Glastränen von Platan (Bist du glücklich?) ================================================================================ Glastränen ---------- Sonnenuntergänge waren stets ein malerischer Anblick. Manchmal konnte man nur schwer einschätzen, ob man von einem Traum entführt wurde oder sich tatsächlich in der Realität befand, während der Himmel in diesen warmen Farben ertrank. Es ließ sich durchaus als einer dieser magischen Momente des Lebens bezeichnen, die kaum jemand zu schätzen wusste. Gemächlich schritt Homura alleine über eine weite Wiese, deren Grashalme sehnsüchtig nach dem Himmel zu greifen schienen. Zumindest versuchten sie es, erfolglos, denn ihr Platz war hier unten und daran konnten sie nichts ändern. Auch Homura blieb nur die Möglichkeit, den Kopf in den Nacken zu legen, um mit den Augen diesen kurzen Moment der Magie einzufangen, der dort oben gerade stattfand, und ihn zu einem Teil ihrer Erinnerungen zu machen. Gold. Violett. Rot. Rosa. Genau diese Farben vermischten sich am Himmel zu einer Leinwand, vor der schwarze, menschliche Silhouetten in mehreren Gruppen elegant durch die Lüfte tanzten. Ihre Körper waren dünn wie Streichhölzer und in den Händen trugen sie jeweils den Zeiger einer Uhr mit sich, der fast genauso groß war wie ihre Träger selbst und eher an eine Lanze erinnerte. Mit diesem dirigierten sie gemeinsam beim Tanzen einen Chor, der aus ihrem eigenen Kichern bestand. Einige andere brachten mit ihren Uhrzeigern die wenigen silbernen Wolken zum Platzen, wodurch hier und da immer wieder mal Schneeflocken herab auf die Erde fielen. Leider schmolzen sie, noch bevor sie den Boden erreichen konnten. Dabei kam es Homura gar nicht so warm vor, sogar der Wind, der mit ihren zwei geflochtenen Zöpfen spielte, fühlte sich angenehm an. Schweigend lauschte sie dem ungewöhnlichen Chor und spürte, wie sich ihr Verstand davon angezogen fühlte. Selbst ihre Beine bewegten sich völlig eigenständig, zum Takt der Stimmen aus dem Himmel. Deshalb ging sie einfach weiter und weiter, genoss ihren einsamen Spaziergang – sie versuchte es. Leider fehlte etwas, nicht mal der traumgleiche Sonnenuntergang konnte sie davon ablenken. Im Gegenteil, je länger sie unterwegs war, desto tiefer versank die goldene Scheibe hinter dem Horizont und mehr tanzende Gruppen aus Schattengestalten tauchten aus dem Nichts am Himmel auf, um ihn zu verdunkeln. Auch ihr Herz. Mit jedem Schritt, den sie weiterging, fühlte sie sich schwerer und einsamer, egal wie viele dieser Wesen über ihr tanzten. Sie taten es nicht für sie, sondern für sich selbst. Seufzend löste sie schließlich den Blick vom Abendhimmel und ließ den Kopf sinken. Magische Momente wirkten nur noch halb so schön, wenn es niemanden gab, mit dem man sie teilen konnte. Wohin folgte sie diesen Stimmen überhaupt, wenn ihre Sänger eigentlich gar nicht für sie tanzten? Als hätte jemand ihren geheimen Wunsch vernommen, ertönten plötzlich in der Ferne Geigenklänge, die mühelos den kichernden Chor übertönten. Verwundert blickte Homura auf und konnte vor ihr, in einiger Entfernung, ein Leuchten ausmachen. Ein rosafarbenes Leuchten, das sie förmlich zu rufen versuchte und ihr die Hand entgegen streckte. Was genau es war, konnte sie noch nicht sagen, aber sie wollte es herausfinden. Mehr noch, als sich von diesem Chor leiten zu lassen. Sofort wurden ihre Schritte schneller, eigenständiger, und sie eilte dem