Sterben nach Wunsch von KiraNear (Path of Amy) ================================================================================ Kapitel 2: Besichtigung ----------------------- Am Ende kamen sie nicht so schnell zu den Tatorten wie erhofft. Lestrade, der den beiden angeboten hatte, sie in seinem Auto mitzunehmen, musste erst auf Anweisung seiner Vorgesetzten zurück zum Revier fahren, dort ein paar Dokumente und Schlüssel abholen, dazu eine Menge Unterschriften abgeben und einen größeren Stapel Papierarbeit auf seinem Schreibtisch ablegen. Allein die Dicke des Stapels löste ein Grummeln in ihm aus, doch er wusste, dass es ihm nicht half. Er würde es machen müssen und wenn nicht heute, dann morgen oder an einem späteren Tag. In der Zeit würde sich noch mehr Papier angesammelt haben und er würde wieder einen kompletten Arbeitstag nur damit verbringen, alles zu sortieren, auszufüllen, abzuheften oder an andere Abteilungen weiterzuleiten. Hastig nahm er einen Schluck aus seiner kalten Kaffeetasse, schnappte sich alle Unterlagen, die er im Moment benötigte und kehrte zum Polizeiauto zurück. Zufrieden stellte er fest, dass sein Auto immer noch an der Stelle stand, an welcher er es geparkt hatte. Trotz der Eile, die er an den Tag gelegt hatte, hatte er die beiden Herren knapp über eine Stunde warten lassen müssen. Sherlock hatte die meiste Zeit damit verbracht, Passanten zu deduzieren; doch kaum hatte sich Lestrade zurück in sein Auto gesetzt, konnte er es sich nicht verkneifen, sich über dessen langes Fortbleiben zu beschweren. „Ich weiß, Sie wollen die beiden Tatorte sehen; aber ich habe auch meinen Job zu tun. Und diese Dinge“, dabei wedelte er mit den Blättern herum. „Diese Dinge gehören, so lästig sie sind, zu meinem Job dazu. Mir gefällt es auch nicht, dass es so bürokratisch zugehen muss, aber bevor ich mir deswegen gleich die doppelte Menge an Schreibtischarbeit am Ende des Falls einfange, mache ich es lieber gleich von Anfang an richtig. Nicht, dass ich nicht bereits des Öfteren wegen Ihnen Überstunden hatte …“ Er räusperte sich, dann startete er den Wagen und pendelte sich schnell im allgemeinen Alltagsverkehr ein. Sherlock dagegen hatte sich in seinen Gedächtnispalast zurückgezogen, wie eine Puppe starrte er auf Lestrades Kopflehne, ohne sie wirklich anzusehen. Er überlegte ein paar Dinge, zog erste Schlüsse und befürchtete den Grad an dilettantischer Vorarbeit seitens Anderson, die er an den Tatorten auffinden würde.   Der erste Tatort befand in einem kleinen Einfamilienhaus, außerhalb von London in einem kleinen Vorort gelegen. Auch wenn sich der Besitzer so gut es ging um den Erhalt des Häuschens gekümmert hatte, hatte er trotzdem nicht verhindern können, dass die Zeit ihre Spuren darin hinterließ. Die Wandfarbe ausgeblichen, wurde es Ranke für Ranke von der Natur erobert. Mit einer Waffe namens Efeu. „Das erste Opfer hieß William Adney; er war ein Lehrer an einer Londoner Gesamtschule. Man hat ihn vor vier Wochen dort drüben gefunden, Jogger fanden seine Leiche hinter einer Parkbank. Anhand seiner Kleidung und der Art, wie er am Boden lag, können wir mit Sicherheit sagen, dass er nicht dort verstorben ist, sondern an einem anderen Ort und anschließend in einem Autokofferraum zum Fundort transportiert wurde.“ „Wie ist der Mann denn gestorben?“, fragte John neugierig, aber auch vorsichtig nach. „Er wurde abgestochen, recht brutal. Aber das war nicht die direkte Todesursache; am Ende hat ihn wohl durch einen Kehlschnitt erlösen wollen. Der arme Kerl hat wohl noch ein paar Minuten gelitten, bevor er …“ Mit dem Schuh trat er einen kleinen Schneehaufen um, dann näherte er sich Sherlock, der sich bereits nach ersten Hinweisen umgesehen hat. „Laut meinem Kollegen hatte weder jemand das erste noch das zweite Opfer für vermisst gemeldet. In seinen Unterlagen fand ich heraus, dass sie beide genau sieben Tage vor ihrem Todeszeitpunkt nicht mehr bei der Arbeit erschienen sind. Sie beide sollen wohl introvertierte Menschen gewesen sein, die nicht viel Kontakt zur Außenwelt hatten. Erst, als ihre Leichen gefunden wurden, sind ihre Freunde und Arbeitskollegen auf ihr Verschwinden richtig aufmerksam geworden.