Sterben nach Wunsch von KiraNear (Path of Amy) ================================================================================ Prolog: Prolog -------------- Schnaufend und prustend stampfte er die Treppen hinauf; knarzend protestierte der Boden, als er seine schwere Bücherkiste abstellte. „Sherlock, wäre es wirklich zu viel verlangt, wenn du dich einmal vom Laptop wegbewegen und mir beim Tragen helfen würdest? Sogar Mrs. Hudson bringt meine Sachen hier rauf; und du bequemst dich nicht aus deinem Sessel heraus, obwohl du mich zum Umzug geradezu gezwungen hast.“ Sherlock hob seinen Blick nicht vom Display, konzentriert las er sich den Text darauf durch und quittierte die Beschwerden seines zukünftigen Wieder-Mitbewohners mit einem leisen Brummen. John verdrehte die Augen, konnte er trotz Versprechen auf keine Hilfe von ihm hoffen. Kopfschüttelnd wendete er sich von ihm ab und lief die Treppen hinunter, um eine weitere Kiste aus dem Umzugswagen zu holen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie eine einzelne Person noch immer so viele Sachen besitzen konnte, obwohl er schon im Voraus viel verschenkt, verkauft und weggeworfen hatte. Auch hatte er die meisten Möbel und viele kleinere Gegenstände gegen einen guten Aufpreis seinem Nachmieter überlassen, somit hatte jeder etwas davon. Doch am Ende waren ihm etwa acht Kartons geblieben, die er nun nach und nach hinauftragen durfte. Ohne die Hilfe des Meisterdetektivs.   Schließlich hatte auch der letzte Karton seinen Weg in die kleine Wohnung gefunden, der Umzugswagen wurde abgeholt und John setzte sich mit einer frischen Flasche Wasser auf den alten, ächzenden Sessel. Noch immer sah Sherlock konzentriert auf den Bildschirm vor ihm, die Hände zusammengelegt hatte er die Außenwelt komplett ausgeblendet. Nur seine Augen bewegten sich, wenn auch ruhig, hin und her. John beobachtete ihn so eine Weile, dann stand er mit der halbleeren Flasche auf und gesellte sich zu ihm. „Sag mal, was guckst du da die ganze Zeit an? Einen neuen Fall?“, fragte er und deutete auf den Bildschirm. Sherlock nickte unmerklich, fast schon abwesend. Den Blick zwischen Detektiv und Bildschirm hin und her werfend, wartete er noch auf eine Antwort oder zumindest auf eine kleine Erklärung. Doch die einzige Reaktion von Sherlock war, sämtliche Gegenstände wütend vom Tisch zu fegen und unruhig zwischen Fenster und Stuhl zu wandern. „Diese … unfähigen Idioten!“, schrie er in das Zimmer hinein, die Hände in die Luft gehoben, da er sonst nicht wusste wohin damit. John sah ihn an, der Anblick war ihm längst vertraut und er wusste, wer mit den Idioten gemeint waren. „Was haben die sich dabei gedacht? Halbherzig nehmen sie irgendwelche Beweise auf, nennen das das Beste, das sie bisher finden konnten und übersehen wie immer das Offensichtliche! Wie soll ich denn unter solchen Bedingungen arbeiten? Ist Lestrade im Urlaub, oder warum hat man mich nicht schon längst hinzugezogen?“ Anderen Menschen wäre jetzt eine gewisse Frage über die Lippen gekommen, doch John kannte diesen Mann nun seit ein paar Jahren und wusste, dass sie nicht angebracht war, wenn man ihn nicht noch weiter provozieren wollte. Und ein wütender Sherlock war noch weniger erträglich als einer im normalen Gemütszustand. Stattdessen versuchte er mit den wenigen Informationen, die er aus den wutgeladenen Worten herausgehört hatte, herauszufinden, was passiert war. „Nun, vielleicht war Lestrade gar nicht in den Fall involviert? Oder er hat es bisher noch nicht in Betracht gezogen, dich zu kontaktieren, wer weiß? Hast du denn schon versucht, bei ihm anzurufen?“ Sherlock blieb ihm eine Antwort schuldig, stattdessen sah er schweigend aus dem Fenster hinaus. John konnte nur erahnen, was in seinem Kopf vor sich ging, doch wie immer tat er sich sehr schwer dabei. In solchen Momenten war der Meisterdetektiv wie unerreichbar, undurchdringlich für ihn. Als wäre er weit, weit von ihm entfernt, obwohl sich sein Körper im gleichen Raum befand. Da er an der Situation nichts ändern konnte, holte er sich eines von Mrs. Hudsons Kirschküchlein und biss genüsslich hinein.   „John, du hast da was an der Backe“, sagte Sherlocks Stimme aus dem Nichts. Verwirrt sah er zur Quelle der Stimme, erst jetzt stellte er fest, dass er viel tiefer in seine eigenen Gedanken versunken war, als er gedacht hatte. Noch halb abwesend wischte er die vermeintliche Sache weg; doch Sherlock sah dabei nicht zufrieden aus. „Nein, nein, jetzt schiebst du es ja nur in den Mundwinkel hinein – lass mich das mal machen.“ Bei jedem anderen hätte es ihn nun gestört, wenn sich dieser mit einer Serviette genähert und ihm an den Mund gewischt hätte, doch bei Sherlock störte es ihn seltsamerweise kaum. Vorsichtig hielt dieser sein Kinn fest und wischte sachte, aber bestimmt. Es war schon einmal vorgekommen, dass er ihm auf diese Weise so nahegekommen war; auch, wenn es sich für ihm im Nachhinein als Tagtraum vorgekommen war. Für einen Moment, einen winzig kleinen Moment, gerade mal einen Finger breit, wünschte er sich, er könnte sich davon überzeugen. Ob es wirklich nur ein Traum war. Ob es sich genauso anfühlen würde in diesem Traum. Oder ob es wahr war. Doch dann zog Sherlock Kopf und Tuch wieder zurück; sah ihn an und lächelte zufrieden. „Gut, so kannst du dich nun wieder sehen lassen. Es ist nicht gerade … vorteilhaft, wenn du mit rotem … Flecken im Gesicht an einen Tatort kommst.“ Noch verwirrter sah John zu ihm hinauf. Erst jetzt merkte er, dass Sherlocks fröhliches Lachen noch anhielt; dass seine Augen wieder voller Energie und Leben waren. „Oh, lass mich raten, Lestrade hat angerufen und hat einen neuen Fall für uns?“ Als Antwort erwartete ihn ein breites, aber ehrliches Grinsen. „Dann lass mal hören, was für eine Art von Fall ist es denn?“ „Eine Frau wird vermisst, und wir müssen sie finden!“, rief Sherlock aus dem Treppengang heraus, seine Ungeduld hatte ihn aus der Wohnung getrieben. John war nun vollkommen neben der Spur, der Fall klang in seinen Augen recht simpel und sonst war Sherlock nie so glücklich über simple Fälle gewesen. „Eine vermisste Person? Seit wann begeistern dich denn solche Fälle? Muss ich mir Sorgen um dich machen?“ Sherlocks lockiger Kopf lugte wieder in die Wohnung hinein, ungeduldig sah er seinen Mitbewohner an. Mit einem Warum hast du nicht schon längst eine Jacke an? Blick bedachte er ihn; gleichzeitig konnte er ein Lachen fast nicht unterdrücken. „Nein, das musst du nicht John, ganz und gar nicht. Nur, ich hatte seit Wochen keinen interessanten Fall mehr und nun habe ich direkt einen vor meiner Nase. Nun komm, bevor die Polizei schon wieder den ganzen Tatort vernichtet!“ Augenblicklich war er wieder die Treppe hinuntergeeilt, zu sehr interessierte ihn der Fall der vermissten Person. Schulterzuckend streifte John sich Jacke und Schal über, in letzter Zeit brachte es der Winter auf Temperaturen, die dem jungen Mann ganz und gar nicht gefielen. Doch war auch er neugierig auf diesen Fall. Denn so simpel er auch klingen mochte; sobald er Sherlocks Interesse in dem Maße geweckt hatte, war es alles andere als ein simpler Fall. Dann war es etwas Komplexes, etwas, bei dem mehr dahintersteckte als man im ersten Moment vermuten würde.  Schnell sah er sich um, ob er nicht irgendetwas vergessen haben könnte, dann schnappte er sich seinen Schlüsselbund und verschloss damit die Tür hinter sich. Einen Einbrecher könnte er jetzt nun wirklich nicht gebrauchen, wobei dieser ihm erst einmal beim Auspacken helfen müsste, um an die ganzen wertvollen Gegenstände zu kommen. „Hat Sherlock etwa wieder einen neuen Fall?“, fragte Mrs. Hudson mit einer Mischung aus Freude und Neugierde. John nickte ihr zu, dann verschwand er wie zuvor Sherlock aus der unteren Eingangstüre. „Na Gott sei Dank, ich dachte schon, der arme Junge versauert nun oben in seinem Zimmer und kommt nun gar nicht mehr an die frische Luft!“, doch John war bereits außerhalb ihrer Reichweite. Welcher sofort auf der Stelle umkehrte, überhastet die Tür aufriss und keuchend vor der Hausverwalterin stehen blieb. „Mrs. Hudson, könnten sie bitte noch auf meine Tochter aufpassen? Ich kann sie ja schlecht zu einem Fall mitnehmen. Vielleicht wenn sie älter ist, aber nicht jetzt …“ „Natürlich, John, das ist doch gar keine Frage. Und jetzt geh, bevor unser Sherlock noch ungeduldig wird. Amy ist bei mir in guten Händen.“ Mit diesen Worten drehte sie den jungen Mann um und schob ihn in Richtung Eingangstür. Dieser ließ sich nicht zweimal bitten und setzte sich zu Sherlock ins Taxi, noch einen letzten Blick zur Wohnung werfend, bevor sie sich auf den Weg zum neuesten Tatort machten.   Kapitel 1: Drei/Eins -------------------- „Guten Tag, meine Herren, schön, dass sie so schnell vorbeikommen konnten …“ Die freundlichen Worte seines Gastgebers ignorierend schob sich Sherlock an ihm vorbei, John versuchte sein Verhalten mit ein paar entschuldigenden Blicken zu rechtfertigen. Verwirrt, ob er irgendeinen Fehler gemacht hatte, sah er zwischen Sherlock und Inspektor Lestrade hin und her. „Denken Sie sich nichts, das ist … normal. Nun, lassen Sie uns doch erst mal hinein und Sie erzählen uns genau, was passiert ist.“, meinte Lestrade als einen kleinen Versuch, die Situation ruhig zu behalten. „Selbstverständlich“, murmelte der Mann und führte Lestrade in sein Wohnzimmer, in welchem Sherlock und John sich bereits umsahen. Sherlock auf der Suche nach ein paar ersten Hinweisen und Indizien; John betrachtete eher die faszinierende Innendekoration des Zimmers. „Sie … haben einen schönen Geschmack, Mr. …“ „North, danke schön. Meine Frau hat das hier alles gemacht, sie kann das viel besser als ich. Sie ist die Kreativere und Belesenere von uns beiden. Kann ich Ihnen etwas zum Trinken anbieten? Ich müsste nur mal eben die Gläser raussuchen. Normalerweise macht das meine Frau, wenn wir Besuch empfangen …“ Freundlich wiesen sie sein Angebot ab, Mr. North schloss die Türe hinter ihnen. Seufzend wies er auf seine Sofaecke, auf welche sich alle mit Ausnahme von Sherlock niederließen. Dieser suchte die Terrassentür nach möglichen Einbruchsspuren ab, wurde jedoch nicht fündig. „Also, Sie haben uns angerufen, weil ihre Frau verschwunden ist. Erzählen Sie uns doch, was genau passiert ist, Mr. North. Keine Angst, wir sind hier, um ihnen zu helfen.“ Lestrade setzte sein freundlichstes Lächeln auf, wie immer, wenn er versuchte, Angehörige von Vermissten oder Ermordeten zu beruhigen. Mit einem nicht ganz so freundlichen Ton schnitt ihm Sherlock das Wort ab. „Erzählen Sie uns alles, auch die kleinsten Details, die Sie als unwichtig erachten. Viele Menschen haben … Schwierigkeiten, das zu erkennen und konzentrieren sich dabei auf die falschen Dinge. Die, auf die es letztlich ankommt, denen schenken sie keinerlei Beachtung.“ Dabei nahm er seinen Blick nicht vom Türrahmen, mit der Lupe versuchte er eventuell übersehene Spuren zu finden. „Was Sherlock Holmes auf seine freundliche Art versuchen will zu sagen, ist: Wenn Ihnen irgendetwas einfällt, was eventuell doch mit diesem Fall hier zu tun hat, dann lassen Sie es uns umgehend wissen. Aber erst einmal möchte ich die Geschichte von Anfang an hören. Sagen Sie, wann ist Ihre Frau verschwunden?“ Lestrade betrachtete dabei Sherlock mit seinem Strengen-Vater-Blick, was wie üblich keine Reaktion auf diesen hatte.   Der Mann räusperte sich, nahm einen Schluck aus seinem Whiskeyglas und stellte es grob auf dem Tisch ab. „Es war vor etwa zwei Tagen. Meine Frau kam etwas früher von der Arbeit nach Hause, da sie noch an einem Bericht arbeiten musste. Sie arbeitet in einer größeren Buchhandlung, müssen Sie wissen und ist dort auch für den Social Media Bereich zuständig. Sie kümmert sich um die Facebookpage und den Twitteraccount der Buchhandlung, ebenso aktualisiert sie den Block und berichtet meist von britischen Autoren oder Buchmessen in ganz Europa. Er ist sehr beliebt, wenn auch nicht so sehr wie der Ihre, Herr Watson.“ Johns Wangen liefen rosarot an und ließ den Mann durch Augenkontakt wissen, dass dieser lieber weitererzählen wollte. „Jedenfalls hatte sie mich angerufen, um mir Bescheid zu geben, dass ich den Einkauf für sie übernehmen müsste; sie würde nicht mehr dazu kommen. Als ich dann am Abend zurückkam, war sie nicht hier. Ich dachte zuerst, sie wäre doch zum Einkaufen gegangen und noch unterwegs. Allerdings konnte ich sie nicht am Handy erreichen und sie hat mir auch keinen Zettel hinterlassen wie sonst immer, wenn sie rausgegangen war. Sie hat mir auch keine SMS geschrieben oder mir sonst irgendwie eine Nachricht hinterlassen. Als sie dann nach ein paar Stunden immer noch nicht zurückkam, habe ich mir Sorgen gemacht. Auch hat sie ihren Laptop offenstehen gelassen, was sie sonst auch nicht macht. Weswegen ich dachte, sie wäre wirklich nur kurz weggegangen … erst habe ich es in der Nachbarschaft versucht, aber da hat leider auch niemand etwas von ihr gesehen oder gehört. Ich mache mir Sorgen, dass etwas mit ihr passiert sein könnte. Einfach so zu gehen, das ist nicht ihre Art.“ Lestrade, der sich ein paar Notizen dazu machte, sah zu ihm auf. „Haben Sie sich auch schon bei Freunden von Ihnen erkundigt? Bei Verwandten, Arbeitskollegen?“ Nahezu verzweifelt nickte der Mann, mit den Tränen kämpfend versuchte er die Fassung zu bewahren. „Ja, das habe ich. Allerdings ohne Erfolg. Niemand von ihnen konnte mir weiterhelfen, niemand von ihnen wusste, was mit ihr passiert ist. Weswegen ich bei der Polizei angerufen habe – bitte, findet meine Frau!“   Lestrade nickte, während er sich weitere Notizen machte. Gleichzeitig machte er sich seine Gedanken, ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. „Sagen Sie … wo war ihre Frau in diesem Haus, bevor sie … verschwunden ist?“, fragte er vorsichtig nach. Mit seinem Blick folgte er dem Finger des Mannes, der auf den Nebenraum deutete. „Ich würde sagen, Sie saß an ihrem Laptop und hat wohl an der Rohfassung ihres nächsten Blogeintrags gearbeitet. Zumindest hat sie die letzten Wochen das wohl übernommen, also ging ich davon aus, dass sie es an dem Abend ebenfalls getan hat.“ Er reichte ihm ein Notizbuch, gefüllt mit Zetteln, Notizen und Skizzen über Neuerscheinungen, möglichen Kinoplakaten zu zukünftigen Buchverfilmungen und Autorentermine in der Filiale. Ein wenig blätterte Lestrade darin, suchte die Antwort und wurde nicht fündig. „Ist Ihnen bei Ihrer Frau irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hat sie irgendetwas Unnormales gesagt oder getan? Oder sich sonst irgendwie auffällig verhalten, wissen Sie da etwas?