Leuchten entgegen. Lauter und lauter wurde das Geigenspiel, was ihr Herz aufgeregt klopfen ließ. Weit musste sie nicht laufen, bald schon ließ sich endlich ein erster Blick auf das erhaschen, was sie zu sich rief. Automatisch hielt Homura an, weil sie kurz Luft holen musste, betrachtete die Szene vor sich aber schon mal genauer. Dort lag ein großer See mitten in der Wiese, aus dem dieses geheimnisvolle, beinahe vertraute Leuchten kam. Im Zentrum stand jemand, ein Mädchen. Sie drehte ihr zwar den Rücken zu, doch erkannte Homura sie auf Anhieb. Die Aufregung in ihrem Herzen wandelte sich zu einem einzigen Laut der Sehnsucht. „Madoka ...“ Eindeutig, sie war es. Ihr rosafarbenes Haar war mit goldenen Bändern zu zwei seitlichen Zöpfen hochgebunden und sie trug ein schneeweißes Kleid. Barfuß stand sie auf diesem See, ebenso alleine wie Homura. Nein, Madoka schwebte leicht über der Wasseroberfläche, was vermutlich an den roten Fäden lag, die überall um ihren Körper geschlungen waren und sie hielten, dabei waren sie gar nicht stramm gezogen. Locker und schlaff hingen sie an ihr herunter und versanken ein wenig im See. Allmählich schlich sich Nervosität in Homuras Herz und sie folgte mit den Augen den Fäden, bis sie deren Ursprung entdeckte: Sie endeten allesamt an den Spitzen der Uhrzeiger, die von den tanzenden Wesen am Himmel getragen wurden. Erst jetzt realisierte Homura, wie erdrückend der Himmel sich inzwischen anfühlte, je mehr dieser sich wegen den schwarzen Silhouetten verdunkelte. Ein Gefühl sagte ihr, dass sie unbedingt bei Madoka sein sollte, bevor es ihnen gelungen war, die Leinwand nur noch Schwärze zeigen zu lassen. „Madoka!“, rief Homura nach ihr und wollte weitergehen – hielt aber erschrocken inne, als sie auf einmal das Splittern von Glas hörte. Instinktiv griff sie nach ihrer Brille, doch sie saß noch genau dort, wo sie hingehörte und schien nicht beschädigt zu sein. Woher war dann dieser Laut gekommen? Erst der Schmerz in ihrem Fuß sorgte dafür, dass sie den Blick nach unten lenkte. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und konnte kaum glauben, was sie dort sah. Das Gras hatte sich in Glas verwandelt. Grüne, durchsichtige Spitzen, die nur darauf warteten, ihre Füße daran zu hindern weiterzugehen. Auch sie trug weder Schuhe noch Socken, wie sie bemerkte. Vorsichtig hob sie den Fuß, mit dem sie bereits in das feine Glas getreten war, an. Vor Schmerz verzog sich ihr Gesicht. „D-Das kann nicht sein ...“ Hilflos huschte ihr Blick zurück zu Madoka, die noch reglos auf dem See stand. Wartend. Ja, sie wartete bestimmt darauf, dass Homura zu ihr kam. Sie durfte Madoka nicht noch länger warten lassen. Also versuchte sie, den Schmerz runterzuschlucken, kniff die Augen fest zusammen und atmete tief durch, bevor sie einfach vorwärts stürmte. Jetzt war es das Splittern von Glas, durch das sich das Geigenspiel in den Hintergrund verlor und nicht mehr zu hören war. Vor Schmerz biss Homura die Zähne zusammen, dennoch lief sie weiter, zu dem See, auf dem Madoka wartete. Da sie es nicht wagte, sich anzuschauen, was das Glas mit ihren Füßen anrichtete, blickte sie stur geradeaus und behielt lieber Madoka im Blick. Sagte sich, dass diese Anstrengung sich lohnte. Immer wieder. Es lohnte sich. Es lohnte sich. Es lohnte sich. In der Tat wurden die Schmerzen rasch von Glücksgefühlen verdrängt, kaum dass sie am Rand des Sees angekommen war. Erschöpft schnappte sie nach Luft, brachte aber ein Lächeln zustande, weil sie schon so nah bei Madoka war. Auf ihre Füße achtete sie weiterhin nicht, das war auch nicht wichtig für sie. „Madoka“, sagte sie erleichtert und breitete ein wenig die Arme aus. „Ich bin da.