[ Escape ] von Anemia ================================================================================ Kapitel 1: Escape ... --------------------- *   Soon the rain will wash away the sun, as I melt with you, I am ghost.   (Isn't this what you dreamed about?) Isn't this what you dreamed about? One more taste from our lips and tongue; We kissed. Delicately sketched the seconds, As they fly past. Like snowflakes of lost bliss, They drift like memories. Isn't this what you dreamed about? What you dreamed about? (What you wanted?)   (I am Ghost - The Dead Girl Epilogue: Part One)   *     Er würde das alles vermissen. Den Wald, der ihm eine Heimat geboten hatte, ohne ihm wirklichen Schutz zu gewähren. Das Rudel, welches ihm eine Familie geworden war, jedoch ohne das zu sein, was eine Familie ausmachte. Und doch wusste er, dass er darüber hinwegkommen würde. Schließlich musste er dies. Er hatte keine andere Wahl. Ein anderer hatte längst über ihn und seinen Verbleib entschieden. Und dies nicht ohne Grund. Er hatte ihm einen Grund geliefert. Einen sehr guten. Wer das Wohl des Rudels infrage stellte, der durfte kein Teil mehr dessen sein. Wer beschloss, nicht mehr an einem Strang mit den anderen zu ziehen und sich anstelle den Feind zum Freund machte, für den gab es keinen Platz in ihrer Mitte. Wahrscheinlich hätte er die Trauer über den Verlust seiner Heimat physisch spüren müssen, wie ein Stich tief in sein Herz hinein. Doch da war nichts, als die Nacht anbrach, da war auch nichts, als er hinaus in den Wald trabte und seine Vergangenheit hinter sich ließ. Es war, als hätte ihn die Kälte von innen eingefroren und seine Seele unempfindlich gemacht gegen alle Widrigkeiten. Aber in Wahrheit hatte sich dieser Eindruck nur eingeschlichen, weil sein Herz einfach nicht mehr für all diese Dinge schlug. Er würde sie vermissen, seine Familie genau wie den schwarzen Wald mit seinen toten Kiefern, aber nicht, weil er sich mit ihnen verbunden fühlte, sondern aus einer reinen Gewohnheit hinaus. Wölfen war es normalerweise nicht zu eigen, ihr Revier zu wechseln, zumindest nicht mehr nachdem sie in die Familie ihrer zukünftigen Ehefrau eingeheiratet hatten. Nur in Ausnahmefällen begaben sie sich abermals auf die Reise, auf der Suche nach einer neuen Zukunft.   Er hatte den Wald als seine Heimat bezeichnet, und wahrscheinlich würde dieser auch auf ewig seine Heimat bleiben. Nirgendwo sonst schien die Luft nach Moos und Kälte zu duften, nach Schnee und nach Sünde. Insbesondere der Hauch letzterer klebte an jedem Baum, jedem Stein und jedem noch so kleinen Ästchen. Es mochte eine Illusion sein, und doch glaubte Jamie, dass selbst der Regen die Erinnerungen nicht wegwaschen konnte. Und vielleicht war es gut so. Irgendwo mussten sie schließlich verweilen, wenn sie nicht in seinem Herzen verweilen durften, wo sie eigentlich hingehört hätten. Manche Dinge blieben. Irgendwo blieben sie, und sie waren die einzigen, die er wirklich vermissen würde. Doch nicht jetzt. Sein Wolf war zu derartigen Empfindungen nicht in der Lage, und Jamie kam dieser Schutz vor seinen Gefühlen ganz gelegen. Sein Wolf war stark und allenfalls körperlich verwundbar. Die Schwächen der Menschen kannte er nicht. Deshalb hatte Jamie sich dafür entschieden, die Reise in seinem Schatten anzutreten. Er mochte ausdauernder sein als sein menschlicher