“ Ahnungslos schüttelte er den Kopf, was Lestrade aufseufzen ließ. Er merkte schon, dass der Fall für ihn wohl nicht so leicht werden würde wie erhofft. Doch dann fiel ihm ein, dass er nicht alleine hier im Haus der verschwundenen Frau stand. Dass sich Sherlock Holmes zusammen mit Dr. Watson hier befand. Und auch, warum er ihn überhaupt zum Mitkommen hatte bewegen können. „Nun, Mr. North, Sie haben am Telefon angegeben, dass Sie einen der Striche in ihrem Badezimmer gefunden haben … könnten wir den Strich bitte sehen? Könnten Sie ihn mir und Mr. Holmes zeigen?“ „Natürlich, sofort – wenn Sie mir folgen würden?“ Mit zittrigen Schritten ging Mr. North voran, die drei folgten sie ihm die Treppe hinauf ins eheliche Badezimmer. John, der den anderen stumm folgte, bekam ein ungutes Gefühl. Er begleitete Sherlock oft zu irgendwelchen Tatorten. Doch diese waren immer von Tod und Einsamkeit geprägt. Es kam ihm dabei so vor, als wäre nicht nur aus dem Opfer alles Leben gewichen, sondern auch aus der Umgebung, den Wänden, den Gegenständen. Jetzt war er allerdings im Lebens- und Wohnbereich eines noch lebendigen Menschen, der mitten aus seinem Alltag gerissen wurde. Der nun irgendwo dort draußen saß und darauf wartete, dass er wieder nach Hause gehen konnte. John schüttelte den Kopf, doch er wurde das Gefühl nicht los, nichts weiter als ein Einbrecher zu sein. Wie auch das Gefühl, in diesem Moment beobachtet zu werden. Das Gefühl, als wäre seine Anwesenheit an diesem Ort nicht erwünscht …   Erst als Sherlock ihm direkt in die Augen sah, konnte er seine Gedanken wieder auf die Wirklichkeit fixieren. Sein scharfer Blick durchbohrte den seinen, durchsuchte seine Seele und sein Herz. Wie immer bin ich ein offenes Buch für ihn … Beschämt brach er den Augenkontakt ab, der ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Er folgte Sherlock zum Ende des Flurs, wo sich Lestrade zusammen mit dem Ehemann den Kopf zerbrach. Das Objekt ihrer Überlegung war ein armdicker Strich, welcher quer über die kompletten Fliesen oberhalb der Badewanne angebracht war. Hier und da war die Farbe heruntergeflossen; und stach im Gegensatz zur restlichen Farbgebung mehr als heraus. Lestrade, Holmes und Watson betraten das Bad, Mr. North musste dagegen vor der offenen Badezimmertüre auf sie warten. „Es ist wie bei den beiden Mordfällen, für die mein Kollege zuständig ist. Auch dort fand man bei den Leichen solche roten Striche, wobei sie etwas anders aussahen. Er hat mich mal zu meiner Meinung dazu gefragt, aber für mich sieht es nur aus wie ein schlechtes Graffiti. Was mich aber wundert, ist, warum jetzt hier auch einer dieser Striche ist … immerhin haben wir diese Information bisher noch nicht an die Presse weitergegeben. Und hier ist auch weit und breit keine Leiche. Was meinen Sie, hängt das zusammen? Wenn ja, was ist der Zusammenhang?“ Sherlock schwieg sich aus; konzentrierte sich auf den Strich vor sich und weniger auf Lestrades Worte. „Sie sagten, bei den anderen Tatorten gab es auch solche Striche? Wie sahen sie aus?“ „Nun, sie hatten in etwa die gleiche Breite und die gleiche Farbe wie diese hier, nur waren es bei den anderen Tatorten mehr. Sie sahen ein wenig anders aus … hat das irgendeine Bedeutung, Sherlock?“ Der Meisterdetektiv trat nahe an den Strich heran; bekam dadurch allerdings keine neuen Erkenntnisse. „Nun, es wäre zuerst einmal hilfreich, etwas mehr über die anderen Mordopfer und die Striche zu wissen. Wer sie waren; ob sie davor auch verschwunden sind und warum sie letztendlich gestorben sind. In jedem Fall gibt es eine Gemeinsamkeit und die, die muss ich hier finden …“ Mr. Norths Gesicht wurde leichenblass, erschrocken taumelte er ein wenig zurück und hielt sich am Waschbecken fest. „Sie meinen also, meine Frau wurde entführt, nur um dann anschließend umgebracht zu werden.“ „Ja, das meine ich“, erklärte Sherlock mit ruhiger Stimme. „Wir müssen nur noch herausfinden, ob die anderen Opfer ebenfalls entführt wurden. Da der Täter nachweislich keine Abweichungen in seinen Ausführungen mag, nehme ich an, dass es bei Opfer eins und Opfer zwei das gleiche Vorgehen gab wie hier. Auf jeden Fall ist es wichtig zu wissen, wie lange er seine Opfer am Leben ließ und schon haben wir unseren Countdown, bis es auch Nummer drei nicht mehr gibt.“ Schniefend vergrub Mr. North sein Gesicht im nächstbesten Handtuch, den Namen seiner Frau murmelnd. „Sherlock, das war nicht passend“ zischte ihm John leise zu und erntete dafür nur einen unverständlichen Blick. „Ich habe doch nur gesagt, wie es im Moment aussieht …“, rechtfertigte er sich. „Kann sein, aber das kann man auch etwas weniger blutig machen. Nicht jeder ist eine emotionale Eiswand wie du, Sherlock!“ Sherlock rümpfte die Nase, schluckte jedoch jegliche Bemerkungen dazu hinunter. Dafür drehte er sich zu seinem Klienten um und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. „Nun, aber wir schauen natürlich, dass wir Ihre Frau vorher finden. Lebendig und im Ganzen“, fügte er noch hinzu, bevor er von John aus dem Badezimmer hinaus gezerrt wurde. Gleichzeitig beendete Lestrade sein Telefonat, für das er sich heimlich aus dem Bad geschlichen hatte und ging lächelnd auf Sherlock zu. „Nun, ich habe mit meinen Vorgesetzten geredet: Wir sind mit in die Mordfälle involviert. Sie können sich also glücklich schätzen, Sherlock. Nur die Sache hat einen Haken, mit dem sie nicht ganz zufrieden sein werden.“ „Was ist es, wurde der Tatort schon gesäubert?“, fragte er gereizt. „Nein … nur aus einem mir unbekannten Grund hatte sich mein Kollege Anderson für seine Tatortermittlungen ausgeliehen.“ Sherlock, der sich nun mehr um die Nützlichkeit der Tatorte fürchtete, stöhnte genervt auf. „Nicht Anderson! John, wir dürfen keine Zeit verlieren, möglicherweise ist bereits zu viel kaputt, als dass es hilfreich wäre!“ Wie vom Blitz getroffen, schnappte er sich dessen Hand und stürmte die Treppe hinunter in Richtung Ausgang, ohne auf Lestrade zu warten. Kapitel 2: Besichtigung ----------------------- Am Ende kamen sie nicht so schnell zu den Tatorten wie erhofft. Lestrade, der den beiden angeboten hatte, sie in seinem Auto mitzunehmen, musste erst auf Anweisung seiner Vorgesetzten zurück zum Revier fahren, dort ein paar Dokumente und Schlüssel abholen, dazu eine Menge Unterschriften abgeben und einen größeren Stapel Papierarbeit auf seinem Schreibtisch ablegen. Allein die Dicke des Stapels löste ein Grummeln in ihm aus, doch er wusste, dass es ihm nicht half. Er würde es machen müssen und wenn nicht heute, dann morgen oder an einem späteren Tag. In der Zeit würde sich noch mehr Papier angesammelt haben und er würde wieder einen kompletten Arbeitstag nur damit verbringen, alles zu sortieren, auszufüllen, abzuheften oder an andere Abteilungen weiterzuleiten. Hastig nahm er einen Schluck aus seiner kalten Kaffeetasse, schnappte sich alle Unterlagen, die er im Moment benötigte und kehrte zum Polizeiauto zurück. Zufrieden stellte er fest, dass sein Auto immer noch an der Stelle stand, an welcher er es geparkt hatte. Trotz der Eile, die er an den Tag gelegt hatte, hatte er die beiden Herren knapp über eine Stunde warten lassen müssen. Sherlock hatte die meiste Zeit damit verbracht, Passanten zu deduzieren; doch kaum hatte sich Lestrade zurück in sein Auto gesetzt, konnte er es sich nicht verkneifen, sich über dessen langes Fortbleiben zu beschweren. „Ich weiß, Sie wollen die beiden Tatorte sehen; aber ich habe auch meinen Job zu tun. Und diese Dinge“, dabei wedelte er mit den Blättern herum. „Diese Dinge gehören, so lästig sie sind, zu meinem Job dazu. Mir gefällt es auch nicht, dass es so bürokratisch zugehen muss, aber bevor ich mir deswegen gleich die doppelte Menge an Schreibtischarbeit am Ende des Falls einfange, mache ich es lieber gleich von Anfang an richtig. Nicht, dass ich nicht bereits des Öfteren wegen Ihnen Überstunden hatte …“ Er räusperte sich, dann startete er den Wagen und pendelte sich schnell im allgemeinen Alltagsverkehr ein. Sherlock dagegen hatte sich in seinen Gedächtnispalast zurückgezogen, wie eine Puppe starrte er auf Lestrades Kopflehne, ohne sie wirklich anzusehen. Er überlegte ein paar Dinge, zog erste Schlüsse und befürchtete den Grad an dilettantischer Vorarbeit seitens Anderson, die er an den Tatorten auffinden würde.   Der erste Tatort befand in einem kleinen Einfamilienhaus, außerhalb von London in einem kleinen Vorort gelegen. Auch wenn sich der Besitzer so gut es ging um den Erhalt des Häuschens gekümmert hatte, hatte er trotzdem nicht verhindern können, dass die Zeit ihre Spuren darin hinterließ. Die Wandfarbe ausgeblichen, wurde es Ranke für Ranke von der Natur erobert. Mit einer Waffe namens Efeu. „Das erste Opfer hieß William Adney; er war ein Lehrer an einer Londoner Gesamtschule. Man hat ihn vor vier Wochen dort drüben gefunden, Jogger fanden seine Leiche hinter einer Parkbank. Anhand seiner Kleidung und der Art, wie er am Boden lag, können wir mit Sicherheit sagen, dass er nicht dort verstorben ist, sondern an einem anderen Ort und anschließend in einem Autokofferraum zum Fundort transportiert wurde.“ „Wie ist der Mann denn gestorben?“, fragte John neugierig, aber auch vorsichtig nach. „Er wurde abgestochen, recht brutal. Aber das war nicht die direkte Todesursache; am Ende hat ihn wohl durch einen Kehlschnitt erlösen wollen. Der arme Kerl hat wohl noch ein paar Minuten gelitten, bevor er …“ Mit dem Schuh trat er einen kleinen Schneehaufen um, dann näherte er sich Sherlock, der sich bereits nach ersten Hinweisen umgesehen hat. „Laut meinem Kollegen hatte weder jemand das erste noch das zweite Opfer für vermisst gemeldet. In seinen Unterlagen fand ich heraus, dass sie beide genau sieben Tage vor ihrem Todeszeitpunkt nicht mehr bei der Arbeit erschienen sind. Sie beide sollen wohl introvertierte Menschen gewesen sein, die nicht viel Kontakt zur Außenwelt hatten. Erst, als ihre Leichen gefunden wurden, sind ihre Freunde und Arbeitskollegen auf ihr Verschwinden richtig aufmerksam geworden.“ „Sieben Tage …“, murmelte Sherlock vor sich hin, nichts an ihm verriet den beiden Männern, worüber er sich gerade Gedanken machte. „Dann hat das jetzige Entführungsopfer also noch fünf Tage Zeit. Vor allem, da der Entführer sich in keiner Weise mit irgendeiner Forderung bei potenziellen Angehörigen gemeldet und die Opfer nach dem Ablauf der Zeit ermordet hat, schließe ich es aus, dass dieser Fall hier anders sein wird. Ich wünschte nur, ich wäre eher mit dem Fall in Verbindung gekommen, dann wäre der Täter schon längst in unseren Händen.“ Lestrade konnte nicht anders als schuldbewusst die Schultern zu heben; schließlich lagen die ersten beiden Fälle nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, sondern in dem seines Kollegen. Dennoch schaffte es Sherlock, dass er sich auf eine seltsame Weise schuldig fühlte. Auch dafür, dass man auf diese Weise die Entführung der Frau hätte verhindern können. „Nun, lasst uns hineingehen, hier draußen wird es langsam kalt!“, meinte Lestrade leicht brummend.   Im Haus selbst war es ebenfalls kühl, aber immer noch erträglicher als im Freien. Die Inneneinrichtung wirkte ordentlich, zu ordentlich für Johns Geschmack, aber auch simpel. Während er die riesige Bücherwand im Wohnzimmer bestaunte, konzentrierte sich Sherlock auf das Zeichen im Badezimmer. Wie bei den Norths zierte auch hier ein Strich die Badezimmerwand; jedoch waren die Striche hier unsauber, während der einzelne bei den Norths wie mit dem Lineal gezogen wirkte. Wie zuvor kratzte sich Sherlock ein Stück der Farbe ab, sicherte es sich in einem kleinen Tütchen und ließ dieses in der Jackentasche verschwinden. Dann packte er seine Lupe aus und untersuchte die Farbe von Nahem. „Das ist doch die gleiche Farbe, oder nicht?“, fragte John, der den beiden ins Bad gefolgt war. „Zumindest lässt sich sagen, dass sie aus einer Dose gesprüht wurde. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was diese Striche bedeuten, dann können wir auch sagen, welche Bedeutung sie für den Fall an sich haben …“ „Könnte es vielleicht sein, dass es eine Zahl sein soll? Viele Leute machen Striche, wenn sie etwas zusammenzählen? Nur, dass der Täter eben … waagerechte Striche macht, anstatt senkrechte?“ Fragend sah John seinen Mitbewohner an, doch dieser schwieg sich aus. Stattdessen dachte Lestrade laut über seine Worte nach. „Das hat mein Kollege auch erst vermutet, aber das würde keinen Sinn ergeben. Würde er seine Opfer zählen wollen, hätte er nicht mit der Drei angefangen, sondern mit der Eins. Wer fängt denn bitte an, rückwärtszuzählen, wenn er eigentlich vorwärts zählen möchte?“ Hastig durchsuchte John seine Gedanken nach einer möglichen Antwort, doch ihm fiel keine ein. Sherlock ließ den beiden ein paar Sekunden, dann seufzte er tonlos. „Weil es auch keine Zählung ist, sondern ein Countdown. Die Frage ist nur: Was passiert, wenn der Countdown die Null erreicht? Wird er überhaupt die Null erreichen? Und wenn ja, wie wird sich das uns gegenüber äußern? Mit einer weiteren verschwundenen Person, die im schlechtesten Fall kein großes Sozialleben hat? Oder ist es etwas anderes?“ Begeisterung schwang in seiner Stimme mit, eine Begeisterung, an die sich John nie so richtig gewöhnen konnte. Zwar kannte er Sherlock nun lange genug, um zu wissen, warum genau er darüber so glücklich war, aber am Anfang hatte es ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Sogar ein wenig angewidert. „Sherlock, haben wir nicht Mr. North versprochen, dass wir seine Frau finden werden, bevor ihr persönlicher Countdown abgelaufen ist? Immerhin möchte der Mann sie lebendig wieder haben …“ „Jaja, natürlich … wobei es schon interessant wäre.“ „Sherlock!“ „…“ Stumm schoss er mit seinem Smartphone ein paar Fotos von der Wand, betrachtete das Ergebnis und ließ das Gerät wieder in seiner Manteltasche verschwinden. „Eine andere Frage, was macht Sie so sicher, dass es ein Countdown ist? Und nicht doch eine seltsame Zählart, bei der die Opfer in der falschen Reihenfolge gestorben sind?“ Lestrade schien nicht sehr überzeugt zu sein. Sherlocks Augenbraue zog sich nach oben, wie immer fragte er sich, wie sein Umfeld mit ihren simplen Gedanken immer wieder auf diese abstrusen Theorien kam. Konnten sie es denn etwa nicht sehen? Oder wussten sie es schlicht nicht? „Lestrade, das sind keine einfachen Striche, die hier gezogen wurden. Das ist die japanische Zahlschrift, wobei ein Strich für Eins steht, zwei Striche für Zwei und drei Striche für Drei. Sind denn bei dem anderen Tatort zwei Striche gefunden worden?“ Lestrade durchforstete die Notizen, die er mitgenommen hatte und nickte. Sherlock versank wieder in seinen Gedanken, dann begann er die restlichen Zimmer gründlich zu durchsuchen. John und Lestrade stellten sich auf die Seite; beobachteten ihn und fragten sich, zu welchen Erkenntnissen er bereits gekommen war. Doch sie bekamen keine Antwort auf ihre stummen Fragen, stattdessen befanden sie sich nach einer Weile wieder im Auto, auf dem Weg zur Wohnung des zweiten Opfers.   