“ „Sieben Tage …“, murmelte Sherlock vor sich hin, nichts an ihm verriet den beiden Männern, worüber er sich gerade Gedanken machte. „Dann hat das jetzige Entführungsopfer also noch fünf Tage Zeit. Vor allem, da der Entführer sich in keiner Weise mit irgendeiner Forderung bei potenziellen Angehörigen gemeldet und die Opfer nach dem Ablauf der Zeit ermordet hat, schließe ich es aus, dass dieser Fall hier anders sein wird. Ich wünschte nur, ich wäre eher mit dem Fall in Verbindung gekommen, dann wäre der Täter schon längst in unseren Händen.“ Lestrade konnte nicht anders als schuldbewusst die Schultern zu heben; schließlich lagen die ersten beiden Fälle nicht in seinem Zuständigkeitsbereich, sondern in dem seines Kollegen. Dennoch schaffte es Sherlock, dass er sich auf eine seltsame Weise schuldig fühlte. Auch dafür, dass man auf diese Weise die Entführung der Frau hätte verhindern können. „Nun, lasst uns hineingehen, hier draußen wird es langsam kalt!“, meinte Lestrade leicht brummend.   Im Haus selbst war es ebenfalls kühl, aber immer noch erträglicher als im Freien. Die Inneneinrichtung wirkte ordentlich, zu ordentlich für Johns Geschmack, aber auch simpel. Während er die riesige Bücherwand im Wohnzimmer bestaunte, konzentrierte sich Sherlock auf das Zeichen im Badezimmer. Wie bei den Norths zierte auch hier ein Strich die Badezimmerwand; jedoch waren die Striche hier unsauber, während der einzelne bei den Norths wie mit dem Lineal gezogen wirkte. Wie zuvor kratzte sich Sherlock ein Stück der Farbe ab, sicherte es sich in einem kleinen Tütchen und ließ dieses in der Jackentasche verschwinden. Dann packte er seine Lupe aus und untersuchte die Farbe von Nahem. „Das ist doch die gleiche Farbe, oder nicht?“, fragte John, der den beiden ins Bad gefolgt war. „Zumindest lässt sich sagen, dass sie aus einer Dose gesprüht wurde. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was diese Striche bedeuten, dann können wir auch sagen, welche Bedeutung sie für den Fall an sich haben …“ „Könnte es vielleicht sein, dass es eine Zahl sein soll? Viele Leute machen Striche, wenn sie etwas zusammenzählen? Nur, dass der Täter eben … waagerechte Striche macht, anstatt senkrechte?“ Fragend sah John seinen Mitbewohner an, doch dieser schwieg sich aus. Stattdessen dachte Lestrade laut über seine Worte nach. „Das hat mein Kollege auch erst vermutet, aber das würde keinen Sinn ergeben. Würde er seine Opfer zählen wollen, hätte er nicht mit der Drei angefangen, sondern mit der Eins. Wer fängt denn bitte an, rückwärtszuzählen, wenn er eigentlich vorwärts zählen möchte?“ Hastig durchsuchte John seine Gedanken nach einer möglichen Antwort, doch ihm fiel keine ein. Sherlock ließ den beiden ein paar Sekunden, dann seufzte er tonlos. „Weil es auch keine Zählung ist, sondern ein Countdown. Die Frage ist nur: Was passiert, wenn der Countdown die Null erreicht? Wird er überhaupt die Null erreichen? Und wenn ja, wie wird sich das uns gegenüber äußern? Mit einer weiteren verschwundenen Person, die im schlechtesten Fall kein großes Sozialleben hat? Oder ist es etwas anderes?“ Begeisterung schwang in seiner Stimme mit, eine Begeisterung, an die sich John nie so richtig gewöhnen konnte. Zwar kannte er Sherlock nun lange genug, um zu wissen, warum genau er darüber so glücklich war, aber am Anfang hatte es ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Sogar ein wenig angewidert. „Sherlock, haben wir nicht Mr. North versprochen, dass wir seine Frau finden werden, bevor ihr persönlicher Countdown abgelaufen ist? Immerhin möchte der Mann sie lebendig wieder haben …“ „Jaja, natürlich … wobei es schon interessant wäre.“ „Sherlock!“ „…“ Stumm schoss er mit seinem Smartphone ein paar Fotos von der Wand, betrachtete das Ergebnis und ließ das Gerät wieder in seiner Manteltasche verschwinden. „Eine andere Frage, was macht Sie so sicher, dass es ein Countdown ist? Und nicht doch eine seltsame Zählart, bei der die Opfer in der falschen Reihenfolge gestorben sind?“ Lestrade schien nicht sehr überzeugt zu sein. Sherlocks Augenbraue zog sich nach oben, wie immer fragte er sich, wie sein Umfeld mit ihren simplen Gedanken immer wieder auf diese abstrusen Theorien kam. Konnten sie es denn etwa nicht sehen? Oder wussten sie es schlicht nicht? „Lestrade, das sind keine einfachen Striche, die hier gezogen wurden. Das ist die japanische Zahlschrift, wobei ein Strich für Eins steht, zwei Striche für Zwei und drei Striche für Drei. Sind denn bei dem anderen Tatort zwei Striche gefunden worden?