Körper, wendiger und längst nicht so angreifbar wie dieser, aber vor allen Dingen robuster. Und er musste robust sein, wenn er die Reise meistern wollte. Als Mensch wäre er an ihr zerbrochen. So tappte er durch die makellose Schneedecke, hinterließ seine Spuren in ihr. Der Winter war in diesem Jahr besonders hart und gnadenlos, als Mensch wäre er wahrscheinlich in der kommenden Nacht erfroren, wenn er es auch nur gewagt hätte, kurz die Augen zu schließen. Die Eisschicht auf dem See wirkte wie ein beschlagener Spiegel, und Jamie hielt kurz inne, als er an ihm vorbeikam, begannen doch seine Erinnerungen bei diesem See, den die Natur inzwischen schlafen gelegt hatte. Doch das war nicht immer so gewesen. Im Sommer reichte das Wasser seiner menschlichen Gestalt bis zu den Schultern, wenn man sich weit hinauswagte, und es schmeckte selbst während der heißen Monate angenehm frisch und kühl, wenn man den Kopf senkte und es sich in den Mund laufen ließ. Aber vor allen Dingen hatte es immer ein wenig nach ihm geschmeckt. Jamie hatte nur einmal gesehen, wie er sich in dem kühlen Nass geaalt hatte, und doch war es, als wäre der See ein Teil von ihm geworden. Eine Möglichkeit, um ihm nahe zu sein. Ein kläglich kleines Ästchen, an welches er sich gekrallt hatte, da er dazu verdammt war, von der Indirektheit zu zehren, seitdem sie zufällig dem benachbarten Rudel begegnet waren. Er erinnerte sich noch an all die splitterfasernackten Frauen und Männer, welche er flüchtig kannte und denen er stets mit Misstrauen begegnet war, da die Ehre ihres Rudels es ihnen vorschrieb. Zudem hatte es öfter Krieg zwischen ihnen gegeben, und deshalb musste man sich jeden Schritt und jeden Blick genau überlegen. Ein kleines Missverständnis hätte genügt, um den Waffenstillstand aufzuheben und die Rudel geradewegs in die Eskalation zu führen. Doch an jenem Tag im Sommer war es anders gewesen. Die Wölfe machten wie immer einen Bogen umeinander und sahen sich kaum an, aber der See gehörte allen, so das Gesetz, war Trinkwassergrundlage und Wohnort diverser Fischarten. So zog Jamies Rudel schnell weiter, um sich an die gegenüberliegende Seite des Ufers zu gesellen und dem Feind nicht näher als nötig zu sein, doch da hatte er ihn bereits gesehen. Jenen jungen Mann, der ihm zuvor noch nie aufgefallen war. Jamie erinnerte sich noch ganz genau an die Sonnenstrahlen, die ihm blendend in die Augen gefallen waren, während er inne hielt und das Gefühl hatte, etwas wäre an diesem Tag anders geworden. Das Licht fiel wie immer durch die Blätter der Bäume und zeichnete unwillkürliche Muster in das grüne Gras und der See stand so still wie eh und je, und doch war etwas anders. Trotz der Sonne, die in seine grünen Augen fiel, klebten seine Blicke an der nackten Rückseite dieses Mannes und schafften es nicht mehr, sich von ihr zu lösen. Jamie war zu einem stillen Beobachter geworden, der seine Vorsicht ignorierte, denn an diesem Tag war alles anders geworden. An diesem Tag hatte er vergessen, dass er die Angehörigen des gegnerischen Rudels fürchten musste. Dieser Mann hatte es ihn vergessen lassen mit seinem wunderbar athletischen, tätowierten Körper und seinen bis über die Schultern reichenden, schwarzen Haaren. Manchmal, da barg die Welt eben einen ungeahnten Zauber, so süß und bitter zugleich, so zerbrechlich wie stark. Für den Bruchteil eines