Die zweite Wohnung stellte sich ebenfalls als ordentlich heraus, wenn auch auf eine leicht andere Weise als die des ersten Opfers. Überall stapelten sich Bücher und Fortbildungsdokumente, sowie Berge von ungewaschener Arbeitskittel. „Das zweite Opfer, Tyler Silvers, arbeitete als Altenpfleger in einer betreuten Wohneinheit. Er hatte sich für ein paar Tage freigenommen. Das war kurz bevor er verschwunden war und sein Verschwinden fiel erst auf, als er nach dem Urlaub nicht wieder zur Arbeit zurückkehrte. Dabei ist er laut den anderen Angestellten sehr zuverlässig, was seine Arbeitsmoral angeht. Gefunden wurde er auf einer öffentlichen Toilette eines Bahnhofs, von einer der Putzkräfte dort. Er wurde ebenfalls erst abgestochen und anschließend aufgeschnitten. Es ist, wie Sie sagten: Der Täter weicht nicht von seiner Methode ab, nur die Fundorte sind verschieden.“ „Nein, sind sie nicht. Es geht dem Täter darum, dass man die Opfer möglichst schnell nach dem Tod findet. Eben weil sie keine großen sozialen Kontakte hatten … er wollte, dass man die Opfer findet. Ich muss nur noch den größten gemeinsamen Nenner finden, den die drei haben.“ Unausgesprochene Gedanken flogen durch den Raum und John musste sich eingestehen, dass ihn die Sache langsam etwas überforderte. Sherlock sah sich erneut um, nahm Proben und durchforstete den Terminkalender des Opfers. Doch außer seinem Schicht- und Urlaubsplan fand er nichts darin, weshalb er ihn auf den Tisch fallen ließ. „Die Opfer werden offenbar aus ihren eigenen vier Wänden entführt – aber wie kommt es, dass es keinerlei Kampfspuren gibt? Die Opfer haben sich anscheinend nicht mal gewehrt. Oder hat Anderson etwa …?“ „Nein, bei uns räumt keiner den Tatort auf, was denken Sie denn?“, begann Lestrade sich zu verteidigen. „Ja, die Möglichkeit ist uns auch gekommen, da außer den Schnitt- und Stichwunden keinerlei Spuren an den Körpern gefunden wurden. Sie müssen also freiwillig mit ihrem Täter mitgegangen sein. Aber das ist es ja, was noch keinen Sinn für uns macht. Der Punkt, den wir noch nicht verstehen. Wenn wir wüssten, was sie alle drei gemein haben, dann wüssten wir auch, wie der Täter es geschafft hat, sie ohne Gegenwehr aus der Wohnung zu bringen. Sherlock, was ist Ihre erste Meinung zu der ganzen Sache?“   Sherlock schwieg sich wieder aus, durchsuchte stumm die persönlichen Dinge im Wohnzimmer, fand jedoch nichts Neues. Räuspernd richtete er sich auf und drehte sich zu Lestrade um. „Wir müssen auf jeden Fall herausfinden, wo das dritte Opfer festgehalten wird. Es könnte sein, dass sich der Täter in den Untergrund verzieht, sobald er mit seinem Countdown fertig ist. Möglicherweise ist das hier bereits das letzte Opfer ... Lestrade, ich muss nochmal in die dritte Wohnung und mich dort ebenfalls nochmal genauer umsehen. Möglicherweise habe ich dort etwas übersehen … außerdem benötige ich Kopien aller Dokumente und Notizen, die es von ihrem Kollegen zu diesem Fall bereits gibt. Ist das möglich?“ Lestrade nickte: „Natürlich ist das möglich. Ich setze mich mit meinem Kollegen in Verbindung und lasse dann alles in die Baker Street liefern. Brauchen Sie noch etwas anderes?“ „Ja, da gibt es tatsächlich etwas, das Sie noch für mich tun können. Und war uns beide zum St. Barts fahren – es gibt da ein paar Dinge, die ich mir ansehen muss; am besten, nachdem wir in der dritten Wohnung waren.“ Er warf einen letzten Blick ins Wohnzimmer, bevor er mit schnellen Schritten die Wohnung verließ. Kapitel 3: Erste Erfolge ------------------------ Zwei Tage später saß Sherlock an seinem Laptop, den Bildschirm anstarrend. Er hatte die Wohnungen noch zweimal durchkämmt, jedoch nichts Neues gefunden. Die Farbproben, die er von den Wänden genommen hatte, stellten sich alle drei als exakt gleich heraus, was ihm aber am Ende nicht viel weiterhalf. Er hatte nur die Gewissheit, dass die drei Fälle in der Tat zusammenhingen und wusste auch, wie die Zukunft des dritten Opfers aussah, würde man es nicht finden. Neben seinem Laptop lag das Notizbuch des dritten Opfers, wie auch der Terminplaner des zweiten und ein Block des ersten. Sherlock hatte sie mitgenommen in der Hoffnung, dort fündig zu werden; doch auch hier verriet ihm nichts, welche Gemeinsamkeit die Opfer hatten. Frustriert darüber, keinen einzigen Schritt weitergekommen zu sein, stampfte er unrhythmisch auf den Boden. John saß dagegen mit Amy auf dem Sofa und fütterte sie mit frisch gekochtem Gemüse. Sie schien nicht sehr überzeugt davon zu sein, dass ihr Vater das eklig grüne Zeug, dass er „Brokkoli“ nannte, als „lecker“ bezeichnete. Angewidert schüttelte sie den Kopf, die blonden Zöpfe flogen ihr dabei ums Gesicht. Schließlich konnte er sie dazu überreden, etwas zu essen war sich allerdings auch sicher, dass sie ihm das im späteren Alter noch vorhalten würde, könnte sie sich dann noch daran erinnern. Er lächelte vor sich hin, beobachtete stolz seine kleine Tochter, wie sie vom Sofa herunterkrabbelte und zu Sherlock hinübertorkelte. Es war für ihn ein seltener Anblick, dass sich jemand nicht von Sherlocks Eigenarten abschrecken ließ und immer wieder auf ihn zukam. Das taten die wenigsten Menschen, denen er in seinem Leben begegnet war. Auch wenn John selbst nicht immer davon begeistert war. Wie auch jetzt, als das kleine Mädchen nach dem Notizbuch fischte und es zu sich hinunterzog. „Nein, Amy, das ist kein Spielzeug, das ist etwas sehr Wichtiges für Sherlock. Damit kannst du nicht spielen“, versuchte er ihr zu erklären, während er es ihr wieder aus den kleinen Händen nahm. Amy verstand nicht ganz, warum er es ihr wieder wegnahm und begann, an seiner Hose zu ziehen. Sie wollte etwas spielen, warum ließ ihr Vater das nur nicht zu? Verzweifelt sah sie ihn an, was auf ihn aber aufgrund ihrer Größe und ihrer Frisur weniger traurig wirkte als von ihr gehofft. „Dann komm mal her, meine Kleine. Wir finden bestimmt etwas anderes für dich zum Spielen – hier, willst du ein bisschen auf meinem Tablet spielen? Das findest du doch immer so lustig!“ Gerade als er sie hochheben und zurück zum Sofa tragen wollte, wurde er von Sherlock daran gehindert. Dieser sah ihn mit strahlenden Augen an und packte ihn an den Oberarmen.   „Sherlock, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte er diesen unsicher. Amy beobachtete das Ganze, ließ die Hose ihres Vaters los und klammerte sich dagegen bei Sherlock fest. Sie hielt es für ein Spiel und wollte mit ihnen mitspielen. Sherlock spürte, wie sich die kleinen Finger in den Stoff gruben, und ließ es für den Moment einfach geschehen. „John, du bist genial! Das war die Sache, die mich die ganze Zeit über gestört hatte. Die, auf die ich nicht gekommen war. Es war wie immer vollkommen richtig, dich und deinen einfach denkenden Verstand mit in den Fall zu involvieren!“ John verkniff sich ein paar Kommentare dazu, sah ihn lieber nur unsicher an und fragte sich, worauf der Meisterdetektiv denn nun gestoßen war. „Die ganze Zeit über hat mich eine Sache verfolgt und jetzt weiß ich, was es war: Auf dem Schreibtisch des dritten Opfers stand eine Steckerleiste. Darin befanden sich das Akkukabel vom Laptop, von ihrem Smartphone, einem Gerät mit USB-Anschluss … vermutlich ein E-Reader, immerhin ist sie eine Buchhändlerin und wird wohl selbst sehr viel lesen. Und das Kabel für ein Tablet. Genauer gesagt für ein iPad. Allerdings konnte ich das Tablet nirgends finden, wobei mir die Frau den Eindruck machte, als würde sie ihre Sachen immer, wie rohe Eier behandeln. Selbst ihr uralter MP3-Player war eingewickelt, als wäre es aus empfindlichen Porzellan … sie wird es mitgenommen haben und hat möglicherweise nachträglich einen Hinweis hinterlassen, der uns erklären könnte, was der gemeinsame Nenner ist!“ Im ersten Moment klang seine Ausführung schlüssig für John, doch dann schüttelte er den Kopf. „Aber wenn es auf ihrem Tablet ist, dann bringt es uns doch nichts, wenn sie es bei sich hat. Dadurch finden wir sie ja trotzdem nicht. Oder willst du es etwa orten? Soweit ich weiß, kann man das!“ Sherlock, der mittlerweile Amy im Arm trug, lief aufgeregt umher. Wie in einem Dominoeffekt hatte diese kleine Erkenntnis eine Lawine in seinem Kopf ausgelöst, die er nun weiterverfolgen musste, wenn er das Opfer finden wollte. „Möglicherweise hat er ihr das iPad abgenommen. Aber sie hat es, wenn sie intelligent genug war, nicht auf dem iPad selbst gespeichert, sondern in der Cloud. Möglicherweise hat das der Täter entweder nicht mitbekommen; oder er hat keine Ahnung davon.“ „Aber was ist mit ihrem Mann?“, warf John ein. „Ihm hätte doch etwas auffallen müssen, wenn sie etwas in der Cloud gespeichert hat.“ Sherlock rümpfte die Nase. „Hast du dir den Mann mal genauer angesehen? Sein Handy ist ein Nokia 6230i, ihn scheint moderne Elektronik wohl wenig zu interessieren. Außerdem war der Laptop die ganze Zeit über im Einloggfenster und als ich ihn nach dem Passwort fragte, konnte er mir keine Antwort darauf geben. Nein, er hat nicht gelogen, das konnte ich ihm direkt im Gesicht ablesen.“ Mit Amy auf dem Schoß, setzte er sich zurück auf seinen Stuhl und begann Lestrades Nummer zu wählen. „Ich brauche dringend diesen Laptop. Wenn sie etwas auf ihrer Cloud gespeichert hat, dann werden wir es garantiert dort finden.“ Schon hatte er Lestrade auf der anderen Seite der Leitung, ohne ihm groß die Einzelheiten zu erklären, forderte er Lestrade um die Herausgabe des Laptops. „Sie müssen auch schauen, ob sie irgendwo an ihrem Schreibtisch ein Passwort versteckt hat, das werden wir wohl brauchen. Vielleicht hat sie auch eines für die Cloud, aber das werden wir dann sehen. Alles, von dem Sie denken, dass darin das Passwort steht, könnte für uns hilfreich sein. Und alles, von dem Sie denken, dass es nicht drinsteht, erst recht. Am besten so schnell wie möglich, der armen Frau bleiben immerhin nur noch drei Tage!“   Pünktlich wie die Handwerker erschien Lestrade eine Stunde später in der Baker Street, mit dem besagten Laptop, dem Notizbuch und einer Sammlung unterschiedlichster Notizen, die er auf ihrem Schreibtisch und ihrem Arbeitszimmer gefunden hatte. Rasch stellte Sherlock den Laptop vor sich hin und sortierte die möglichen Passwörter nach der Wahrscheinlichkeit, welches davon es sein könnte. Lestrade gegenüber blieb er eine Erklärung auf das alles schuldig, erst als Watson ihm sagte, was er selbst bisher alles wusste, ging ihm ein Licht auf. „Und Sie meinen also, dass Mrs. North in ihrer Cloud einen Hinweis für uns hinterlassen hat?“ „Ich meine es nicht nur, ich weiß es“, sagte Sherlock scharf und sortierte weiter. Amy, die immer noch auf seinem Schoß saß, sah Sherlock dabei zu und amüsierte sich. „Zu viele Möglichkeiten und wir wissen nicht, wie viele Versuche wir haben, bis sich der Laptop von selbst sperrt. Bis wir den dann wieder offen haben, können wir das Opfer in der Pathologie besuchen!“ Ratlos sahen sich die beiden anderen an, dann schnappte sich Lestrade die leere Tragetasche, in welcher er Laptop und die Unterlagen transportiert hatte und ging in Richtung Tür. „Sherlock, kommen Sie damit zurecht? Ich muss nämlich langsam wieder zurück ins Revier, ich muss zu einer Besprechung und meine Vorgesetzten sehen es nicht gerne, wenn ich sie wieder versetze. Also dann, wenn etwas ist, Sie erreichen mich weiterhin auf dem Handy.“ Damit verabschiedete er sich von den beiden und verschwand durch die Tür nach draußen.   „John, wenn du eine Frau wärst, was für ein Passwort würdest du nehmen?“ „Wenn ich was?“ Etwas überfordert sah er seinen Freund an, dann verschränkte er die Arme und fing an darüber nachzudenken. „John, du bist eine Frau in den 30igern, bist interessiert an Elektronik und Büchern; und hast bis auf einen Mann keine sonstigen Mitbewohner oder Freunde. Mit deinem Umfeld hast du nicht viel zu tun, denn sonst hätten die ebenfalls die Alarmglocken geschlagen. Was sie aber nicht getan haben. Also, was für eine Sorte von Passwort würdest du benutzen?“ Angestrengt dachte John nach, er tat sich schon bei sich selbst schwer für all die ganzen Internetseiten ein Passwort zu finden. Wie sollte er dann herausfinden, was für eine Art von Passwort eine ihm fremde Person sich ausgesucht hatte? „Naja, also wenn ich ein Fan von irgendwelchen Bücherserien wäre, dann würde ich vermutlich einfach den Namen meines Lieblingscharakters dafür nehmen. Es wäre zumindest leicht für mich zu merken …“ „Genauso denken die meisten Menschen. Hauptsache, es ist für sie leicht zu merken. Kein Wunder, dass immer wieder so viele Accounts gehackt werden …“ Wieder zog er sich in seinen Gedächtnispalast zurück, versuchte sich daran zu erinnern, welche Bücherserien auf ihrem Tisch standen. Welche davon sie wohl am liebsten mochte. Dann fiel ihm etwas ein, etwas, dass er bisher die ganze Zeit übersehen hatte. „John, sie war ein Fan von dieser Fantasy Serie … mit diesem kleinen Menschen, den Zwergen und dem Drachen … ich glaub, du hast dir auch mal den Film im Kino angesehen. Wie heißt der Hauptcharakter daraus nochmal?“ Verwirrt sah er ihn an, hatte er doch im ersten Moment keine Ahnung, was Sherlock damit meinen könnte. Dann ging ihm ein Licht auf und John fing zu lachen an. „Jetzt verstehe ich, was du meinst. Der Hobbit von J. R. R. Tolkien, und es waren übrigens drei Filme, nicht nur einer …“ Er merkte, dass das nicht gerade die Antwort war, die Sherlock von ihm hören wollte, weswegen er direkt auf den Punkt kam. „Jedenfalls, der Hauptcharakter heißt Bilbo. Vielleicht ist das ja ihr Passwort?“ „Nicht nur vielleicht …“, murmelte Sherlock, als er den Namen erfolgreich anmeldete. Das Benutzer-Icon verschwand, der Desktop tauchte auf und zeigte ein paar wenige Daten und Verknüpfungen, vieles davon ihre Arbeit betreffend. „Volltreffer“, sagte Sherlock siegessicher, dann machte er sich auf die Suche nach der Cloud-Verlinkung. Er wurde auch recht schnell fündig, öffnete sie und gab auf gut Glück das gleiche Passwort wie Sekunden zuvor ein. Wieder hatte er Erfolg. Den Kopf darüber schüttelnd, öffnete er sämtliche Ordner, die sich darauf befanden, doch auch hier waren es wieder nur Dateien für ihre Arbeit oder ihren Blog.  Bis seine Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ordner fiel, der einfach nur „Bücher-Haul“ genannt wurde. Neugierig klickte er auch den letzten Ordner an, in der Hoffnung, doch noch mit seiner Theorie fündig zu werden. Was er fand, waren Fotos von Kassenbons und Screenshots von diversen Bücherwunschlisten, die sie in den letzten sechs Jahren angelegt hatte. Enttäuscht über das Ergebnis klickte er sich durch die Bilder hindurch, eines uninteressanter als das andere. Er ging zurück auf das neuste und wollte es gerade schließen, als ihn eine Stimme aus seinen Gedanken riss. „Sherlock, sieh nur! Da, der Screenshot ist von vor ein paar Tagen! Ob sie den wohl vor oder nach ihrer Entführung gemacht hatte?