“ Stille. Eine unerträgliche Stille hatte die Atmosphäre an sich gerissen. Kein Kichern. Kein Geigenspiel. Kein Splittern. Nur Stille. „... Madoka?“ Endlich reagierte sie auf Homuras Stimme und zuckte leicht zusammen. „... Homura-chan?“ „Ja“, bestätigte sie. „Ich bin es.“ Abermals kehrte Stille ein. Angespannt starrte sie Madoka an, darauf hoffend, dass sie noch etwas sagte und sich über ihre Anwesenheit freute. Nach einer Weile tat sich auch etwas: Die roten Fäden spannten sich schlagartig an und zwangen somit Madoka dazu, sich zu bewegen. Ungelenk riss sie die Arme in die Luft und deutete dabei eine Verbeugung an. Homura wagte einen Blick zum Himmel, der schon fast vollständig von Schwärze erfüllt war. Einzig der See spendete noch genug Licht und kämpfte gegen die endgültige Dunkelheit an. Einige der Schattenwesen hatten sich zu einem Kreis über dieser störende Quelle versammelt und fingen damit an, mit ihren Zeigern und den Fäden nun Madoka zu dirigieren. Das durfte Homura nicht zulassen, sie musste irgendetwas unternehmen. „Ich bin so glücklich, Homura-chan“, lenkte Madoka ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Nein“, hauchte sie leise, als sie feststellte, dass sich ihre Freundin zu ihr umgedreht hatte. Statt ihrem Gesicht war nur ein Stück Papier zu sehen, das an ihrem Kopf klebte und es verdeckte. Darauf hatte jemand oder etwas mit dünnen Linien ein lächelndes Gesicht gezeichnet, mit dem sie Homura ansah. Ein falsches, aufgezwungenes Lächeln, das nicht ihr gehörte. Neben Madoka war noch jemand erschienen: Homura. Eine andere Homura, auch sie trug ein schneeweißes Kleid und ein Lächeln im Gesicht, dafür war jedoch bei ihr kein bemaltes Blatt Papier nötig. Ratlos erwiderte die Homura, die mit blutigen Füßen am See stand, den Blick ihrer Doppelgängerin, deren Körper durchsichtig war, genau wie das Glas. Geisterhaft hob die andere ihre linke Hand, schnippte einmal mit den Fingern und löste somit wie durch Zauberei die roten Bänder von ihren geflochtenen Zöpfen. Stattdessen vereinte es sich zu einem langen Band und schlang sich um den Arm von Madoka, band es an den von Homura neben sich fest, die ihre Hand ergriffen hatte. Unter dem Papier mit dem aufgemalten Lächeln tropften Tränen in den See hinab. Tränen aus Glas, die in der Tiefe versanken. „Doch, ich bin glücklich“, sagte Madoka nochmal. Offenbar hatte sie das Nein vorhin auf ihre Worte bezogen. „Sehr, sehr glücklich.“ Anschließend sorgten die roten Fäden dafür, dass sie anfing zu tanzen, zusammen mit der Homura an ihrer Seite. Hin und her. Anfangs noch etwas ungeschickt, bis es nach und nach immer anmutiger wurde. Für Homura war es eine Qual, ihr dabei zusehen zu müssen, aber sie wusste auch nicht, was sie tun sollte. Sie fühlte sich so hilflos. „Hört auf damit, bitte ...“, flehte sie verzweifelt und versuchte, den See zu betreten, doch ihr Fuß versank ohne Halt im Wasser. Ohne Unterbrechung tanzte Madoka weiter mit ihrer Partnerin, eine Glasträne nach der anderen fiel hinab in den See. Der Himmel war nun nur noch das Gemälde eines einzigen, tiefen Schlunds, aus dem diese Fäden führten und sie wie eine Marionette für sich tanzen ließen. Andauernd wiederholte Madoka, wie glücklich sie sei, dabei war sie das nicht. Das war so nicht richtig. „Madoka!