Glanz von Midgard von Shizana (Animexx-Adventskalender 2015) ================================================================================ Götter im Glanz von Midgard --------------------------- „Kommt schon, kommt schon!“ Lokis frohlockende Rufe klangen unermüdlich durch die dunkle Straßengasse, durch welche er die beiden Freunde navigierte. „Nur nicht schlapp machen. Kommt schon, es ist nicht mehr weit.“ „Loki, wo führst du uns hin?“ „Wo sind wir hier überhaupt?“ „Nur Geduld, ihr werdet es gleich erfahren“, gab er gutgelaunt zurück. Fröhlich summend setzte er seinen Weg fort, ohne sich kurz nach den beiden umzudrehen. „Es ist so kalt hier“, bemerkte Baldr und ließ den Blick schweifen. „Wir sind nicht in Jotunheim, oder? Es sieht so anders aus.“ „Ich dachte, Kälte könne dir nichts anhaben?“ „Oh, das tut sie auch nicht“, berichtigte er schnell. Lächelnd wandte er sich an Thor, der neben ihm herlief und ihn aufmerksam betrachtete. „Ich friere nicht. Ich sehe es nur an den Atemwolken von euch beiden.“ Kurz warf Loki einen Blick über seine Schulter zurück. Er hatte keinen Zweifel, dass Baldr die niedrigen Temperaturen nichts ausmachten. Doch wie stand es um Thor? Bemerkte er etwas von der Kälte, trotz der winterlichen Kleidung, die er ihnen angeraten hatte? „Ah, da vorne ist es!“ Loki beschleunigte seinen Schritt. Er konnte deutlich Stimmen hören, die etwa zehn Meter von ihnen entfernt sein dürften. Noch zwei Abbiegungen um zwei dicke Steinmauern herum, dann hatten sie ihr Ziel erreicht. Vorläufig. „Kommt mit, kommt mit!“ „Loki, renn doch nicht so“, wies Thor ihn an, doch der Schalk war nicht zu bremsen. Zu allem Überfluss ließ Baldr sich zum Halbrennen motivieren, was ihn leise seufzen ließ. Er hatte wohl keine andere Wahl, als ebenfalls an Tempo zuzulegen. „Ah!“ Der Unfall ließ sich nicht vermeiden. Als Baldr um die nächste Ecke biegen wollte, geriet er ins Stolpern. Unschicklich stürzte er nach vorn und Thor machte einen hastigen Satz auf ihn zu. Wie er feststellen musste, hätte er sich den guten Willen auch sparen können. Loki war stehen geblieben, hatte schnell reagiert und stützte den Freund, bevor dieser zu Boden aufschlagen konnte. „Wie gut, Loki“, lächelte Baldr unbeholfen und hing förmlich in Lokis Armen. „Du hast mich gerettet.“ „Wie oft sage ich dir, dass du langsam machen sollst?“ Loki seufzte einmal theatralisch, wobei er Baldr zurück auf die Füße schob. „Also ehrlich. Was machst du nur, wenn ich nicht gerade bei dir bin?“ „Ich schätze, ich renne dann nicht“, gab Baldr scherzend zurück. „Vermutlich.“ Loki zuckte beigebend die Schultern. Über seine Lippen zog sich ein nachsichtiges Lächeln, als er den Freund betrachtete. Wenigstens diese eine Sache hatte sich an Baldr nicht verändert. Das war gut, irgendwie beruhigend. „Komm“, forderte er sanft und fasste Baldr bei der Hand. „Wir sind gleich da. Ich bin schon ganz gespannt, wie du reagierst!“ „Loki, langsam …“ Chancenlos ließ sich Baldr mitziehen. Thor, der alles beobachtet hatte, folgte den beiden schweigend. Er hatte kein gutes Gefühl bei dieser Sache. Hoffentlich wusste Loki, was er da tat. Er wollte am Ende nicht bereuen müssen, ihn nicht von seinem Vorhaben abgehalten zu haben.  „Da wären wir“, verkündete Loki kurz darauf. Eilig trat er aus der Gasse heraus, drehte sich einmal und streckte die Arme aus, als präsentierte er einen historischen Schauplatz. „Tadaah! Sieh dich nur in Ruhe um, Baldr. Na, weißt du nun, wo wir sind? Ein Tipp: Jotunheim wär‘ viiiel zu öde.