Finn Fynn und der Teufel von yazumi-chan ================================================================================ Kapitel 1 --------- Der Teufel war ein Crossdresser. Es war nur eine der Überraschungen, die mich nach einem schnellem Fall und einer langen Wartezeit vor den Toren der Hölle erwartete – und mit Sicherheit nicht die Schockierenste, wie ich bald feststellen sollte. Ich kratzte mich im Nacken, wo der Aufprall auf Beton mein Genick gebrochen hatte, und wartete geduldig. Der Teufel war eine viel beschäftigte Persönlichkeit. Seiner Arbeit nachzugehen, schien eine der niedrig priorisierten Tätigkeiten zu sein und verübeln konnte ich es ihm nicht. Wer kümmerte sich schon gerne um jammernde Tote? Vor mir heulte ein kleines Mädchen. Sie kniete auf dem karierten Hallenboden und umklammerte ihre dünnen Beine. Genervt begutachtete ich ihren Hinterkopf. Sie war mit Abstand die jüngste in der Schlange. Der Anteil alter Knacker übertraf sogar den der Sonntagsmesse um 9:00 Uhr, was ich auf die allmähliche Befreiung der Jugend vom kirchlichen Dogma zurückführte. Ich selbst hatte mich schon lange von Religion, Gott und allen anderen 2000 Jahre alten Märchengeschichten abgewandt. Und zu Recht. In der Bibel stand schließlich nichts von Ex-Engeln in Frauenkleidern. Das hysterische Schluchzen erinnerte mich sehr an Amelia, kurz bevor sie mich verlassen hatte. „Du kannst überhaupt nicht lieben, oder?!“, hatte sie geschrien, bevor sie die Tür meines Apartments mit einem Knall zuschlug und mich allein in meinem Arbeitszimmer zurückließ. Endlich ist sie weg, hatte ich gedacht. „Nächster!“, krächzte der Teufel und die Schlange bewegte sich ein Stück nach vorne. Ich reckte den Hals, um zu sehen, wohin er die letzte Person geschickt hatte, aber außer dem Teufel, der in schwarzen Pumps und Cocktailkleid auf dem Schreibtisch saß und mit einem goldenen Kugelschreiber auf ein Klemmbrett kritzelte, konnte ich niemanden sehen. „Nächster!“, wiederholte sein Helfer, ein drolliges Baby mit Haut so rot wie eine Paprika, das in schwarzem Anzug neben dem Schreibtisch stand und seine Sonnenbrille zurechtrückte. Gut. Das Ding war auch noch da. Dann wiederum reichte es kaum über den Tisch und ich fühlte mich nicht genötigt, den roten Gnom als vollwertige Person zu zählen. Nur noch zwei andere Tote trennten mich von meinem Schicksal, was immer es sein mochte. Das kleine Mädchen und ein gebrechlicher Mann, der schlotternd einen Fuß vor den anderen setzte, über seine Füße stolperte und vor dem Teufel auf die Knie fiel. „Räudiges Pack“, sagte der Teufel. „Vier! Nächster!“ „Vier. Nächster!“, rief der Babymann und drückte einen von zahlreichen Knöpfen auf der Fernbedienung in seinen speckigen Händen. Eine Falltür öffnete sich und der alte Mann verschwand schreiend im Fußboden. Ich schluckte. Vom Fallen hatte ich für's Erste genug. Warum war ich auch auf dem Balkon rauchen gegangen? Ich ging nie auf den Balkon. Nie! Der Teufel studierte seine schwarz lackierten Fingernägel, während die Kleine geduldig vor ihm wartete, schniefend und weinend. Schließlich wandte er sich ihr zu und ließ seine pechschwarzen Augen flüchtig über sie streifen. „Tamara, oder?“, fragte er. „Bah, was soll ich mit sowas? Schick sie hoch. Nächster!“ „Hoch. Nächster!“, intonierte das Baby und drückte einen Knopf. Tamara kreischte, als die Decke sich über ihr öffnete und sie in die Höhe fiel, so als hätte die Schwerkraft sich umgekehrt. Himmel und Hölle also. Ich hatte keinen Zweifel, wohin er mich schicken würde. Amelies wutverzerrtes Gesicht flackerte vor meinem geistigen Auge auf, bevor es durch die gelangweilte, tiefrote Fratze des Teufels ersetzt wurde, die mich träge ansah. Ich machte einen Schritt nach vorne. „Gestatten, Fynn“, stellte ich mich vor. Wenn ich die Ewigkeit in Folter und Leiden verbringen musste, konnte ich genauso gut einen guten ersten Eindruck beim Chef machen. Man wusste schließlich nie, wie sich die Dinge entwickelten. Der Teufel sah mich lange ausdruckslos an. „Sie mir in die Augen“, sagte er und ich tat es. Die Pupillen verliefen waagerecht, wie die einer Ziege, und schienen mich zu verschlingen. „Sehe ich aus, als interessiere mich dein Name, Finn?“ „Fynn“, sagte ich. „Mit Ypsilon.“ „Fynn?“ Ich nickte. „Finn Fynn.“ Der Teufel gluckste und für einen Moment glaubte ich, ihn für mich gewonnen zu haben. Dann verlor sein Gesicht jeden Ausdruck. „Elf. Nächster!“ Die plärrende Stimme von Babymann. Ein Knopfdruck. Ich fiel.   XXX   „Wer war das?“, fragte Amelie, an meinen Massivholzschrank gelehnt, eine perfekt manikürte Hand in gespieltem Desinteresse vor sich erhoben. „Niemand“, wiederholte ich und fuhr mit meinem Report fort. Ich saß an meinem Schreibtisch und tippte mit flinken Fingern einen Paragraphen nach dem anderen in das Word-Dokument. Amelies nervtötende Fragen halfen meiner Konzentration nicht gerade auf die Sprünge. „Ihr wirktet sehr vertraut“, fuhr sie ungerührt fort und ich pausierte einen Moment. Amelie sah von ihren Fingernägeln auf. Was fand sie an diesen eckigen Monstern? „Ihr Name ist Juliette“, sagte ich und hob den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. „Sie arbeitet in dem Büro neben mir, bringt mir Kaffee, wirft meinen Müll raus und hat mich dreimal nach Sex gefragt.“ „Was?“ Amelies perfekte Maske der Gleichgültigkeit verrutschte und sie ließ ihre Hand sinken. „Und davon erzählst du mir nichts?“ „Natürlich nicht.“ Ich wandte mich ab und nahm die Arbeit an meinem Report wieder auf. „Du wirst nur wieder hysterisch.“ Ich musste ihr Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass sie schmollte. Ich mochte ihren Mund. Am meisten, wenn er geschlossen war. Außer zu besonderen Anlässen, versteht sich. Ich schmunzelte und tippte weiter. „Und?“ Ich seufzte. „Und was?“ „Hast du mit ihr geschlafen?“ „Wenn ich das getan hätte, würde ich es dir ganz sicher nicht erzählen, Amelie. Nein, habe ich nicht.“ „Also hast du.“ „Nein.“ „Du lügst.“ Pause. „Schau mich gefälligst an!“ Ich sah auf. Ihre Augen glänzten feucht. „Hast du mit diesem Flittchen geschlafen?“ „Nein. Ich habe nicht mit Juliette geschlafen, auch wenn ihr Po schöner ist als deiner und sie weniger Drama bedeuten würde.“ Ich ließ eine Sekunde des nachdenklichen Schweigens verstreichen, bevor ich fortfuhr. „Wenn ich so darüber nachdenke, gehe ich beim nächsten Mal vielleicht auf ihr Angebot ein.“ Amelies Mund öffnete sich, fassungslos. „Das meinst du nicht ernst.“ „Amelie“, sagte ich müde. "So gerne ich mit dir streite, ich muss diesen Report fertig schreiben, wenn du dich also bitte aus meinem Arbeitszimmer begeben würdest?" Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Zimmer. Ich hörte ein Splittern, als eine meiner Vasen von ihr zu Boden gerissen wurde, dann das Klack Klack ihrer Pumps. „Du bist ein Arschloch, Fynn, ein riesengroßes Arschloch!“, rief sie mir aus dem Flur entgegen. „Mach mit dieser Juliette, was du willst, ich verschwinde! Ich bin raus hier, hörst du? Du siehst mich nie wieder!“ Ich legte meine Finger auf die Tastatur, bewegungslos. „Amelie…“, begann ich, doch sie unterbrach mich, bevor ich weitersprechen konnte. „Du bist ein unsensibles, emotionsloses Stück Dreck, Fynn.“ „Dann geh“, sagte ich entnervt und wandte mich wieder meinem Laptop zu. „Du kannst überhaupt nicht lieben, oder?“, schrie sie noch, bevor die Tür zu meinem Apartment hinter ihr ins Schloss fiel. Ich seufzte. Endlich ist sie weg.   XXX   Elf. Ebene elf. Stockwerk elf. Höllenlevel Nummer 11. Ich lag auf dem Rücken wie ein Käfer und bemühte mich, würdevoll auszusehen. Über mir war ein schwarzer Schacht, der durch das rote Deckengewölbe brach und so lang war, dass ich sein Ende nicht einmal erahnen konnte. "Was machst'n du hier?" Ich reckte mein Kinn nach oben, um hinter mich sehen zu können. Zwei gigantische Nasenlöcher ragten kopfüber in mein Sichtfeld. Ich schloss die Augen. Was immer mich in der Hölle erwartete, mit Nasenlöchern hatte ich nicht gerechnet. "Hey ja, Boss, ist das'n Toter? Is' der tot?" "Natürlich is' der tot, Gremlin, das is'n verdammter Toter, sonst wär der doch nich' hier!" "Och, stimmt ja. Tut mir leid, Boss." Ich wartete auf die unendlichen Qualen, die mich sicherlich bald heimsuchen würden. Die Nasenlöcher hatten mich aus dem Konzept gebracht, aber ich befand mich immer noch in der Hölle. Ich hatte höchstpersönlich mit dem Leiter dieser ganzen Einrichtung gesprochen. Wo blieben die Schmerzen? "Boss, der bewegt sich nich'. Warum bewegt der sich nich', Boss?" "Mann, Mann, Mann, Gremlin, du Nichtsnutz, verdammter. Was is'n dein Job hier, he?" "Och, stimmt ja, Boss, hab' ich ganz vergessen." Etwas Spitzes piekte in meine Seite. Ich öffnete meine Augen und drehte den Kopf in Richtung des Schmerzes. Ein Babygnom, feuerrot und mit einer Nase so groß wie die Faust, die um den Griff der Heugabel geklammert war. Argwöhnisch stach er in meine Seite. Als er meinen Blick bemerkte, ließ er das Gerät fallen und sprang einen guten Meter zurück. "Es lebt, Boss, ich glaub, es lebt." "Natürlich lebt's, Gremlin, sonst wär der doch nich' hier!" Verdattert schaute der Gnom namens Gremlin über mich hinweg zu seinem Boss, der auf meiner anderen Seite auftauchte. Er war größer, womit ich sagen will, er war einen Fingerbreit größer als sein unterbelichteter Kollege und stützte sich auf eine zweite Heugabel. "Rutsch weg da, jetzt", sagte er zu mir. "Mach Platz, sonst fällt einer von den anderen auf dich drauf." Das erregte meine Aufmerksamkeit. Ich war Geschäftsmann. Und von einem anderen Toten erschlagen zu werden, klang nicht nach der Art Geschäft, in die ich