Augenblickes gab es nur noch Jamies Herzschlag und diesen jungen Mann, auf dessen Haut die Schatten und das Licht einen verlockenden Reigen tanzten. Jamie wollte es nicht, aber er fragte sich dennoch, wie sich die Stärke eines Mannes wohl anfühlen musste, wenn sie gewollt war und nicht wie im Krieg hart und voller Hass. Er fragte sich so viele Fragen in diesem Moment, und irgendwann war ihm so, als hätte der Mann die Worte in seinem Kopf vernommen, denn plötzlich blickte er über seine Schulter zurück und sah Jamie an. Dieser wich daraufhin halb hinter einem Baumstamm zurück, hatte er doch seine Vorsicht noch immer nicht vollständig abgestreift, allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, hinter seinem Versteck noch immer mit einem seiner grünen Augen hervorzulinsen. Und der Mann sah ihn noch immer an. Ohne Angst. Ohne jede Feindseligkeit. Der Blick in seinem schönen Gesicht war warm, so warm, dass Jamie die Hitze des Sommers auf seiner Haut zu spüren glaubte. Aber nicht nur dieses wohlige Gefühl wurde in dem noch scheuen, argwöhnischen Wolfsmann wach. So wie seine Blicke von jenen des anderen abglitten und über dessen bloßen Körper wanderten, spürte er seine Paarungszeit einsetzen, mit einer Heftigkeit, die ihn fast unüberlegt handeln ließ. Aber da er derzeit ein Mensch war und kein Wolf, schaffte es sein Verstand, ihn von etwas sehr Fatalem abzuhalten und ließ ihn anstelle verwirrt zurück, als er in einer aufwallenden Panik wegrannte, sich in den Wald flüchtete, von dem er hoffte, dass er ihm Schutz bieten würde. Doch vor jenen neuen Empfindungen vermochte er ihn nicht zu schützen. Vor diesen Empfindungen vermochte ihn niemand zu schützen, noch nicht einmal er selbst. Bald schon wurde klar, dass er sich dem ausliefern musste, was er tief in sich spürte seit diesem Tag im Sommer. Und nicht einmal seine Frau war in der Lage, ihn von seiner Sehnsucht zu befreien. Es hatte ihn hinausgezogen in die Ferne, immer wieder und immer öfter. Am See hatte er manchmal stundenlang ausgeharrt, in der Hoffnung, dem Mann wieder zu begegnen, dessen Augen den Spiegel seiner eigenen Gefühle dargestellt hatte. Aber nichts war geschehen. Zumindest für ein paar Wochen. Und bevor er heute wieder daran dachte, trabte er weiter, ungehindert der Tatsache, dass es begonnen hatte, feine Flocken vom Himmel zu schneien, die auf seinem schwarzen Fell landeten und ihn wie mit grobem Zucker bestäubt aussehen ließen. Schließlich rannte er nur noch mit geschlossenen Augen, weg von seinen Erinnerungen, weg von ihm, ohne den es nie so weit gekommen wäre. Und doch sollte ihn noch einmal alles einholen, denn sein wölfischer Instinkt erlaubte es ihm nicht, den Geruch von totem Fleisch einfach zu ignorieren. In der Nähe musste ein Kadaver sein, und der Wolf schnüffelte nun intuitiv nach der möglichen Nahrungsquelle. Als er sich ihr ganz nahe wähnte, begann er mit den Pfoten im Schnee zu graben, nur um schließlich enttäuscht die abgenagten Knochen zu beäugen und mit der Schnauze an zu stupsen. Hin und wieder hatte ihm die Suche nach Nahrung Kummer und Sorge bereitet, besonders in den Wintermonaten war es schwer, Fleisch aufzutreiben. Doch seit dem letzten Sommer hatte er nicht mehr hungern müssen, sondern hatte im Gegenteil noch etwas zugenommen aufgrund seiner geheimen Nahrungsquelle. Sie hatten sich irgendwann