“ Erst jetzt fiel ihm das Datum auf, das am rechten unteren Rand des Screenshots zu sehen war. Es stimmte wirklich mit dem Datum, an dem die Frau verschwunden war überein, daran hatte er keine Zweifel. „Aber warum sollte sie eine versteckte Botschaft in ihrer Amazon-Wunschliste drin haben? Es sei denn, sie wollte nicht, dass der Entführer sie gleich zu Gesicht bekommt. Sie wollte, dass das Bild gefunden wird!  Leider hatte sie wohl nicht die Möglichkeit, das genauer zu zeigen … oh doch, hatte sie! Natürlich! Deshalb die ganzen Wolken auf ihrem Notizbuch! Ich hatte die Wolken nicht beachtet, dabei war das auch eine Botschaft von ihr. Das ist genial, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin … gut, die Frau steckte in Todesgefahr und hat sich diese geniale Hinweiskette einfallen lassen. Ich bin es ihr schuldig, dass ich das löse.“, meinte Sherlock mit funkelnden Augen.   Konzentriert sahen sie auf den Bildschirm, betrachteten die Bücherliste, die sie in ihrer Cloud hinterlassen hatte. Hatte die Wunschliste eine besondere Bedeutung? Sherlock und John wurden nicht ganz schlau daraus, wobei John nur Bücher sah. Sherlock dagegen versuchte, ihre Persönlichkeit aus den Büchern zu lesen. Da sie allerdings scheinbar willkürlich Bücher auf die Liste gesetzt hatte, kam Sherlock auf ein Ergebnis, dass zugleich drei verschiedene Arten von Persönlichkeiten passen würden. Und dass die Frau eine multiple Persönlichkeitsstörung hatte, schloss er in der gleichen Sekunde aus, in der es ihm in den Sinn kam. Stumm beobachtete er die Liste, sortierte sie nach allen möglichen Kriterien, die ihm in den Sinn kamen. Erscheinungsjahr, Autor, Genre, Verlag, Coverbild, Seitenzahl – er ließ nichts davon aus, auch wenn er recht schnell merkte, dass es ihm nicht weiterhalf. Hastig fuhr er seinen eigenen Laptop hoch, und durchforstete den Online-Versandhandel nach den einzelnen Bücher, las sich bei jedem einzelnen von ihnen die Beschreibung durch, ebenso die gesamten Bewertungen als auch die Probetexte. Doch auch das half ihm nicht weiter, sein Instinkt sagte ihm, dass es eine versteckte Nachricht in diesem Screenshot geben musste. Oder war es seine Sturheit, die nicht einsehen wollte, dass er sich geirrt hatte? Mit einem Blick auf die Datumszeile scheuchte er seine unklaren Gedanken zurecht, sie mussten am Tag des Verschwindens gemacht worden sein. Anders war es nicht möglich; außerdem hätte weder sie noch der Täter etwas davon, würde einer von ihnen das Bild präparieren. Was ist deine Nachricht, Olivia, was willst du uns mitteilen?   John, der es mittlerweile aufgegeben hatte, Amy vom Schoß seines Mitbewohners zu nehmen, dachte ebenfalls über den Screenshot nach, hatte jedoch nicht so viele Ideen. Er konnte sich einfachere Wege vorstellen, jemandem etwas mitzuteilen. Doch er verstand auch, dass der Frau möglicherweise keine andere Möglichkeit gestanden hatte, durch welche sie sich hätten mitteilen können. In Gedanken sprach er der Frau seinen Respekt aus, ebenso wünschte er auch, dass sie unverletzt sei und dass sie sie bald finden würden. Umso mehr strengte er sich an, versuchte, das Muster darin zu erkennen. Je mehr er es versuchte, desto schwerer fiel es ihm. Was würde ich wohl machen, wenn ich nicht so viel Zeit hätte? Und wenn es nicht so auffällig sein soll, dass es der Täter gleich erkennt? Mit dem Finger fuhr er sich über die Lippen, die Stirn in Falten gelegt. Irgendwo in diesem Screenshot lag die Antwort, doch er fand sie nicht. Sie fanden sie beide nicht. „Was, wenn es die Buchtitel sind? Oder die Namen der Autoren? Ihre Herkunft, wo sie geboren wurden?“, ließ John ein paar seiner Gedanken freien Lauf. Langsam fuhr sich Sherlock mit den Handflächen übers Gesicht, versuchte sich daran zu erinnern, wie simpel Johns Verstand gestrickt war. Versuchte, nicht gereizt zu reagieren, doch es fiel ihm schwerer als er dachte. „Ja … ja, das habe ich alles bereits bedacht und in Erwägung gezogen …. Oh!“ Die Falten verschwanden von seiner Stirn, Augen und Mund weit aufgerissen starrte er auf den Bildschirm. Die Freude, wie auch die Erkenntnis waren ihm ins Gesicht geschrieben, er hatte die Lösung gefunden. Dann fing er zu lachen an.   „Das ist genial, einfach nur genial – und schon wieder eine Sache, auf die nicht gekommen bin. John, muss ich mir da Sorgen machen?“, fragte er lachend, während John nur Bahnhof verstand. Er wusste auch nicht, ob Sherlocks Frage ernst gemeint oder von rhetorischer Natur war. „Nein, ich denke nicht, dass du das musst … jetzt sag schon, was hast du herausgefunden? Ist eine Botschaft in diesem Bild?“ „Ja, und wie da eine ist. Die Frau hat sie raffiniert versteckt. Aber gut, das musste sie auch tun, damit dem Täter sie nicht gleich ins Auge fällt. Nur so konnte sie es uns mitteilen.“ Geduldig auf eine Erklärung wartend, sah John zwischen dem Bildschirm und Sherlock hin und her, als jedoch von ihm nichts kam, hakte er ein wenig nach. „Nun, indirekt hast du mir ja auch geholfen, die Nachricht zu finden. Daher hast du auch ein gutes Recht es zu erfahren. Zumal du es vermutlich nicht von selbst finden würdest.“ Er räusperte sich, dann deutete er mit dem Finger auf den Bildschirm. „Im Prinzip ist es einfach, wenn man erst einmal dahintergekommen ist. Du hattest im Prinzip Recht, die Lösung steckte in den Namen der Autoren. Aber nicht wegen ihrer Herkunft oder ihres Alters, nein, in den Nachnamen selbst. Denn wenn man die ersten Buchstaben nimmt, in der Reihenfolge, in der sie auf dieser Wunschliste stehen, dann kommt man am Ende auf folgendes: NESTLE UK. Zwar ist es nicht die erhoffte Gemeinsamkeit der drei Opfer, vielmehr handelt es sich wohl um den aktuellen Aufenthaltsort der entführten Person. In einem kleinen Vorort von London gibt es eine kleine Außenstelle von dieser Firma, die allerdings seit ein paar Jahren nicht mehr betrieben wird. Sie ist von außen schlecht einsehbar und immer mal wieder kommen dort potenzielle Käufer vorbei. Sprich, wenn sich dort ein fremdes Fahrzeug aufhält, dann wird es keinen Verdacht erregen, vor allem, wenn es öfters zu sehen ist. Manche Investoren besichtigen ein Mietobjekt mehr als einmal, nur, um sicher zu gehen.“ „Und wenn dort jemand gefangen gehalten wird, dann bekommt es auch nicht jeder mit. Denn solange der Entführer als einziger Interessent dorthin Zugang hat, werden nicht noch mehr Leute kommen, oder?“ Sherlock nickte ihm zu, erstaunt darüber, wie leicht John ihm dabei folgen konnte. „Das ist richtig. Es gibt wohl nur einen oder zwei Schlüssel, einen davon muss der Vermieter haben. Den zweiten hat der Entführer. Da er das Treiben nun bereits zum dritten Mal machen kann, gehe ich davon aus, dass der Vermieter absolut keine Ahnung hat, was unser Täter da in Wirklichkeit tut, anstatt das Mietobjekt genauer unter die Lupe zu nehmen. Etwas nachlässig, wenn du mich fragst, aber Menschen sind oft und schnell nachlässig … wie dem auch sei, was passiert ist, ist passiert.“   Abermals zückte er sein Handy und suchte Lestrades Nummer aus der Telefonat-Historie heraus. „Auf jeden Fall müssen wir dorthin fahren, die Frau hat lange genug dort ausgeharrt.“ Vorsichtig zog er seinen Pulli aus Amys Griffen, dann nahm er sie hoch und setzte sie auf dem Boden ab, bevor er aufstand und sich seinen Mantel umwarf. John war im Begriff das Gleiche zu tun, als Sherlock ihn aufhielt. „Sorry, John, du kannst dieses Mal nicht mit … jemand muss doch auf unsere kleine Hobbydetektivin aufpassen. Mrs. Hudson ist ja auch noch da, wenn etwas sein sollte. Außerdem sieh dir die Kleine an, sie sagt auch, dass du nicht gehen sollst“, und deutete auf das kleine Mädchen, dass sich nun energisch an Johns Bein festhielt. Dieser seufzte auf, fügte sich aber wohl oder über seinem Schicksal. „Wir sind auch gleich wieder hier, wir holen nur die Frau und befragen sie unterwegs. Dann können wir auch herausfinden, was sie mit den andere beiden gemeinsam hat.“ Watschelnd lief Amy in der Zwischenzeit zum Tisch, griff nach etwas und ging unbeholfen zu den beiden Männern zurück. Dort reichte sie Sherlock seinen Schal, den er sich dankend um den Hals band. „So ein kluges Mädchen – man merkt ihr wirklich an, dass sie deine Tochter ist. Wie der Vater achtet sie auf die Gesundheit der anderen.“ Das kleine Mädchen verstand nicht ganz, was der ältere Mann über sie sagte, fasste es aber als etwas Positives auf und begann zu lächeln, bevor sie sich erneut an das Bein ihres Vaters hängte. „Pass ja gut auf deinen Vater auf, dass er keinen Unsinn macht, ja?“, sagte Sherlock zwinkernd. Dann verließ er die Wohnung und begann, Lestrade anzurufen. „Lestrade? Haben Sie gerade Zeit? Gut, denn ich werde Sie jetzt brauchen, ich weiß, wo wir das Entführungsopfer finden können. Wenn Sie schon mal dabei sind, bringen Sie doch eine von diesen Decken mit …“ Kapitel 4: Verlassen -------------------- In einer relativen kurzen Zeit war es Sherlock gelungen, Lestrade zu mobilisieren und über ihn an den Schlüssel für das Mietobjekt zu gelangen. Wie vermutet hatte der Vermieter keinen Verdacht gegenüber dem vermeintlichen Interessenten, hatten bereits öfter Personen den Zugangsschlüssel für mehrere Wochen behalten. So war er auch recht sorglos bei der Ausgabe des Zweitschlüssels, nur für einen Moment zögerte er, rückte ihn aber am Ende doch noch mit einem Lächeln heraus. „Aber dass Sie mir ja keinen Dreck oder nichts kaputt machen“, sagte er mit einem Zwinkern. Sherlocks Miene blieb ungerührt, während Lestrade sich zu einem Lächeln durchrang. Dankend nahm er den Schlüssel, dann verabschiedeten sie sich. Erst, als sie außerhalb seiner Sichtweite waren, gaben sie Gas und fuhren so schnell sie konnten, innerhalb der erlaubten Geschwindigkeiten, zum verlassenen Gebäude. Lestrade verzichtete auf den Einsatz seines Blaulichts, er wollte nicht unnötig die Aufmerksamkeit des Täters auf sich ziehen. Allein die Tatsache, dass ein fremdes Auto kommen würde und der Fahrer einen zweiten Schlüssel besaß, wäre schon verdächtig genug. Da wollte er sich nicht auf den ersten Blick als Polizist zu erkennen geben.   Als sie das Gelände erreichten, sahen sie nun, was genau man unter der Bezeichnung "uneinsehbar" zu verstehen hatte. Hohe Backsteinmauern umgaben das kleine Bürogebäude inklusive einer kleinen Lagerhalle, die zu damaligen Zeiten für kurzzeitige Lagerungen verwendet wurde. Überall wucherte Unkraut; vereinzelt lag Müll auf dem Boden und in den Hecken. Die Wände waren an manchen Stellen neu gestrichen worden, als Reaktion auf die Witterungen und Spraydosen mancher Teenager. Der Ort wirkte verlassen und leer, jedoch nicht vernachlässigt. „Der Besitzer ist zwar sehr blauäugig, was die Wahl seiner Mieter und Käufer angeht, aber er kümmert sich immerhin so gut er kann um seine Objekte. Trotz seines Alters …“, merkte Lestrade an. Sherlock ließ dies unkommentiert, er konzentrierte sich darauf, weiterhin die Umgebung zu observieren und zu kontrollieren. Zumindest verhinderte die Mauer, dass neugierige Nachbarn ihnen im Weg stehen konnten. „Keine Anzeichen vom Täter“, sagte Sherlock, immer noch den Blick über das Gelände schweifen lassend. Lestrade sah sich ebenfalls um, die Ruhe gefiel ihm gar nicht. „Was hat das zu bedeuten? Ist der Täter gerade nicht hier? Oder ist es nur eine Falle? Sherlock, was meinen Sie?“ „Das finden wir wohl am besten heraus, indem wir hineingehen. Machen Sie sich bereit, das Opfer könnte trotzdem nicht alleine dort drin sein.“   Leise schlossen sie die Türe auf, betraten das Gebäude und verschlossen sie ebenso vorsichtig wieder, ohne sie jedoch abzusperren. Im Gebäude war es genauso einsam und still wie auf dem Gelände, nur ein paar einzelne, vergessene Möbel standen in den offenen Zimmern. Sie schienen noch gut in Schuss zu sein, weswegen der Vermieter sich dazu entschlossen hatte, sie zu behalten. Die Sonne schien durch ein paar abgeglichene Vorhänge und die Tapete blätterte an ein paar Stellen von der Wand. Sonst machte die Inneneinrichtung einen alten, aber sauberen Eindruck. Es gab keine Anzeichen dafür, dass sich jemand länger an diesem Ort aufgehalten hat als nötig, erst als sie einen Blick in die kleine Küche warfen, sahen sie, dass hier jemand öfter kleine Snacks und Mahlzeiten zubereitet hatte. Mahlzeiten, für die man höchstens einen Toaster oder einen Wasserkocher benötigte. Die beiden tauschen einen Blick aus, das verlassene Bürogebäude sah nicht gerade wie ein Ort aus, an dem man gerne leben würde. Und Teenager hätten kein Interesse daran, sich gerade hier ein Sandwich oder eine Fertigsuppe zuzubereiten, schlussfolgerte Sherlock anhand des Kassenbons und mancher Packungen im Mülleimer. Stumm sahen sie sich um, und überlegten sich ihre nächsten Schritte. Die Hand an seine Waffe gelegt, nickte Lestrade in Richtung Treppe, nachdem sie im Erdgeschoss nicht fündig geworden waren. Sherlock nickte, auch er vermutete, dass sich das Opfer im Kellergeschoss des Gebäudes aufhalten würde – möglicherweise auch der Täter. Mit leisen Schritten schlich Sherlock die Treppe hinunter, die Augen brauchten ein paar Momente, um sich an die Dunkelheit des Kellers zu gewöhnen. Aufmerksam sahen sie sich um, versuchten auf jedes Detail zu achten und auch auf jedes Geräusch, doch außer ihrem eigenen Atem und ihrem eigenen Herzschlag konnten sie nichts hören. Erst, als sie sich sicher waren, dass niemand dort war, ließ Sherlock Lestrade das Licht anmachen, es blendete ihn und er hielt sich Hände über die Augen. Grell erhellte das Licht den gesamten Vorraum. Abdrücke an der Wand zeigten, dass dort mal Aktenschränke und Regale gestanden haben. Die nackten Wände strahlten Kühle aus, alte Sicherheitsanweisungen standen auf einem Schild, doch diese entsprachen längst nicht mehr den heutigen Standards. Dreck und Staub lag in den Ecken, hier zeigte der Vermieter etwas weniger Gründlichkeit als im Rest des Hauses. Sherlocks Blick fiel auf die hellblaue Metalltüre, die wie der Rest des Kellers seine besseren Zeiten bereits hinter sich gelassen hatte. Er drückte die Türklinke hinunter – und nichts passierte. Die Türe war verschlossen, doch Sherlock hatte keinen Schlüssel bei sich. Ein paar Schritte zurücktretend, sah er sie sich genauer an, merkte recht schnell, dass sie sich nicht so einfach öffnen lassen würde. „Sherlock, gibt es irgendein Problem?“, rief Lestrade herunter, der sich langsam Sorgen um ihn machte. „Ich stehe hier vor einer Tür, die sich nicht öffnen lässt. Das ist das Problem!