investierte. Ich rollte zur Seite und stand auf. Während ich noch damit beschäftigt war, meinen Anzug abzuklopfen, um den Staub loszuwerden, dackelte Gremlin zu seinem Boss, hielt sich eine Hand vor den Mund und flüsterte etwas in dessen großes, rotes Ohr. Dass ich jedes Wort verstehen konnte, schien ihn nicht weiter zu beunruhigen. "Das is' der erste hier seit langem, oder, Boss? Is' der gefährlich? Die kommen hier runter, die Gefährlichen, oder? Mann, Boss, ich hab Schiss glaub ich, richtig Schiss, oh Mann, oh Mann." "Jetzt mach dir nich' gleich die Windeln voll, Gremlin, das is' ja widerwärtig, is' das ja." "Ja, aber Boss…" "Wenn der was will, dann hab ich hier meine Heugabel un' pieks ihn, dass er sich wundern tut, jawohl!" "Is' gut Boss, ich pieks ihn dann, das is' gut, Boss." Ich räusperte mich. Als ich mir der ungeteilten Aufmerksamkeit der beiden roten Babygnome sicher war, setzte ich mein geschäftlichstes Lächeln auf. "Gentlemen", begann ich. "Erhalte ich eine Einweisung, bevor Sie mich in Ewigkeit hier unten schmoren lassen oder darf ich gehen?" Gremlin sah mich verständnislos an, bis er den Sinn hinter meinen Worten verstand. "Boss", sagte er. "Kriegt der 'ne Einweisung?" "Natürlich kriegt der die, Gremlin, das is' unser verdammter Job, is' das." "Stimmt ja, Boss, stimmt ja. Hab ich ganz vergessen." Man sollte meinen, mit zurückgebliebenen Menschen, oder in diesem Fall, Gnomen, zu diskutieren, würde einem die Arbeit erleichtern. Weit gefehlt. "Lass mich das machen, Gremlin, ich weiß, wie man mit dem Menschenpack umspringt, hab ich oft genug gemacht, hab ich das." "Bitte", sagte ich. "Ich bestehe darauf." "Hör zu, Finn Fynn", sagte er und mit einem Mal klang seine Stimme nicht mehr wie die eines debilen Großvaters, sondern geschäftlich. Ich mochte geschäftlich. Mit Geschäftsmännern ließ sich besser verhandeln als mit senilen Rentnern. Dass er meinen Spitznamen kannte, gab mir jedoch zu bedenken. Er wusste mehr, als er sollte. "Die Hölle hat vierzehn Level. Du befindest dich auf Level Nummer elf, gemäß deines Boshaftigkeitsmarkers. Du bist frei, dich auf diesem Level zu bewegen. Du bist frei, die Ewigkeit, die dich erwartet, selbst zu gestalten. Es ist dir verboten, diesen Level ohne Erlaubnis zu verlassen." "Das klingt zu gut. Wo ist der Haken?" "Die Art, wie du deinen Tod bestreitest, wird vom Teufel bewertet. Er kann dich Level auf- und abstufen, wie es ihm beliebt. Und wenn du auf Level vierzehn ankommst, kommst du nie wieder hoch." "Level vierzehn?", fragte ich spöttisch. "Was ist an Level vierzehn so besonders?" Der Boss grinste ein gespenstisches Lächeln und zum ersten Mal fiel mir auf, wie furchterregend die beiden Gnome eigentlich aussahen. Ihre Sprache hatte meine Sinne vernebelt, aber jetzt sah ich die wulstigen, mit Muskeln bepackten Arme und Beine, die gefeilten Zähne, die pupillenlosen, schwarzen Augen. Die Hörner, die sich aus ihren Schläfen wanden und der Länge ihres Kopfes folgten. Der Boss schnalzte mit der Zunge und lächelte mich an. "Auf Level vierzehn wartet die wahre Hölle auf dich, Finn Fynn."   XXX   Ich wollte eine rauchen. Amelies Worte verfolgten mich, wenn auch nur deshalb, weil sie so laut geschrien hatte und ich den Klang ihrer Stimme nicht aus meinem Kopf verbannen konnte. Nicht einmal die geschmacklosen MILF-Pornos gestern Nacht hatten ihre Stimme vertreiben können. Ich hasste es, nicht Herr meiner Gedanken zu sein. Und wenn ich nicht Herr meiner Gedanken war, dann rauchte ich eine. Ich speicherte meine Datei, sicherte sie doppelt ab und schloss meinen Laptop. Als ich aufstand, entdecke ich Juliette, die mit einem Stapel Dokumente an meiner Tür vorbeiging und mir zulächelte. Ich nahm mir eine Sekunde Zeit, ihre endlosen Beine und den prallen Hintern zu würdigen, zog eine Zigarettenschachtel aus meiner obersten Schublade und steckte sie in meine Hosentasche. Auf dem Weg nach draußen lief ich in Darren, meinen Boss und Ex-Lover von der guten Juliette, die mir sehr schnell nach dem Ende ihrer alten Beziehung ihr Bett angeboten hatte. Ich war angetan gewesen, das konnte ich nicht bestreiten, aber meine Beziehung zu Amelie hatte mich abgehalten. Dreimal war ich ihrer Versuchung entgangen. Ich plante, sie beim vierten Mal vollends auszukosten. "Darren", begrüßte ich ihn und blieb stehen. "Wie lief das Meeting?" "Du weißt, wie es lief, Fynn, alter Junge." Er lachte und klopfte mir auf die Schulter. "Gehst du eine rauchen? Ich komm mit, warte kurz." Am liebsten wäre ich gegangen, aber Darren war mein Boss und dank Juliettes Angeboten, die kein Geheimnis waren, konnte ich mich glücklich schätzen, nicht wegen einer umgeworfenen Kaffeetasse oder ähnlichem banalen Grund gefeuert worden zu sein. Als Darren zurückkam, nahm er mich am Arm und zog mich mit der Bestimmtheit, die ihm seine Stellung gesichert hatte, nach oben. Der Balkon hing in einer Häuserecke, vierzehn Stockwerke über der Straße. Der einzige Reiz war die Aussicht an einem nicht bewölkten Tag, aber der Wind war mit Auspuffgasen geschwängert und das hektische Hupen und Quietschen zu schnell beschleunigender Reifen nahm mir jede Aussicht auf Entspannung. Ich ließ Darren meine Zigarette anzünden und lehnte mich dann über das schmale Plexiglasgeländer. Der Himmel war weiß. Zu viele Abgase in diesem Teil der Stadt. Als Raucher sollte ich mich nicht über verpestete Luft beschweren, aber wen kümmerte das schon. Es war das Zeitalter der ständigen Beschwerden, meine fielen nicht weiter ins Gewicht. Ich atmete eine Rauchwolke aus und genoss den Moment der Ruhe. Darren war ungewöhnlich still und Amelies nervtötende Stimme in meinem Kopf war zu einem Sirren im Hintergrund mutiert, das ich mit etwas Anstrengung aus meinen Gedanken fernhielt. Etwas Hartes stieß in meinen Rücken und ich spürte, wie ich vornüber kippte, wie mein Schwerpunkt über die Brüstung wanderte. Wie in Zeitlupe wurde mir bewusst, dass die Straße sehr weit entfernt war und ich sehr weit oben. Ich ruderte mit den Armen, doch mein Gewicht, unterstützt von der Schwerkraft, zog mich nach unten. Darrens Stimme drang an mein Ohr, kurz, bevor ich endgültig nach vorne kippte. "Niemand stiehlt meine Juliette", sagte er und ich wollte ihn anschreien, dass ich nicht mal mit ihr geschlafen hatte, dass es nicht meine Schuld war. Aber ich schrie nicht. Ich fiel und ich schrie nicht, spürte nur, wie der Wind gegen mein Gesicht drückte, fester, immer fester, wie ich schneller wurde und dass der Boden unaufhaltsam näher kam. Der Aufprall war ein lautes Knacken, wie ein Hähnchen, dessen Brustbein man bricht, gefolgt von einem kurzen, scharfen Schmerz und Schwarz. Diagnose: Gebrochenes Genick. Zertrümmerter Schädel. Frakturen in mehr als zwanzig weiteren Knochen. Ich war tot. Kapitel 2 --------- Jetzt, wo ich in mein neues Höllenleben eingewiesen war, hielt ich es für angemessen, mein zukünftiges Zuhause gebührend zu erkunden. Level elf, so stellte ich fest, war eine rote, steinerne Wüste mit einem Loch in der Mitte. Besagtes Loch war eben jenes, durch das ich wenige Stunden zuvor gefallen war und anders als zuvor führte es tiefer in die unteren Level. Ich war auf einer Steinplatte gelandet, die Boss und Gremlin rechtzeitig über die gähnende Leere geschoben hatten. Woher sie die Information bekamen, wann es zu öffnen oder zu schließen war, blieb mir genauso ein Rätsel wie ihr Wissen um meinen Namen. Dann wiederum war ich im Reich des Teufels. Ich sollte mich weniger von diesen Dingen überraschen lassen. Abgesehen von dem Loch erinnerte mich Level elf an ein Kaff in Ägypten oder einen anderen dieser Sandstaaten. Eckige Steinhäuser bedeckten jeden freien Zentimeter, türmten sich bis an die Decke oder hingen an den Wänden, die den Level in einem Radius von wenigstens… mindestens… Ich hatte keine Ahnung. Viele Kilometer. Genug, dass ich es in meiner mehrstündigen Reise durch das Teufelskaff nicht schaffte, den Wänden gefühlt auch nur ein Stück näher zu kommen. Vielleicht gab es kein Ende. Vielleicht waren die Wände nur Illusionen und ich war geradewegs in ihre Falle getappt. Die Unterkünfte waren unbewacht. Es gab keine schließenden Türen, keine Fenster, keine Sicherheitsmaßnahmen. Und wenn doch mal jemand fiel, was häufiger vorkam, als ich gedacht hätte, dann hallte ein Schrei durch die roten Gewölbe, gefolgt von einem lauten Krach, einer gigantischen Staubwolke und dem immer wieder beliebten Nichts passiert. Ich verglich den Level mit einer Wüste, doch diese Beobachtung war nicht sehr akkurat. Wüsten sind verlassen. Man kann die Einsamkeit förmlich schmecken. Hier? Überall Tote. Männer, Frauen, jung, alt, hässlich wie die Nacht und schöner als jedes Model. Es gab sie alle. Und ich war einer von ihnen. Einer von vielen. Es war nicht schlecht, einer von vielen zu sein. Dem Strom folgen war solide. Aber solide reichte nicht, um groß rauszukommen. Und ich wollte groß rauskommen. Nach meiner Einweisung hatte ich lange Zeit darüber nachgedacht, was den Teufel positiv stimmen würde. Wollte er Besserung sehen? Oder unterstütze er sündiges Verhalten? War Originalität gefragt oder wollte er blinden Gehorsam? Ich war gut darin, Menschen einzuschätzen, doch die Motivation des Teufels entzog sich mir. Ich wusste nicht, was er wollte. Ich wusste nur, was ich wollte. Und das war, nicht auf Level 14 degradiert zu werden. Völlig in Gedanken versunken merkte ich erst, spät, wohin meine Beine mich trugen. Ich war wieder bei dem Loch. Gremlin und sein Boss lagen schnarchend einige Meter entfernt auf der Steinplatte, die sehr schwer aussah und noch schwerer war. Ihre Bäuche ragten wie kleine Hügel in die Höhe. Ich setzte mich an den Rand, ließ meine Beine baumeln und schaute hinab. Der Schacht war so geschnitten, dass ich nur das Loch von Level 12 erkennen konnte. Das Ende war nichts als ein winzig kleiner, orangeroter Fleck. "Buh!" Zwei Hände griffen meine Schultern und drückten mich abrupt vorwärts, sodass ich halb über dem Loch hing. Als die Hände mich wieder zurückzogen, war ich schweißgebadet. "Du solltest hier nicht so sitzen", sagte eine Stimme hinter mir. Die Hände ließen mich los. "Ein Fall durch das Tor ist ein direktes Ticket zu Level 14. Du wärst nicht der erste, der reinfällt oder reingeschubst wird." Ich rutschte von dem Loch zurück und drehte mich um. Eine junge Frau, um die dreißig und in nichts als pinker Reizwäsche gekleidet, stand vor mir. Sie war nicht so schlank wie Amelie und ihre Beine waren kein Vergleich zu Juliettes langen Stelzen, aber keine der beiden Frauen hatte mir Glück gebracht und ihre Andersartigkeit tat erfrischend gut. Als ich nicht antwortete, wurde ihr erfreuter Gesichtsausdruck ernster. "Habe ich dich sehr erschreckt?