“ Vorsichtig wie neugierig trat Baldr aus den Schatten hervor. Straßenlaternen beleuchteten die Straße, welche er betrat. Unter seinen Stiefelsohlen knirschte der Schnee, der größtenteils festgetreten war. Ihm gegenüber reihten sich Haus an Haus, ebenso zu seinen Seiten. Einige davon schmückten helle, bunte Lichter an Fenstern und Türen. An ihnen vorbei zogen einige Personen, fröhlich plaudernd und ähnlich winterlich bekleidet wie sie selbst. „Loki, sag mir nicht …?“ „Bing-bong! Du hast’s erfasst!“ Sein Grinsen zog sich über das ganze Gesicht. „Wirklich?“ Baldrs weite Augen verrieten sein Erstaunen. Aufgeweckt sah er sich um, wobei er sich das lange, aschblonde Haar nervös hinter das Ohr zurückstrich. „Deswegen wolltest du, dass wir uns so kleiden. Das ist also … das Menschenreich? Wir sind wirklich in ihrer Welt?“ „Midgard“, bestätigte Loki mit einem Kopfnicken. Amüsiert beobachtete er, wie Baldr sein Umfeld näher zu inspizieren begann. „Zumindest ein kleines Fleckchen davon. Aber wieso bist du so überrascht, Baldr? Das ist doch nicht das erste Mal, dass du hier bist, oder?“ „Ah, nein“, gab er rasch zur Antwort. Kurz unterbrach er seine Untersuchungen an der Hauswand, um Loki ein zögerliches Lächeln zukommen zu lassen. „Aber es ist das erste Mal seit dem, weißt du? Und das erste Mal als Mensch. Ich bin ziemlich aufgeregt.“ „Also eigentlich –“ „Oh, schaut nur, Loki, Thor! Eine Zeitung! Oh, und ein Hündchen! Na du Kleiner? Gehörst du zu diesen netten Menschen?“ Lokis Gesichtszüge verhärteten sich, während er Baldr beobachtete. Es war schön, ihn nach all der Zeit wieder in seinem gewohnten Selbst zu sehen. Doch irgendwo in einem Hinterstübchen befielen ihn leise Zweifel. War es wirklich richtig gewesen, Baldr hierherzubringen? Würde sein Vorhaben auf die Art gelingen? „Du willst es ihm nicht sagen?“ Kurz sah Loki zu Thor, der an seine Seite getreten war. „Dass er kein Mensch ist?“ Er richtete seinen Blick zurück nach vorn. Baldr hatte sich mitten auf der Straße in die Hocke begeben, wo er einen kleinen Hund streichelte. Zwei Weitere waren hinzugekommen, an den Leinen ihrer Herren, und wedelten freudig mit den Schwänzen. Wie immer war er das Zentrum aller Aufmerksamkeit. Es war ein gewohntes Bild. Dünn lächelte er. „Wozu? Ist ja nur für temporär. Lassen wir ihn in dem Glauben.“ „Hältst du das für richtig?“ „Was soll schon passieren? Dafür sind wir doch hergekommen.“ Thor sagte nichts darauf. „Du hast es gewusst?“, fragte Loki, ohne ihn anzusehen. Er atmete still durch. „Ja.“ „Bevor oder nachdem wir die Brücke verlassen hatten?“ „Davor. Ich hatte eine Ahnung.“ „Wirklich? Respekt.“ Kurz kicherte er in den schwarzen Ärmel seines Pullovers, der ihm viel zu lang war. „Und du hast nicht versucht mich aufzuhalten?“ „Hätte ich das denn gekonnt?“, fragte er zurück. Aufmerksam begegnete er Lokis belustigtem Blick. Hinter dem Schalk, das wusste er, besah Loki ihn ebenso prüfend wie er ihn. „So dringlich, wie du mich um Hilfe gebeten hast, hätte dich wohl niemand von deinem Vorhaben abbringen können. Und hätte ich es doch versucht, hättest du einen anderen Weg gefunden, dich durchzusetzen. Dass ich dich habe gewähren lassen, ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.“ „Oh, nicht doch“, säuselte Loki lieblich. In einer Unschuldsgeste hob er die Schultern, wobei ein Schmunzeln seine Mundwinkel umspielte. „Du weißt doch, dass ich nur so daherrede, wenn ich sage, dass ich Asgard ein wenig einheizen werde. Sag nicht, du traust mir das wirklich zu, Thor-chin?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Weißt du, ich fühle mich ja irgendwie geehrt. Aber eigentlich reizt es mich gar nicht sooo sehr. Bis auf den Ausblick vielleicht.