“ Lestrade durchforstete die Notizen, die er mitgenommen hatte und nickte. Sherlock versank wieder in seinen Gedanken, dann begann er die restlichen Zimmer gründlich zu durchsuchen. John und Lestrade stellten sich auf die Seite; beobachteten ihn und fragten sich, zu welchen Erkenntnissen er bereits gekommen war. Doch sie bekamen keine Antwort auf ihre stummen Fragen, stattdessen befanden sie sich nach einer Weile wieder im Auto, auf dem Weg zur Wohnung des zweiten Opfers.   Die zweite Wohnung stellte sich ebenfalls als ordentlich heraus, wenn auch auf eine leicht andere Weise als die des ersten Opfers. Überall stapelten sich Bücher und Fortbildungsdokumente, sowie Berge von ungewaschener Arbeitskittel. „Das zweite Opfer, Tyler Silvers, arbeitete als Altenpfleger in einer betreuten Wohneinheit. Er hatte sich für ein paar Tage freigenommen. Das war kurz bevor er verschwunden war und sein Verschwinden fiel erst auf, als er nach dem Urlaub nicht wieder zur Arbeit zurückkehrte. Dabei ist er laut den anderen Angestellten sehr zuverlässig, was seine Arbeitsmoral angeht. Gefunden wurde er auf einer öffentlichen Toilette eines Bahnhofs, von einer der Putzkräfte dort. Er wurde ebenfalls erst abgestochen und anschließend aufgeschnitten. Es ist, wie Sie sagten: Der Täter weicht nicht von seiner Methode ab, nur die Fundorte sind verschieden.“ „Nein, sind sie nicht. Es geht dem Täter darum, dass man die Opfer möglichst schnell nach dem Tod findet. Eben weil sie keine großen sozialen Kontakte hatten … er wollte, dass man die Opfer findet. Ich muss nur noch den größten gemeinsamen Nenner finden, den die drei haben.“ Unausgesprochene Gedanken flogen durch den Raum und John musste sich eingestehen, dass ihn die Sache langsam etwas überforderte. Sherlock sah sich erneut um, nahm Proben und durchforstete den Terminkalender des Opfers. Doch außer seinem Schicht- und Urlaubsplan fand er nichts darin, weshalb er ihn auf den Tisch fallen ließ. „Die Opfer werden offenbar aus ihren eigenen vier Wänden entführt – aber wie kommt es, dass es keinerlei Kampfspuren gibt? Die Opfer haben sich anscheinend nicht mal gewehrt. Oder hat Anderson etwa …?“ „Nein, bei uns räumt keiner den Tatort auf, was denken Sie denn?“, begann Lestrade sich zu verteidigen. „Ja, die Möglichkeit ist uns auch gekommen, da außer den Schnitt- und Stichwunden keinerlei Spuren an den Körpern gefunden wurden. Sie müssen also freiwillig mit ihrem Täter mitgegangen sein. Aber das ist es ja, was noch keinen Sinn für uns macht. Der Punkt, den wir noch nicht verstehen. Wenn wir wüssten, was sie alle drei gemein haben, dann wüssten wir auch, wie der Täter es geschafft hat, sie ohne Gegenwehr aus der Wohnung zu bringen. Sherlock, was ist Ihre erste Meinung zu der ganzen Sache?“   Sherlock schwieg sich wieder aus, durchsuchte stumm die persönlichen Dinge im Wohnzimmer, fand jedoch nichts Neues. Räuspernd richtete er sich auf und drehte sich zu Lestrade um. „Wir müssen auf jeden Fall herausfinden, wo das dritte Opfer festgehalten wird. Es könnte sein, dass sich der Täter in den Untergrund verzieht, sobald er mit seinem Countdown fertig ist. Möglicherweise ist das hier bereits das letzte Opfer ... Lestrade, ich muss nochmal in die dritte Wohnung und mich dort ebenfalls nochmal genauer umsehen. Möglicherweise habe ich dort etwas übersehen … außerdem benötige ich Kopien aller Dokumente und Notizen, die es von ihrem Kollegen zu diesem Fall bereits gibt. Ist das möglich?“ Lestrade nickte: „Natürlich ist das möglich. Ich setze mich mit meinem Kollegen in Verbindung und lasse dann alles in die Baker Street liefern. Brauchen Sie noch etwas anderes?“ „Ja, da gibt es tatsächlich etwas, das Sie noch für mich tun können. Und war uns beide zum St. Barts fahren – es gibt da ein paar Dinge, die ich mir ansehen muss; am besten, nachdem wir in der dritten Wohnung waren.“ Er warf einen letzten Blick ins Wohnzimmer, bevor er mit schnellen Schritten die Wohnung verließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)