“, fragte sie besorgt. „Tut mir leid. Ich wollte nur sicher gehen, dass du gewarnt bist, bevor jemand dich wirklich schubst." "Du bist nicht aus diesem Level, oder?", fragte ich. Sie war zu gutmütig. Wie sie überhaupt in der Hölle gelandet war, war mir ein Rätsel. "Charmeur", sagte sie lachend und verschränkte die Arme unter ihren vollen Brüsten. "Ich komme aus Level drei." "Der Teufel scheint dich nicht zu mögen." "Nein, wohl eher nicht." Sie reichte mir eine Hand. "Ich bin Natalie." "Fynn." "Finn?" "Fynn. Mit Ypsilon." "Finn Fynn?" Ich verzog das Gesicht. Sie lachte. "Tut mir leid." Sie sah nicht aus, als täte es ihr leid. Ich ließ mich von ihr hochziehen, zumindest ergriff ich ihre Hand. Aufstehen konnte ich selbst. "Warum bist du in Dessous?", fragte ich, einerseits aus Neugier, andererseits um zu sehen, ob ich sie in Verlegenheit bringen konnte. Natalie zupfte an ihrem BH-Träger. "Ich bin so gestorben", sagte sie. "Am Anfang war es mir sehr peinlich, aber man gewöhnt sich an die Blicke und es gibt genug Tote, die ihre Ewigkeit nackt verbringen müssen, es hätte mich also schlimmer treffen können." "Immerhin sind es Dessous", stimmte ich zu. "Stell dir vor, es wäre die löchrige Unterhose deiner Großmutter gewesen." "Ugh, du Schwein!", rief sie und schlug mir gegen die Brust. Es war nicht unangenehm. "Darf ich fragen, wie du gestorben bist?", fragte ich, als wir uns auf den Weg zurück in die Stadt machten. Nun wurde sie doch rot. "Es ist eine sehr peinliche Geschichte." "Ich will sie hören", sagte ich. "Mein Mann hatte mir von seinem Geschäftsauftrag in Afrika eine antike Statue mitgebracht", begann sie. "Ein ziemliches großes, schweres Ding aus Metall. Ich fand es so hübsch, dass wir es neben unser Bett stellten." "Oh nein", sagte ich, als mir der Rest klar wurde. "Ich weiß nicht, was genau passierte, aber sie fiel mir nachts auf den Kopf und weg war ich." Sie lachte wieder. "Es war furchtbar, als ich herkam. Wegen so etwas Dummem zu sterben kam mir so sinnlos vor. Aber das ist lange her. Jetzt ist es wie eine dieser peinlichen Geschichten aus der Grundschule. Eine unterhaltsame Anekdote." Sie schwelgte einen Moment in Erinnerungen, bevor sie mich erwartungsvoll ansah. "Und wie bist du gestorben? Oh, aber das ist erst kürzlich geschehen, oder? Ist es noch zu frisch?" "Nein." Ich dachte an meine letzten Momente. "Ein eifersüchtiger Ex-Freund hat mich von einem Balkon gestoßen. Und ich habe nicht mal mit ihr geschlafen." "Ah, das ist bitter. So hat jeder sein Päckchen zu tragen." Eine Weile schwiegen wir. "Was macht man hier unten so?", fragte ich schließlich. "Es erscheint mir ziemlich öde bisher.“ "Oh ja, sehr." Natalie nickte heftig, ergriff meinen Arm und zog mich zu einem der Steinhäuser. Es war leer. "Wir essen nicht, wir schlafen nicht, es gibt sehr wenig zu tun, es sei denn, man hat ein Projekt." "Ein Projekt?", fragte ich, während ich ihr in das Haus folgte. "Eine langwierige Arbeit, die dein Ansehen beim Teufel steigern soll und dich beschäftigt." Ich kniff die Augen zusammen. "Was ist dein Projekt?" Sie lächelte und ließ sich rückwärts auf den Boden sinken, die Beine leicht gespreizt. "Ich", sagte sie und sah mir in die Augen, "sammle Männer." "Das ist ein… interessantes Projekt", gab ich zu. "Ich wäre gerne behilflich." "Oh, das glaube ich dir aufs Wort." Sie zwinkerte mir zu und lehnte sich ein wenig zurück. Die Perspektive gefiel mir. Ich ging auf sie zu und zwischen ihren geöffneten Beinen auf die Knie. Bevor meine Hände sie berühren konnten, klappte sie jedoch wie Scheren zu und fingen meinen Arm zwischen ihren Schenkeln. "Ich bekomme das Gefühl, dass du Männer anders sammelst, als ich mir wünsche", sagte ich. Natalie warf mir einen Kussmund zu, formte mit ihren Fingern eine Kamera und machte ein Knips-Geräusch. Sie ließ meinen Arm los und setzte sich mit geschlossenen Beinen vor mich. Ich seufzte. „Eingesammelt“, verkündete sie mit einem schelmischen Gesichtsausdruck. „Ich verstehe“, sagte ich. „Du sammelst bittere Enttäuschungen.“ Sie lachte. „Nicht ganz.“ „Was dann?“ „Erinnerungen von Männern, die mit mir schlafen würden“, sagte sie und strich eine tiefbraune Locke hinter ihr Ohr. „Aber bisher hat es den Teufel nicht beeindruckt.“ „Vielleicht erwartet er, dass du tatsächlich mit den Männern schläfst“, schlug ich vor. Ihre weichen Rundungen hatten es mir angetan. „Dann werde ich wohl bald in der wahren Hölle landen“, sagte sie und schnitt eine Grimasse. „Warum wechselst du nicht dein Projekt?“ Sie seufzte. „Vielleicht sollte ich das tatsächlich tun. Aber nun zu dir. Was wird dein Projekt?“ Die Bewegung ihrer vollen Lippen ließ meine Gedanken in interessante Bahnen gleiten. „Du erscheinst mir wie ein Mann mit einem Plan.“ Ein Mann mit einem Plan, so so. Ich konnte nicht behaupten, bereits so weit gedacht zu haben und zugegebenermaßen trug Natalie nicht unwesentlich zu der Ablenkung bei. Ich lächelte ihr gewinnend zu und erhob mich. „Was hältst du davon, mich einigen deiner Bekannten vorzustellen und vielleicht weihe ich dich als Gegenleistung in meinen Plan ein.“ „Oh, du“, lachte sie und hielt mir eine Hand hin. Ich zog sie mühelos hoch und etwas näher an mich, als nötig gewesen wäre. Ihr heißer Atem streifte meinen Hals, bevor sie sich räusperte und einen Schritt zurückmachte. „Dann komm“, sagte sie, ergriff mein Handgelenk und zog mich hinter sich aus dem Haus. Ich konnte mir wesentlich unangenehmere Situationen vorstellen.   XXX   Der Sportunterricht hatte schon begonnen, doch ich hielt mich unauffällig im Hintergrund der Umkleide. Kai warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte in Richtung der Toilette. Er grinste und verschwand wortlos nach draußen. Statt mich eines großen Geschäfts zu entledigen, wie Kai sicher annahm, horchte ich, ob jemand im Gang vorbeiging. Vielversprechende Stille begrüßte mich, nur unterbrochen von fernen Rufen aus der Turnhalle. Ich steuerte auf Marcs Schultasche zu, in der er seine neue Uhr verstaut hatte. Sein Vater hatte sie ihm aus den Vereinigten Staaten mitgebracht und kaum ein Tag verging, an dem Marc sie nicht stolz jedem präsentierte, der eine Sekunde zu lang auf sein Handgelenk starrte. Das allein war Grund genug, ihm eins auszuwischen, doch ich hatte noch eine andere Motivation für mein Vorhaben. Die Uhr lag glatt und feingliedrig in meiner Hand. Das Metall war noch warm. Ich ließ das Accessoire durch meine Finger gleiten, drehte mich um und versteckte die Uhr sorgfältig in Kais Rucksack, tief in der Seitentasche, von der ich wusste, dass er sie so gut wie nie benutzte. Zufrieden lächelnd verließ ich die Umkleide. Zeit, die Klasse ein bisschen aufzumischen. Im Gang erwartete mich bereits Nora, ihres Zeichens amtierende Klassensprecherin und moralischer Plagegeist. „Hey!“, rief sie und lief mit wippendem Pferdeschwanz auf mich zu. Ohne ihre Brille musste sie die Augen leicht zusammenkneifen, bevor sie nahe genug war, um mich scharf zu sehen. Ich schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Was Mädchen im zarten Alter von fünfzehn anging, war sie erschreckend normal, wenn man normal mit unscheinbar und langweilig gleichsetzte. Aber Nora war verlässlich und durch ihre neutrale Position bei niemandem unbeliebt; es war nicht klug, zu offensichtlich gegen sie vorzugehen. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, sagte ich und folgte Nora in die Turnhalle. „Ich hatte Bauchkrämpfe.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Geht es dir wieder besser oder soll ich mit dir zu Frau Heller gehen?“ „Es geht, danke.“ Sie zupfte nervös an dem Ende ihres Pferdeschwanzes und warf mir einen kurzen Seitenblick zu, als sie glaubte, ich schaue gerade nicht hin. Natürlich hatte ich ihr absichtlich die Gelegenheit gegeben, mich unbemerkt zu beobachten. Nora war seit der siebten Klasse hoffnungslos in mich verliebt, eine Tatsache, die ich in den vergangenen Jahren subtil unterstützt hatte. Bislang waren ihre verschämten Blicke allenfalls Grund zur Erheiterung gewesen, doch in diesem Schuljahr wusste ich genau, wie ich mir ihre Gefühle zu nutzen machen würde. Die Wahl zum Klassensprecher stand bevor. Ich hatte vor, sie zu gewinnen.   