“ „Nein, das meinte ich nicht.“ Er seufzte einmal schwer. „Mir ist es nur lieber, wenn ich bei euch bin.“ „Oh. Ach, so meinst du das.“ Thor gab nichts auf den witzelnden Tonfall Lokis. Stumm betrachtete er ihn einen Moment, bis er erneut sprach: „Wie geht es dir damit?“ „Hm?“ „Hier sind überall Menschen.“ „Natürlich, das ist immerhin Midgard.“ Sie schwiegen beide einen Moment. In dieser Zeit der Stille verdüsterten sich Lokis Gesichtszüge und seine silbernen Augen verloren an Scherzhaftigkeit. „Solange es für Baldr ist“, sprach er schließlich im gedämpften Tonfall. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. „Ich konnte mir das nicht länger mit ansehen.“ Darauf gab es nichts zu sagen. Thor wusste, was er meinte. Er hatte es selbst lange Zeit beobachten müssen. Es war voraussehbar gewesen, dass bald etwas geschehen musste. Und dass es Loki sein würde, der das Leid auf seine Schultern lasten würde. „Du weißt, dass das Ärger geben wird.“ Lokis Mundwinkel hob sich in Belustigung. „Und wenn schon.“ „Loki, das ist nicht –“ „Stehen wir nicht so herum. Hey, Baldr! Das war noch nicht alles. Ich habe noch eine Überraschung für dich!“ „Oh, wirklich?“ Unter Mühe schob er die Hunde von sich, die ihm von allen Seiten die Pfoten auf den Schoß gelegt hatten und um Streicheleinheiten bettelten. Um ihn herum hatte sich eine kleine Traube Leute gebildet, die kicherten und schwärmten, als hätten sie einen kleinen Prinzen vor sich stehen. Er musste sie höflich auffordern, Platz zu machen, damit er zwischen ihnen hindurchkommen konnte. „Was denn noch, Loki? Was für eine Überraschung?“ „Das wirst du schon sehen.“ Er schenkte dem Freund sein herzlichstes Lächeln, als er ihn in die Mitte von sich und Thor schob. Kurz warf er einen Blick über seine Schulter zu den Menschen zurück, musterte sie abschätzig. Sie nicht weiter beachtend, legte er lässig einen Arm um Baldrs Schultern und grinste ihm breit entgegen. Den freien Arm streckte er empor, schnipste einmal, wobei er die Gruppe in Bewegung setzte. „Wir folgen einfach den Leuten“, erklärte er fröhlich. „Iiimmer nur der Nase nach. Glaub mir, Baldr, das wird ein Knaller!“ Hinter ihnen ertönten hohe Schreckensschreie. Hunde bellten aufgeregt. Wie effektiv doch so manch kleiner Trick sein konnte. Ja, Knallfünkchen waren etwas Tolles!   Sie folgten dem Strom, wie Loki es gesagt hatte. Mit der Zeit nahmen die Menschenmassen zu. Die Straßen wurden belebter, das Geplauder um sie herum vielfältiger. Bald mischte sich fröhliche Musik hinzu. Erst noch fern, dann zunehmend lauter. Glockenspiele klangen deutlich daraus hervor. Und da war noch mehr. „Loki, Thor, riecht ihr das?“ Baldr streckte das Kinn empor. Wieder und wieder atmete er tief durch die Nase ein, um die neue Vielfalt an Gerüchen aufnehmen zu können. Loki kicherte bei diesem Anblick des Freundes. „Gut, nicht?“ „Es riecht so süß. Nein … oder doch?“ „Wart’s nur ab“, grinste Loki zu ihm hoch. „Es wird noch besser. Viiiel besser!“ Er umfasste Baldrs Hand und rannte los. Thor blieb nichts anderes übrig, als den Freunden schnellen Schrittes zu folgen. Vor ihnen erstreckte sich eine weiträumige Fläche, vollgestellt mit allerlei Holzhütten und Aufstellwagen. Viele Menschen sammelten sich hier und bewegten sich frohen Gemüts durch die Schau- und Kaufmöglichkeiten. Das war es wohl, was die Menschen unter einem Marktplatz verstanden. Hier herrschte so viel Leben, als wäre es das Zentrum aller Versammlungen. Es war laut und verschiedene Gerüche füllten die kühle Luft. Um die meisten Buden zierten helle Lichter, die in allerlei Farben blinkten. Bei so viel bunter Vielfalt war es unmöglich, alles mit einem Mal zu erfassen. „Also“, schnurrte Loki zufrieden, „was wollen wir zuerst machen? Ne, Baldr, was magst du ausprobieren?