“ Länger tatenlos herumzustehen konnte Homura nicht ertragen und sprang ins Wasser, womit sie unruhige Wellen schlug, die wie ein Störfaktor den Tanz der beiden aus dem Gleichgewicht brachten und sie taumeln ließen. „Madoka!“, wiederholte Homura. „Ich komme! Ich-“ Mit aller Kraft versuchte sie zu schwimmen, versank aber wie ein Stein im Wasser und konnte sich nicht dagegen wehren, dafür war sie zu schwach. Durch ihre blutigen Füße färbte sich der See Stück für Stück rot und das nahm ihr schnell die Sicht auf Madoka. Zusammen mit ihren Tränen sank Homura unaufhaltsam tiefer, erst der Grund des Sees fing sie auf. Und dort blieb sie liegen. Reglos. Hilflos. „Das reicht jetzt.“ Eine Stimme drang aus ihrem Inneren nach außen und erfüllte sie auf wundersame Weise mit Stärke. Mit Macht. So viel Macht, wie sie noch nie zuvor gespürt hatte. Woher sie auch kam, es sorgte dafür, dass ein selbstsicheres Lächeln über ihre Lippen huschte. In ihren Augen sammelte sich das Rot an, das zuvor den See getrübt hatte, ließ das Paar unheilvoll glühen. Flügel wuchsen aus ihrem Rücken, bestehend aus einzelnen, schwarzen Federn, und halfen ihr dabei, mitsamt den Tränen mühelos zurück an die Oberfläche zu fliegen. Nicht mal eine Sekunde später brach Homura aus dem Wasser hervor und versetzte es so stark in Unruhe, dass Madokas Tanz durch einen unbeholfenen Sturz endete, doch ein leuchtendes Bannfeld fing sie sicher auf, während sich ihre geisterhafte Partnerin vor Schreck auflöste. Außer dem roten Haarband an Madokas Arm deutete nichts mehr auf sie hin und die Verletzungen an Homuras Füßen verheilten innerhalb von Sekunden. „Das war ja eine Weile ganz amüsant“, gab Homura zu, deren Stimme nun ebenfalls selbstsicher klang. Dank einem einzigen Fingerschnippen öffneten sich auch ihre beiden Zöpfe, wie bei der Doppelgängerin zuvor, und befreiten ihr langes, schwarzes Haar von ihrer Gefangenschaft. „Jeder Spaß muss aber auch mal enden, meine liebe Sirene.“ Lächelnd klatschte Homura in die Hände, womit sie sämtlichen Gestalten am Himmel ihre Uhrzeiger stahl und sie vor sich erschienen ließ. Ohne Anweisungen formierten sie sich zu einem Angriff und als ihre Spitzen von einem purpurfarbenen Feuer eingehüllt wurden, schossen sie gleichzeitig wie Pfeile davon. Problemlos rissen sie den Himmel auf. Ein Wesen nach dem anderen fing Feuer und zerfiel überraschend schnell zu schwarzer Asche, noch bevor sie sich zu ihrer wahren Gestalt, der Sirene, zusammensetzen oder gar begreifen konnten, schon von Anfang an aufgeflogen und selbst in ein Spiel verwickelt worden zu sein. Vom Teufel persönlich. Ihr melodisches Kichern wurde zu einem erstickten Schrei. Innerhalb kürzester Zeit kehrte die malerische Leinwand zurück, diesmal mit einem strahlend schönen Hellbau. Der Himmel konnte sich nicht mal daran erinnern, jemals einen Sonnenuntergang gesehen zu haben. Auch die roten Fäden verglühten und ließen von Madoka ab, die zitternd auf dem Bannfeld hockte. Nachdem die Arbeit erledigt war, näherte Homura sich ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. „Schon gut, es ist alles in Ordnung.