, das mir gehört.“ Auf derartige Gerüchte, ausgesprochen von Leuten, die sie möglicherweise nicht einmal kannten, gab Cathan nicht sonderlich viel. Wenn Menschen etwas nicht verstehen und es vielleicht sogar fürchten, neigen sie dazu, unheimliche Gerüchte zu streuen, um ihre eigene Angst und ihre Skepsis zu erklären. „Was denkst denn du, wie Parthalan auf so etwas reagiert?“, hakte Lowe nach. Cathan nahm einen Schluck seines Kaffees, um die Antwort ein wenig hinauszuzögern. Ihr Vize war eine sehr enigmatische Figur, nicht einfach zu durchschauen, und seine Maxime konnte wohl nur er selbst verstehen. Aber … „Ich glaube jedenfalls nicht, dass er Leute entführt, um ihnen eine Gehirnwäsche zu verpassen.“ Das passte einfach nicht zu ihm. Das bedeutete natürlich nicht, dass es vollkommen ausgeschlossen war, aber Cathan konnte es nicht glauben. „Dann hoffe ich das auch einfach mal für Kieran~“, sagte Lowe vergnügt. „Wäre sonst sehr schade, wenn man ihm eine neue Identität gibt.“ Er wollte nicht über dieses Thema sprechen, deswegen nahm er einen Schluck Kaffee und lenkte das Gespräch in eine neue Richtung: „Hat die Zeichenanalyse eigentlich etwas ergeben?“ „Ah ja, klar!“ Lowe begann zu strahlen. „Tatsächlich habe ich vorhin einen Anruf von Era bekommen. Sie sagte, es wäre ein tibetisches Zeichen gewesen, das so viel wie Gedankenform bedeutet. Weißt du, was das bedeutet?“ Cathan legte seufzend den Kopf in den Nacken. „Das heißt, unser Feind ist eine Tulpa.“ Es gab kaum etwas, das er mehr hasste. Okay, doch, es gab vieles, das er mehr hasste, aber Tulpa standen fraglos ganz weit oben auf seiner Liste. Sie waren keine Dämonen, wurden nicht aus irgendwelchen anderen Reichen beschworen, stattdessen wurden sie von menschlichen Gedanken erschaffen, solange diese nur konzentriert genug waren. In ihrem Fall bedeutete dies, dass der Verursacher einfach jeder sein könnte. Wollte man einen Dämonen beschwören, musste man Vorarbeit leisten, die selten unentdeckt blieb. Im Falle einer Tulpa benötigte man nichts dergleichen, weswegen man den Kreis nicht mittels Indizien einengen konnte. „Ich finde das okay“, sagte Lowe. „Tulpas sind immer eine ganz besondere Herausforderung.“ „Wir sind nicht hier, um Herausforderungen zu erleben, sondern um Menschen zu helfen.“ Lowe lachte ein wenig verlegen, schwieg dann aber den Rest des Weges. Cathan trank den restlichen Kaffee, während sie durch das Viertel fuhren, in dem das Waisenhaus stand. Die Wärme des Getränks verteilte sich in seinem Inneren, verschwand aber auch mindestens genauso schnell wieder, wie sie in ihn eingeflossen war, fast als wäre sein Körper in Wahrheit wesentlich größer als es ihm vorkam. Lowe parkte den Wagen wieder an derselben Stelle wie den Tag zuvor. Heute war allerdings kein Absperrband der Polizei zu sehen, von außen wirkte wieder alles vollkommen normal. „Hast du heute eigentlich die Zeitung gelesen?“, fragte Lowe, als sie das Gartentor passierten. „Ich neige dazu, sie nicht zu lesen, also nein.“ Wozu benötigte er auch Printmedien, wenn er Nachrichten auch über entsprechende Apps auf sein Smartphone bekam? Die waren auch viel aktueller. „Da steht kein Wort über diese Sache drin“, fuhr Lowe fort. „Wie auch immer sie das geschafft haben, aber dieses Mal war es Joseph und den anderen echt möglich, das hier geheimzuhalten. Großartig, oder?