wiedergesehen, der Mann und er, und am Anfang war es bei zaghaften Beschnupperungen geblieben oder auch bei scheuen Blicken, wenn sie ihre schwarzen Wölfe abgestreift hatten und sich als Menschen gegenüberstanden. Caris Wolf sah Jamies ungemein ähnlich, und man hätte sie ohne Frage für Brüder halten können, doch sie waren keine Brüder. Aber sie waren auch keine Feinde. Sie waren heimlich so etwas wie Freunde geworden, zumindest redete Jamie sich dies bis heute ein, doch in Wirklichkeit waren sie auch keine Freunde. Manchmal hatten ihre Wölfe durch die fallenden Blätter getollt, fernab der wachsamen Blicke ihrer Rudelmitglieder und waren sich dadurch näher gekommen, seelisch, aber auch körperlich. Es war normal, dass Freunde sich im Geiste nahe waren, aber dass sie sich vor allen Dingen nach den wie zufällig erscheinenden Berührungen des anderen sehnten, das war nicht normal. Jamie war oft froh gewesen, dass im Herbst seine Paarungszeit verebbt war und er nur während der Sommermonate hatte mit ihr kämpfen müssen. Er wollte das zarte Pflänzlein nicht zerbrechen, welches zwischen Cari und ihm gewachsen war, denn es war kostbar, kostbarer noch als die Geborgenheit, die ihm sein Rudel bot.   Es gab Nächte, da wartete er auf ihn, fand keinen Schlaf, und wenn ihm dann den Duft von frischem Fleisch in die Nase zog, lief er bereits schwanzwedelnd und voller Hoffnung zum Eingang zur Höhle, allerdings nicht, ohne sich vorher zu versichern, dass seine Frau sich längst in festem Schlummer wog. Denn sie durfte wie auch all die anderen nichts davon mitbekommen, dass Caris stattlicher Rüde ihm nach Einbruch der Dunkelheit hin und wieder einen Besuch abstattete und ihm Geschenke erbrachte. Diese Geschenke bestanden jedes Mal aus den saftigsten Bissen Fleisch, denn Caris Wolf war ein geschickter Jäger, ganz im Gegensatz zu Jamies, der oft zu unruhig war, um Wild zu erlegen. Dementsprechend wusste er Caris Geschenke zu schätzen, und er fraß sich satt unter den gelben Augen des schwarzen Rüden, allerdings nicht ohne ihm etwas übrig zu lassen. Dann stupste er den Rest mit der Schnauze an und warf seinem Freund auffordernde Blicke zu, doch meist verschmähte Cari das Fleisch, welches Jamie gebührte. Dafür kam es vor, dass er ihm fürsorglich über die blutverschmierte Schnauze leckte, zumindest während ihrer letzten Treffen hatte er dies jedes Mal getan. Und jedes Mal hatten sie plötzlich in die hellen Augen eines Menschen gesehen anstatt in die gelben ihrer Wölfe. Denn Wölfe sind nicht in der Lage, heftige Emotionen zu empfinden, zumindest nicht jene, die nur den Menschen vorbehalten sind. Also verwandelten sie sich, um sich als junge Männer gegenüberzusitzen, die Gesichter sich so nah, die Nasen sich fast streifend, in den Augen dieser schwelende Zauber, der bis zum Grund ihrer Seelen reichte. Und beim letzten Treffen dann hatte sich all das abermals so zugetragen, nur mit dem Unterschied, dass die Paarungszeit ihre Körper allmählich in Aufruhr versetzte und sie es nicht mehr länger schafften, einander zu widerstehen. Cari war ein wunderschöner, sehr attraktiver Mann, und Jamie wollte nichts lieber, als dieses Wunder, welches sein Körper für ihn war, zu berühren, während Cari ihn ebenfalls berührte. Bisher hatte er sich nur als Wolf mit seiner Frau gepaart, da er mit ihrer menschlichen Gestalt nicht viel anzufangen