“, rief er zurück. Dann begann er, sich wieder der Tür zu nähern und klopfte ein wenig. Sherlock legte sein Ohr darauf und horchte. Versuchte ein Geräusch auf der anderen Seite der Tür zu achten – doch es war nichts zu hören. Er klopfte erneut, horchte erneut – wieder kein Geräusch. „Ist sie da drin?“, fragte Lestrade, wofür er nur ein leises Zischen seitens Sherlock kassierte. Konzentriert presste er sein Ohr an die Tür, doch noch immer konnte er nichts hören … oder doch? Für einen kurzen Moment dachte er, er hätte eine Stimme gehört, ganz schwach und entfernt, aber definitiv einen menschlichen Laut. Fragend sah Lestrade ihn an, Sherlock nickte nur. „Wir müssen irgendwie durch diese Tür, die Frau ist auf der anderen Seite und höchstwahrscheinlich alleine …“   Er stockte, richtete seinen Blick in Richtung Treppe, bevor er Lestrade in eine Ecke zog, welche nicht von der Treppe aus einsehbar war, wofür er einen verwunderten Blick erntete. „Ich habe etwas gehört. Möglicherweise ist der Täter zurückgekehrt“, flüsterte er ihm zu, Lestrades Augen weiteten sich. Dann schob er seine Pistole aus dem Holster und schlich zur Treppe hinüber. „Bleiben Sie hier“, wies er ihn leise an und streckte seinen Arm aus, um ihn zurückzuhalten. „Ich bin hier der Polizist und ich werde jetzt nachsehen, wer da oben ist. Sobald die Luft rein ist, rufe ich Sie. Wenn es der Täter ist, können wir ihm den Schlüssel abnehmen.“ Ohne jegliche Widerworte blieb Sherlock, wo er war. Zwar war er gut im Nahkampf, konnte sich dennoch nicht so gut verteidigen wie Lestrade. Zumal er ihn bereits bei einem anderen Einsatz durch seine Einmischung zur Weißglut getrieben hatte, was er nun verhindern wollte. Ein wütender Lestrade war gerade etwas, das er nicht gebrauchen konnte. Lestrade ging langsam die Treppe hinauf, sämtlichen Göttern im Himmel dankend, dass diese keinerlei Geräusche von sich gab. Er wollte das Überraschungsmoment auf seiner Seite haben. Sein Blick flog rasch umher, noch sah er die die Person nicht. Ob Sherlock sich geirrt hatte? Er selbst hatte nichts gehört, doch um sicherzugehen, sah er sich weiter um. Schließlich sah er, wie sich eine Person in den nächsten Raum begab, ihm den Rücken zugewandt. „Polizei, bleiben Sie stehen! Lassen Sie alles fallen, was sie halten und drehen sie sich langsam um!“ Ein kurzes Klirren war zu hören, anschließend das quietschende Geräusch von Gummisohlen.   „Bitte, nicht schießen!“, hörte er die zittrige und ängstliche Stimme eines älteren Mannes. Es war der Vermieter, der ihn mit großen Augen und erhobenen Händen ansah. Zu seinen Füßen ein kleiner, dicker Schlüssel. „Sie?!“, schoss es aus beiden Mündern, überrascht darüber, den jeweils anderen zu sehen. „Was machen Sie denn hier?“ „Sie sind ein Polizist?“ Verwirrt sahen sie sich noch ein paar Augenblicke lang an, bevor Lestrade die Waffe zurücksteckte und den Schlüssel aufhob. „Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, ich habe Sie nur für jemand komplett anderes gehalten …“ „Und mir tut es leid, dass ich Sie so überrascht habe, das war wirklich nicht meine Absicht. Es ist nur so, ich habe vorhin vergessen, Ihnen diesen hier mitzugeben.“ Er deutete auf den kleinen Schlüssel in Lestrades Hand. „Das ist der Schlüssel zu einem kleinen Raum unten im Keller, ich weiß nicht, ob Sie ihn schon gesehen haben. Dachte, das wäre für Sie interessant, den mal zu sehen. Wenn man den hübsch herrichtet, kann es einer der schönsten Räume werden. Man kann es sogar als Gästezimmer verwenden, wenn man möchte. Eine ausreichende Luftversorgung ist vorhanden; die früheren Mieter haben es oft als Schlaf- oder Hobbyraum genutzt. Nach einer Weile merkt man nicht einmal, dass man sich unter der Erde befindet – es fehlen nur die Fenster, aber ansonsten merkt man keinen Unterschied.“ Je mehr Lestrade hörte, desto mehr war er überzeugt davon, dass sich tatsächlich jemand in diesem Raum aufhalten könnte. Dass dort jemand gefangen sein könnte. Den Schlüssel festdrückend, sah er sein Gegenüber mit einer ernsten Miene an. „Ich muss mich noch einmal entschuldigen, aber es gibt da etwas, dass ich Ihnen erzählen muss …“   Sherlock, mehr als ungeduldig, stand in der Ecke und tippte sich auf den Ellenbogen. Nachdem er sämtliche Möglichkeiten, wie sie die Türe aufbekommen konnten, ausgeschlossen hatte, kam er zu dem einzigen Schluss: Zurück zum Vermieter fahren und den Schlüssel organisieren. Er hätte es bevorzugt, hätten sie die Türe jetzt öffnen können. So manche offene Frage kratzte in seinem Kopf und er war überzeugt davon, dass das Entführungsopfer in der Lage wäre ihm diese zu beantworten. Schließlich hörte er, dass jemand die Treppe herunterkam und machte sich für einen Überraschungsangriff bereit, als er Lestrade in Begleitung des Vermieters sah. „Es ist alles in Ordnung, Sherlock, es ist nur Mr. Universe, der uns den Schlüssel für den Kellerraum vorbeibringen wollte. Ich habe ihm alles erzählt“, meinte Lestrade und trat zur Seite. „Ich hatte ein richtig schlechtes Gewissen als ich vergessen habe Ihnen den Schlüssel zu geben. Doch bei dem, was ich von Mr. Lestrade gehört habe … ich komme mir vor wie ein schlechter Mensch. Immerhin habe ich einem Menschen, nein, einem Mörder geholfen seine Opfer hier in meinem Mietobjekt zu verstecken. Wer weiß, ob er sie hier nicht auch umgebracht hat. Die armen Dinger, ich hab es in der Zeitung gelesen. Die waren doch noch so jung …“ Ein paar Tränen flossen über sein Gesicht, hastig wischte er sie mit dem Jackenärmel weg. Lestrade klopfte ihm auf die Schulter, erneut versuchte er ihn zu trösten. Sagte ihm, dass ihn zwar eine kleine Mitschuld träfe, er aber trotzdem nicht mit zu harten Strafen rechnen müsse. Sherlock dagegen sagte nichts, was vor allem an Lestrades bohrenden Blicken lag. So schwieg er und deutete auf die Tür, die noch zwischen ihnen und dem Entführungsopfer lag. „Natürlich, sofort“, sagte Mr. Universe, eilte zur Tür und öffnete diese. Ohne das geringste Zeichen eines Widerstands ließ sich diese öffnen, dahinter lag ein kleiner Raum, genauso, wie ihn Mr. Universe wenige Minuten zuvor Lestrade beschrieben hatte. In der Ecke stand ein Sofa, abgenutzt und alt. Dazu ein kleiner Tisch, ein leerer Schrank und ein Stuhl, auf welchem, mit Fesseln an Armen und Beinen, mit einem Tape über dem Mund, eine Frau saß. Dieselbe Frau, die Sherlock in einem kleinen Fotorahmen in der Wohnung der verschwundenen Person gesehen hatte. Nur, dass diese dringend Schlaf, Bewegung und eine Dusche benötigte. Entsetzt schlug sich Mr. Universe die Hände über dem Kopf zusammen. Jetzt, da er sah, dass sich tatsächlich eine Person gefesselt in seinem Haus befand, wurde ihm schwindelig. Immer wieder drückte er auf das kleine Asthmaspray in seiner Faust, drückte sich immer wieder etwas in Mund und Hals, doch er brauchte mehr als zehn Versuche, bis sich sein Atem wieder halbwegs normalisiert hatte. Lestrade sah nach dem alten Mann, um im Notfall erste Hilfe zu leisten.   Sherlock dagegen hatte die beiden ausgeblendet, ging auf die Frau zu und riss ihr sachte das Tape vom Mund. Dankbar sah sie ihn an. „Vielen Dank, das Tape hat meinen Mund schon wund gescheuert. Sie sind Sherlock Holmes, nicht wahr? Sie konnten meine Nachricht finden und entschlüsseln?“ Sherlock sagte nichts, begann damit, die verknoteten Schnüre um ihre Handgelenke zu lösen. Dankbar rieb sie sich die Handgelenke, welche ebenfalls leicht gerötet waren. Anschließend kümmerte er sich um ihre Beine. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich gerettet haben …“ „Sie sind Single, nicht wahr?“, unterbrach er sie, wofür er einen verwunderten Blick erntete. „Ja, schon seit mindestens sieben Jahren, warum fragen Sie?“ „Weil ich es mir schon dachte. Vor ein paar Tagen hat uns Ihr angeblicher Ehemann beauftragt, sie zu finden, da er sich Sorgen um sie machte. Allerdings sah Ihr Haushalt stark nach dem einer Singlefrau aus, es gab kein wirkliches Anzeichen dafür, dass noch ein männlicher Bewohner dort wohnen würde. Außerdem würden Sie sich keine Bücher mit dem Namen „Kochen für eine Person“ und ähnliches kaufen, müssten Sie für zwei Personen kochen. Auch haben Sie eine hohe Anzahl an Tassen. Entweder trinken Sie sehr viel Tee. Oder, was mir wahrscheinlicher erschien, dass Sie sich des Öfteren kleine Fertigsuppen in der Tasse machen. Singles neigen oft dazu, sich solche Kleinigkeiten zu machen, vor allem, wenn sie sehr viel Arbeit mit nach Hause nehmen. So bin ich übrigens auch darauf gekommen, mir ihre Bücherlisten in Ihrer Cloud etwas genauer anzusehen. Nicht nur, dass sie dafür gesorgt haben, dass die Namen der Autoren perfekt in einer Reihe passen, um uns so ihren Aufenthaltsort mitteilen zu können, Sie haben auch noch Bücher genommen, die nicht zu denen in ihrem Bücherregal passen würden. Jedenfalls wäre es seltsam, würden Sie als Pescetarierin auf einmal Kochbücher kaufen, die einem zeigen, wie man Schweinebraten auf 100 verschiedene Arten zubereiten kann. Dass es nicht für Ihren Laden sein konnte, war mir ebenfalls klar, da Sie auf ihrem Schreibtisch die Login-Daten für einen speziellen Account dafür liegen hatten. Da wurde mir klar, dass es sich dabei eindeutig um eine Nachricht von ihnen handeln muss. Und auch, dass er nicht Ihr Ehemann ist, sondern Ihr Entführer. Sie hatten nicht viel Zeit, das vorzubereiten, nicht wahr?“ Die Frau nickte, rieb sich immer noch die Handgelenke. „Ja, ich konnte es auf dem Weg machen, als wir hierherfuhren. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich schon, was er mit mir vorhatte, ließ es mir aber nicht anmerken. Vielleicht habe ich ja auch zu viele Krimis gelesen, aber das iPad war das Einzige, was ich gerade zu Hand hatte.  Sein Name lautet Matthew McCormick und er war ein Stammkunde in unserem Laden. Weswegen ich erst keinen Verdacht schöpfte, als er mich zu einem Lesetreffen einlud. Keiner seiner Opfer hat etwas geahnt …“ Sofort riss sie die Augen auf, dann packte sie Sherlocks Arm und sah ihn an, als hätte sie gerade einen Geist gesehen.   „Es gibt da etwas, dass ich Ihnen erzählen muss. Bevor ich die Nachricht abgeschickt habe, hat er mir etwas erzählt. Auf den Trick mit den Autoren-Nachnamen bin ich durch ihn gekommen. Glücklicherweise bekam er nicht mit, was ich genau mit meinem iPad gemacht habe, auch wenn er mir vorsichtshalber mein Handy und meinen Schlüssel abgenommen hatte. Das iPad konnte ich unter den Schrank schubsen“, und deutete mit der Hand unter die kleine Lücke. „Jedenfalls hat er mir alles erzählt. Er hat es jedem seiner Opfer erzählt, da er wusste, dass sie es niemanden sagen können. Zumindest dachte er es bisher, er konnte ja nicht ahnen, dass eines der Opfer einen Hilferuf in die Außenwelt absetzen konnte. Wie gut, dass ich es noch im Wagen getan habe, hier unten ist der Empfang nicht mehr vorhanden. Und wie gut, dass er die Angewohnheit hatte, all seine Mitfahrer auf die Rückbank zu verfrachten, so war es mir überhaupt möglich, das zu tun. Aber wie ich sagte, das mit der Wunschliste, das mit den Autoren, das habe ich alles von ihm übernommen. Mr. Holmes, er hat seine Opfer nicht zufällig herausgesucht – bei uns hat er das Gleiche gemacht. Er nannte es seine „persönliche Wunschliste“ und wenn er die durchhabe, dann bekäme er das, was er sich am meisten wünschen würde. Er möchte sich an Ihnen rächen, nur wofür, habe ich nicht ganz verstanden. Ich meine, er hat den Namen Moriarty erwähnt …“ Sherlock dachte konzentriert nach, erinnerte sich an die Namen der drei Personen und versuchte den Trick, den er schon beim Screenshot angewandt hatte. Doch die drei Buchstaben ergaben keinen Sinn, weshalb er die Vornamen auch hinzuzog. Schließlich ging ihm ein Licht auf – und gleichzeitig wich ihm für einen Herzschlag jegliche Farbe aus dem Gesicht. Gleichzeitig verfluchte er sich dafür, so nachlässig gewesen zu sein. Verfluchte sich dafür, dass er nicht eher hinter da Rätsel gekommen war. Benommen stützte er sich auf dem kleinen Tisch ab, die besorgten Blicke und Worte der Frau ignorierend. Lestrade, der dies ebenfalls mitbekam, trat an Sherlock heran. „Sherlock, was ist mit Ihnen?“, doch Sherlock schob ihn nur weg. „Die drei Opfer dienten nur zur Ablenkung und gleichzeitig dienten sie auch als Nachricht, die mich erreichen sollte. Leider habe ich sie wohl zu spät bekommen.“ Ahnungslos sah Lestrade von Sherlock zu Mrs. North, doch auch diese hob nur die Schultern. „Offenbar kennen Sie zwar den Trick, aber nicht die Vornamen der anderen Opfer, denn sonst wären Sie auch längst darauf gekommen, was er wirklich wollte. Wenn man die ersten Buchstaben der Vor- und Nachnamen nimmt, ergibt es zusammen WATSON. Wer damit gemeint ist, muss ich wohl nicht näher erläutern …“ Lestrade öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, doch wusste nicht was. „Wo ist er gerade? Ist er alleine?“ „Ja, ich habe ihn zuhause bei seiner Tochter gelassen“, antwortete Sherlock. Damit wollte ich ihn beschützen – doch genau das Gegenteil erreicht. „Schnell, Lestrade, bevor es zu spät ist!“, er packte ihn am Arm und zog ihn in Richtung Ausgang, gefolgt von Mrs North und dem Vermieter. Kapitel 5: Keine Fußspuren im Sand ---------------------------------- Dieses Mal mit Sirene und Blaulicht auf dem Autodach, fuhren die vier so schnell wie möglich zurück in die Baker Street. Unterwegs hatte Sherlock versucht, seinen Mitbewohner am Telefon zu erreichen, doch es gelang ihm nicht. „Naja, dass er nicht ran geht, muss ja nicht unbedingt bedeuten, dass ihm etwas zugestoßen ist. Es könnte ja auch sein, dass er das Telefon nicht hört, unter der Dusche steht oder gerade die Windeln seiner Tochter wechselt.“ Sherlock schüttelte den Kopf, die Miene finster, starrte er hinaus auf die Straße vor ihm. „Nein, John hat einen sehr lauten und deutlichen Klingelton, den kann er gar nicht überhören. Und seit er seine kleine Tochter hat, ist er generell dafür sehr hellhörig geworden, für den Fall, dass er in der Praxis angerufen wird. Unter der Dusche kann er nicht sein, er hat feste Duschzeiten. Und seine Tochter lässt er sich meist von Mrs. Hudson wickeln, das kann es also auch nicht sein.“ Man konnte aus seiner Stimme heraushören, wie gestresst er sich im Inneren deswegen fühlte – und auch, wie zerknirscht er war. Da hatte er die ganze Zeit die wahre Absicht des Täters vor der Nase, und war ihm blindlings in die Falle gelaufen. „Aber eines verstehe ich nicht“, mischte sich Mrs. North ein. „Woher wusste er, wann sie zu mir kommen würden und ob sie überhaupt kommen würden? Warum hat er nicht einfach gewartet, bis Mr. Watson beim Einkaufen ist oder generell alleine? Warum solche Umstände?