“ Normalerweise, da musste Cathan ihm recht geben, stand immer viel zu viel über ihre Ermittlungen in den Schlagzeilen. Es fehlte eigentlich nur noch, dass sie öffentlich die Existenz dieser Dämonen und Monster zugaben – und Cathan wollte keine Welt erleben, in der das wirklich geschah. Aber er war überzeugt, dass es irgendwo in den Weiten des Internets mindestens einen Blog gab, der über sie und alles andere berichtete, was damit zusammenhing. Der Eingangsbereich des Waisenhauses sah genau wie der Vorgarten wieder vollkommen normal aus. Mrs. Martel, die Rezeptionistin, sah die beiden über ihre Brille hinweg skeptisch an. Ihre Brillengläser waren nicht rund oder oval, sondern rautenförmig, was es zu einem seltsamen Anblick machte, da man es nicht im Mindesten gewohnt war. Ihr vermutlich einstmals rotes Haar ergraute langsam und nahm eher die Farbe von Orangen an, aber ihr Gesicht war überraschend frei von Falten, wenn man von den Gräben an ihren Mundwinkeln und ihren Augen absah. Immerhin bedeutete es, dass sie gern lachte. „Da sind Sie ja wieder“, sagte sie zu ihnen, ohne jede Begrüßung. „Was möchten Sie denn noch?“ „Wir haben gestern mit den Angestellten gesprochen“, erklärte Cathan sein Anliegen, „heute sind wir wegen Luan hier.“ Sie runzelte missbilligend ihre Stirn als sei allein die Erwähnung seines Namens schon ein schlechtes Omen. „Warten Sie hier.“ Sie zog das altertümlich wirkende Telefon näher zu sich heran, nahm den Hörer ab und betätigte eine Kurzwahltaste. Irgendwo im Haus konnte Cathan das Klingeln eines anderen Telefons hören, das allerdings nicht lange anhielt. Im selben Moment, in dem es verstummte, begann Mrs. Martel zu sprechen: „Ja, Faye, hier ist Margaret. Die beiden von der Spezialeinheit sind wieder da und wollen mit Luan sprechen. Mh-hm, gut, bis gleich.“ Sie legte wieder auf und sah die Zwillinge an. „Setzen Sie sich bitte, es dauert einen Moment, bis meine Kollegin kommt, um Sie zu Luan zu bringen.“ Dabei verwies sie auf die bunten Stühle, die gegenüber der Rezeption standen. Cathan und Lowe folgten dieser Anweisung und setzten sich. Schweigend beobachte Cathan, wie Mrs. Martel sich wieder an ihre Arbeit machte. Immer wieder warf sie einen Blick zu ihnen als wolle sie die beiden bei irgendetwas ertappen, das nicht erlaubt wäre. Dank Lowe hielt das Schweigen aber nicht sonderlich lange an: „Was glaubst du, wie ist dieser Luan so drauf?“ Er fragte nur flüsternd, was Cathan gut verstehen konnte. Niemand wollte, dass Mrs. Martel auf dieses Thema aufmerksam wurde. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, er ist ein sehr, sehr einsamer Junger.“ Vielleicht sogar begründet, aber noch wollte er das nicht glauben. Erst wollte er sich selbst ein Bild von ihm machen, dann entschied er. Die restliche Wartezeit verbrachte Lowe damit, an seinem Handy wieder Nachrichten für seine Frau und seine Söhne zu tippen, damit sie wussten, wie es ihm ging. Nicht, dass sie sich Sorgen machten, sie vertrauten auf seine Kraft – aber er war eben sehr mitteilungsbedürftig. Cathan fühlte nicht das Verlangen, irgendwem zu schreiben, deswegen beobachtete er seinen Bruder einfach nur dabei, wie dieser lächelnd, in einer rasenden Geschwindigkeit, Nachrichten zustandebrachte. Es dauerte nicht lange, bis schließlich eine Erzieherin die Treppe herabkam und sie lächelnd begrüßte. Cathan erinnerte sich noch gut vom Vortag an sie. Faye Hollins war eine der jüngeren Erzieherinnen und erst seit etwa zwei Jahren im Waisenhaus beschäftigt. Ihr braunes Haar war stets zu einem Pferdeschwanz gebunden, den sie über ihre Schulter auf ihre Brust hängen ließ. Ihre gold-braunen Augen schienen immer mit einer inneren Freude zu leuchten, die sich keinem von ihnen beiden – sie hatten darüber geredet – wirklich erschloss. „Sie wollen also mit Luan reden?