wusste, war sie doch zwar schön, aber sexuell nicht anziehend für Jamie. Nur von Cari ging dieser besondere Kitzel aus, der ihn in Flammen setzte und ihn sich nach Sex sehnen ließ. Und seinem Freund erging es nicht anders. Es hätte alles so schön sein können. Diese Nacht, in der es hätte passieren sollen. Die darauffolgenden Nächte, in denen sie das wiederholen wollten, was nicht sein durfte. Und dann hatte alles ein schnelles Ende gefunden. Sein folgenschwerer Fehler hatte ihn eingeholt und ihm seine Strafe erbracht. Man durfte sich nicht mit Mitgliedern des feindlichen Rudels anfreunden. Das bedeutete Hochverrat und den Verstoß aus der Familie. Doch wenigstens hatte niemand je bemerkt, dass Cari und er mehr als Freunde gewesen waren. Denn die Liebe zwischen zwei Rüden wurde mit dem Tod bestraft.   Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte diese quälenden Gedanken abschütteln, die inzwischen sogar seinen Wolf zu durchdringen versuchten und diesen merklich schwächten. Der Weg bis zum Waldesrand war noch weit, und er würde die ganze Nacht brauchen, bis er den nun verhassten Geruch seines Rudels hinter sich lassen konnte. Es war wie eine Seuche, ein Gift in seiner Nase, das ihm bis in das Gehirn stieg und dort tobte. Das, was er einmal seine Heimat, seine Familie genannt hatte, existierte nun nicht mehr. Er hatte niemanden mehr. Er hatte alles verloren.   Der Wolf tauchte auf einer kleinen Anhöhe wie aus dem Nichts auf. Zuerst wich Jamie misstrauisch zurück und bleckte die Zähne, bereit, sich gegen den Angreifer zu verteidigen, doch dann ließ er die Lefzen sinken und entspannte sich merklich. Diese leuchtend gelben Augen und das rabenschwarze Fell waren ihm zu vertraut, um einem Feind zu gehören. Zu oft hatte er seine Schnauze in dem weichen Pelz vergraben, zu oft hatten sich jene Augen in die ihn aufrichtig ansehenden eines Menschen verwandelt, wenn sich ihre Wölfe nahe gewesen waren. Cari. Nur dieses eine Wort formte sich in seinen Gedanken, und als hätte der schwarze Rüde es vernommen, trabte er auf den anderen zu, um ihn zärtlich zu begrüßen, mit Schnauzenstübern und wedelndem Schwanz. Und genau das war es, was Jamies Herz brechen ließ und den Menschen durch die Wolfshaut hindurchschimmern ließ. Er hätte den Abschied geschafft, da war er sich ganz sicher, aber nicht, wenn er sich dem anderen Rüden noch einmal so nahe wähnte mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass es das letzte Mal sein würde. Cari, sagte er eindringlich in Gedanken, wissend, dass der andere ihn hören konnte, da Wölfe auf diese Weise zu kommunizieren pflegen. Geh nach Hause. Der Rüde hielt inne in seinen Beschnupperungen und sah ihn fragend an. Du bist mein Zuhause, sagte er. Ich lasse dich nicht gehen. Jamies Wolf drehte sich um und machte Anstalten, blind zu flüchten. Auch wenn es die falsche Richtung war, er musste weg. Ich habe dich in Schwierigkeiten gebracht. Er sah auf seinen Freund zurück. Geh zurück zu deiner Frau, deiner Familie. Du kannst ein besseres Leben führen ohne mich. Er nahm sich vor, davonzutraben, ohne sich noch einmal umzudrehen, doch er vernahm Schritte in dem weichen, wattigen Schnee, die zu ihm aufschlossen, bis sein Freund die Schnauze übermütig unter die seine schob. Ich bleibe bei dir, entschied er. Egal, wohin du gehst. Jamie schaffte es nicht, ihn abzuweisen. Er brachte es nicht über das Herz, da seine Seele sich so sehr nach ihm sehnte und er sich nichts lieber wünschte, als Cari bei sich zu haben auf seiner Reise. Es würde alles einfacher machen. Es würde alle Sorgen so klein machen. Wenn Cari bei ihm war, dann war alles andere egal. Dann war es egal, wohin er ging und dass der Wald schon bald nur noch eine Erinnerung sein würde. Solange Cari nicht zu einer bloßen Erinnerung verdammt sein würde, war es egal.   