“ Vorsichtig löste sie das Blatt Papier mit dem aufgemalten Gesicht von Madoka und zum Vorschein kam ein verweintes Gesicht, das sie unsicher und verängstigt anblickte – das rechte Auge leuchtete golden. Dem begegnete Homura mit einem mütterlichen Lächeln und strich ihr behütend über den Kopf. „Du kannst jetzt wieder die sein, die du wirklich bist“, sprach sie beruhigend auf sie ein, „Madoka.“ Sie war nicht echt, nur einer der Splitter einer einst göttlichen Existenz, die Homura gewaltsam vom Original gelöst hatte. Manche von ihnen wurden von den Sirenen dazu missbraucht, Homura an der Nase herumzuführen und zu locken. Als ob sie so dumm wäre, darauf reinzufallen. Dennoch gehörte dieser Splitter mal zu Madoka, für die sie so viel empfand. Liebevoll hauchte Homura ihr einen Kuss auf die Stirn, was dazu führte, dass dieses Traumbild sich auflöste, in funkelnde Lichter. Dagegen zerfiel die restliche Umgebung zu schwarzem Sand, der sich über ihrer Handfläche sammelte und zu einer simplen Kugel formte. So lange, bis außer einem weißen, leeren Raum nichts anderes mehr übrig blieb. Einem Raum zwischen den Realitäten des Universums, verursacht durch einen Riss, den die Sirenen mit ihrem Gesang verursacht hatten und nur zu gern für ihre Spielchen nutzten. „Das war ziemlich dumm von euch“, meinte sie kühl, „Inkubatoren.“ Hinter ihr kroch nun ein anderes Wesen schwach über den Boden zu ihr. Einst hatte es Wünsche junger Mädchen erfüllt, um sie zu Magical Girls zu machen, doch heute arbeitete es nur noch dafür, Flüche zu verschlingen. Hexen. Dämonen. Alpträume. Jetzt waren es Sirenen. Kreaturen, die mit ihrem Gesang Menschen in den Wahnsinn trieben, bis diese sich selbst und die ganze Welt verfluchten. Bis sie selbst zu einem Fluch wurden. Keine Macht des Universums konnte solche Schattenwesen gänzlich aus dem System verbannen, sie waren leider ein wichtiger Bestandteil für die Balance. Wo es Licht gab, musste es auch Schatten geben. Jedenfalls sollten die Inkubatoren Flüche in sich aufnehmen, anscheinend begriffen sie jedoch nicht, dass sie jetzt nicht mehr viel zu sagen hatten. Mit solchen Experimenten konnten sie wohl niemals aufhören. „Dachtet ihr wirklich, ihr könntet einen Teufel wie mich so leicht beeinflussen, nur indem ihr eine Sirene zu mir lockt und gegen mich verwendet?“ Da Kyubey, wie er sich nannte, nicht reagierte, fuhr sie herum und betrachtete ihn amüsiert. Sein weißes Fell war vollkommen zerzaust und in seinen Augen regten sich schwarze Wirbel, ein Zeichen dafür, dass dieser Inkubator schon zu viele Flüche in sich aufgenommen hatte. Spielerisch wiegte sie die dunkle Kugel aus Sand in ihren Händen hin und her. Darum müsste sie sich wohl selbst kümmern. „Gewöhnt euch besser endlich daran, dass ich nun alle Fäden in der Hand halte.“ Mit diesen Worten wandte sie sich auch schon wieder ab und ging auf eine der Wände zu, in der eine Tür erschien. Für sie gab es keinen Grund, länger als nötig hierzubleiben und sich mit dieser traurigen Kreatur zu unterhalten. Diesen Fehler wiederholte sie garantiert nicht noch einmal. Kurz vor ihrem Ziel wurde sie dann aber doch noch von Kyubey aufgehalten, der leise zu sprechen anfing. „Wir hatten hiermit nichts zu tun“, stellte er richtig. Vor der Tür blieb sie stehen, legte aber schon mal eine Hand auf die Klinke. „Ach ja?“ „Ja. Glaubst du etwa, das Universum lässt sich manipulieren, ohne darauf zu reagieren?“ „Diese Unterhaltung hatten wir bereits, du wiederholst dich.