“, hakte sie noch einmal nach. „Sind Sie sich da sicher?“ Gab es wirklich absolut niemanden in diesem Heim, der nicht etwas an Luan auszusetzen hatte? Das erweckte aber noch mehr Cathans Interesse an diesem Jungen. Deswegen nickte er nur, als Lowe die Frage bejahte: „Wir ermitteln hier in einem wichtigen Fall, da sollten wir doch alle Verdächtigen unter die Lupe nehmen, oder?“ Faye stimmte dem lächelnd zu, aber es war deutlich, dass es sie dennoch nicht freute, sie zu Luan bringen zu müssen – dabei sollte sie nicht einmal bei ihnen bleiben während dieses Verhörs. Sie führte sie die erste Treppe hinauf. Bunte Kinderbilder, gemalt von den verschiedensten Händen waren hier an den Wänden angebracht worden. Aber keines davon erinnerte ihn auch nur annähernd an jene, die Luan gemalt hatte. Sie säumten die Wände, bis sie schließlich rechts abbogen, wo die Bilder abrupt stoppten. Fayes Schritte verloren ihre ihnen bis dahin innewohnende Sicherheit und verlangsamten sich. Sie erinnerten mehr an mechanische Bewegungen, denen man sich nicht zu widersetzen wusste. „Geht es hier zum Schlafsaal der Kinder?“, fragte Lowe. „Nein. Luan schläft nicht mehr bei den anderen. Sie sagen, sie bekämen Albträumen, wenn sie im selben Raum schlafen müssten. Also haben wir ihn in ein anderes Zimmer verlegt.“ Cathan war verwundert über diesen offenen Akt der Grausamkeit, der sie nicht einmal mit einem schlechten Gewissen zu erfüllen schien. Vielleicht betrachtete sie das aber auch als reinen Schutz für die anderen Kinder. „Und ihr hattet zufällig ein freies Zimmer übrig?“, hakte er nach. „Nicht direkt.“ Sie hob die Schultern ein wenig. „Vor kurzem haben wir ein anderes Mädchen darin untergebracht, Willow Triggs. Sie war nicht sonderlich sozial und machte immer Probleme, während sie bei den anderen im Schlafsaal war. Sie ließ kaum jemanden wirklich schlafen. Also haben wir sie in diesem Raum untergebracht.“ Cathan notierte sich diesen Namen auf dem dafür bereitgestellten Gerät, wartete aber noch, diesen an das Hauptquartier zu senden. Dafür war Zeit, wenn er die Befragung hinter sich hatte, dann könnte Era auch direkt mehr über Luan herausfinden, wenn das nötig wäre. „Wo ist Willow jetzt?“, fragte er. Faye seufzte betroffen. „Sie ist weggelaufen. Wir konnten sie noch nicht wiederfinden, die Polizei ebenfalls nicht. Es ist tragisch, wenn man bedenkt, was einem jungen Mädchen so alles da draußen passieren könnte.“ Cathan notierte sich das ebenfalls, schaffte es aber, sich selbst davon abzuhalten, sie darauf hinzuweisen, was einem so alles hier drin geschehen könnte, wenn man den Vorfall bedachte, wegen dem sie überhaupt hier waren. Vor einer schmucklosen, einfachen Holztür blieb Faye schließlich wieder stehen. „Das hier ist es. Wenn Sie fertig sind, melden Sie sich bitte wieder bei der Rezeption ab.“ Ehe einer von ihnen etwas erwidern konnte, fuhr sie bereits herum und lief eilig wieder davon. „Sie scheinen echt Angst vor ihm zu haben.