XXX   "Ich würde wirklich gerne eine rauchen", stellte ich Natalie gegenüber fest, mit der ich durch die rote Wüste stiefelte. Der Sand war in meine Lederschuhe vorgedrungen und knirschte unangenehm zwischen meinen Zehen. "Das ist ungesund!", rief sie entsetzt. Ich hob lediglich eine Augenbraue. "Gut, schön, ich gebe zu, dass es nicht das beste Argument ist –" "Wie wäre es mit gar kein Argument?", schlug ich vor. "Auch wenn meine letzte Zigarette mir wirklich das Genick gebrochen hat, wenn ich jetzt so darüber nachdenke." "Siehst du", stimmte Natalie fröhlich zu. "Außerdem gibt es hier keine Zigaretten. Auch keinen Alkohol oder andere Drogen." Ich seufzte theatralisch. Wir stapften weiter. Ich fiel stetig zurück, zum einen, um Natalies Hintern zu bewundern, zum anderen, weil ich die Toten um mich herum in Augenschein nehmen wollte. Ein alter Mann mit Glatze und einem Unterhemd, dessen graue Farbe seinem Bart Konkurrenz machte, saß im Schneidersitz vor einer halb zerfallenen Steinhütte und unterrichtete drei Knirpse im Pfeifen. Er schien nur mäßigen Erfolg zu haben, wenn ich die fliegende Spucke und das feuchte Pusten seiner Schützlinge als Anhaltspunkt nahm. Zu meiner Rechten entdeckte ich eine fette Frau mittleren Alters, BMI 40+, die allem Anschein nach Hampelmänner machte. Das Bild ihrer auf und ab hüpfenden Hängebrüste drohte, mir für immer die Lust an Sex zu nehmen, war jedoch gleichzeitig so hypnotisierend, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. Glücklicherweise tauchte in dem Moment Natalie in meinem Sichtfeld auf, die mich besorgt musterte. "Was machst du da?", fragte sie neugierig, bevor ihre Augen sich in einem Anflug von Vorfreude weiteten. "Hat es mit deinem Projekt zu tun?" "Was macht sie da?", konterte ich. "Wenn ihr Projekt darin besteht, meine Augen auszubrennen, ist sie zumindest sehr erfolgreich." Natalie schielte in die Häusergasse, zuckte zusammen und sah mich tadelnd an. "Sie trainiert", sagte sie. "Emma hat sich vorgenommen, ihre Versäumnisse aus dem Leben nachzuholen. Und sie ist sehr nett." "Ihre Nettigkeit habe ich nie angezweifelt", murmelte ich, beließ es aber dabei, bevor Natalie mir ernsthaft böse werden konnte und zog sie weiter. Je länger wir ziellos durch die Hölle schlenderten, umso sicherer war ich mir. Keiner hier unten hatte die geringste Ahnung, was der Teufel von uns wollte. Sicher, sie alle mühten sich ab. Die einen benutzten Manöver, die ich bei Lebenden als selbstmörderisch eingestuft hätte, andere krempelten ihr Leben um und wieder andere verhielten sich ihrem Boshaftigkeitsmarker entsprechend. Zwei Jungen hatten separat versucht, mich zu überfallen, was in beiden Fällen damit endete, dass entweder jemand an meiner Krawatte zerrte oder versuchte, mir zwanghaft die Schuhe auszuziehen. Die Krawatte hatte ich retten können. Nur in Socken und mit hochgekrempelten Hosenbeinen stapfte ich alleine zurück Richtung Loch. Ich wusste nicht ganz, weshalb, doch es zog mich immer wieder dorthin. Vielleicht war ich auf meine alten Tage sentimental geworden. Vielleicht wünschte ich mir auch einfach eine Unterhaltung mit jemandem, der besser Bescheid wusste, als ich. Selbst, wenn die betreffenden Parteien in ihrer Intelligenz höchstens meinen Frühstückscornflakes Konkurrenz machten. Seufzend lockerte ich meine Krawatte. Manchmal musste man für den Erfolg eben Opfer bringen. Ich war erleichtert, Gremlin und Boss so vorzufinden, wie ich sie verlassen hatte. Schnarchend und die runden Bäuche in die Höhe gereckt, die Heugabeln gerade so außer Reichweite. Von dem Schlafrhythmus der beiden Gnome zu schließen, erwartete Level Elf kein baldiger Zuwachs. Sollte mir recht sein. Ich schnappte mir eine der Heugabeln, hockte mich neben Gremlin in den Sand und piekste ihm in die fleischigen Rippen. Er sprang quiekend auf, kreischte bei meinem bewaffneten Anblick und verfiel dann in Schockstarre, als ich die drei Metallspitzen abschätzend auf ihn richtete. Ihm schien der Begriff von Distanz nicht ganz bewusst zu sein, denn es trennte ihn über ein Meter von der Heugabel. "Gremlin, Gremlin", sagte ich kopfschüttelnd. Unauffällig schielte ich zu Boss, dessen Schnarchen für einige Sekunden ausgesetzt hatte, nun jedoch in altbewährter Lautstärke die Luft erfüllte. "Was würde dein Chef nur dazu sagen? Einer der Gefangenen stiehlt deine Waffe und du kannst nichts dagegen tun? Wärst du mein Angestellter, würde ich dich feuern." Heh. Feuern. Der war so schlecht, dass er wieder gut war. Ich verzog keine Miene. Niemand sollte sagen, Fynn Smith hätte einen Faible für Wortwitze. "Ich, ich weiß auch nich', ich…" Gremlin rang die wulstigen Hände und sah hilfesuchend zu Boss, der seelenruhig weiterschlummerte. Ich lächelte ihn aufmuntern an. "Es ist schon in Ordnung", sagte ich und ließ die Heugabel sinken. "Du hast Glück, dass ich es war, der deine Waffe genommen hat. Stell dir nur das Chaos vor, wenn einer der anderen Toten damit Amok liefe. Willst du dir das Szenario vorstellen? Ich nicht. Der Teufel wäre sicher sehr ungehalten." Gremlin begann zu zittern. "Oh Mann, er würd' mich häuten, würd' er, oh Mann, oh Mann, was soll ich tun, Boss? Das is' ja fürchterbar, is' das ja..." "Jetzt beruhige dich erstmal", sagte ich, betont freundlich. Gremlin sah mich aus schwarzen Knopfaugen an, als wäre ich allein die Antwort auf all seine Probleme. Ganz Unrecht hatte er ja nicht. "Ich bin hier, um dir zu helfen. Die anderen Toten werden ungeduldig, verstehst du? Sie wollen wissen, was der Teufel von ihnen möchte, wie sie der Hölle entkommen können, wie hier alles abläuft. Wenn sie keine Antwort bekommen, dann sind sie es das nächste Mal, die deine Heugabel klauen und dich pieksen. Und das willst du sicher nicht, oder?" Gremlin schüttelte sich heftig. "Ne, das will ich nich', ganz sicher nich'. "Dann sind wir uns einig", sagte ich. "Sag mir, wie wir den Teufel befriedigen können und ich sorge dafür, dass euch niemand mehr angreift." Dieses Mal zögerte Gremlin. Sein Blick verdüsterte sich kurzzeitig und er schielte, so als betrachte er einen Ort, den nur er wahrnehmen konnte. "Ich weiß nich'", sagte er und hob den Kopf. "Das is' gegen die Regeln, is' das. Ich will kein Ärger kriegen." "Gremlin, ich weiß, ich bin erst seit kurzem hier", begann ich vorsichtig, darauf bedacht, in ja nicht zu verschrecken. Ich war so nah dran… "Aber du kannst mir vertrauen. Ich will dir nur helfen." Einer spontanen Eingebung folgend nickte ich in Richtung Boss. "Euch beiden." Gremlin zögerte noch einen kurzen Moment, dann legte sich der schwarze Schatten um seine Augen und er stand wieder völlig unbeholfen und ungefährlich vor mir. Ich reichte ihm die Heugabel zurück, die er umarmte, als wäre sie seine Geliebte. "Also gut. Ich weiß nich', was der Teufel will, aber die Level ham' nich' viel zu sagen, meint Boss immer. Nach dem Start sin' die quasi egal, sin' die. Un' der Teufel sucht dann aus, wen er unten haben will." "Unten?", hakte ich nach. "Auf Level vierzehn?" Gremlin nickte heftig. "Er schickt da nich' viele hin, tut er. Ganz wenige nur. Meint, dass is' ihm alles zu viel Arbeit sons'. Un' er sagt, er schickt da auch die Guten hin, wenn er Urlaub machen will." Nun stutzte ich doch. Dass der Teufel willkürlich mit den Projekten verfuhr, leuchtete mir noch ein, schließlich hätte sonst zumindest irgendeiner der Toten einen Trend bemerkt, wie man auf- oder absteigen konnte. Was also, wenn das Projekt nur dazu diente, uns beschäftigt zu halten? Dem Teufel zu zeigen, was wir mit unserer Zeit anfingen, wie er uns einschätzen konnte? Und trotzdem schickt er die Guten nach unten, dachte ich. Irgendetwas verheimlichte man uns. Ich wusste nicht, was es war. Aber ich wusste plötzlich sehr genau, wie ich mein eigenes Projekt gestalten würde. Und von dem, was Gremlin berichtet hatte, würde es dem Teufel ordentlich einheizen. Heh. Einheizen. Schlechter ging es wirklich nicht mehr. Kapitel 3 --------- „Bist du ganz sicher?“, fragte Natalie aufgeregt. Ich hatte sie in der kleinen Steinhütte erwischt, in der sie mir Avancen gemacht und mich dann bitter im Stich gelassen hatte. Sie nahm die Neuigkeiten erstaunlich gut auf, womit ich meine, sie fragte erst das dritte Mal nach. „So sicher, wie ich sein kann“, sagte ich. „Level Vierzehn existiert nicht. Diejenigen, die dorthin geschickt werden, sendet der Teufel unauffällig in den Himmel. Er will nicht, dass wir alle einfach in das Loch springen, deshalb machen uns die Gnome bei unserer Ankunft Angst und die Projekte sollen uns ablenken, damit wir nicht auf dumme Ideen kommen.“ „Dann ist die Sache doch ganz klar“, sagte Natalie mit leuchtenden Augen. „Wir sagen allen Bescheid und organisieren ein Massenspringen! Damit wird der Teufel ganz sicher nicht rechnen. Oh Fynn, du bist ein echtes Genie, weißt du das? Niemand sonst ist auf die Idee gekommen, einfach die Gnome zu fragen.“ „Ich gebe mein bestes“, sagte ich bescheiden lächelnd. Plötzlich schlangen sich Natalies Arme um meinen Hals und ihre Lippen pressten sich sanft auf meine. Meine Schultern entspannten sich augenblicklich. Ich legte meine Hände auf ihre Taille, bewegte meinen Mund geübt gegen den ihren und biss leicht in ihre Unterlippe, bevor ich mit der Zunge darüber fuhr. Natalie seufzte und erwiderte meinen Kuss einige Minuten, bevor sie sich löste, mir schelmisch die Zunge herausstreckte und loslief, um meine Botschaft an die restlichen Höllenbewohner zu verbreiten. Schmunzelnd fuhr ich mit dem Daumen über meine geschwollenen Lippen und machte mich ebenfalls auf den Weg nach draußen. Wir hatten viel zu tun. Ich stand an die Hauswand gelehnt da und beobachtete Emma bei ihrem Workout. Für ihre derzeitige Trainingseinheit hatte sie Liegestütze ausgewählt. Eine ambitionierte Wahl, wenn man bedachte, dass ihre fleischigen Arme bis zu den Ellenbogen im Sand versanken und nicht lang genug waren, um ihre Wampe vom Untergrund zu heben. „Macht das Spaß?