“ „Ich weiß nicht recht.“ „Was wollen wir eigentlich hier?“, fragte Thor hinter ihnen. Seinem trockenen Tonfall war anzunehmen, dass ihn das lebhafte Treiben wenig beeindruckte. „Uns amüsieren, natürlich“, grinste Loki breit. Er hob den Arm und zeigte in eine Richtung, die vor ihnen lag. „Ich schlage vor, wie essen erst einmal was. Da vorn irgendwo gibt es einen Grillstand.“ „Woher weißt du das?“ „Ich kann’s riechen“, gab er zwinkernd zurück. „Du etwa nicht, Baldr?“ „Wow, wirklich?“ Neugierig streckte Baldr die Nase in die Luft und versuchte es selbst. Er schnüffelte ein paarmal, bis er aufgebend zu Loki lächelte. „Ich rieche nur Waffeln und Süßes. Beeindruckend, Loki. Du hast einen wirklich guten Geruchssinn.“ „Tjaaa~“ Sie setzten ihren Weg fort. Mehrere Stände weiter wurde der Geruch von geheizter Holzkohle und gegrilltem Fleisch intensiver. Baldrs Begeisterung erwachte, kaum dass er Ausblick auf den verantwortlichen Imbisswagen erlangte. Er war nicht länger zu bremsen und lief voran, Loki und Thor hinter sich lassend. „Was nehme ich nur?“ „Was immer du magst“, ermutigte ihn Loki mit einem Grinsen, als er es endlich an die Seite des Freundes geschafft hatte. Kurz prüfte er das Angebot auf den rauchenden Grillplatten vor ihnen. „Schau mal, sieht das nicht gut aus? Sie haben sogar deine Lieblingsspieße. Die magst du doch so sehr?“ „Ach, ich weiß nicht, ich weiß nicht.“ Eine rotblonde Frau mittleren Alters in weißer Kochbekleidung wandte sich ihnen zu. Auf ihrem von der Hitze geröteten Gesicht spielte ein freundliches Lächeln, als sie nach den Wünschen ihrer Kunden fragte. „Ich hätte gern das da. Oh, und das da! Loki, Thor? Was wollt ihr haben?“ „Och, ich passe“, winkte Loki zur Seite ab. „Nimm nur, was du magst. Wir haben Zeit. Thor-chin?“ „Für mich nichts. Ich habe keinen Hunger.“ „Sehr gern.“ Die Frau nickte und machte sich daran, die gewünschten Stücke aufzubereiten. Als sie schließlich alles auf die Überreiche stellte und den fälligen Preis nannte, sahen sich die Götter ratlos an. „Stimmt ja“, raunte Baldr und legte die Stirn in Sorgenfalten. „Die Menschen handeln ja mit Geld. Das hatte ich ganz vergessen.“ „Was nun?“ „Nur keine Sorge“, beschwichtigte Loki ungehetzt. Aufmerksam ließ er den Blick durch die Gegend schweifen. Ein Greifarmautomat etwas abseits eines Kinderkarussells erregte seine Aufmerksamkeit. „Loki“, sprach Thor nachdrücklich im gedämpften Flüsterton, „was hast du vor?“ „Das haben wir gleich.“ Er zeigte ein zuversichtliches Grinsen, als er sich auch schon abwandte. Im Gehen hob er die Hand zu einer Geste, die den Freunden bedeutete, sich nicht von der Stelle zu bewegen. „Esst schon mal und haltet sie ein Weilchen hin. Ich bin gleich zurück.“   Als Loki kurz darauf zu dem Grillwagen zurückkehrte, hatte er die Befürchtung, seine Freunde dort nicht länger vorzufinden. Zu seiner Erleichterung stellte sich diese Sorge als unbegründet heraus. Es war der dichten Menschentraube zu verschulden, dass er sie erst nicht sehen konnte. Sie kesselten die beiden ein, wie es vorhin schon einmal der Fall gewesen war. Eigentlich hätte er nichts anderes erwarten dürfen. „Darf ich mal, darf ich mal?“ Unter lauten Rufen drängte er sich durch die Meute. Er stolperte mehr als dass er ging, bis er sich endlich in Thors stützenden Händen wiederfand. „Loki, wo warst du so lange?“ „Och, so lange war’s doch gar nicht.“ „Und … was hast du da in der Hand?“ „Hm?