“ Lowe runzelte die Stirn. „Ich frage mich, weswegen“, ergänzte Cathan, während er ihr hinterhersah. Am besten erfuhr er das aber selbst, indem er endlich den Jungen hinter diesen Bildern kennen lernte. Nachdem er geklopft und eine leise Aufforderung zum Eintreten bekommen hatte, öffnete er die Tür und betrat gemeinsam mit Lowe das Zimmer. Es war ein spärlich eingerichteter Raum, der kaum als Kinderzimmer zu fungieren schien. Abseits eines einfachen Bettes, eines Schranks und eines Schreibtischs gab es nur noch mehrere Bilder an den Wänden, die von einem begabten Kind gemalt worden waren. Cathan erkannte sie sofort als jene von Luan wieder. Auf einem abgewetzten Teppich, der schon längst jede Farbe verloren hatte und nur noch grau-schwarz war, nachdem er vermutlich derart viel Schmutz in sich aufgenommen hatte, saß ein kleiner Junge, geschätzt etwa neun Jahre, so wie Kieran. Er schien gerade dabei zu sein, mit abgelegten alten Wachsmalstiften ein Bild zu malen, sah aber dennoch auf, als sie eintraten. Seine großen grünen Augen blickten so unschuldig, dass Cathan ihn am liebsten sofort umarmt und hier hinausgetragen hätte. Aber sie waren aus professionellen Gründen hier, nicht um Kinder zu adoptieren. Außerdem, rief er sich selbst zur Ordnung, gab es auch die Möglichkeit, dass es sich bei ihm um einen Dämon handelte, der sich nur derart unschuldig gab. „Hallo, Luan“, grüßte er den Jungen, kniete sich vor ihn und zog seinen Ausweis aus seiner Tasche, um diesen vorzuzeigen. Neugierig betrachtete Luan ihn, musterte dann den ebenfalls knienden Lowe. „Geht es um Ms. Stoker?“, fragte der Junge kaum hörbar. Cathan und Lowe warfen sich einen kurzen Blick zu. Hatte man den Kindern erzählt, dass es zu einem Mord gekommen war? Falls ja, warum? Man hätte das auch wesentlich schonender an die Kinder weiterreichen können. „Weißt du denn etwas darüber?“, hakte Cathan nach. Luan schüttelte den Kopf. Es wirkte eigenartig schüchtern, als traute er sich eigentlich gar nicht, diese Frage zu verneinen. „In Ordnung.“ Cathan steckte seinen Ausweis wieder ein. „Mochtest du Ms. Stoker?“ „Ja. Sie hatte Angst vor mir, so wie alle anderen, aber sie war trotzdem immer nett.“ „Tust du denn etwas, wegen dem sie Angst bekommen könnten?“ Luan senkte den Blick und schüttelte wieder den Kopf. „Nein. Aber alle sagen, ich bin unheimlich, also müssen sie doch recht haben.“ Da war sich Cathan nicht so sicher. Im Moment spürte er auch nichts, was ihm zu denken geben müsste. Aber vielleicht war es einfach zu schwach, um für seine Sinne wahrnehmbar zu sein. „Hast du in letzter Zeit etwas Eigenartiges im Waisenhaus bemerkt? Egal worum es sich handelt, wir suchen gerade nach allen Vorfällen.“ Für einen kurzen Moment sah es so aus, als blicke Luan nach oben, als gäbe es da jemanden, der ihm helfen könnte, aber da war niemand. Lowe kam dadurch aber offenbar auf eine Idee, denn er stand auf und zog eine Kamera hervor. „Darf ich ein paar Fotos von deinem Zimmer machen? Die Bilder sehen echt toll aus.“ Luan nickte schüchtern, er lächelte aufgeregt. Mit seiner Erlaubnis begann Lowe, die Wände zu fotografieren. In unterschiedlichen Abständen war immer wieder das Klicken des Apparats zu hören, aber Cathan blendete es erst einmal aus. „Also Luan, ist dir wirklich nichts aufgefallen? Etwas Unheimliches vielleicht? Was dir Angst eingeflößt hat?“ „Ich habe jede Nacht Angst“, sagte Luan. „Aber nur weil es dann so dunkel ist.“ Auf diese Weise käme er vermutlich nicht weiter. Viele Menschen fürchten sich vor der Dunkelheit, obwohl sie nicht sehen können, was sich darin verbirgt, also durfte er sich nicht nur darauf beschränken. Deswegen öffnete er die Mappe mit den Bildern und zeigte Luan eines. Der Junge erkannte sie, wurde direkt verlegen. „Wo haben Sie das her?