“, fragte ich, als sie aufgab und sich ächzend auf ihren unförmigen Hintern fallen ließ. Sie wischte mit einer sandigen Hand die Schweißperlen von ihrer Stirn und begutachtete mich kritisch. Zugegeben, der Verlust meiner Schuhe kratzte ein wenig an meiner Würde, aber das ließ ich mir nicht anmerken. „Sieht´s so aus?“ „Hey, hey, kein Grund, gleich ungehalten zu werden“, beschwichtige ich sie lächelnd. „Natalie hat mir von dir erzählt. Du willst dich bessern, das ist dein Projekt, nicht wahr?“ Emma kniff die Augen zusammen. „Du kennst Natalie?“ „Sie hat mich aufgegabelt, als ich hergeschickt wurde“, sagte ich und ließ mich meiner Gesprächspartnerin gegenüber in den Sand sinken. „Und sie hat mir von dir erzählt. Wie sehr du dich abmühst, um dem Teufel zu gefallen. Ich finde es unfair, dass es dich trotz deiner harten Arbeit in den elften Level verschlagen hat. Da fragt man sich doch, was der Teufel eigentlich will, nicht wahr?“ Emma nickte nachdenklich. „Ich bin auf Level Zwei gestartet. Weiß wirklich nicht, was ich hier unten soll.“ „Findest du es nicht merkwürdig, wie vielen Toten es so geht?“, fragte ich und nickte vage in Richtung des alten Mannes, der bis vor kurzem noch Pfeifunterricht gegeben hatte. „Ich meine, Kinder auf Level Elf? Eine gute Seele wie Natalie, Kleinkriminelle, hart arbeitende Männer und Frauen wie du? Mir erscheint das sehr verdächtig.“ „Hmpf.“ Ich sah mich kurz um, bevor ich mich zu Emma lehnte und meine Stimme in ein verschwörerisches Flüstern sinken ließ. „Ich habe mit den Gnomen gesprochen. Gremlin hat sich bei unserem letzten Gespräch ein wenig… nun, sagen wir, verplappert.“ Das erweckte Emmas Aufmerksamkeit. Sie rutschte näher heran. Der Duft ihres Schweißes brannte in meiner Nase. Ich gab mir große Mühe, keine Miene zu verziehen. „Verplappert sagst du?“, fragte sie. „Was meinst du damit?“ „Der Teufel treibt ein falsches Spiel mit uns“, sagte ich bedeutungsvoll. „Der Vierzehnte Level ist nicht die wahre Hölle, das sagt er nur, um uns auf unserem Level zu beschäftigen. Aber eigentlich schickt er die Guten dorthin. Verstehst du, was das bedeutet?“ Emma kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Warum sollte ich dir glauben?“, fragte sie. „Ich kenne dich kaum.“ Ich zuckte mit den Schultern und erhob mich. „Du hast keinen Grund. Ich versuche nur zu helfen, aber mir ist klar, dass mir nicht jeder folgen wird. Trotzdem muss ich zumindest versuchen, die Wahrheit zu verbreiten, bevor ich diesen Level verlasse. Das schulde ich Natalie.“ „Was hat Natalie damit zu tun?“ „Sie hat mir die Augen geöffnet", sagte ich und sah dabei an Emma vorbei in die Ferne. „Seit ich sie kennengelernt habe, sehe ich viele Dinge anders. Als ich noch lebendig war… nein, reden wir nicht darüber. Ich hoffe, du denkst über meine Worte nach. Natalie und ich werden versuchen, so viele Tote wie möglich mit unserer Botschaft zu erreichen. Wenn du helfen willst, erzähl so vielen die Wahrheit, wie du kannst.“ Ich lächelte grimmig. „Der Teufel wird uns nicht länger hereinlegen, das verspreche ich dir.“ Als ich Emma verließ, spürte ich ihren Blick noch lange auf mir ruhen. Sie war nur ein kleiner Stein. Einer von vielen. Doch auch der kleinste Stein konnte eine Lawine auslösen, wenn man ihn anstupste. Ich wusste nicht, mit wie vielen Menschen ich in der darauffolgenden Zeit private Gespräche führte, nur dass Natalie mich in der Anzahl noch übertraf. Sie warf sich mit einer Leidenschaft in die Bekehrung von Level Elf, die selbst mich überraschte, obwohl ich von Anfang an auf ihre Hilfsbereitschaft gesetzt hatte. Nach und nach verbreitete sich unsere Botschaft auch in die hintersten Winkel der Wüstenlandschaft und der Stadtkern schwoll an mit neugierigen Toten, die sich eine Ablenkung von ihrer ewigen Langeweile erhofften. Es mussten mehrere Tage verstrichen sein, soweit man das hier unten sagen konnte, als Natalie endlich den Vorschlag machte, eine öffentliche Ansprache zu halten. Eigentlich hatte ich gehofft, sie würde früher auf die Idee kommen, aber immerhin war es nicht an mir hängengeblieben. Ich hatte schon viel selbst inszeniert. Zu viel, und selbst eine naive Frau wie Natalie würde Misstrauen schöpfen. Wir begannen klein. An Straßenecken, in vielbesuchten Hütten, in der Nähe des Lochs. Ich hielt stets ein wachsames Auge auf Gremlin und Boss gerichtet, doch die beiden Höllengnome schienen unbeeindruckt von der Rebellion, die sich anbahnte und redeten höchstens leise miteinander, wenn wir in Hörweite waren. Unsere Rede war nicht einstudiert, trotzdem verlief sie jedes Mal gleich. Die Eintönigkeit war mir zuwider, doch unseren Zuhörern schienen die altbekannten Worte Sicherheit zu geben, als mache die Wiederholung sie erst wirklich wahr. „Der Teufel ist ein Scharlatan!“, rief ich bei einer unseren stärker besuchten Versammlungen mit meiner tragendsten Stimmlage. Natalies Finger lagen angenehm warm in den meinen und drückten sanft zu. „Er manipuliert euch mit Angst und Lügen. Ihr fürchtet das Loch, einen zweiten Sturz, die wahre Hölle auf Level Vierzehn. Doch ich frage euch, weshalb sind Kinder unter euch? Weshalb sind diejenigen, die sich nie etwas Schlimmeres haben zu Schulden kommen lassen, als Kaugummi aus dem Kiosk zu stehlen oder hinter dem Rücken der Kollegin über deren neue Schuhe zu lästern, hier, auf Level Elf? So nah am Abgrund, so nah am Untergang. Und wo sind die Serienmörder, frage ich Euch? Wo sind die Vergewaltiger, die Terroristen? Sie starten hier, doch wohin werden sie geschickt, wenn ein wenig Zeit verstrichen ist? Nach unten? Nein!“ Ich machte eine kurze Pause, um die anschwellenden Stimmen zu genießen. Sie wurden unruhig. Misstrauisch. Selbstverständlich hatte ich auch keine Ahnung, wo die Mörder und Schwerverbrecher hingeschickt wurden, aber das musste schließlich niemand wissen. Außerdem, und das war das Wichtigste, sprach ich mit vollkommener Überzeugung. Selbst diejenigen, die es besser wissen müssten, verzichteten auf Widerspruch, hinterfragten vielleicht sogar ihre Ansichten, um sich nicht zu blamieren. Das hier war nichts anderes als ein Meeting mit leicht skeptischen Geschäftspartnern. Menschen, tot oder lebendig, waren leicht zu durchschauen. „Ich sage euch, was mit ihnen geschieht“, fuhr ich mit dröhnender Stimme fort. „Sie werden in die oberen Level geschickt, während man euch, das gute Volk, tiefer und tiefer wandern lässt. Ihr müht euch ab, verfolgt euer Projekt, als rette es euch vor der Verdammnis, aber das tut es nicht! “ Die Stimmung kippte. Wütende Rufe wurden lauten, Schreie, Wehklagen. Innerlich grinste ich. Wir hatten sie. „All Eure Anstrengungen sind umsonst“, fuhr ich lauter fort, bis die Menschenmenge mir wieder Gehör schenkte. „Der Teufel schert sich einen Dreck um das, was ihr hier tut. Er schickt euch zu Level Vierzehn, langsam und unauffällig, damit ihr seinen Betrug nicht bemerkt. Damit ihr nicht merkt, dass ihr umsonst hier unten wartet! Der Himmel ist greifbar, für uns alle. Er wartet auf uns auf Level Vierzehn.“  „Aber das hat jetzt ein Ende“, rief Natalie und trat an meine Seite. „Der Teufel und seine Lakaien werden uns nicht länger manipulieren! Wenn er uns den Himmel nicht geben will, dann werden wir ihn uns eben nehmen! “ Stille. Dann, Jubel. Das Pfeifen und die zustimmenden Schreie schwollen an, bis ich das Bedürfnis unterdrücken musste, mir die Hände auf die Ohren zu pressen, um den Lärm auszublenden. Stattdessen hob ich meine Hand empor, mit der ich noch immer Natalies festhielt. "Folgt uns!", schrie ich gegen das Tosen der Menge an. "Morgen springen wir in die Freiheit!" XXX                                                                 „Kann ich kurz mit dir reden?“ Marc sah überrascht von den Hausaufgaben auf, die er gerade abschrieb. Es war die kurze Pause vor Englisch. Die Aussicht auf eine weitere Strafarbeit hatte ihn so in Panik versetzt, dass ihm das Fehlen seiner Uhr noch nicht aufgefallen war. Ich hielt es für eine gute Idee, ihm etwas auf die Sprünge zu helfen. „Klar Fynn, gib mir nur 'ne Sekunde, ja?“ Ich nickte, lehnte mich an die Wand und verschränkte genervt meine Arme. Als Marcs Freunde sich wieder ihrer Abschreibmission gewidmet hatten, erlaubte ich mir, Kais Augenrollen vom anderen Ende des Klassenzimmers zu erwidern. Schließlich erhob Marc sich jedoch und folgte mir neugierig in den leeren Flur. „Kai wird mich umbringen, wenn ich es dir sage, aber…“ Ich räusperte mich. „Er hat deine Uhr mitgehen lassen, als ihr anderen schon in der Turnhalle wart. Er ist ein guter Freund, aber ich kann nicht daneben stehen, wenn er sowas macht.“ Wie erwartet lief Marcs Gesicht rot an. Er griff nach seinem Handgelenk, so als erwarte er, die Uhr noch immer dort vorzufinden, doch natürlich war dort nichts. Kalkweiß stand ihm ausgezeichnet. „Dieses Arschloch!“, fauchte er und stapfte auf das Klassenzimmer zu. „Dem zeig ich's!“ „Warte!“, rief ich und hielt ihn an der Schulter zurück. „Ich rede mit ihm. Vielleicht gibt er sie dir freiwillig zurück und wenn nicht, gehen wir gemeinsam zu Frau Heller. Wenn du ihn jetzt verprügelst, bist du derjenige, der Ärger kriegt. Ich mach das schon.“ Marc zögerte. Ich konnte förmlich sehen, wie sich die Rädchen in seinem kleinen Gehirn drehten. Schließlich tat er das einzig vernünftige und nickte zustimmend. „Danke Mann“, sagte er und drückte meine Schulter. „Das weiß ich echt zu schätzen.“ Ich schenkte ihm mein heroischstes Nicken und ging an ihm vorbei zur Tür. Einen Moment länger, und er hätte mein breites Grinsen gesehen. Als ich wieder zu Kai stieß, schlug er mir spielerisch mit der Faust gegen die Schulter. „Ey Mann, was wolltest du denn mit Marc?