“ „Oder es war dein schlechtes Gewissen, an dem diese Sirene sich laben wollte“, vermutete Kyubey. „Du weißt doch selbst, was für Ziele sie sich aussuchen. Wenn du als übermenschliches Wesen so tust, als gehörtest du noch zu ihnen, ist das nicht unsere Schuld.“ „Mein schlechtes Gewissen?“ Darüber konnte Homura nur amüsiert lachen. „Ein Teufel hat kein schlechtes Gewissen.“ Das Gespräch war damit beendet und sie öffnete die Tür, durch die sie in ihr kreiertes Reich zurückkehrte – und ließ einen Inkubator zurück, der für seine vorlauten Worte von einem großen Uhrzeiger durchbohrt worden war. Es gab mehr als genug von ihnen, demnach waren Verluste keinesfalls tragisch und zu verschmerzen. Notfalls könnte sie auch alleine mit den Flüchen fertig werden, denn immerhin strahlte das Licht ihres Dark Orbs mächtiger und unheilvoller als sie es jemals könnten. Geräuschlos fiel die Tür hinter ihr ins Schloss und war nicht mehr zu sehen. Einzig ein paar feine, silberne Fäden konnte man entdecken, wenn man aufmerksam war. Damit dieser Raum, der nun einen leeren Riss im Gefüge der Welt darstellte, sich nicht wie ein Virus ausbreitete, hielten sie ihn zusammen, bis diese Wunde von selbst verheilte. Irgendwann kehrte alles in seinen Ursprung zurück – allerdings würde Homura niemals zulassen, dass etwas ihre Gesetze nochmal umschrieb. Nahezu schwebend schritt sie über die Wiese, die diesmal real war und sich vom Wind zum Tanz verführen ließ. Dafür war der Himmel hier leer, bis auf einige Wolken. Gerade ging die Sonne auf, der Blick vom Hügel aus auf die Stadt war gut. Ruhig und friedlich lag sie da, wie in ihren Erinnerungen. Diese Aussicht genoss sie eine Weile, derweil erwachte ihr Dark Orb aus dem Edelstein an ihrer Hand und absorbierte den Fluch, den sie bei sich trug, ohne dass es ihn trübte. Im Gegenteil, er schien dadurch nur noch stärker zu glühen. Jedes einzelne Sandkorn schmeckte wie ein süßes Bonbon. Im Grunde viel zu schade für die Inkubatoren, denen sie diese Arbeit normalerweise überließ. Nachdem der Sand vollständig verschwunden war, lösten sich auch ihre Flügel ins Nichts auf und ihre Gestalt wandelte sich zu der einer gewöhnlichen Schülerin zurück. Der Dark Orb wurde zu einem Ohrring, den sie auf der linken Seite trug und der manchmal im Sonnenlicht geheimnisvoll funkelte, wie ein verführerischer Köder. „Ich sollte mich auf den Weg machen, wenn ich pünktlich in der Schule sein will.“ Zielstrebig ging sie los, nahm nebenbei ihre Schultasche vom Stuhl, der hier einsam auf dem zweigeteilten Hügel stand, und schritt dem normalen Alltag entgegen, den sie für Madoka wieder möglich gemacht hatte. So wie es sein sollte. So wollte sie es von Anfang an. Ihre Familie und ihre Freunde waren ihr wichtig, niemals könnte sie diese verlassen, wie sie einst selbst sagte. Homura hatte demnach keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Daran hielt sie sich fest und doch dachte sie darüber nach, ob Madoka glücklich war. Eigentlich hatte Homura alles so umgestellt, dass sie es sein müsste. War sie es auch? Womöglich stand es ihr nicht zu, darüber zu urteilen, was Madoka glücklich machte und was nicht. Obwohl ... doch, sie hatte das Recht dazu. Niemand kannte sie so gut wie Homura. Niemand. Und niemand empfand das für sie, was Homura fühlte. Niemand. Niemand lebte einzig und allein für Madoka, nur sie, Homura. Nur sie allein. Niemand liebt dich so wie ich. An all die Zeit, die hinter ihnen lag, konnte sich zwar niemand mehr erinnern, doch daran störte Homura sich schon lange nicht mehr. Solange Madoka glücklich sein konnte, war es in Ordnung. Mehr als das wollte sie gar nicht. Nein, das war eine Lüge. Mehr gemeinsame Zeit mit Madoka, das war es, was sie sich wirklich wünschte. Hatte sie nach allem, was hinter ihr lag, nicht auch das Recht dazu, egoistisch zu sein? „Oh, ähm, Homura-chan?