“ „Das ist ganz einfach“, meinte Sherlock und rieb sich die Stirn, die Falten blieben trotzdem. „Er hat nicht darauf spekuliert, dass ich dorthin fahren würde, sondern es bewusst geplant. Ob er das, was er Ihnen erzählt hatte, auch wirklich den anderen Opfern erzählt hat, können wir jetzt nicht mehr herausfinden. Es ist auch vollkommen irrelevant, ob er es ihnen gesagt hat oder nicht. Ihnen hat er es auf jeden Fall erzählt und er wusste, dass sie irgendeine Kommunikationsmöglichkeit haben. Er wusste, dass Sie ihr iPad dabeihaben und hat uns glauben lassen, dass Sie ungestört eine Nachricht hinterlassen können. In Wirklichkeit war es seine Absicht, er wollte, dass Sie eine Nachricht hinterlassen. Es war für ihn nur noch eine Frage der Zeit, bis ich dahinterkommen würde, und er hat darauf gewartet. Einfach, um die Genugtuung zu genießen, mich auf eine falsche Fährte gelockt zu haben. Darum ging es ihm vorrangig. Neben dem Effekt, dass John von mir getrennt wird. Da er einer von Moriartys Ameisen ist, ist es von ihm zu erwarten, dass er es auf diese Art macht. Dass er sich auf diese Art und Weise an mir rächen will, dass ich die Königin des ganzen Ameisenhaufen auf dem Gewissen habe.“ Keiner widersprach ihm, viel zu sehr waren sie von seinen neuesten Schlussfolgerungen gebannt. „Es war ein Fehler von mir zu glauben, sie alle erwischt zu haben – es ist wie bei einer Fruchtfliegenplage. Immer, wenn man denkt, man hat sie alle, taucht irgendwo wieder eine neue auf.“ Kurz flammten Erinnerungen vor seinem inneren Auge auf, daran, wie Johns Leben schon das eine oder andere Mal auf dem Spiel gestanden hatte. Als er in dem riesigen Lagerfeuer fast verbrannt wäre. Als Moriarty ihm eine Bombe um den Körper befunden hatte. Als er sich unwissentlich im Zielkreuz eines Scharfschützen befand. Sherlock schluckte angesichts der Tatsache, dass er selbst stets die Ursache dafür war.   „John Watson ist ein tapferer Mann“, sagte Sherlock laut in die Runde, ohne jeglichen Zusammenhang. Verwundert sahen die anderen ihn an, kommentierten es jedoch nicht. „Er war im Krieg, ihm geht es sicherlich gut“, versuchte er sie trocken zu beruhigen. Dass er sich durchaus Sorgen machte, ließ er sich so gut wie nicht anmerken. Er wusste, zu was Moriartys Leuten teilweise fähig waren, er hatte die Ergebnisse oft genug sehen müssen. Körperliche und seelische Verletzungen – viele Menschen mussten unter dem kriminellen Meisterhirn und seinen Schergen leiden. Er wusste, dass man John nicht so leicht unterkriegen könnte, aber er war immer noch ein normaler Mensch. Wenn man es nur richtig machte, würde sein Widerstand brechen, wie eine Walnuss oder ein Krebspanzer …, wenn man bei den Menschen nur die richtigen Knöpfe drückte. Sherlock schloss nicht aus, dass der Täter bereits über Dr. John Watsons persönliche Schwachpunkte Bescheid wusste. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er sich wünschte, er hätte sich mit seinen Ermittlungsergebnissen geirrt, doch er wusste, dass es nur simples Wunschdenken war, wie es jede normale Person auch in diesem Moment haben würde. Zerknirscht biss er sich auf die Lippe. Sollte der Täter Watson oder gar Mrs. Hudson bereits vor Ort etwas angetan haben, wusste Sherlock nicht, wie er reagieren sollte. Er musste an den Mann denken, der Mrs. Hudson geschlagen hatte – und den ihn dafür immer wieder aus dem Fenster fallen gelassen hatte. In anderen Momenten hätte es ihn zum Schmunzeln gebracht, doch jetzt brachte es nur den Zorn in seinem Inneren zum Kochen. Er ballte die Fäuste und zwang sich dazu, einen Blick aus dem Seitenfenster zu werfen, innerlich angespannt stellte er fest, dass ihn zu seinem Glück niemand bemerkte. Sie alle gingen ihren eigenen Sorgen und Gedanken nach, sahen ihn gar nicht. Oder sie ignorierten ihn großzügig, zumindest sah er in ihren Mienen keine Veränderung. Im gleichen Augenblick erreichten sie die Baker Street, Lestrade hielt direkt vor dem Haus an und stellte den Wagen ab. „Mrs. North, Mr. Universe, wenn ich Sie beide bitten dürfte, für einen Moment hier im Wagen zu warten. Die Lage im Gebäude ist momentan noch sehr unklar für uns und es ist schon gefährlich genug, dass ich Holmes hier mitnehme.“ Dabei deutete er mit seinem Kopf in Richtung Sherlock, der sich bereits auf den Weg zur Wohnungstüre befand. Wobei ich mich gerade frage, für wen das hier gefährlicher sein könnte, Lestrade dachte an den gleichen Vorfall wie Sherlock wenige Sekunden zuvor. Er hatte den Mann gesehen, der unzählige Male aus dem Fenster gefallen war, wie verletzt er gewesen war. Schon damals war sich Lestrade sicher, dass er, egal wie gut er Sherlock kannte, niemals den Zorn dieses Mannes auf sich ziehen mochte. Niemals wollte er die Folgen davon spüren. Und er spürte, dass es für den jetzigen Täter nicht anders aussehen würde und hoffte, dass Sherlock nicht mehr im Besitz seiner Schusswaffe war. Er schätzte ihn nicht als jemanden ein, der sofort den Abzug drücken würde, dennoch gab es ihm ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass ihm Mrs. Hudson die Waffe eines Tages abgenommen hatte.   Dann zog er seine eigene Dienstwaffe, lehnte sich an die Wand und sah Sherlock ins Gesicht. Sie beide konnten an der Tür keinerlei Kampfspuren erkennen, ebenso wenig wie von einem Einbruch. Hat er dem Täter etwa freiwillig die Tür aufgemacht? schoss es beiden durch den Kopf, dann öffnete Sherlock die Tür und sah sich um. Auch im Inneren sah alles aus wie an jedem anderen Tag, genauso, wie Sherlock es vorhin hinterlassen hatte. Lediglich die Tür zu ihrer Wohnung war zugezogen, was schon ein wenig verdächtiger auf ihn wirkte. Habe ich die Tür vorhin verschlossen? Oder habe ich sie offengelassen? Hat John sie nach mir zugemacht? Er bereute es immer mehr, seinen Kollegen und Zimmergenossen nicht mitgenommen zu haben, als Mrs. Hudson aus ihrer Wohnung kam und fast wieder in diese hineinfiel. „Sherlock, ich will ja nicht unhöflich klingen, aber was machen Sie denn hier? Wo ist John? Ich dachte, Ihnen geht es nicht gut!“, plapperte sie in einem Schwall, den Sherlock zu stoppen versuchte. „Nein, Mrs. Hudson, mir geht es gut. Ich bin gesund und unverletzt. Was ist denn mit John? Ist er nicht dort oben, ich habe versucht ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber er geht nicht ran …“ Verwirrt sah ihn die ältere Dame an, sie konnte sich auf die ganze Sache immer noch keinen Reim machen. Immer wieder strich sie über Sherlocks Gesicht und Oberkörper, als wollte sie sichergehen, dass er nicht einmal einen Kratzer hatte. „Nun, es ist so, vorhin kam ein fremder Mann vorbei, er hatte sich als ihr Klient vorgestellt. Mr. North war sein Name … ja genau, er hieß wie eine Himmelsrichtung. Er kam vorbei, und meinte, Sie beide hätten den Täter gefunden. Nur dass sie verletzt worden wären und Johns Hilfe benötigen würden. John hat sofort seinen Arztkoffer genommen und sie sind zusammen irgendwo hingefahren … sagen Sie mir, Sherlock, was ist hier los? Wer war der Mann, der ihn geholt hat?“ „Mrs. Hudson, das muss ich Ihnen ein anderes Mal erklären, jetzt haben wir leider keine Zeit dafür“, dabei versuchte er nicht seine Beherrschung zu verlieren. Er war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Mrs. Hudson es nicht besser gewusst hatte, woher auch? Am Ende war sie trotz ihrer Vergangenheit ein einfacher Mensch, mit einfachen Gedanken und Moralvorstellungen … „Mrs. Hudson, das ist jetzt unglaublich wichtig: Können Sie sich an irgendwelche Einzelheiten oder Details erinnern? Irgendwas, was uns helfen könnte, herauszufinden, wo die Beiden hingefahren sind?“ Doch diese schüttelte zu seiner Enttäuschung nur den Kopf. Sherlocks Stirn lag wieder in Falten, dann versuchte er sich zu entspannen. Das gelang ihm nur geringfügig. „Ist wenigstens Amy in Sicherheit? Oder haben sie sie mitgenommen?“, fragte er so ruhig es ihm möglich war. „Ja, sie ist in Sicherheit. Er hat sie mir vorhin vorbeigebracht und das Einzige, was sie hatte, war bisher eine weitere volle Windel …“ „Sobald er wieder hier ist, müssen Sie ihm umgehend beibringen, wie man das macht. Er kann es nicht immer auf sie abwälzen.“ Dabei quälte er sich zu einem Lächeln, noch mehr als sonst. Mrs. Hudson seufzte, dann setzte sie ebenfalls ein schwaches Lächeln auf. „Ja, das werde ich wohl müssen. Es gibt Dinge, vor denen man sich nicht für immer drücken kann.“ Stumm kommunizierten ihre Augen miteinander, wie zwischen einer Mutter und einem Sohn; dann verabschiedete sie sich, mit den Worten, dass sie mal nach der Kleinen sehen müsse. Doch Sherlock wusste, dass es nur eine Ausrede war, sie würde wieder verängstigt am Küchentisch sitzen und auf einen Anruf warten. Einen, der ihr sagen würde: Ihre beiden Jungs sind in Sicherheit. Fest entschlossen sah Sherlock Lestrade an, dann betraten sie die Wohnung.   Doch auch in ihr fanden sie keinerlei Hinweise darauf, was hier vor wenigen Stunden passiert war. Es sah frisch verlassen aus, wie aus dem Alltag geschnitten. „Wie bei den anderen Opfern – sie sind alle einfach mitgegangen“, merkte Lestrade an, sich immer noch vorsichtig umsehend. „Nur leider sehen wir auch nichts, dass uns sagt, wo die beiden nun sind.“ „Nicht ganz, er war sogar so freundlich und hat mir einen Hinweis hinterlassen“, sagte Sherlock und hob einen kleinen Zettel in die Höhe, auf welchem die Wörter „Fisch“ und „North“ standen. Lestrade kniff die Augen zusammen, er konnte sich nicht ganz zusammenreimen, was mit „Fisch“ gemeint sein könnte. Dies konnte Sherlock ihm in den Augen ablesen. „Lestrade, wir verlieren am besten so wenig Zeit wie möglich und befragen die Frau. Wenn wir überhaupt noch viel Zeit haben!“ Mit diesen Worten drängte er sich an ihm vorbei und rannte die Treppen hinunter, Lestrade schloss die Wohnungstür und folgte ihm. Sherlock stand bereits an seinem Wagen und befragte die junge Frau, was mit dem Codewort „Fisch“ gemeint sein könnte. Sie dachte kurz nach, viel zu lange in Sherlocks Augen, dann fiel es ihr ein und sie sah ihn mit großen Augen an. „Ich weiß genau, was er damit meint. Früher, als ich noch verheiratet war, sind mein Mann und ich oft zu unserem kleinen Küstenhaus gefahren, um uns dort ein wenig zu erholen. Wir sind dort auch oft angeln gegangen, kein Wunder, bei den ganzen Fischern um einen herum kommt widersteht man nur schwer der Versuchung, es nicht auch zu tun. Bei unserer Trennung habe ich das Haus bekommen und halte mich dort auch heute noch das eine oder andere Mal auf. Ich habe oft meinen Stammkunden davon erzählt, wir hatten auch mehrere Buchlesungen.“ „Jetzt, wo er Ihren Schlüsselbund hat, hat er natürlich auch vollen Zutritt auf dieses Haus. Zurück zu Ihrem Gefängnis konnte er ja nicht, er konnte es schlecht riskieren, mir oder Lestrade dabei in die Arme zu laufen.“ „Sagen Sie, wo ist dieses Haus genau? Wir müssen uns so schnell wie möglich auf den Weg machen.“, mischte sich Lestrade ein. Mrs. North sah zwischen den beiden hin und her. „Natürlich, fahren wir sofort hin. Es ist westlich der Ortschaft Isle of Grain. Lassen Sie uns fahren, ich sage Ihnen, wie wir auf den schnellsten Weg dorthin kommen, ohne dabei auf den Berufsverkehr oder andere Hindernisse zu stoßen.“ Kapitel 6: Rachefeldzug ----------------------- Das erste, was er spürte, als er wieder zu Bewusstsein kam, war der pochende Schmerz auf seinem Hinterkopf. Anschließend einen metallenen Geschmack in seinem Mund, welcher recht schnell wieder nachließ. Sich noch über seine komplette Situation im Unklaren, öffnete er langsam die Augen und versuchte sich zu orientieren. Doch alles, was er sah, war ein ihm völlig unbekanntes Wohnzimmer. Auch die Landschaft, die er durch das Fenster erkennen konnte, konnte ihm nicht verraten, wo er sich befand, da er diese ebenfalls noch nie gesehen hatte. Er versuchte sich daran zu erinnern, was mit ihm passiert war, was er, bevor er an diesem Ort aufwacht war, getan hatte. Nachdem Sherlock die Wohnung verlassen hatte, habe ich mich um Amy gekümmert. Anschließend habe ich sie kurz zu Mrs. Hudson gebracht, damit sie sie füttern konnte. Genau, sie hat ihr frisches Karottenpüree zubereitet. Dann hat es an der Tür geklingelt, Mr. North kam vorbei, um mich zu holen. Er sagte … er sagte, Sherlock wäre vom Täter verwundet und bräuchte meine Hilfe … Aus dem Pochen wurde ein Stechen, reflexartig wollte er sich an die schmerzende Stelle greifen, doch es gelang ihm nicht. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er an einen Stuhl gebunden war, seine kompletten Unterarme und Unterschenkel waren mit einem Seil an diesem befestigt. Rüttelnd versuchte er sich zu befreien, ohne jeglichen Erfolg. „Hallo, kann mich jemand hören! Ich bin hier eingesperrt!“, rief er so laut er konnte, doch soweit er erkennen konnte, war vor den Fenstern niemand zu sehen. Er rief noch ein paar weitere Male um Hilfe und kurz keimte Hoffnung in ihm auf, als sich die Tür öffnete. Sherlock, gut dass du gekommen bist …    Bis er das finstere Grinsen seines Entführers erblickte, das sich ihm näherte. Die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, verschluckte er auf der Stelle. Gänsehaut breitete sich großzügig auf seinem Rücken aus und er konnte sich nun daran erinnern, was nach der Autofahrt geschehen war. „Sie … Sie haben mich hierhergeführt und dann hinterrücks angegriffen! Wer sind Sie wirklich und was wollen Sie von mir?“, rief er ihm entgegen, doch der Mann lächelte nur. Den Kopf schief, wirkte es wie das Lachen einer Puppe. Einer fürchterlichen, geisteskranken Puppe. „Nun, von Ihnen möchte ich nichts, Mr. Watson. Aber ich bin froh, dass Sie nun endlich aufgewacht sind. Ich hatte schon befürchtet, ich hätte zu fest zugeschlagen und Ihnen somit vorzeitig das Lebenslicht ausgepustet. Aber das wäre doch viel zu früh. Nein, der beste Teil kommt für uns alle ja noch. Auch wenn sie nicht meine richtige Zielperson sind.“ Sein Grinsen vergrößerte sich und John brauchte ein paar Momente, um zu verstehen, was er damit gemeint hatte. „All diese Morde, all die Warterei und die Vorbereitungen. All dies für den einen Moment, für diesen großen, besonderen Moment!“ Übelkeit stieg in John auf, er konnte nicht glauben, was er da hörte. Doch dann wurde es ihm bewusst. „Sherlock … Sie wollen über mich an Sherlock herankommen, nicht wahr? Aber Sie hatten ihn bereits in Ihrer Wohnung, warum dieses ganze Theater? Wozu mussten all diese Leute sterben? Etwa zu Ihrem persönlichen Vergnügen?“ Erneut begann er zu lachen, dieses Mal finsterer und lauter. „Mein lieber Mr. Watson … Sie haben wirklich ein gutes Herz. Aber glauben Sie mir, damit kommen Sie nicht weiter im Leben. Nicht, wenn Sie ganz oben ankommen wollen. Manchmal … muss man eben Opfer bringen, um seine Ziele zu erreichen. Und sobald Mr. Holmes durch die Tür tritt, was wohl jeden Augenblick der Fall sein wird, werde ich endlich bekommen, was ich mir so sehr wünsche.