“, fragte er. „Der Bonze soll sich mit seiner Uhr nicht so geil fühlen.“ „Darum ging es“, murmelte ich in verschwörerischem Ton. Marc kam hinter mir in den Klassenraum und setzte sich zurück an seinen Platz. Als er aufsah, ruhte sein Blick auf mir. „Ich habe Gerüchte gehört“, fuhr ich fort. „Er kann dich nicht leiden, das weißt du. Vor dem Sportunterricht hab ich einen von den anderen Jungs überhört. Angeblich hat Marc dir seine Uhr untergejubelt, um dich für Diebstahl dranzukriegen.“ „Was?“, fragte Kai lachend. Als ich nicht einstimmte, verstummte der Laut in seiner Kehle. „Meinst du das ernst?“ Ich nickte. „Ich wollte mit ihm reden, damit er sich bei dir entschuldigt, aber er hat sich geweigert. Obwohl ich die ganze Zeit mit dir in der Umkleide war und bezeugen kann, dass du nichts gestohlen hat. Er meinte, wenn er erst die Polizei eingeschaltet hat —“ „Was zum Teufel?!“, schrie Kai und zog in Sekundenschnelle die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse auf sich. Einzig Noras Blick huschte sofort zu mir. Sie runzelte die Stirn, doch Kai schlängelte sich schon an den Tischen vorbei Richtung Marc, der aufgesprungen war. Ich schüttelte traurig den Kopf. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Leute…“, begann ich, aber wie erwartet ging meine Beschwichtigung in den Anschuldigungen unter, die von beiden Seiten auf die Jungen niederregneten. „Du willst mir den Diebstahl für deine scheiß Uhr unterschieben?“, fauchte Kai. „Ich hab nichts gestohlen, damit das klar ist.“ „Ist das also deine Masche?“, fragte Marc. „Du bist aufgeflogen und tust jetzt so, als wäre es meine Schuld? Hast du sie noch alle?“ „Was laberst du? Ich hab kein Interesse an 'ner Uhr, die dein verkackter Vater in der Hand hatte!“ Mit einem Schrei holte Marc aus und rammte Kai seine Faust mitten ins Gesicht. Kai heulte auf, genauso wie Marc, der die Härte eines Kieferknochens unterschätzt hatte, doch er fing sich schnell wieder, holte Schwung und warf Marc mit der Gewalt seines gesamten Körpers zu Boden. Breitbeinig saß er auf seinem Bauch und prügelte auf Marc ein, der schützend die Arme vor sein Gesicht hielt und wimmerte, als Schlag um Schlag ihn erwischte. „Hört auf, um Himmels willen!“, schrie Nora, durchbrach die Reihen der in Starre verfallenen Schüler und packte Kais Handgelenk, das er ihr in blinder Wut entriss und sie dabei hart auf den Boden aufschlagen ließ. Mein Einsatz. Ich schwang mich über den Tisch, drängte mich zwischen zwei Mitschülern hindurch und riss Kai am Kragen von Marc herunter. Er landete mit einem Ächzen auf dem Rücken. „Reiß dich zusammen“, fuhr ich ihn scharf an und nickte zu Marc, der sich verängstigt zusammengerollt hatte, und Nora, deren Brille verbogen auf ihrer Nase saß. Mit zusammengepressten Lippen hielt sie ihre Schulter. Ich ging neben ihr in die Hocke, sah ihr in die Augen, bis ihre Wangen rot anliefen und zog vorsichtig ihre Hand von der verletzten Schulter. Ich betastete die Stelle, bis sie zusammenzuckte. „Vermutlich eine Prellung“, sagte ich auf's Geratewohl und half ihr auf. Als mein Blick auf die anderen Schüler fiel, begegnete mir eine Woge aus Respekt.   Etwas später, als die Lage sich beruhigt und ich Frau Heller die weitere Streitschlichtung überlassen hatte, brachte ich Nora hinunter in den Erste-Hilfe-Raum. Wie in den meisten Gymnasien war keine Krankenschwester oder zumindest annähernd kompetente Person zugegen und so lag es an mir, ihr Gesellschaft zu leisten, bis der Krankenwagen eintraf. Noras Gesicht war schmerzverzerrt, doch die Röte in ihren Wangen stammte nicht von der Verletzung. Ich hatte einen Stuhl an die Liege gezogen und saß so nah vor ihr, dass unsere Knie sich berührten. „Das hast du absichtlich gemacht, oder?", fragte sie. Ich hob die Augenbrauen. „Was meinst du?" „Es kommt mir sehr verdächtig vor, dass du der Letzte in der Umkleide warst, bevor Marcs Uhr verloren ging und heute sowohl mit ihm, als auch mit Kai geredet hast. Die beiden sind sich erst danach an die Gurgel gegangen.“ „Was sollte mir das bringen?“, fragte ich. „Kai ist mein Freund und ich habe nichts gegen Marc. Außerdem wurdest du verletzt.“ „Das konntest du nicht vorhersehen…“, murmelte Nora, doch sie sah verlegen zur Seite. „Trotzdem“, fuhr sie fort. „Du kannst mir nicht erzählen, dass das alles Zufall war.“ Ich seufzte. „Es war kein Zufall“, stimmte ich zu. „Ich weiß auch nicht, wer von den beiden Recht hatte, aber ich weiß, dass die Uhr irgendwie in Kais Tasche gelandet ist und ich habe versucht, die Situation zu schlichten, bevor wirklich jemand die Polizei ruft. Das ist mir wohl nicht gelungen.“ „Also hast du sie nicht gegeneinander ausgespielt?“, fragte Nora, nun leicht grinsend. „Du bist kein genialer Bösewicht oder so?“ „Wofür hältst du mich?“, fragte ich amüsiert. „Wenn diese Situation irgendwie gut für mich ausgegangen ist, dann nur, weil ich jetzt hier mit dir sitze.“ Nora öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich ersparte ihr das sicherlich furchtbar peinliche Gestammel und verschloss ihre Lippen mit den meinen. XXX Sie umstanden das Loch wie eine Herde gutgläubiger Schafe, ihre aufgeregten Gesprächsfetzen nur sinnloses Blöken in meinen Ohren. An meiner Seite stand Natalie, Hand fest in meiner. In der Menge vor uns konnte ich Emma ausmachen. Ob es meine Reden waren, die sie überzeugt hatten oder Natalies strahlende Präsenz, war mir unklar, doch es interessierte mich im Angesicht unseres Erfolgs nur unwesentlich. Nicht alle waren erschienen, aber mehr als genug. Die Schar der Toten erstreckte sich bis weit ins Stadtinnere von Level Elf. Mein Blick glitt über die Menge und blieb etwas abseits an Gremlin und Boss hängen, die eine Gruppe besonders engagierter Jungs während ihres Schläfchens entwaffnet und mit Kleidungsstücken gefesselt hatte. Einer der Angreifer trug ein Paar sehr feiner, schwarzer Lederschuhe. Ich widerstand dem Drang, mit den Zähnen zu knirschen und nahm stattdessen die Gnome näher in Augenschein. Gremlin murmelte seit seinem Erwachen verzweifelte Entschuldigungen, während Boss´ schwarze Knopfaugen mich trotz der Entfernung aufspießten. Warum musste er das alles auch so persönlich nehmen? Als ich sicher war, dass unsere kleine Rebellion nicht weiter wachsen würde, hob ich meine freie Hand, um mir Gehör zu verschaffen. Es dauerte einige Sekunden, bis die Gespräche verebbten und selbst dann verblieb ein murmelnder Unterton, nervtötend wie das Summen eines Bienenstocks. „Ihr seid unserem Ruf gefolgt“, begann ich mit schallender Stimme, „doch der Moment der Wahrheit ist jetzt. Werdet ihr eine Ewigkeit in der Hölle schmoren, bis die Langeweile euch langsam zerfrisst, oder werdet ihr springen und in den Himmel aufsteigen?“ Ich lächelte. „Die Entscheidung liegt bei euch.“ Ich beobachtete die Toten. Eine füllige Frau weinte Freudentränen, ein Kind zupfte verwirrt am Ärmel eines Erwachsenen, der pfeifende Mann nickte mit verschränkten Armen und der Junge mit den Lederschuhen war so nah an das Loch getreten, dass ich die Bartstoppel auf seinem Kinn zählen konnte. Emma war die erste, die vortrat. Sie warf Natalie einen Blick zu, den meine unfreiwillige Komplizin mit einem ermutigenden Lächeln erwiderte, schloss die Augen und trat ins Leere. Ihr runder Körper fiel in die Tiefe und verließ unser aller Sichtfelde, bevor die meisten der Umstehenden überhaupt begriffen hatten, dass es begonnen hatte. Der Junge mit den Lederschuhen sah beschämt zu mir. „Tut mir leid wegen der Schuhe“, sagte er und machte Anstalten, besagtes Diebesgut auszuziehen, doch ich winkte ab. „Gib sie mir im Paradies wieder.“ Er schaute einen Moment verdutzt drein, dann nickte er und sprang Emma hinterher. Sein Schrei kam einem Jauchzen gleich. Einer nach dem anderen traten sie vor und warfen sich in das Loch. Natalies Hand umklammerte die meine, drückte mit jedem der Sprünge fester zu. Sie schien aufgeregt, regelrecht euphorisch. Ich ließ mich anstecken und sah meiner Rebellion wohlwollend dabei zu, wie sie sich in die Tiefe stürzte. Ruckartige Bewegungen am Rande meines Sichtfelds lenkten meine Aufmerksamkeit zurück auf die gefesselten Gnome. Die Veränderung war aus der Entfernung kaum erkennbar, doch als ich die Augen zusammenkniff, sah ich Gremlins schielenden, nach innen gekehrten Blick und Boss´ Muskeln, die sich unter den Fesseln aufblähten wie Ballons und die Stoffstreifen zum Reißen spannten. Ich presste die Lippen aufeinander und ließ den Blick über meine getreuen Schäfchen gleiten. Die letzten Höllenbewohner, die meiner Ansprache gelauscht hatten, überwanden sich und traten näher an das Loch. Einige nahmen Anlauf oder schlossen beim Sprung die Augen, aber schließlich verschwand der letzte Haarschopf in dem runden Schlund und ließ Natalie und mich alleine zurück. Erleichtert atmete ich durch. „Was ist mit den anderen? “, fragte Natalie. Es dauerte einen Moment, bis ich ihr meine Aufmerksamkeit widmen und mich lange genug von den Gnomen ablenken konnte, um ihre Frage zu verstehen. „Sie werden schon zur Besinnung kommen“, beruhigte ich sie und küsste zärtlich ihre Schläfe. Das Höhlengewölbe verfinsterte sich zu einem dumpfen Rot. Schatten sanken auf uns herab. Wieder huschte mein Blick zu Gremlin und Boss. Die beiden hatten sich fast befreit. Ob sie für das gespenstische Licht verantwortlich waren? Nein. Das traute ich ihnen nicht zu. Es gab nur eine Person, die dafür verantwortlich sein konnte, und die hatte ich seit meiner Einweisung nicht mehr gesehen. Nun aber schien die bedrohliche Atmosphäre mich herauszufordern, meinen Plan zu Ende zu führen, mich nicht mit dem bislang erreichten zufriedenzugeben. Er hätte sich die Dramatik sparen können; ich hatte nicht vor, jetzt einen Rückzieher zu machen. "Sollen wir dann?