“ Er folgte Thors skeptischen Blick. In seiner Hand hielt er ein rosa Wattegebilde, das um einen länglichen Holzstiel gewoben war. Von ihm ging ein süßlicher Duft aus. „Ah, das.“ Loki grinste breit. „Das nennt sich Zuckerwatte. Magst du mal probieren?“ „Zucker… Nein, danke.“ „Wirklich nicht? Du verpasst was!“ Um das zu verdeutlichen, riss er ein großes Stück aus dem rosa Wattebausch und verputzte es genüsslich. Seinem Gesicht war abzulesen, wie zufrieden er mit seiner kleinen Errungenschaft war. Es folgte direkt ein zweites Stück. „Wie hast du das bezahlt?“ „Oh, stimmt ja!“ Das hatte er glatt vergessen. Suchend sah er sich um. „Wo ist Baldr? Ist er nicht bei dir?“ „Dort vorn.“ Thor deutete in Richtung Tresen, wo Baldr auf einem der hohen Stühle Platz gefunden hatte. Mit einem sonnigen Lächeln unterhielt er die Bedienung von vorhin. Ihr losgelöstes Lachen erweckte den Anschein, als säße ihr ein alter Freund gegenüber. „So geht das schon die ganze Zeit, seit du weg warst. Und nicht nur sie reagiert so auf ihn.“ Loki stieß ein anerkennendes Pfeifen aus. „Hm, nicht schlecht. Manchmal hat Baldrs Einfluss durchaus seine Vorteile.“ „Ich denke, er profitiert ebenfalls davon.“ „Wie viel hat er schon verputzt?“ „Drei Steaks, drei Fleischspieße und von dem meisten anderen ebenfalls ein Stück. So langsam fällt es auf.“ „Nun, er hat einen gesunden Appetit. Das ist doch gut?“ „Das ist mehr, als ein normaler Mensch zu sich nimmt. Er wurde bereits gefragt, ob es ihm noch gut geht.“ „Hm. Ich schätze, dann sollten wir so langsam gehen.“ Summend bahnte er sich seinen Weg zu Baldr hinüber. Nachdem er ihn von seinen Aufbruchsplänen unterrichtet hatte, wandte er sich der Bedienung zu: „Wie viel schulden wir?“ Sie nannte ihm den fälligen Betrag, worauf Loki in seiner Westentasche zu kramen begann. Er holte mehrere gleichgroße Münzstücke daraus hervor, die er der Frau auffordernd entgegenhielt. „Nur zu“, säuselte er lieblich, als er ihr Zögern bemerkte. „Nimm dir, was du brauchst. Ich kenn‘ mich mit so etwas nicht aus.“ „Loki“, bemerkte Baldr vorsichtig von der Seite. „Ich glaube nicht, dass man das so macht …“ „Schon okay, schon okay.“ Er schenkte der Frau ein verspieltes Grinsen. „Ich bin zuversichtlich, dass sie uns nicht betrügen wird. Und falls doch, wird ihr die Strafe ganz bestimmt nicht gefallen. Ne?“ Hastig nahm sie die nötigen Münzen, wobei sie jeglichen weiteren Kontakt peinlich vermied. In dem Blick des Schalks hatte etwas gelegen, das sie nervös machte. Sie hatte es auf einmal furchtbar eilig, zurück in die Bedienung zu kommen. Schnell presste sie einen leisen Dank heraus, bevor sie mit tiefrot gefärbten Wangen hinter ihren Kollegen verschwand. „Also, was machen wir jetzt?“ „Sehen wir uns doch noch ein wenig um“, schlug Baldr vor. Er war bester Dinge, als er den Freunden auch schon vorauseilte. Thor und Loki folgten ihm gemächlich. „Wo hast du das viele Geld her? Du hast doch nicht …?“ „Hm?“ Loki blinzelte zu Thor hoch, ganz im Genuss seiner übrigen Zuckerwatte. „Och, es ist nicht, wie du denkst. Es wurde niemand verletzt oder in Bedrängnis gebracht.“ „Du hast es also nicht gestohlen?“ „Wo denkst du hin? Ich habe es gewonnen, fair und ehrlich. Oh, und das hier auch!“ Als er dieses Mal in seiner Weste wühlte, holte er ein kleines, blaues Plüschmonster hervor. Grinsend hielt er es in die Höhe. „Cool, nicht? Wenn ich vorstellen darf: Take-chin, das Stinkig-wie-Fisch-Großmaulmonster.“ „Take-chin, hm?“ Thor betrachtete es einen Moment. Das grimmig aufgenähte Gesicht machte das zottelige Ungetüm nicht gerade sympathisch. „Du hast bei dieser Namensgebung nicht zufällig an einen gewissen Jemand gedacht, oder?