“ Unsicher darüber, ob er es wirklich hören wollte, fragte er: „Und was genau wünschen Sie sich?“ Das Lachen stockte, McCormick drehte sich von ihm weg, ungeduldig auf die Tür starrend. „Nun, das kann ich Ihnen beantworten, Mr. Watson. Ich möchte Rache. Rache für das, was er dem wirklich größten Genie aller Zeiten angetan hat. Rache für den Tod von Jim Moriarty!“ Augenblicklich blieb John das Herz stehen, allein die Erwähnung des Namens reichte ihm vollkommen als Beweis, wie ernst es McCormick damit war. Ich … ich muss ihn warnen. Sherlock, komm auf gar keinen Fall her, das ist eine Falle! McCormick wandte sich ihm wieder zu, sein Grinsen wurde zu einem Lachen, laut und grell. Aber auch irre. „Oh, natürlich, es gibt da noch eine Sache, an die ich nicht gedacht habe. Wir wollen ja immerhin nicht, dass wir unserem Ehrengast die Überraschung versauen, nicht wahr? Sie sind doch jemand, der Überraschungen mag, nicht wahr, Mr. Watson? Genau, das dachte ich mir. Und deswegen sind Sie jetzt ein braver britischer Staatsbürger und versauen Ihrem besten Freund nicht die Überraschung. Ich habe mir extra so viel Mühe in der Vorbereitung gegeben und wir wollen ja nicht, dass er enttäuscht wird.“ Mit schnellen Schritten näherte McCormick sich ihm wieder, stopfte ihm eine frisch gewaschene Socke in den Mund und packte ihn an den Haaren. „Hören Sie gut zu“, flüsterte er John ins Ohr. Erneut schob sich eine Welle aus Schüttelfrost über seinen gesamten Rücken. „Wenn Sie trotzdem irgendeinen faulen Trick versuchen, dann werde ich nicht mehr so nett zu Ihnen sein. Sehen Sie das als einen kleinen … Vorgeschmack an“, und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Mit tränendem Auge unterdrückte John jeglichen Reflex, sich an die schmerzende Wange zu fassen. Doch unfähig, sich zu bewegen oder mitzuteilen, wusste er keine weitere Möglichkeit, wie er Sherlock warnen könnte. „Ich weiß, was Sie sich denken. Warum kann ich keine Telepathie? Oder nicht wenigstens in die Zukunft sehen? Nun, sehen Sie es ein: Nicht immer läuft alles so, wie es sich die Guten wünschen. Auch die Guten dürfen mal einen Verlust einholen. Und dafür werde ich sorgen … Oh, wenn das nicht unser Gast ist. Wir müssen ihn ganz freundlich begrüßen, wenn er gleich hier reinkommt. Was meinen Sie, Mr. Watson, schaffen wir das?“ Sachte klopfte er seinem menschlichen Paket auf die Schulter, welches nur schwer einen Würgereiz unterdrücken konnte.   „Da, das dort drüben ist das Haus“, sagte Mrs. North und deutete auf ein kleines Haus direkt am Wasser. Das Gelände rund um das Haus wirkte verlassen, hatten sich auf ihrem gesamten Weg nach der Ortschaft sämtliche Fischer auf einem Platz versammelt, ließ sich hier nicht ein einziger blicken. Unter anderen Umständen wäre Sherlock dies sicherlich aufgefallen, doch nun hatte er andere Dinge, auf die er sich konzentrierte. „Sie beide, Sie hören mir nun genau zu!“, sagte Lestrade und sah die beiden Zivilisten scharf an. „Sie müssen auf jeden Fall hier im Auto bleiben, wir wissen nicht, was sich dort drinnen abspielt. Das dient nur zur Ihrer Sicherheit. Daher müssen Sie sich auf jeden Fall daranhalten.“ Eindringlich sah er sie an, doch dies war nicht nötig. Die beiden nickten wortlos und blieben im Auto zurück, bereit, im Fall eines Falles Lestrades Kollegen über den Polizeifunk anzufordern. Wie bereits abgesprochen näherten sich Sherlock und Lestrade vorsichtig der Haustür, auf alle möglichen Anzeichen eines verstecken Angriffs achtend. Doch der Vorgarten wirkte so harmlos wie jeder andere britische Vorgarten, den sie bisher gesehen hatten. Auch die Fenster verrieten nichts davon, dass im Inneren gerade jemand festgehalten wurde. Oder möglicherweise Schlimmeres mit ihm geschah. Sie wollten es sich gar nicht ausmalen. Nicht für eine einzelne Sekunde. Den Griff erneut auf seiner Pistole, nickte Lestrade ihm zu, bevor Sherlock die Tür öffnete und zusammen mit dem Polizisten das kleine Haus betrat. „Willkommen, Mr. Holmes. Ich würde Sie gerne in meinem bescheidenen Heim begrüßen, bedauerlicherweise haben wir uns nie darin befunden. Sie haben es offenbar wirklich herausgefunden, wenn auch ein wenig spät, finden Sie nicht? Und Sie haben uns auch noch einen Gast mitgebracht, wie freundlich von Ihnen. Er war zwar nie für die Gästeliste vorhergesehen, aber man kann auch zu viert eine wundervolle, gemütliche Runde haben. Nun denn, meine Herren, treten Sie ein oder haben Sie etwa vor, in dem Türrahmen Wurzeln zu schlagen?“ Angewidert vom Ton, schoben sie sich in den kleinen Flur und ließen die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Vor ihnen stand McCormick, mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht, doch seine Augen strahlten Kälte aus. „Endlich zeigen sie uns Ihr wahres Gesicht, Mr. McCormick“, begann Sherlock, rührte sich dabei nicht vom Fleck. „Ich bin beeindruckt, dass Sie tatsächlich auf meine kleinen, aber feinen Hinweise gekommen sind. Es wäre aber auch eine Schande, wäre es anders gewesen …“ „Sie wissen ganz genau, weshalb wir hierhergekommen sind. Hören wir auf, um den heißen Brei herumzureden und sagen Sie uns, was Sie mit John Watson getan haben.“ Kichernd krümmte sich McCormick zusammen, hielt sich den Bauch fest und kicherte immer lauter. Dann hob er den Zeigefinger und knabberte an dessen Spitze. „Noch habe ich gar nichts getan, Mr. Holmes. Im Moment ist er noch mein Gast, es fehlt ihm an nichts, er bekommt von mir sogar eine Kleinigkeit zum Essen oder Trinken, wenn er das möchte. Natürlich ist nichts davon vergiftet, was wäre ich denn für ein schrecklicher Gastgeber, würde ich meine Gäste einfach vergiften?“ Erneut lachte er, dieses Mal noch künstlicher als bisher. „Sagen Sie, was Sie mit ihm vorhaben“, sagte Sherlock einen Ton lauter, es fiel ihm immer schwerer, die Fassung zu bewahren. „Sie sind einer von Moriartys Leuten, Sie sind nicht gerade jemand, der einfach so aus einer Laune heraus jemanden mitnimmt. Nein, Sie waren gezielt hinter John Watson her. Moment, nicht mal er war ihr richtiges Ziel. Wie auch die Entführungsopfer ist John nur ein weiteres Mittel zum Zweck. Was Sie in Wahrheit wollen, bin ich. Hier bin ich nun – was gedenken Sie zu tun?“ „Sich zu ergeben wäre eine gute Option“, meinte Lestrade und zielte mit seiner Dienstwaffe auf McCormick. Doch dieser ließ sich das Lächeln nicht nehmen. „Erneut liegen Sie mit Ihren Vermutungen richtig, Mr. Holmes. Theoretisch hätte ich auch viele andere Wege finden können, um Sie anzulocken, oder um Sie zu verletzen. Sie mögen ein besonderer Detektiv sein, aber wenn man Sie auf der Straße anschießt, sterben Sie wie jeder andere Mann auch. In Ihrem eigenen Blut liegend und hoffend, dass das noch nicht das Ende bedeutet. Doch so einfach will ich es Ihnen nicht machen. Mr. Moriarty war ein Genie, er war brillant und hat seine geistigen Schätze im Gegensatz zu Ihnen für die richtigen Zwecke genutzt. Er wusste, was die Zukunft dieser Welt ist. Denn wenn Sie einen Verbrecher verurteilen und einsperren werden drei weitere nachfolgen. Sie hätten die Chance gehabt, zusammen mit ihm die Welt zu verändern. Doch stattdessen haben Sie sich dafür entschieden, ihn vollkommen aus der Welt zu radieren! Seine Werke, seine jahrelangen Arbeiten und Mühen zu vernichten! Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie so einfach damit durchkommen lasse. Nein, Sie sollen auch mal in den Genuss davonkommen, was es bedeutet, jemanden zu verlieren, der einem wichtig ist. Natürlich können Sie jetzt sagen, Ich bin Sherlock Holmes, ein ganz wichtiger und berühmter Detektiv, mir ist niemand wichtig. Doch das wären Lügen und das wissen Sie. Ich habe Sie beobachtet, Recherchen angestellt. Es gibt nicht viele Personen, die Ihnen nahestehen, aber von allen, die es tun, steht Ihnen John Watson am nächsten. Nun, da wir nun gerade auf ihn kommen, es ist doch etwas unhöflich ihn aus unserer gemütlichen Runde auszuschließen, nicht wahr? Warum gesellen wir uns nicht zu ihm?“, sagte er, und verschwand durch die Tür hinter sich. Sherlock und Lestrade sahen sich für einen Moment an, bevor sie McCormick in den nächsten Raum folgten.   Dort sahen sie John, wie er mit einer Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung an einem Stuhl gefesselt saß, mitten im Raum und mit etwas Stoffartigem im Mund. Er sah aus, als würde er ihnen etwas zurufen wollen, doch dazu war er nicht in der Lage. Auf seine Schläfe war das tödliche Ende eines Pistolenlaufs gerichtet. „Nun, ich denke, ich muss nicht weiter erwähnen, was ich mit diesem netten Mann vorhabe, Mr. Holmes. Andere an meiner Stelle hätten ihm nun etwas abgeschnitten, ihn anzündet oder die Haut am lebendigen Leibe weggeätzt. Doch nein, ich mache das nicht. Es ist einfach nicht mein Stil und es wäre eine viel zu große Sauerei. Und dann allein diese ganzen Schmerzensschreie … es mag Menschen geben, für die ist das Musik in ihren Ohren, aber zu diesen zähle ich mich nicht. Sie können sich also glücklich schätzen, Mr. Watson. Ihr Ende ist garantiert, aber immerhin kurz und nur mit leichten Schmerzen verbunden. Bin ich nicht überaus großzügig zu Ihnen?“ Panik stand im Gesicht des gefesselten Mannes, auch gleich er nicht die Hoffnung aufgab, dass Sherlock es irgendwie doch schaffen könnte. Ob er einen Plan hat? Doch der Detektiv blieb zusammen mit dem Polizisten, wo er war. Lestrade stand das Entsetzen im Gesicht geschrieben, Sherlock dagegen verzog keine Miene.   „Nun denn, Mr. Holmes, haben Sie noch ein paar letzte Worte, bevor Mr. Watson uns für immer verlässt?“, fragte McCormick lächelnd, mit dem Finger am Abzug. „Ja, die habe ich. Allerdings gelten diese Worte nicht ihm, sondern Ihnen, Mr. McCormick“, sagte er so ruhig er konnte. Im Nachhinein überraschte es ihn, wie ruhig er dabeigeblieben war, war sein Herz in diesem Moment zum Zerbersten nervös. „So so, mir wollen Sie also etwas sagen?“, stellte er amüsiert fest und zielte mit der Pistole auf den Boden. „Und was genau haben Sie mir denn zu sagen?“ „Genauer betrachtet, ist es eine Frage: Was haben Sie vor, wenn Sie mit Mr. Watson fertig sind?“, fragte er ihn in einem vollkommen ernstem Ton. „Sie haben bestimmt nicht gedacht, dass es so einfach werden würde. John können Sie einfach erschießen, er kann sich nicht wehren und ist an den Stuhl gefesselt. Doch mit uns beiden werden sie nicht fertig. Gut, mit Mr. Lestrade haben sie nicht gerechnet, aber was hatten Sie mit mir vor, wenn Sie fertig sind? Nein, sagen Sie nichts, die Frage kann ich mir auch ebenso gut selbst beantworten. Sie wollen sowohl mich als auch John tot sehen. Wenn Sie ihn allerdings einfach erschießen, laufen Sie Gefahr, dass ich in der Zwischenzeit flüchte oder mich gegen Sie zur Wehr setze. Selbst wenn Sie ein paar Schüsse auf mich abfeuern, steht es nicht fest, dass Sie mich auch wirklich verletzen. Das Risiko wollen und können Sie natürlich nicht eingehen. Meine Vermutung ist, dass Sie eine Notfalllösung haben. Erst verwunden Sie John, dann schießen Sie mir ins Bein und am Ende kommt Ihre zweite Waffe zum Einsatz. Eine, die sicherstellt, dass wir beide auch wirklich sterben – das mit dem schnellen und leicht schmerzhaften Tod war eine Lüge. John mag darauf hereinfallen, aber mich beeindruckt das nicht im Geringsten.“ McCormick fing zu lachen an, ein Lachen, welches schrill in ihren Ohren klingelte. „Auch wenn Sie mein Erzfeind sind, bin ich doch ein wenig von Ihrem Können beeindruckt, das muss ich zugeben. Und ja, Sie haben Recht, das hier war nicht die richtige Art, mit der ich mich an Ihnen rächen wollte. Wovor Sie sich fürchten sollten, halte ich hier, in meiner anderen Hand.“ Aus seiner Hose holte er einen Funkzünder hervor, den Knopf hinter einem kleinen Plastikdeckel versiegelt, damit dieser nicht versehentlich aktiviert wurde. Zufrieden, immer noch die Fäden in der Hand zu haben, sah er zu den beiden Männern hoch. Nun hatte sein Blick endgültig nichts mehr mit dem Mann zu tun, den sie wenige Tage vorher als besorgten Ehemann kennengelernt hatten. „Der Sprengstoff ist übrigens an mehreren Stellen im Haus versteckt – man muss ja sichergehen, dass auch alles hier in diesem kleinen Haus gleichmäßig in Flammen gesetzt wird. Nicht, dass es noch eine kleine, sichere Ecke gibt, in der Sie sich verstecken können, das wollen wir doch nicht, wenn Sie beide sterben sollen“, sagte er in einem fast schon mütterlichen Ton.   Verzweifelt sah Lestrade zu Sherlock, in der Hoffnung, dass diesem etwas einfallen würde. Doch als nichts von ihm kam, richtete er seine eigene Waffe auf den Täter. „Oh, Sie wollen mir drohen? Das würde ich an Ihrer Stelle nicht machen, oh nein, ganz und gar nicht. Es könnte gar nicht gut für Sie ausgehen. Sie würden nun gerne Dinge sagen, wie Lassen Sie die Waffe fallen, oder Legen Sie den Zünder weg. Dummerweise funktioniert das nicht so einfach, nicht bei mir. Wenn Sie sich noch einen Zentimeter bewegen, vor allem in meine Richtung, werde ich den Knopf drücken. Auf die Distanz erreichen Sie mich nicht schnell genug, selbst, wenn Sie beide gleichzeitig loslaufen. Verabschieden Sie sich voneinander, aber nicht traurig sein, Sie drei werden sich noch im Nachleben lange genug sehen können!“ Wieder hielt er die Pistole an Johns Kopf, bereit, in diesem Moment abzudrücken. Jetzt wurde Sherlock bewusst, dass McCormick keinerlei Absichten zur Flucht hatte. „Sie wollen sich mit uns zusammen umbringen!“; stellte er fest, und ein Blick in McCormicks Augen zeigte dessen Entschlossenheit. Er sah aus, wie jemand, der schon längst mit dem Leben abgeschlossen hatte und nur noch auf den entscheidenden Moment wartete.   „Sayonara, Dr. Watson“, sagte er, als mehrfaches Klirren von Glas zu hören war. Keiner von Ihnen realisierte, was mit Ihnen geschah, erst im Nachhinein konnte ihr Gehirn die Information verarbeiten. Kleine, runde Dosen flogen durch die aufgeschossenen Fenster, ein grelles Licht breitete sich aus. John kniff sich so fest er konnte die Augen zu, die anderen hoben Ihre Arme, um sich vor dem beißenden Licht zu schützen. „Was soll denn das?