“ „Ich habe sie aus Ms. Stokes Schreibtisch, der Direktor hat es mir erlaubt.“ Das Gesicht des Jungen begann sofort zu strahlen. „Sie hat meine Bilder aufgehoben?“ „Sieht ganz danach aus, ich habe noch einige davon in der Mappe. Du bist wirklich begabt.“ Diese Aussage machte Luan direkt wieder verlegen, er bedankte sich leise. „Aber kannst du mir eine Sache erklären? Mein Sohn, er ist ungefähr so alt wie du, hat sich die Bilder angesehen und dabei etwas festgestellt.“ Cathan deutete auf den rot-äugigen Schatten. „Was ist das? Warum ist es auf jedem deiner Bilder?“ Sämtliche Farbe wich aus Luans Gesicht. „Oh … das ...“ Er wusste nichts zu sagen oder er hatte zu viel Angst. Sein väterlicher Instinkt wollte Cathan dazu bewegen, ihn zu beruhigen und in den Arm zu nehmen, aber er musste professionell bleiben. „Du kannst es mir verraten, dir wird auch nichts geschehen, versprochen.“ Diese Worte waren wohl alles, was es brauchte, denn plötzlich platzte es aus Luan heraus: „Das ist ein Geist! Er ist hier, in diesem Waisenhaus, aber keiner kann ihn sehen, nur ich.“ Also doch, es gab eine Art Dämon oder eine Tulpa hier. Es war nur eigenartig, dass keine der anderen Personen dieses Wesen auch sehen konnte. Er glaubte jedenfalls nicht, dass Luan sich das nur einbildete, dafür erschien ihm die Angst des Jungen zu greifbar. „Hast du jemandem mal davon erzählt?“ „Ja, aber keiner glaubt mir. Sie sagen, ich will nur Aufmerksamkeit. Oder dass ich nur eine viel zu große Fantasie habe. Dabei weiß ich, dass er da ist.“ „Gibt es Orte, wo du ihn besonders oft siehst?“ Luan deutete ein Kopfschütteln an. „Nein, er ist überall. Und er macht mir Angst. Ich glaube, er will uns alle töten, weil wir irgendetwas ganz Böses getan haben.“ „Was hältst du von dieser ganzen Sache?“, fragte Lowe, als sie gemeinsam zum Auto zurückkehrten. „Glaubst du, Luan hat etwas mit der Tulpa zu tun?“ Eigentlich konnte Cathan sich nach dem kleinen Verhör nicht sicher sein, aber dennoch musste er seinem Bauchgefühl Ausdruck verleihen: „Ich glaube nicht. Er hat definitiv Angst vor diesem Schatten, also hat er nichts mit ihm zu tun. Außerdem will er nur geliebt werden, ich kann mir nicht vorstellen, dass er derart viel Hass aufbringen könnte, um eine Tulpa zu erschaffen.“ „So kam er mir auch vor. Aber ich schicke Era mal die Fotos, vielleicht kann sie mehr damit anfangen als ich.“ „Dann ist dir nichts auf ihnen aufgefallen?“ Lowe schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe einen kurzen Blick darauf geworfen, aber mir ist nichts aufgefallen. Era ist da doch ein bisschen besser und erfahrener.“ Kein Wunder, sie machte das schließlich bereits seit unzähligen Jahren. „Ich mache mir aber Sorgen über das, was Luan am Schluss gesagt hat.“ Lowe schloss die Türen des Autos auf. „Meinst du, dass der Dämon sie alle töten will?“ Cathan nickte. „Richtig. Wer könnte einen derartigen Hass auf ein Waisenhaus entwickeln, um etwas Derartiges anzurichten?“ „Das ist es, was wir herausfinden müssen.“ Lowe öffnete die Fahrertür. „Und ich denke, wir sollten uns damit echt beeilen, was?“ Cathan öffnete die Beifahrertür und stieg ins Auto. Dabei stimmte er Lowes Aussage zu und hoffte gleichzeitig, dass Luans Vorhersage nicht eintreffen würde. Da ahnte er noch nicht einmal, dass er am nächsten Tag von einem neuen Todesopfer im Waisenhaus hören sollte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)