Seite an Seite stapften sie durch den tiefen Schnee, sich immer wieder anstupsend und verspielt knuffend. Und Jamie fühlte sich nicht mehr verloren, sondern auf ungeahnte Weise frei und geborgen. Er war so unbeschwert mit Cari an seiner Seite, war es schon immer gewesen, und nur deshalb waren sie sich so nahe gekommen. Sie hatten ihre wölfische Vorsicht abgelegt, um sich einem Feind hinzugeben, der kein Feind war. Ein Blickwechsel hatte genügt, um sich zu zeigen, dass sie keine Feinde sein konnten. Man kann die Dinge, die man liebt, nicht wirklich hassen. Man kann es versuchen, aber der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Und so hatte Jamie es gar nicht erst versucht, sondern war in ein Unglück gerannt, welches sich eher wie ein Glück anfühlte. Selbst jetzt noch. Erst recht jetzt.   Mit einem Mal wurde er jäh aus seinen melancholischen Gedanken gerissen. Der Grund war dieser fürchterliche Schmerz in seiner Vorderpfote, der ihn laut aufheulen ließ. Er versuchte, dem Schmerz zu entkommen, doch umso mehr er sich gegen ihn zur Wehr setzte, desto heftiger tobte die Pein in seinen Gliedern. So heftig, dass er sich im Bruchteil einer Sekunde in einen Menschen verwandelte, dessen linkes Handgelenk in einer scharfen Falle steckte. "Cari!", schrie er, verzweifelt und halb wahnsinnig nicht mehr nur wegen der Schmerzen, sondern auch wegen der Tatsache, dass er splitterfasernackt mitten im Schnee lag und es nur eine Frage der Zeit sein würde, ehe sein Körper der Kälte nicht mehr trotzen konnte. Der schwarze Wolf, der ihm schon ein paar Schritte voraus war, drehte sich um. "Cari!", wiederholte Jamie kläglich wimmernd und sank mit verzerrtem Gesicht in sich zusammen. Heißes Blut lief über seine Hand. "Bitte hilf mir!" Der Wolf zögerte nicht, sondern stürmte auf seinen Freund zu und versuchte voller Verzweiflung mit Pfoten und Schnauze die grausame Falle zu öffnen. Tapfer biss Jamie die Zähne zusammen, um mit seinen Schreien nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn sie erfuhren, dass Cari bei ihm war, dann würde auch sein Freund mit Konsequenzen rechnen müssen. Mit schrecklichen Konsequenzen.   Trotz der Qualen half Jamie mit seiner unverwundeten Hand, die Falle zu lösen, und als sie schließlich aufschnappte, sank er erleichtert zu Boden, der ihn weich, aber so unglaublich kalt empfing. Nicht mehr ganz so arg wie zuvor pochte der Schmerz in seiner Hand, aber doch noch heftig genug, dass er am liebsten an Ort und Stelle liegen geblieben wäre. Doch das wäre ein fataler Fehler gewesen, und das wusste auch Cari. Hartnäckig stupste dieser seinen Freund an, knurrte sogar mit gefletschten Zähnen. Steh auf!, flehte er Jamie an, er schrie fast in dessen Gedanken. Du stirbst, wenn du hier bleibst. Das Wort 'Sterben' war es schließlich, welches Jamie wachrüttelte und ihm ungeahnte Kräfte verlieh. Zitternd stemmte er sich hoch und tappte