“, fragte ich an Natalie gewandt. Sie nickte und drückte meine Hand. Gemeinsam traten wir an den Rand des Lochs. Grollen wie Donner hallte in meinen Ohren wieder, durchfuhr meinen Körper wie ein Hammerschlag auf meinen Kopf, der sich bis in meine Zehenspitzen fortpflanzte. "Zusammen.“ Natalies Stimme zitterte vor Aufregung. Ich ließ meinen Blick über ihren weißen Rücken wandern, das pinke Band ihres BHs, den spitzenbesetzten Tanga, den runden Po, die straffen Schenkel. Es war wirklich eine Schande, dass es nie zu mehr als einem Kuss gekommen war. Ich lehnte mich zu ihr, strich eine Welle ihres Haars zur Seite und fuhr mit meinen Fingerspitzen über ihre Ohrmuschel. "Bevor wir springen, muss ich dir noch etwas gestehen“, sagte ich. Natalie ließ meine Hand los und drehte sich zu mir, leuchtende Augen auf mich gerichtet. "Was?“, hauchte sie. Ihre Hände strichen sanft über meine Brust. Lächelnd griff ich ihre Handgelenke und machte einen Schritt vor, bis sie mit den Fersen im Nichts stand und ihr Gewicht über dem Loch hing, nur gehalten von mir. Der Donner hallte wie lautes Lachen durch das Gewölbe. "Ich habe gelogen.“ Bevor sie reagieren konnte, ließ ich los. Natalie ruderte einige Sekunden stupide mit den Armen, starrte mich an, so als glaubte sie noch immer, sich verhört zu haben. Dann fiel sie. Ich sah ihr nach und winkte. XXX Nora stöhnte, ihre kleinen Brüste wippten seitlich auf ihrem Brustkorb, während ich ein schnelles Tempo vorlegte. Sonnenlicht strömte durch die Balkontür in ihr Schlafzimmer und traf auf die Bücherregale über ihrem Bett. Ich versuchte, ihren roten und verschwitzten Anblick auszublenden und stattdessen an die Pornodarstellerin zu denken, die ich erst vorgestern entdeckt hatte. Schmale Taille, lange Beine und dichtes, blondes Haar. Hitze wusch durch meinen Körper, Schwärze ertränkte mein Sichtfeld und ich seufzte leicht auf. Es vergingen nur wenige Sekunden, bis ich mich von Nora löste und erhob. Sie blickte mir nach, Augen glasig, ihr Bauch voller kleiner Röllchen. Angewidert sah ich zu den Büchern in ihrem Regal. „Fynn?“, flüsterte sie heiser. Ich ignorierte sie und fuhr mit dem Finger über die Einbände, dieselbe Geste wie bei meinem ersten Besuch hier. Es war eine erstaunliche Anzahl von Selbsthilfebüchern für Depression und anderen psychologischen Werken vorhanden. Man sah es Nora nicht an, aber sie kämpfte seit Jahren mit ihrer Erkrankung. Ich hatte erst vor zwei Wochen davon erfahren. Noras Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Machst du heute nicht das, was du sonst machst?“ Ich schielte zu ihr. Sie hatte die Schenkel zusammengepresst, doch ich wusste auch so, was sie meinte. „Tut mir leid, Nora“, sagte ich und griff mir einen dicken Wälzer aus dem Regal. „Ich habe gerade keine Lust auf bitteren Schleim.“ Meine Worte hatten den gewünschten Effekt. Nora setzte sich kerzengerade auf und riss die Decke an sich. Verrat funkelte in ihren Augen. „Wir sollten Schluss machen“, fuhr ich ungerührt fort. „Ich habe kein Interesse mehr an dir. Du bist langweilig im Bett und dein Moralapostelgehabe geht mir  auf die Nerven.“ Ich blätterte durch das Inhaltsverzeichnis des Lexikons. L… M… N… "Du… du machst Witze“, flüsterte Nora. "Was ist lost mit dir?“ O… P… Ich schlug das betreffende Kapitel auf. „Du warst so nah dran, Nora“, sagte ich und sah endlich von dem Buch auf. „Damals im Krankenzimmer. Wenn du dich nicht hättest einlullen lassen, wärst du vielleicht darauf gekommen. Aber du hast deinen Gedankengang so bereitwillig aufgegeben. Es war leicht, dich von meiner Unschuld zu überzeugen.“ „Wovon redest du?“, fragte Nora, ihre Stimme erstickt. „Stell dich nicht dumm“, fuhr ich sie an und hielt das Buch offen vor meine Brust. Sie erstarrte, als sie die Kapitelüberschrift las. „Natürlich habe ich Marc und Kai gegeneinander ausgespielt. Was hätte ich sonst mit den beiden zu besprechen haben sollen? Und dich ins Krankenzimmer zu bringen, dachtest du, das mache ich aus purer Herzensgüte? Weil ich dich liebe? Ich bitte dich.“ Es war eine Freude, Noras Gesichtszüge zu beobachten, während die Erkenntnis langsam in ihr Bewusstsein sickerte. Sie blinzelte mehrmals, so als wolle sie einen Schleier aus ihrem Sichtfeld verbannen, ihr Mund öffnete sich einen Spalt in Ungläubigkeit, dann in Abscheu. Wie benommen schüttelte sie den Kopf, Verrat und Schmerz in jeder Falter ihrer Stirn sichtbar, in dem Zucken ihres Augenlids, in dem feuchten Glanz ihrer Augen. „Du bist ein… Psychopath?“, fragte Nora. Ihre Stimme bebte. „Du hast uns alle nur– nur manipuliert?“ Ich nickte. "Gut erkannt.“ „Also war all das…“ Sie schluckte, kniff die Augen zusammen, zog die Decke enger an sich. „All das war nur gespielt“, half ich nach. „Dein erster Kuss, dein erstes Date, dein erstes Mal. Alles an mich verloren. Na? Tut es weh?“ „Ich glaube das nicht.“ Nora starrte auf ihre Finger, die sich verzweifelt in die Decke krallten. „Das kann nicht sein. Du bist nicht —“ Sie stockte. „Ah, du merkst es selbst“, sagte ich und ließ das Buch zuklappen. „Du hast schon immer vermutet, dass ich anders bin. Aber du hast dich blenden lassen,  genau wie alle anderen.“ Immer noch in die Decke gewickelt, erhob sich Nora schwankend vom Bett und trat auf den Balkon. Kühle Abendluft blies mir entgegen und streifte sanft über meinen nackten Oberkörper. Ich folgte Nora, blieb aber im Zimmer stehen, während sie sich über den Balkon lehnte und hinab auf die Hauptstraße schaute. Wir befanden uns im vierzehnten Stockwerk, umringt von tristen Betonbauten. An die Wand gelehnt, sah ich dabei zu, wie sie tief durchatmete und sich schließlich zu mir umdrehte. „Ich möchte, dass du gehst“, sagte sie. „Wirklich?“, fragte ich lächelnd und verschränkte die Arme. „Ich würde gerne noch etwas plaudern.“ „Du hast dein Ziel erreicht“, flüsterte Nora. Sie weinte nicht. Ihre Augen schienen wie ausgetrocknet, so als hätte sie nicht mal mehr die Kraft, traurig zu sein. „Lass mich jetzt in Ruhe.“ „Oder was?“, hakte ich nach. „Deine Eltern sind nicht zu Hause und du bist nicht stark genug, dich gegen mich zu wehren.“ „Ich werde ihnen alles berichten“, sagte Nora. „Du wirst damit nicht durchkommen.“ „Womit?“, fragte ich, ehrlich belustigt. „Ein letztes Mal mit meiner Freundin zu schlafen, bevor wir Schluss machen? Gemein zu ihr zu sein? Meinen Freunden einen Streich zu spielen? Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, Nora. Die Lehrer lieben mich. Dank deines Einsatzes ist die gesamte Klasse auf meiner Seite. Ich bin nie negativ aufgefallen; du bist wahrscheinlich die einzige, die jemals auch nur einen Hauch Verdacht geschöpft hat. Nicht mal meine Eltern wissen, was ich bin. Und wenn ihnen jemand sagen würde, dass ihr einziger Sohn, ihr perfekter Sohn, mit den perfekten Schulnoten, der die alte Nachbarin immer zum Bus begleitet, ein Psychopath ist, zeigen sie denjenigen wegen übler Nachrede an.“ „Hast du mich deshalb so behandelt?“, fragte Nora. „Weil ich dir auf die Schliche gekommen bin?“ Nun konnte ich doch ein Lachen nicht unterdrücken. „Bilde dir nicht so viel darauf ein“, sagte ich und wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. „Sicher, das hat mit reingespielt, aber das Risiko war nie groß genug, dass ich dich dafür freiwillig ficken würde.“ Wie erwartet zuckte sie zusammen. „Warum dann?“ „Kannst du dir das nicht denken?“, fragte ich. Einen Moment lang sah sie mich verwirrt an. Dann öffnete sich ihr Mund und sie sank in die Hocke. „Nein. Nicht deswegen. Nicht wegen so etwas Sinnlosem!“ „Natürlich“, sagte ich. „Ich wollte Klassensprecher werden. Und jetzt, da ich mein Ziel erreicht habe, brauche ich dich nicht mehr.“ Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um, zog mich an und verließ ihr Zimmer. Die Tür schloss ich hinter mir, aber nicht schnell genug, um das lauthalse Schluchzen auszublenden, das meinen Worten folgte. Im Flur zog ich meine Schuhe an und überprüfte ein letztes Mal den Terminkalender, der neben der Tür hing. Ich hatte den heutigen Tag nicht ohne Grund gewählt—Nora befand sich auf einer emotionalen Talfahrt und würde vermutlich, sobald sie sich ausgeheult hatte, ihre Mutter anrufen. Sie würde nicht rangehen. Das Meeting an dem sie und ihr Mann heute teilnahmen, war zu wichtig. Im Idealfall würden sie bis spät in die Nacht fortbleiben oder sogar in einem Hotel übernachten. Isoliert hatte Nora nur noch einen Rückzugsort. Mein Blick glitt über den Dielenboden zu dem Futternapf in der Küche. Kurze Zeit später lag in dem Feuchtfutter ein kleines Schinkenröllchen, gefüllt mit Schneckenkorn. Das Maunzen von Noras Kater drang aus der Küche an mein Ohr, als er sich freudig auf den Leckerbissen stürzte. Ich lächelte.   