“, fragte McCormick, verwirrt torkelte er ein paar Schritte von John weg. In diesem Moment wurde er von einer unbekannten Person zu Boden gerissen. Er vermutete Sherlock oder den anderen Mann dahinter, doch so richtig war er nicht überzeugt davon. Wie haben die das gemacht? Wo haben sie die Blendgranate her? Die haben sich doch gar nicht bewegt … Er spürte, wie man ihm die Pistole aus der Hand trat, der Zünder wurde ihm dagegen schon fast zärtlich aus der anderen Hand genommen. Ganz langsam ließ das Licht nach, nach ein paar wenigen Minuten konnte er die Augen öffnen, ohne, dass es ihm Schmerzen bereitete. Nun sah er auch, wer den Druck auf seinen Körper ausübte: Auf ihm lag ein schwer uniformierter Mann, um sie herum standen ein paar weitere. Ernst, mit Maschinenpistolen bewaffnet, hatten sie die Situation augenblicklich in ihre Kontrolle gebracht. Erleichtert, aber auch verwirrt, sah sich Lestrade nach Sherlock um. Fragte sich, ob das Ganze auf seine Kappe ging, ob das Gespräch mit dem Täter nur als Ablenkung gedient hatte, bis die Mitglieder der Spezialeinheiten bei ihnen eintreffen würde. Doch dieser verneinte, konnte es sich jedoch denken, wer der Drahtzieher hinter der ganzen Sache war. „Los, stehen Sie auf! Widerstand ist zwecklos!“, ruppig zog das Spezialeinheits-Mitglied McCormick auf seine Beine, um ihn dann zusammen mit einem Kollegen aus dem Haus zu schaffen. Ein dritter befreite John aus seinem engen Gefängnis und half ihm auf die Beine, bis dieser in der Lage war, selbstständig stehen zu können. Er bedankte sich bei dem Mann und dieser nickte tonlos. „Sherlock, Lestrade … vielen Dank, dass ihr mich gerettet habt. Ihr habt die Jungs gerade zum richtigen Moment kommen lassen; ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen.“ Sherlock wollte ihm gerade widersprechen, als es jemand anderes für ihn übernahm. „Nein, mein kleiner Bruder hat dieses Mal nichts damit zu tun.“ Wie üblich mit einem Schirm im Arm, betrat er langsam den Raum und sah sich um. „Mycroft – dachte ich es mir doch.“, sagte Sherlock freudlos. „Wenn du deinen Kopf doch nur noch öfter zum Denken nutzen würdest, dann wärst du weniger … nachlässig, kleiner Bruder“, wusch er ihm ohne jede Vorwarnung den Kopf. „So war es mir möglich, euch beide zu beobachten und im richtigen Moment einzugreifen. Das hätte ziemlich böse ins Auge gehen können.“ Die beiden sahen sich an und man sah Mycroft an, wie sehr er es genoss, seinen jüngeren Bruder zu necken. Diesem gefiel es gar nicht, so vorgeführt zu werden, auch, wenn Mycrofts Vorwürfe den Tatsachen entsprachen. „Das nächste Mal möchte ich nur bitte informiert werden, wenn du mit Gegnern dieses Ausmaßes zu tun hast. Ich habe immerhin nicht zwei Jahres meines Lebens damit verbracht, dir bei der Vernichtung des Moriarty-Netzwerkes zu helfen, nur, damit du an einem kleinen Helferlein stirbst. Und ja, von der Bombe wissen wir, meine Männer sind gerade dabei sie zu entschärfen. Nächstes Mal kontrollierst du deine Aufgaben, bevor du sie abgibst, Brüderchen. Sonst bekommst du wieder nur ein C. Das geht noch besser, das wissen wir beide.“ Scharfe Blicke teilten sie untereinander aus, wie zwei Raubtiere, die sich umkreisten und nach dem idealen Zeitpunkt suchten, um ihren Gegner zu Boden zu ringen. Schließlich ging Mycroft an ihm vorbei; in einer Lautstärke, die nur sie beiden hörte, bedankte sich Sherlock bei ihm. „Danke Mycroft …, dass du John gerettet hast.“ Er sah seinen kleinen Bruder für einen Moment aus den Augenwinkeln an, antwortete etwas Unverständliches und verließ den Raum genauso schnell, wie er ihn betreten hatte. Mit flotten, aber auch eleganten Schritten.   Epilog: Epilog -------------- Nach einer kurzen Befragung, der sich John unterziehen musste („Keine Sorge, den Rest machen einfach ein anderes Mal“), brachte Lestrade die beiden zurück in die Baker Street, wo sie umgehend in die Arme von Mrs. Hudson fielen. „Sherlock! John! Ihnen geht es gut, das freut mich! Ich bin schon fast krank vor Sorge gewesen.“ Eine kleine Träne wegwischend, sah sie zwischen den beiden Männern hin und her; sie wirkten erschöpft auf sie. Müder, als sie im Moment zugeben würden. Doch sie war sich sicher, würden sie sich jetzt ins Bett legen, wären sie nullkommanichts im Land der Träume. „Geht ihr beide doch schon mal rauf, ich bringe Amy später zu euch. Sie spielt hier gerade so schön und da möchte ich sie nicht unterbrechen“, sagte sie mit einem Augenzwinkern, bevor sie die beiden aus ihrer Wohnung hinausschob. Kurz sahen sie verwundert auf ihre geschlossene Wohnungstür, dann taten sie wie befohlen und setzten sich oben auf das Sofa. Erst jetzt merkten sie, wie lange der Tag für sie gewesen war; Müdigkeit kroch aus allen Ecken hervor in ihre Körper, machte sich jetzt in ihnen bemerkbar. John gähnte ein wenig, doch es gab etwas, dass ihm keine Ruhe ließ. „Was genau war jetzt hier eigentlich los? Der Typ hat mir gar nichts erzählt … er sagte mir, du wärst verletzt und dass du meine Hilfe benötigen würdest. Dass du nur von mir Hilfe annehmen würdest. Im ersten Moment fand ich das seltsam, aber du sagst und machst viele seltsame Dinge, also habe ich mir nicht viel dabei gedacht... Als wir angekommen sind, hat er mich niedergeschlagen. Erst als ich wieder aufgewacht bin, hat er mir offenbart, dass ich nicht mitgekommen bin, um dir zu helfen, sondern um ihm als Geisel zu dienen. Wenigstens ging es gut für uns aus!“ Sherlock gab ein undefinierbares Schnaufen von sich, das John nicht so recht einordnen konnte. Er beschloss, es in diesem Moment unkommentiert zu lassen.   „Jedenfalls, vielen Dank nochmal, Sherlock, dass du mir mein Leben gerettet hast. Ich weiß gar nicht, wie ich dir das danken soll – aber du sollst auf jeden Fall wissen, dass ich dir das nicht vergessen werde. Jedes einzelne Mal!“ „Schon in Ordnung“, sagte Sherlock, offensichtlich mit der Situation dezent überfordert. „Das machen doch … Freunde, nicht wahr? Sie retten sich und bringen sich gleichzeitig in gefährliche Situationen. Immerhin sind wir doch Freunde, oder würdest du unsere Beziehung anderes definieren?“ John zog die Stirn zusammen, dann entspannte er sich und begann sehr zu Sherlocks Verwunderung zu lachen. „Was denkst du denn, Sherlock? Klar sind wir das! Wir sind sogar recht gute Freunde, würde ich behaupten!“ „Aha, ist das so?“, war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte, dann richtete er seine Augen auf John. Wieder, wie ein paar Tage zuvor im Haus von Mrs. North, sah er ihn mit einem seltsamen Blick an, von dem John nicht wusste, was er davon halten sollte. „Sherlock, ich möchte ja nicht unhöflich klingen, aber du machst es schon wieder …“ Er wich ein wenig zurück, was Sherlock nur dazu trieb, sich ihm im Gegenzug zu nähern. John bekam das Gefühl eines Déjà-vus, doch er wehrte sich nicht dagegen. Die Situation kam ihm so vertraut und bekannt vor.   „An was denkst du gerade, John?“, fragte er ihn neugierig, fast sinnlich und John brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, dass die Frage nicht nur ein Produkt seiner Fantasie war. „Ich weiß nicht, an was ich denke“, entgegnete er geistesabwesend. „Irgendwie erinnert mich das hier an einen Traum, den ich mal hatte. Nein, es war kein Traum, es war eine Art Einbildung, eine Fata Morgana, ohne in der Wüste zu stehen … vergiss es, ich rede wirres Zeug“, sagte John, während er überlegte, wie weit er mit seiner Erklärung gehen sollte. John lächelte gequält und wünschte sich, die seltsame Situation würde sich ändern. Doch nichts geschah, Sherlock war immer noch leicht über ihn gebeugt und sah ihm direkt ins Gesicht. „Dann lass mich auch mal wirres Zeug erzählen, John. Erinnerst du dich noch an den Fall mit dem Hund, John? Damals, mit diesem Geisterhund? Damals fühlte ich ein seltsames Gefühl, dass ich davor seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Ich glaube, es war Angst oder zumindest Furcht, die ich dort spürte. Ja, ich, Sherlock Holmes spürte damals Furcht. Doch das, was ich in dem Gebäude vorhin spürte, war keine Furcht. Das war Angst. Für einen kurzen Moment sah ich wieder, wie Moriarty mit seinem tödlichen Fadenkreuz auf dich zielte. Damals konnte ich deinen Hals wieder aus der Schlinge ziehen, doch in diesem einen Moment sah ich mich nicht in der Lage dazu.“ Sherlock schürzte die Lippen, er hatte bereits das Gefühl zu viel gesagt zu haben und wandte seinen Blick ab. John schwieg und zum ersten Mal seit langer Zeit widerstand Sherlock dem Drang, ihm ins Gesicht zu sehen, seine Reaktionen, seine Gesten und Minen zu studieren. Erst als er eine Hand auf der seinen spürte, zog er sich zurück und setzte sich aufrecht hin. John tat es ihm nach, von Neugierde getrieben sah er den Detektiv an und versuchte, den Knoten auf seiner Zunge in Worte zu fassen. Es gab eine Frage, die ihn schon länger beschäftigte und er sah diesen Moment als den einzigen, in welchem er sie stellen könnte und auch die richtige Antwort dazu hören würde. Sein Gefühl sagte es ihm und er hatte oft damit richtig gelegen.   „Beantworte mir nur eine Frage, Sherlock. Ich erwarte nicht, dass du sie mir ehrlich beantwortest, aber ich würde mich freuen, wenn du mir etwas verraten könntest. Mich würde interessieren, warum du mich manchmal so seltsam ansiehst. Mit diesem Blick, als würdest du mein komplettes Innenleben kennenlernen wollen? Als würde dir ein Blick durchs Fenster nicht reichen, nein, du musst durch die Tür eintreten und dich genauestens umsehen. Aber warum? Wir kennen uns nun seit ein paar Jahren, warum musst du mich immer noch beobachten?“ Sherlock sah ihn mit einem seiner „Ist dir denn das nicht klar?“ – Blicke an und er spürte, dass John auf diese Fragen eine wirkliche Antwort verlangte. Dass er mit einem Schweigen nicht zufrieden sein würde, wie er es sonst oft war. „Nun, John, das ist recht einfach. Das liegt daran, dass du ein sehr simpler Mensch bist.“ John wartete noch kurz darauf, dass sich der Detektiv weiter äußerte, was er jedoch nicht tat. „Danke, dessen bin ich mir bewusst, das hast du mir oft genug zu verstehen gegeben. Doch das beantwortet meine Frage nicht!“ Sherlock sah ihn immer noch mit seinem Blick an, dann fuhr er seufzend fort. Nicht einmal er war sich sicher darüber, ob das nur gespielt war oder ob es ihm wirklich so schwerfiel, darüber zu reden. „Wie gesagt, du bist wie all die anderen Menschen simpel, so einfach gebaut und so schnell beeinflussbar. Das wurde ja heute wieder bewiesen. Du hast zwar einiges im Kopf und bist auch ein guter Arzt, aber am Ende bist du ein normaler Mensch, mit normalem Denken und einem kleinen, langweiligen Gehirn. Doch je mehr ich dich kennenlerne, desto mehr lerne ich von dir. Desto mehr sehe ich, wie wenig ich dich kenne. Du bist so offen wie ein Buch für mich und dann doch so geheimnisvoll wie das Geheimrezept für Kartoffelsalat meiner Mutter …“ Er pausierte einen Moment, dann näherte er sich ihm ein weiteres Mal. „John, du meintest, du hättest vorhin an eine Illusion gedacht. Was für eine war es? Erzähl mir davon!“, sagte er wieder in seinem seltsam-sinnlichen Tonfall. John schluckte, er wusste, es gab keinen Ausweg. Würde er sich eine Lüge ausdenken, würde Sherlock ihn sofort durchschauen. Und er konnte sich nicht ausmalen, wie Sherlock darauf reagieren würde, war doch die ganze Situation im Moment seltsam und surreal. So entschied er sich, ihm die Wahrheit zu erzählen.   „Ich hatte die Illusion – nun, wir haben uns … geküsst“, brachte er zaghaft hervor, darauf vorbereitet, dass Sherlock ihn auslachen oder für lächerlich erklären würde. Doch dieser tat weder das eine noch das andere. Im Gegenteil, er drehte sich mehr zu ihm um und sah ihm wieder direkt in die Augen. „Sag mir, wie hat es sich angefühlt? Für eine Illusion?“ „Es war warm und angenehm. Es kribbelte überall in meinem Körper und gab mir ein gutes Gefühl. Als würde ich in dem Moment das einzig richtige machen. Aber es war nur ein Tagtraum, wenn auch ein sehr intensiver, weswegen ich nie näher darüber nachgedacht habe.“ Sherlock lächelte ihn amüsiert an, zum größten Teil angesichts der Röte in Johns Gesicht. „Was, wenn du es herausfindest? Ob es nur ein Traum oder doch die Wirklichkeit war? Teste es, finde es heraus“, stachelte er ihn an. Überrumpelt starrte John ihn an, merkte aber, dass einem Teil von ihm die Idee gefiel. Da ist ja nichts dabei, ich meine, wir beide sind alleine und ein Kuss unter Männern hat mich ja noch nie wirklich gestört …. Als würde er eine zerbrechliche Porzellanpuppe anfassen, verkleinerte John den Abstand zwischen ihren beiden Gesichtern. Je kleiner der Abstand wurde, desto lauter und heftiger schlug sein Herz gegen seine Brust. Nur noch wenige Millimeter trennten ihre Lippen, doch ihn hatte der Mut verlassen, er konnte sich weder vor noch zurückbewegen. Erneut begann Sherlock zu lächeln und überwand die restliche Distanz zwischen ihnen. Erneut spürte John, wie eine Welle aus Glücksgefühlen ihn überschwemmte, gleichzeitig spürte er Sherlocks weiche Lippen auf den seinen; wie sehr es ihm gefiel, sie zu spüren. Mit den Armen griff er nach Sherlock und drückte seinen Körper dichter an sich, so gut es ihm in ihrer Sitzposition möglich war. Und auch Sherlock schien den Kuss zwischen ihnen zu genießen, auch wenn man es ihm lange nicht so deutlich ansah wie John.   Nach ein paar Sekunden lösten sie den Kuss. John mit puterrotem Gesicht, Sherlock hatte dagegen nur einen leichten Hauch von Rosa auf den Wangen. „Na, John, war es nun eine Illusion? Oder war es real?“, fragte er ihn, obwohl sie beide wussten, dass die Frage im Grunde sinnlos war. Verschüchtert begann John leicht zu lächeln. Sie hatten soeben eine Grenze überschritten, waren in eine Ebene vorgerückt, von der sie nicht mehr so leicht zurückkehren konnten. Wenn sie es denn wollten. Wenn. „Nun, ich denke, wir sollten nun langsam Amy holen“, schlug John vor, da wurde er schon von Sherlock gepackt und auf dessen Hälfte des Sofas gezogen. Bauch auf Bauch liegend, sah er verwirrt den Sofarücken an. „Das können wir nachher machen, John … doch vorher wäre ein kleines Nickerchen mehr als angebracht, findest du nicht auch?“ John, der sich ein wenig mit seiner aktuellen Situation arrangierte, nickte stumm. Hatte das Adrenalin die Müdigkeit bisher erfolgreich verdrängt, kehrte sie nun langsam zurück. So fühlte er sich nicht mehr in der Lage, seine Tochter zu bespaßen oder zu füttern. „Mrs. Hudson kann sich ja noch ein wenig kümmern“, murmelte John, im Geiste schon mehr als schläfrig. Sherlock lächelte, er merkte selbst, wie es sich nur noch um Sekunden handelte, bevor er endgültig eingeschlafen war. „John, eins wollte ich dir noch sagen … ich mag die Form deiner Hände …“ Gerade noch schaffte er es, die Worte leise auszusprechen, dann konnte man nur noch leise Atemgeräusche von ihm hören. „Danke, ich mag meine Ohren auch“, entgegnete John müde, dann war auch er eingeschlafen. Aufeinanderliegend, die Hände leicht ineinander verschlossen, lagen sie auf dem Sofa. Sich von den Strapazen des Tages erholend und mit einem angenehmen Traum beglückt. Einem Traum, mit ihnen beiden am Strand, mit Amy, einer Sandburg und einem komplizierten Verbrechen, dem sich Sherlock selbst in der Traumwelt nicht erwehren konnte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)