dann dem schwarzen Rüden ächzend hinterher, der ihn immer wieder aufgebracht umkreiste und ihm den Weg wies. Es ist nicht mehr weit, sagte er in Jamies Kopf. Halte durch. Immer wieder liebäugelte Jamie mit dem Gedanken, einfach aufzugeben, und er hätte es vielleicht auch getan, wenn er seinen Freund nicht an seiner Seite gehabt hätte. Nur für ihn kämpfte er sich durch den eisigen Schnee und ignorierte seine halb gefrorenen Füße genau wie die blutige Spur, die sein wundes Handgelenk im Schnee hinter ihnen zurückließ. Sie würden sie beseitigen müssen, wenn sie nicht wollten, dass Feinde auf sie aufmerksam wurden. Doch erst später. Zunächst musste Jamie versorgt werden. Er fragte sich, wie sie dies bewerkstelligen wollten, gab es hier doch seines Wissens weit und breit keinen Zufluchtsort, doch Cari schien genau zu wissen, wohin sie mussten. Und da Jamie Cari blind vertraute, sah er zu, dass er nicht allzu weit hinter dem Wolf zurückfiel. Immer wieder drohte die Welt um ihn herum zu verschwimmen und er in eine Ohnmacht zu fallen, doch der Gedanke an seinen Freund hielt ihn wach. Er würde immer stark für ihn sein.   Er war doch kurz weg gewesen. Wie und wann es passiert war, dass ihn der Schlaf geholt hatte, konnte er nicht sagen. Alles, was er wusste war, dass er nicht mehr da draußen im verschneiten Wald war, sondern dass er in dem weichsten und wärmsten Nest lag, in das er sich je hatte kuscheln dürfen. Kein Bett aus Zweigen und Moos war je so gemütlich gewesen wie das, was ihn derzeit umgab. War er etwa doch tot und das hier war der Himmel? War er nicht. Denn dann wäre Cari nicht mehr bei ihm gewesen. Dieser nämlich war nun in den wohnlichen Raum eingetreten, in welchem er lag und hatte sich auf der Kante des Bettes niedergelassen. Er war nun ein Mensch, und er trug sogar Kleidung. Nichts deutete darauf hin, dass er einen Wolfsschatten besaß. Nur Jamie war noch immer nackt, aber das kümmerte ihn nicht. Das Bett war so himmlisch warm, dass er trotzdem nicht fror. Er hätte am liebsten geschlafen, doch genauso gerne wollte er Caris sanften Blick erwidern, der über sein Gesicht wanderte. "Wie gehts dir?", fragte er nach einer Weile des Beobachtens leise und strich behutsam über die Finger von Jamies nun verbundener Hand, die reglos auf der Bettdecke ruhte. "Tut es noch weh?" "Gar nicht mehr", erwiderte Jamie träge und bemerkte erst jetzt, dass seine Schmerzen wie weggeblasen waren. Wie niemals existent gewesen. Die Falle, der Verstoß aus dem Rudel...hatte er das alles nur geträumt? "Ich habe dir ein Schmerzmittel gegeben", erklärte Cari ihm. "Die Menschen müssen sich ihren Qualen im Gegensatz zu uns Wölfen nicht schutzlos ausliefern." Jamie hatte keine Vorstellung davon, was dieses Schmerzmittel sein sollte, aber es erschien ihm wie Zauberei. Genau wie ihm alles, was ihn derzeit umgab, wie Zauberei erschien. Angefangen von seinem weichen Nest über die gemütliche Einrichtung des Zimmers mit Schränken und Bildern an den Wänden bis hin zu Caris über ihn wachende Augen, in denen jene Zärtlichkeit schwelte, mit der er Jamie stets ansah, außer wenn sie die Paarungszeit eingeholt hatte. Dann waren seine Augen dunkel gewesen und Jamie hatte sich wie eine Beute unter seinen hungernden Blicken gefühlt. Doch er hatte stets gewusst, dass Cari ihm nie hätte wehgetan, nicht einmal ein Härchen gekrümmt. Er brauchte vor Caris Lust keine Angst zu haben, hatte er doch mehr als einmal spüren dürfen, wie wunderschön dessen Begierde sein konnte, wenn sie mit seiner eigenen verschmolz...   "Wo sind wir hier eigentlich?" Jamies Stimme war mehr ein heiseres Krächzen, doch Cari verstand ihn dennoch. "In meiner Wohnung." "In deiner Wohnung?" Der Verletzte runzelte ungläubig die Stirn. "Aber...du hast mir nie erzählt, dass du eine Wohnung hast wie ein Mensch." Cari verschränkte die Finger seines Freundes mit seinen eigenen, was Jamie ein wohliges Schaudern entlockte. So lange hatte er auf diese besondere Art der Nähe und Verbundenheit verzichten müssen. Und immer hatte ihm die Angst im Nacken gesessen. Doch heute war es anders. Heute hatte sich wieder etwas verändert. "Ich wollte dich gestern schon hierherbringen", erklärte er seinem Freund und betrachtete ihre Hände, als stellten sie ein kleines, kostbares Wunder dar. "Es war längst an der Zeit, dass wir ungestört sind, und ich wollte hier mit dir..." Er stockte und schluckte. Jamie hatte eine Vorstellung von dem, was er sagen wollte, und er fragte sich unwillkürlich, ob denn bei Cari schon wieder die Paarungszeit eingesetzt hatte. Sein Freund war ziemlich oft in Stimmung, wie sich inzwischen herauskristallisiert hatte... "Ich wollte hier mit dir einfach nur Mensch sein", sagte Cari schließlich und rückte zu Jamie unter die Zudecke, die Platz genug für sie beide bot, genau wie das große, ja schier riesige Bett, in dem Jamie sich beinahe verloren vorkam. "Ich glaube, die Menschen haben es einfacher, wenn sie so fühlen wie du und ich." "Meinst du?" Jamie guckte Cari aus großen Augen an. Dieser wurde dadurch ein wenig nachdenklich. "Na ja, zumindest in einem Land wie Schweden", berichtigte er sich. "Niemand muss hier sterben, nur weil seine andere Hälfte das gleiche Geschlecht hat wie man selbst." Jamie wunderte sich immer mehr. "Ach, nicht?" Daraufhin lachte Cari leise und streichelte seinem Freund behutsam über die Wange. "Man merkt, dass du viel zu lange im Wald gelebt hast." Er lachte nun nicht mehr, aber ein Schmunzeln ließ seine Augen dennoch noch immer strahlen. "Es wird Zeit, dass du die Welt der Menschen kennenlernst. Sie wird die gefallen." "Das wird sie", erwiderte Jamie fest. "Solange ich hier mit dir zusammen sein kann..." Cari nahm sein Gesicht in seine Hände. "Kannst du." Er küsste Jamie leicht auf den Mund. Danach beäugte er seinen Freund lange und abschätzend. "Weißt du, ich möchte ab jetzt immer als Mensch leben. Wenn wir so sind, wie wir sind, dann ist es besser, wenn wir den Wolf in uns nicht mehr ausbrechen lassen." Jamie wusste nicht, ob ihm diese Gewissheit gefiel oder ob sie ihn erschreckte. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Einerseits machte ihm das Gefühl Mut, ein ganz neues Leben zu beginnen in einer Welt, die ihn so nahm, wie er war. Andererseits jedoch war sein Wolf ein Teil von ihm, genau wie die Liebe zu seinem Freund einer war. Doch manchmal konnte man nicht alles haben. Manchmal musste man sich entscheiden und das wählen, ohne dem man am wenigsten atmen konnte. Und am wenigsten atmen konnte er ohne Caris Liebe. Wegen ihr hatte er auch sein ganzes Leben hinter sich gelassen. Und das war es auch, was ihn mehr zu einem Menschen als zu einem Wolf machte.   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)