“ „Einen gewissen Jemand?“ Loki blinzelte mehrere Male. Mit einem theatralischen Seufzen ließ er das Plüschmonster in seine Tasche zurück verschwinden. „Also wirklich, wie kommst du nur darauf? Das käme mir nie in den Sinn. Ich dachte da eher an Reißzähne, einen Tacker. Alles andere wäre ja Blasphemie.“ Thor schmunzelte bei diesen Worten, sagte jedoch nichts. „Wobei, findest du nicht auch, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit haben?“   Sie schlenderten weiter über den Markt. Es gab so viel zu sehen, dass sie an manchem Stand stehen blieben, um sich die ausgelegten Güter näher zu betrachten. Holzmühlen, Papiersterne, Wachsfiguren … Viele dieser Dinge waren ihnen nicht bekannt. Baldr zeigte ein großes Interesse in den Sinn und Nutzen verschiedener Gegenstände. Die bunten Kugeln, meist mit Gel und Glitzer verziert, hatten es ihm besonders angetan. In den daraus resultierenden Gesprächen ließ er sich über die verschiedenen Symbole und deren Bedeutung aufklären. Er lauschte jeder dieser Händlergeschichten aufmerksam, bis sie zum Ende kamen. „Sag mal, Loki“, richtete Thor das Wort an ihn. Genau wie Loki konnte er den Erzählungen nicht viel abgewinnen und stand mehr dabei, als dass er anteilnahm. „Wie lange willst du noch hierbleiben? Wenn wir zu lange bleiben …“ „Weiß nicht. Hab‘ nicht drüber nachgedacht“, sagte er belanglos. Wieder und wieder wickelte er sich eine seiner langen, roten Haarsträhnen um den Finger, sichtlich in Gedanken. Es dauerte noch einen Moment, bis er seinen wandernden Blick von dem Treiben löste und Thor entgegenhob. „Wieso? Machst du dir etwa Sorgen um etwas?“ „Ist das nicht offensichtlich?“ Sie schwiegen. „Nur keine Sorge, Thor-chin“, meinte Loki und grinste. „Ich habe alles im Blick. Notfalls schleife ich Baldr von hier weg, wenn alles andere nichts nützt.“ „Um Baldr geht es mir nicht.“ „Oh, aber ist das nicht erst der Grund, weswegen wir hier sind?“ „Es hätte eine andere Lösung geben müssen. Wir haben gegen sämtliche Gebote verstoßen.“ „Jaa, das haben wir. Wobei, noch ist niemand zu Schaden gekommen.“ „Loki. Wir machen es nur schlimmer, je länger wir hierbleiben.“ „Das Donnerwetter trifft uns ob so oder so“, entgegnete er und zuckte die Schultern. „Wobei, wenn ich es recht bedenke … Eigentlich trifft es nur mich. Ich bin der Einzige ohne natürlichen Blitzableiter.“ „Loki!“ „Haha. Nur ein Spaß, nur ein Spaß.“ „Das ist nicht witzig. Nicht einmal im Wortspiel.“ Er seufzte schwer. „Nicht? Ich finde schon“, kicherte Loki amüsiert. Sein Blick ging erneut auf Wanderschaft, bis er an einer bestimmten Stelle haften blieb. Dort verweilte er für einige Zeit. „Weißt du, was wirklich für Spannung sorgen würde?“ „Hm?“ Loki hob den Arm. Mit dem Finger deutete er auf eine Fahrattraktion, die nicht mehr war als ein Zentralkern, an dessen Arme geschlossene Kugelgehäuse angebracht waren. Wieder und wieder drehten sie ihre Runden, wurden schneller und langsamer, wobei sie langsam auf und ab bewegt wurden. Den Menschen schien ein so einfach gestricktes Gebilde großes Vergnügen zu bereiten. Das zumindest ließ sich ablesen anhand der langen Schlange, die sich vor dem kleinen Schalter reihte. Gäste, die ihre Fahrt überstanden hatten, lachten, obgleich ihre Gesichter blass waren und ihr Gang schwankte. „Wenn wir dich auf die Mitte stellen würden. Ich wüsste zu gern, welchen Effekt das hätte.“ Thor entließ ein schweres Seufzen. „Loki, lass besser solche Späße. Du weißt, dass das gefährlich enden könnte.“ „Es wäre aber auf jeden Fall einen Hingucker wert“, kicherte er weiter. „Wir erregen schon genug Aufmerksamkeit.