“, wurden ihre Gedanken auf einmal von einer vertrauen Stimme unterbrochen, die sehr zögerlich klang. „Guten Morgen.“ Ruhig wandte Homura sich der Person zu und lächelte sofort offen. „Guten Morgen, Madoka.“ Aufgrund ihrer ersten Begegnung war sie reichlich unsicher im Umgang mit Homura, zugleich jedoch auch zu gutmütig, um sie gänzlich zu ignorieren. Sie konnte nur hoffen, dass Madoka keine Angst vor ihr hatte und sich diese Unsicherheit mit der Zeit legte, je öfter sie miteinander zu tun hatten. Sayaka konnte ihr dabei nicht mehr so hartnäckig im Weg stehen wie früher. „Bist du etwa ganz alleine unterwegs?“, bemerkte Homura, kaum dass ihr dieser Gedanke durch den Kopf gegangen war. „J-Ja“, bestätigte sie schüchtern. „Irgendwie schon.“ „Sollen wir zusammen zur Schule gehen?“ „Uhm ...“ Nachdenklich blickte Madoka zur Seite und schien noch unsicherer zu werden, doch sie gab ihr genau die Antwort, die Homura von ihr erwartet hatte. „Klar, warum nicht?“ Zufrieden und dankbar schenkte Homura ihr daraufhin ein weiteres Lächeln, mit dem sie Madokas Unruhe ihr gegenüber zu zerstreuen versuchte. Anscheinend mit Erfolg, denn als sie an ihre Seite eilte, wirkte sie schon etwas entspannter und konnte sogar ein lockeres Gespräch mit ihr beginnen. „Gehst du immer so früh zur Schule?“ „So früh finde ich es gar nicht“, erwiderte Homura. „Du bist doch auch schon unterwegs.“ Sie schmunzelte ein wenig befangen. „Eigentlich neige ich oft dazu, auf den letzten Drücker loszugehen. An meinen neuen Schulweg bin ich aber noch nicht gewöhnt und da ich nicht riskieren will zu spät zu kommen, bin ich lieber früher losgegangen.“ Wenn es nach Homura ginge, könnte sie ruhig jeden Tag so früh zur Schule aufbrechen, so waren sie nämlich mehr unter sich. Ein paar andere Schüler waren zwar auch schon auf dem Weg, aber die bemerkte man kaum. „Verstehe.“ Ihr Blick glitt zu Madokas Haaren, die sie auch heute zu Zöpfen hochgebunden trug und stellte etwas fest. „Du trägst ja die roten Bänder.“ „A-Ach, das ...“ Verlegen griff Madoka sich mit der Hand an eine der Schleifen. „Ich wollte sie dir heute wiedergeben, aber bevor ich es realisieren konnte, hatte ich sie mir schon ins Haar gebunden.“ „Das ist in Ordnung“, versicherte Homura ihr, noch bevor eine Entschuldigung folgen konnte. „Ich sagte ja, sie stehen dir viel besser als mir. Es freut mich, dass du sie trägst. Du kannst sie ruhig behalten.“ „Wirklich?“ Ihr war anzusehen, wie verwirrt sie wegen dem Geschenk noch immer war. „Danke, Homura-chan.“ Auf diese Worte nickte diese nur und blickte wieder nach vorne. Zwischen ihnen herrschte für die nächsten Minuten Schweigen, doch zumindest Homura war das nicht unangenehm. Warmer Wind schob sie beide von hinten an und rüttelte sacht an den Ästen der Kirschblütenbäume. Leise Glockenklänge ertönten, als sich dabei einige Blütenblätter lösten und auf den Weg schwebten. „Sag mal, Madoka, bist du glücklich?