Später erfuhr ich, dass Nora kurz nach Entdeckung ihres kläglich verendeten Haustiers vom Balkon gesprungen war. Traurig schüttelte ich den Kopf, während ich umständlich mit der linken Hand durch die MILF-Videos scrollte. Noras Selbstmord einzufädeln, war fast zu leicht gewesen. XXX Über mir riss die Luft auf. Gleißend rotes Licht strahlte von der Decke herab, heiß und blendend und traf auf meine Haut, die zischte, aufplatzte und Blasen warf. Der pure Schmerz umfing mich in einer grausamen Umarmung und ich schrie, schrie, wie ich noch nie in meinem Leben geschrien hatte. Ich fiel auf die Knie, doch der Sand brannte sich augenblicklich durch meine Hose, während der teure Stoff Feuer fing. Beißender, stinkender Rauch stieg von meinem Körper auf, nahm mir die Sicht, ließ mich keuchend husten. Der Geruch versengten Haares füllte meine Nase. Meine Kopfhaut zischte, als das Feuer sich meinen Haarschopf entlang fraß. Wie von Sinnen schlug ich auf meinen Schädel ein, rupfte schwelende Haarbüschel aus, sah dabei zu, wie mir die Überreste durch die Finger rieselten. Immer wieder bildeten sich neue Brandblasen, die aufplatzen und klare Flüssigkeit absonderten. Verzweifelt riss ich mir die Kleider vom Leib, ignorierte meine verbrannten Handflächen, bis ich nackt im glühenden Sand stand, mein Anzug nur noch ein Häufchen Asche. Mir war schlecht, das Brennen hörte nicht auf, meine Augen tränten, waren ausgetrocknet, die Wimpern verkohlt. Wulstige Hände packten meine verbrannten Oberarme. „GAHHH! “ Mir wurde schwarz vor Augen, so schmerzhaft war der Griff. Halb blind und weinend sah ich mich um und entdeckte zu beiden Seiten die Gnome. „Hab ihn Boss, hab ich“, sagte Gremlin, ohne eine Spur seiner normalen Unsicherheit. Seine rote Haut glühte im Schein des Lichts wie flüssiges Gold und seine Muskeln traten wie adrige Geschwüre hervor. Die gebogenen Hörner dampften. „Ein Unruhestifter is' das, Gremlin, sag ich dir“, knurrte Boss und rüttelte an meinem Arm. Meine Knie wurden weich, als sich die Haut unter seinen Fingern ablöste. „Hat´s nich' anders verdient, hat der.“ „Ja Boss, genau Boss. Nicht anders verdient hat der´s, jawohl.“ Sie zerrten mich Richtung Loch. Fast war ich erleichtert. Dann sah ich ihn. Er musste aus dem Riss in der Luft getreten sein. Der Teufel lächelte mich mit einem Lächeln an, das gut zu dem Wolf aus Rotkäppchen gepasst hätte. Scharfe Zähne reihten sich aneinander, umschlossen von schwarz geschminkten Lippen. Die feuerrote Haut strahlte eine Hitze ab, die mich in die Knie gehen ließ, bis Gremlin und Boss mein gesamtes Gewicht trugen. Das pechschwarze Cocktailkleid flatterte um die muskulösen Beine und die gleichfarbigen Pumps liefen im Absatz so spitz zu wie Gremlins Heugabel. Wie bei unserem ersten Treffen waren es jedoch die Augen des Teufels, die mich gefangen nahmen. Von rauchigem Lidschatten umrandet und mit künstlichen Wimpern versehen, starrten mir zwei orangerote, waagerechte Pupillen entgegen, umgeben von tiefster Schwärze. Er betrachtete mich ausdruckslos, das Lächeln von zuvor nur noch eine Erinnerung. Langsam streckte er eine Hand nach mir aus. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er über dem Loch schwebte. Ein heftiges Schaudern ergriff mich, als sein künstlicher Fingernagel über meine verbrannte Wange glitt und eine dünne Spur aus Blut hinterließ. Keine Sekunde später fing der Schnitt Feuer. Der Schrei erstickte in meiner Kehle, als der Teufel sie packte. Seine Handfläche war wie glühende Kohlen und die Hitze fraß sich durch meine Haut, bis mir der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase stieg. Die Schmerzen stiegen bis ins Unerträgliche, bis ich sicher war, ohnmächtig zu werden, doch meine Augen schlossen sich nicht mehr, so wund waren meine Augenlider. „Finn Fynn“, sagte der Teufel. Er löste die Hand von meinem Hals und wischte die Hautfetzen ab, die dort kleben geblieben waren. Röchelnd rang ich nach Luft. „Du hättest deinen eigenen Lügen glauben und mit den anderen springen sollen“, sagte der Teufel in seiner düsteren, dröhnenden Stimme, die in meinen Ohren rang. „Das hätte dir eine Ewigkeit der Qualen erspart. Werft ihn rein.“ Gremlin und Boss zerrten mich vorwärts, meine Knie versanken im heißen Sand, dann ließen sie los, ich spürte einen Stoß in meinem Rücken und ich fiel kopfüber in das Loch. Ich schrie, als der Teufel hinterhersprang und mir folgte, bis wir auf einer Höhe waren. Wir drehten uns umeinander, gefangen in einem grotesken Tanz aus Feuer und Schmerz. Der Sturz schien endlos, während die Hölle an uns vorbeirauschte, Schacht, Level Zwölf, Schacht, Level Dreizehn, Schacht, Schacht, Schacht… Der rote Punkt kam näher. Wurde größer, je weiter wir fielen. Rot wurde schwarz geflecktes Orange wurde blubbernde, zähflüssige Lava. Level Vierzehn, wo war Level Vierzehn? Plötzlich packte der Teufel mich, zog mich in eine brutale Umarmung, die mir das letzte bisschen Luft raubte und meinen Körper verbrannte, wie eine Herdplatte, auf die man seine Hand presst. Meine Schreie blieben ungehört, und der Teufel lachte, lachte— Wir fielen durch die Lava. Kaum dass unsere Köpfe die brodelnde Oberfläche durchdrangen, bildete sich eine zähe, schwarze Blase um uns und wir sanken in die Tiefe, während die glühende Haut des Teufels mich bei lebendigem Leib verbrannte.   Letztlich musste ich doch das Bewusstsein verloren haben, denn als ich mühsam meine verkrusteten Augen öffnete, lag ich auf einem roten Plüschteppich. Mit schmerzenden Gliedern rappelte ich mich auf und sah mich um. Regale voller Aktenordner reichten zu allen Seiten bis an die Decke und das einzige Möbelstück war ein Mahagonischreibtisch am anderen Ende des Zimmers. Darauf saß, mit überschlagenen Beinen, der Teufel. Kaum dass ich ihn sah, rief mein malträtierter Körper sich wieder in Erinnerung. Die Blasen waren aufgeplatzt, meine Haut glich geschmolzenem Wachs und der leichte Zug an meinem Kopf erinnerten mich an die Glatze, die sich inzwischen dort befand. Der glühende Handabdruck an meiner Kehle brannte ungehemmt weiter und ließ mich kaum klar denken. „Wo… sind wir?“, fragte ich heiser, meine Stimme nur ein Röcheln. „Das ist mein Büro“, sagte der Teufel und zog eine kleine Fernbedienung mit einem einzigen Knopf aus der Schreibtischschublade. „Wir befinden uns auf Level Dreizehneinhalb, wenn dir das mehr sagt. Du bist der erste Mensch, der es hierher geschafft hat.“ „Ist das die wahre Hölle?“ „Finn Fynn“, sagte der Teufel und sah mich aus seinen Ziegenpupillen an. „Die wahre Hölle ist auf Level Vierzehn. Du warst schon längst dort. Zweiundreißig Jahre lang.“ „Das kann nicht —“ Ich stockte, bevor es mir wie Schuppen von den Augen fiel. „Die Erde. “ „Die Lava reinigt jeden Toten von seinen Sünden“, fuhr der Teufel fort, so als hätte ich nichts gesagt. „Die Seelen werden wiedergeboren, bereit für ein weiteres Leben aus Tränen, Schmerz, Verrat, Krieg und Tod. Aber das verursacht sehr viel Papierkram.“ Ich kniff die Augen zusammen. „Papierkram?“ Der Teufel aktivierte den Knopf auf der Fernbedienung, die Decke öffnete sich und eine Lawine aus Dokumenten rauschte herab und begrub mich unter sich. Wo das Papier mich berührte, pulsierte der Schmerz so heiß, dass mir schwarz vor Augen wurde. „Das alles muss sortiert, geprüft, kopiert und abgeheftet werden“, sagte der Teufel, während ich mich zischend aus dem Papierberg befreite und versuchte, die anhaltenden Schmerzen zu ignorieren, dich sich wieder und wieder in den Vordergrund drängten. Es tat so weh… „Dein Schauspieltalent hat mich beeindruckt, Finn Fynn, wirklich. Allerdings hast du meinen Urlaub zunichte gemacht.“ Die Temperatur stieg mit einem Schlag so weit an, dass ich glaubte, mich in einer Sauna zu befinden. Blasen in meinem Gesicht platzten auf und ich sank stöhnend auf die Knie. „Wenn ich den Papierkram erledigt habe“, begann ich krächzend, „werde ich dann auch… gereinigt?“ Der Teufel lachte donnernd, stand auf und kam auf mich zu. Er sah von oben auf mich herab. „Oh nein. Du bist ab sofort für jeden Papierkram zuständig, der anfällt. Deine Rebellion wird sich zweifellos auch in die anderen Level ausbreiten. Es ist nur gerecht, dass du die Verantwortung übernimmst.“ Wie um seine Worte zu unterstreichen, fiel ein neuer Schwall Papier von der Decke und direkt auf meinen verbrannten Schädel. Tränen schossen mir in die Augen. „Um ehrlich zu sein“, fuhr der Teufel nachdenklich fort, „hast du mir mit deinem kleinen Projekt einen Dienst erwiesen.“ Er betrachtete desinteressiert seine Fingernägel. „Ich habe schon lange nach einer Ausrede gesucht, die Büroarbeit auf jemand anderen abzuwälzen. Die Gnome sind kaum in der Lage, ihren eigenen Namen zu buchstabieren, wie dir sicher nicht entgangen ist, und wahllos einen der Toten für die Ewigkeit zu verdammen, geht gegen meinen Vertrag mit Gott. Leider.“ Er runzelte irritiert die Stirn, bevor er den Blick von seinen Nägeln hob und mich mit seinen feurigen Pupillen fixierte. Der Anblick allein reichte aus, die Verbrennungen auf meinem gesamten Körper frisch zu entfachen. Stöhnend wälzte ich mich auf dem Teppich, um die neu erwachten Feuerherde auf meiner Haut zu ersticken. „Und dann kamst du, Finn Fynn, und glaubtest, du könntest mich in meinem eigenen Reich herausfordern. Ich bin sehr erleichtert, dass du nicht selbst gesprungen bist. Das hätte mir einige Scherereien beschert. So wie die Dinge stehen, werde ich meinen Urlaub doch nicht opfern müssen.“ Meine Gedanken drehten sich. Das Fehlen jeglichen Widerstands, während  wir die Höllenbewohner zu einem Massenspringen anstachelten. Gremlins fehlende Bestrafung, nachdem er das Geheimnis der Hölle ausplauderte. Das grollende Lachen, die Anstachelung, bevor ich Natalie in das Loch schubste. Ich hatte geglaubt, den Teufel provozieren zu können, doch stattdessen hatte ich ihm mit jedem Schritt meines Plans nur weiter in die perfekt manikürten Hände gespielt. Ich raffte das letzte bisschen meiner Würde zusammen und erwiderte den schadenfrohen Blick des Teufels. „Werden meine Verbrennungen heilen?“, fragte ich, doch ich kannte die Antwort, noch bevor der Teufel den Kopf schüttelte. Er ging in die Hocke und neigte sich vor, bis ich halb glaubte, er würde mich küssen. Über unseren Köpfen regnete unablässig neues Papier herab. „Willkommen in der Hölle, Finn Fynn.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)