“ Thors Blick schweifte hinüber zu Baldr. Wie immer, wenn er an einer Stelle verweilte, hatte sich auch jetzt wieder eine kleine Traube Menschen um ihn herum gesammelt. Er selbst schien davon nichts zu bemerken, oder er blendete es gewohnt aus. Welche Auswirkungen mochte es haben, wenn die Menschen seiner Anziehungskraft zu lange ausgesetzt waren? Und dann war da noch Loki. Nicht nur, dass Ordnungskräfte nach dem Verantwortlichen eines angesengten Spielautomats suchten … „Was ist?“ „Du wirst von jedem angesehen.“ „So?“ Zum ersten Mal richtete Loki seine Aufmerksamkeit auf die Menschen um ihn herum. Hätte er es früher getan, wäre es ihm selbst aufgefallen. Jeder, der ihn passierte oder aus der Ferne entdeckte, besah ihn mit fragwürdigen Blicken. Einigen davon war Besorgnis anzuerkennen. Im ersten Moment wunderte sich Loki darüber. Als er den Grund bemerkte, überzog ein breites Grinsen seine Lippen. „Tjaa, was soll ich sagen? Ich bin eben ein heißer Typ.“ Thor schnaufte leise. Ihm war klar, wie wörtlich diese Aussage gemeint war. Vielleicht hätte man die Menschen ebenfalls darüber aufklären sollen. Verübeln konnte Thor ihnen ihre Skepsis nicht. Jeder hier hatte sich gegen die vorherrschende Kälte gewappnet und warm bekleidet. Selbst Baldr und er hatten sich zu Mantel, Schal und Handschuhe überreden lassen. Wieso war Loki der Einzige, der mit einem dünnen Pulli und ärmelloser Weste aus der Reihe tanzen musste? Dabei war er es gewesen, der ihre Kleiderwahl bestimmt hatte. „Loki, Thor! Dort vorne soll es etwas ganz Besonderes geben. Lasst uns schauen gehen!“   Dieser Platz war anders als jene, an denen sie bisher gewesen waren. Er lag etwas abseits des bunten Treibens und bis auf leise Musik drang nichts bis hierher. Weniger Menschen waren hier unterwegs. Die meisten von ihnen liefen vorbei, trieben abseits des Marktplatzes. Nur einige standen hier, unterhielten sich leise und bewunderten das, was vor ihnen lag. Baldr erhob sich. Wie viele vor ihm hatte er ein Licht gezündet und zu den anderen gestellt. Die Luft war erfüllt von dem warmen Duft, den die Kerzen verströmten. Dutzende standen hier, verteilt über Steinboden und Pyramidentreppchen. Ihre Flammen tanzten, warfen spielende Schatten von Tannenbaum bis Weihnachtsstern. Sie waren wie kleine Leben, den der Wind ihnen durch die Lücken ihrer Mustergehäuse einhauchte. Er trat einige Schritte zurück, um sich das Bild besser betrachten zu können. Welch ein Glanz. So warm und voller Schönheit. Obgleich er der Gott des Lichts war, fand Baldr keine Worte für das, was dieser Anblick in ihm auslöste. Loki und Thor standen hinter ihm. Keiner sagte irgendwas. Sie standen da und sahen auf Baldr, wartend, was passieren würde. „Es ist schön, nicht wahr?“, sprach er dünn. Seine Stimme war ein Hauchen, schwer von der Ehrfurcht, die darin wog. Dann wurde es wieder still zwischen ihnen. „Ich hatte es fast vergessen. Ganz schön einfältig von mir, oder nicht?“ „Baldr …“ „Wie geht es dir?“ „Mh, mir geht es gut“, sagte er auf Thors Frage. Ein sanftes Lächeln spielte auf seinem Gesicht, als er sich nach den beiden Freunden herumdrehte. „Es geht mir sogar ausgezeichnet. Ich glaube, ich war nie klarer als jetzt.“ Thor nickte. Es folgte keine Antwort. „Wisst ihr noch, was Yui-san uns über die Kerze beigebracht hat?“ Baldr setzte fort, bevor einer der beiden etwas darauf erwidern konnte. „Sie ist ein Symbol der Hoffnung. Sie schenkt den Menschen Licht und Wärme, sowie Trost. Gleichzeitig erinnert ihr Geschenk an die Vergänglichkeit des Lebens. Etwas, das wir wohl nie ganz verstehen werden. Egal, wie sehr man uns lehrt.