“ Die Frage kam plötzlich wie von selbst über ihre Lippen, ohne dass Homura vorher darüber nachdenken konnte. Verständlicherweise sah Madoka sie irritiert an und ihre Unsicherheit verstärkte sich erneut. Zurücknehmen konnte Homura diese Worte jetzt nicht mehr, also wartete sie geduldig ab, bis die Befragte die richtigen Worte fand. „Ja, ich bin glücklich. Ich kann mit den Menschen zusammen sein, die mir wichtig sind. Egal, wo ich bin, mehr brauche ich nicht.“ Erleichterung keimte in Homura auf und verjagte die Zweifel, die sie zu übernehmen versucht hatten. „Das ist schön.“ „Es ist nur ...“, fügte sie dann auf einmal noch hinzu. Leicht nervös schielte Homura zu ihr rüber. „Was denn?“ Hastig schüttelte Madoka mit dem Kopf und klammerte sich mit den Händen beschämt an ihrer Schultasche fest. „Nicht so wichtig. Tut mir leid.“ An der Stelle hätte Homura nachhaken müssen, nur traute sie sich nicht. Viel lieber hielt sie an der Bestätigung fest, Madoka glücklich gemacht zu haben. Im Grunde durfte es hier nichts mehr geben, weswegen sie bedrückt sein könnte. Alles war in Ordnung. „Du musst dich nicht entschuldigen. Mir tut es leid, dass ich dir so seltsame Fragen stelle.“ „Das stört mich nicht“, versicherte Madoka ihr rasch. „Ich bin irgendwie froh darüber.“ Jetzt war Homura diejenige, der die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand. So unsicher, wie sie Madoka mit ihrer Anwesenheit machte, musste sie sich doch unwohl in ihrer Nähe fühlen. Oder etwa nicht? „Ich weiß nicht wieso“, fuhr sie ungefragt fort und lächelte nun selbst zum ersten Mal, wenn auch noch etwas schüchtern. „Es fühlt sich aber vertraut an.“ „Vertraut?“, wiederholte Homura erstaunt und musste das Lächeln erwidern. „Ja, das macht mich auch froh.“ „Deshalb hoffe ich, dass wir niemals wirklich zu Feinden werden.“ Richtig, das hatte sie zu Madoka gesagt. Sicher verstand sie nicht mal, wieso Homura so etwas befürchtete und doch ließ sie das offenbar nicht los, so wie immer. Gerade wollte sie darauf etwas sagen, als ein klirrendes Geräusch sie davon ablenkte und dafür sorgte, dass sie einen Blick über die Schulter warf. Dort war aber nichts, außer wenigen anderen Schülern und drei Kindern mit altmodischen, schwarzen Kleidern. Daher lenkte sie den Blick zurück auf den Weg, der vor ihr lag. „Ja, das hoffe ich auch ...“ Egal, was es mich noch kosten wird, dachte sie entschlossen. Ich lasse nicht zu, dass sich nochmal etwas zwischen deine eigenen, wahren Wünsche stellt. *** Zu den drei Kindern gesellten sich bald noch weitere dazu. Weiße, lächelnde Masken ersetzten ihre Gesichter und die schmalen Augen wechselten andauernd von rot zu blau und umgekehrt. Gemeinsam hockten sie kreisförmig um eine Pfütze herum und starrten gebannt hinein. Für eine Ameise wäre es eher ein kleiner Teich, auf dessen Grund eine gläserne Träne ruhte, die vom Himmel gefallen war. Niemand von den anderen Menschen bemerkte etwas. Niemand hörte das kichernde Gemurmel der Kinder. „Die Zeit verdirbt. Die Zeit verdirbt“, gaben sie flüsternd von sich. Danach stand eines nach dem anderen auf und ging davon. Zurück blieb nur eine gläserne Sanduhr, in der silberne Körner von unten nach oben schwebten. Wie funkelnde Lichter. Die Pfütze mit der Träne war verschwunden. Aus dem Inneren der Sanduhr drang leise eine Stimme hervor, die ebenfalls niemand wahrnehmen konnte. „Es ist nur ... ich fühle mich so nutzlos. Ich möchte so gern mehr für die Menschen tun können, die mir wichtig sind.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)