“ „Was, bitte, soll das werden?“ „Bist du böse auf mich, Loki?“, fragte Baldr sanft. Er trat an ihn heran. „Es tut mir leid. Ich bin egoistisch gewesen, nicht wahr? Wirst du mir verzeihen können?“ „Was redest du da?“ Sein Kopf fuhr hoch. Ein schmerzvoller Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als er Baldrs blauen Augen begegnete. „Wann habe ich gesagt, dass ich dir wegen etwas böse bin? Vielleicht bist du ein Idiot gewesen, aber –“ „Ich wollte sie sehen.“ Loki verstummte. Baldr sprach weiter, ohne den Blick von ihm zu lösen. „Ich wollte sie sehen, mehr als alles andere. Der Gedanke, dass ich es nicht kann … er war unerträglich gewesen. Ich war bereit, alles dafür herzugeben. Ich war sogar dazu bereit, dich dafür zu benutzen – oder Thor. Und zugleich … hat es mir Angst gemacht. Große Angst sogar.“ „Aber wieso?“, fragte Loki gepresst. „Wozu, Baldr? Das macht doch alles keinen Sinn. Du hättest sie jederzeit sehen können, wenn du es so sehr gewollt hättest. Niemand von uns hätte dir dazu im Weg gestanden.“ „Ich weiß.“ Er lächelte traurig. „Ich weiß, ich hätte es gekonnt. Ihr hättet mir sogar dabei geholfen, wenn ich euch gefragt hätte. Aber … ich hatte Angst davor.“ Loki und Thor tauschten einen Blick aus. Der eine war so ratlos wie der andere. „Loki, Thor, es tut mir leid“, sprach Baldr erneut. „Ich habe euch die letzte Zeit sehr vernachlässigt. Ich war der Meinung, allein zu sein. Aber das war ich nicht, stimmt’s? Ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich hierhergebracht habt.“ „Ich habe nichts dafür getan. Es war Lokis Idee gewesen.“ „Was redest du da nur, Thor-chin?“, schmollte Loki zu ihm hoch. „Nichts dafür getan? Ohne deine Hilfe wäre das gar nicht möglich gewesen.“ „Nein, das stimmt nicht“, wies Thor zurück. „Durch mich ist es nur sicherer gewesen.“ „Ohne dich hätte ich die Brücke nicht benutzen können.“ „Dafür werden wir noch Ärger bekommen.“ „Ach, komm schon. Gib doch zu, dass du dir auch Sorgen gemacht hast~“ „Wann habe ich gesagt, dass ich das nicht habe?“ Baldr entließ ein leises Lachen. Es tat gut, die Freunde so zu sehen. Es belebte ihn, als hätte er lange Zeit allein und eingesperrt verbracht. Nun, vielleicht stimmte das sogar. „Danke euch beiden.“ „Oh, seht nur! Es schneit!“ „Tatsächlich.“ Ihre Blicke richteten sich gen schwarzen Horizont. Weiße Flocken rieselten auf sie hinab. So friedlich und weich, als fielen sie nur für sie allein. „Loki, Thor! Schaut nur, wie schön! Ist das nicht wundervoll?“ „Hää? Baldr, der Schnee berührt dich nicht einmal. Was für eine Vergeudung.“ „Ihr zwei“, merkte Thor von der Seite an. Sein Blick war auf die Menschen gerichtet, welche sie großäugig beobachteten. „Wir fallen schon wieder auf. Ich bin der Einzige, auf dem der Schnee liegen bleibt.“ Da er keine Antwort erhielt, sah er zu den beiden Freunden. Baldr, den die Flocken mieden. Und Loki, bei dem sie augenblicklich schmolzen. Sie schenkten seinen Worten gar keine Beachtung, lachten und tollten, als wären sie zu Hause in Asgard. Schnee hatten sie wahrlich lange keinen mehr gesehen. Er streckte seine Hand nach vorn. Schweigend beobachtete er, wie der grüne Stoff seiner Handschuhe von den weißen Flocken bedeckt wurde. Als es nicht mehr weniger wurden, schlich ein Lächeln auf seine Lippen. Thor sah zurück zu der Stelle, an der die Kerzen ihr Licht ausstrahlten. Dieser warme Schein war etwas Besonderes. Ihr heller Glanz würde sie bis nach Hause begleiten. In eine Zeit, in der sie auch in Zukunft lachen konnten. Sie drei, gemeinsam. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)